Herz über Kopf von Centranthusalba ================================================================================ Kapitel 16: Vernachlässigt -------------------------- Dideldüdideldüdideldidelüüüühh Elsa knirscht mit den Zähnen. „Hallo?“ Viktor schnappt sogleich nach dem Telefon. „Sehr gut, dass sie sich melden. Nein, Sie stören nicht…“ Elsa knurrt leise, dann greift sie nach einer Zeitschrift vom Sofatisch und kuschelt sich allein zurück unter die flauschige Decke, unter der sie bis eben zu zweit gelegen hatten. Doch so richtig kann sie sich auf die diesjährigen Sommer-Mode-Tipps nicht konzentrieren. Immer wieder wirft sie bitterböse Blicke auf Viktor, der ganz in seinen Terminkalender vertieft ist und eifrig in das Telefon nickt. Als er mit einem „Schönen Sonntag noch!“ auflegt, wirft sie empört die Zeitschrift auf den Boden. „Ja genau! Es ist übrigens Sonntag! Das ist der Tag in der Woche, an dem man nicht arbeitet, sondern bei seinen Liebsten ist!“ Immer noch zufrieden mit dem Telefonat, legt Viktor sein Handy beiseite, schließt seinen Terminplaner und wendet sich wieder seiner Freundin zu. „Siehst du, ich kann beides.“ Er grinst. „Arbeiten und bei meiner Liebsten sein.“ „Wieso gehst du überhaupt ran?“ So einfach lässt Elsa die Sache nicht auf sich beruhen. „Warum kannst du das nicht ein einziges Mal ignorieren und dich auf mich konzentrieren?“ „Ich dachte, du wolltest lesen.“ „Was soll ich denn sonst machen, wenn du arbeitest?!“ „Elsa, bitte, als Manager hört für mich der Job nun mal sonntags nicht auf. Viele Sportmanager arbeiten Sonntags, weil da neue Termine gemacht werden.“ „Und was ist mit mir?“ „Das waren jetzt 10 Minuten von einem ganzen Tag. Die restlichen 23 Stunden und 50 Minuten bin ich doch für dich da.“ „Du meinst, wenn du dann ausnahmsweise nicht an Fußball denkst.“ Abfällig blickt Elsa auf den hohen Stapel Sportmagazine, die sich neben dem Sofa türmen. Viktor kratzt sich am Hinterkopf. „Was ist so schlimm daran?“ „Ganz einfach!“ Außer sich springt Elsa vom Sofa auf. „Ich bin hier! Ich habe dich monatelang vermisst. Jetzt bin ich endlich hier, ganz für dich und du… du…“ Sie kämpft gegen die aufsteigenden Tränen. „Du denkst immer bloß an deinen blöden Fußball!“ ~~~ „Dunkle Wolken im Paradies?“ Mit einem wissenden Schmunzeln blickt Becky über den Rand ihrer Cappuccino-Tasse. Vor ihr sitzt Elsa, die Lippen zum Schmollmund verzogen, die Hände krampfhaft um ihre Tasse gelegt. „Hmpf“ „Was ist los?“ „Fußball ist los“, grummelt Elsa, „So lange haben wir uns nach einander gesehnt. Ich bin jetzt seit über einem Monat hier, bin bei ihm eingezogen. Neben der Uni kümmere ich mich um den Haushalt und alles rund um die Wohnung, sodass er nichts mehr tun muss, wenn er abends nach Hause kommt oder wie jetzt am Wochenende. Wir könnten also jede freie Minute miteinander verbringen. Aber woran denkt der Herr Uesugi? Fußball! Fußball, Fußball und nochmals Fußball! Ich warte auf ein gemeinsames Leben mit ihm, aber die ganze Zeit geht es um diesen dummen Fußball!“ „Hmm, kenne ich“, kommentiert Becky trocken. „Und was tust du dagegen?“ „Warum dagegen? Ich bin froh darüber!“ Kurz stockt Elsa der Atem. Hat sie eben richtig gehört? „Ist es dir etwa recht, dass er die ganze Zeit nur mit Fußball beschäftigt ist und dich allein lässt?“ „Durchaus.“ Becky nickt, doch Elsa glaubt immer noch, dass ihre Freundin sie einfach nicht versteht. „Wünscht du dir nicht manchmal, dass es Fußball einfach nicht geben würde?“ Nun werden Beckys Augen groß. „Steve ohne Fußball? Oh Gott, das wäre ja unerträglich! Dann hockt er den ganzen Tag auf dem Sofa und wartet auf mich.“ Elsa starrt sprachlos auf die gegenüberliegende Seite des Tisches. Irgend etwas läuft hier gerade verkehrt. Sie und Becky kennen sich inzwischen gut. Sie sind eigentlich immer einer Meinung, vor Allem, wenn es um ihre fußballverrückten Männer geht. Doch diesmal fühlt es sich an, als würde Becky Chinesisch reden. Oder spricht sie selbst plötzlich Chinesisch? „Elsa, ich glaube, das Problem ist eigentlich ein anderes.“ „Und welches?“ „Was ist dein Thema? Wofür interessierst du dich abseits von Haushalt und Studium?“ „Ähh naja…“ Unbehaglich rutscht Elsa auf ihrem Stuhl hin und her. „Sag jetzt bitte nicht Viktor. Der Kerl ist ein Thema für sich, das schon, aber als Hobby ist er doch ein bisschen wenig.“ Ein Hobby? Elsa überlegt. Freizeit und unbedarftes Vergnügen scheinen ihr Jahrzehnte her zu sein. „Bei Spielen anfeuern, Siegesfeiern organisieren, mit Sarah auf Parties gehen…“, geht sie leise die Freizeitaktivitäten der letzten Jahre durch. Doch Becky hebt kopfschüttelnd den Zeigefinger. „Zählt nicht. Du, Elsa. Was hast du gerne gemacht, bevor dein Leben mit Uni und Männern stressig wurde?“ Elsa studiert eindringlich den Grund ihrer Kaffeetasse, als würde sie dort die Antwort finden. Ihre Stirn durchziehen tiefe Furchen, so sehr denkt sie nach. „Meine Fotoausrüstung!“, platzt es schließlich aus ihr heraus, „Ich habe schon ewig nicht mehr fotografiert! Dabei war ich in den ersten Semestern sogar im Fotografie-Club der Uni. Habe aber aufgehört, als alles andere immer mehr Zeit beansprucht hat.“ „Das klingt gut!“ Becky klatscht begeistert in die Hände. „Hast du die Sachen hier?“ Als Elsa nickt, kommt ihr gleich ein weiterer Gedanke: „Und ich habe schon einen ersten Auftrag für dich, Frau Fotografin. Immer Mittwochs treffe ich mich mit ein paar meiner Freundinnen zur Kostümparty. Wir schminken uns und probieren verschiedene Kleidungsstile aus. Wie wär’s, würdest du Fotos von uns machen?“ ~~~ „Ok Shinji, so machen wir das. Ich sehe zu, dass wir für die 2 Tage Bus und Hotelzimmer bekommen. Meinst du, Marmoru ist schon bereit für so ein Spiel?“ Viktor hat sich das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während er die letzten Sachen vom Frühstückstisch räumt. Im Flur hört er Elsa in ihren Sachen herumwühlen. Sie würde sich gleich auf den Weg zur Uni machen. „Sicher, der Junge ist gut, aber ich frage mich, ob er für ein Freundschaftsspiel gegen eine Mannschaft wie Hakodate mit unserer Verteidigung schon eingespielt genug ist. Es geht ja nicht nur um den Einzelnen…“ „Viktor“, ertönt Elsas Stimme von der Wohnungstür aus, „ich muss los. Denk dran, was ich dir gestern gesagt habe: Ich bin heute Abend bei Becky und weiß noch nicht, wann ich zurück bin.“ Viktor hebt noch rasch die Hand und winkt mit einem schmutzigen Teller zum Abschied. „Bis heute Abend, Süße!“ Ein geräuschvolles Schnauben dröhnt durch den kleinen Hörer. „Ich hoffe, du hast nicht mich damit gemeint.“ „Um dich ‚Süßer‘ zu nennen, musst du noch eine Menge an deinem Charakter ändern, Käpt’n“ „Nein Danke, so scharf bin ich da nicht drauf. Lieber bleibe ich so, wie ich bin und trieze dich weiter.“ „Hatte ich befürchtet. Lass uns nachher weiterreden. Könntest du eine halbe Stunde vor dem Training ins Büro kommen? Ich sollte heute Abend mal früher zu Hause sein. Ich glaube, Elsa fühlt sich etwas vernachlässigt.“ ~~~ „Mist! Mist! Mist!“ Fluchend springt Elsa zwischen Pfützen hindurch über den Asphalt, während sie sich gleichzeitig ihre Tasche über den Kopf hält, um sich vor dem plötzlich hereinbrechenden Wolkenbruch zu schützen. Ohne nach rechts oder links zu schauen, hechtet sie über die Straße, wo auf der gegenüberliegenden Seite die Adresse liegt, die ihr Becky genannt hat. Gerade erreicht sie mit einem erleichterten Aufatmen den rettenden Bürgersteig, als hinter ihr ein Bus mit voller Geschwindigkeit durch die tiefste Pfütze der Straße fährt und ihren kalt-nassen Inhalt einmal über Elsa verteilt. „AHHHHHHHHHHH!“ Tropfnass öffnet sie die Tür zu der Wohnung neben dem Kimono-Verleih, durch die bereits mehrere lachende Frauenstimmen dringen. „Oh Gott, Schätzchen! Wie siehst du denn aus?“ Begrüßt Becky sie und lässt vor Entsetzen fast ihr Prosecco-Glas fallen. Hinter ihr versuchen einige neugierige Gesichter einen Blick auf den Neuankömmling zu erhaschen. „Der Bus war stärker“, stöhnt Elsa nur. Das ist ihr alles unglaublich peinlich. Am liebsten würde sie dicht an der Wand entlang ins Zimmer schleichen und sich dort in einer dunklen Ecke verkrümeln, damit möglichst niemandem auffällt, wie sie aussieht. Doch sie hat die Rechnung ohne Becky gemacht: „Zieh das aus! So holst du dir noch eine Erkältung. Yuki, bring mal trockene Klamotten für Elsa! Genügend Auswahl haben wir ja.“ „Was hättest du denn gerne, Elsa? Kimono, Abendkleid, Leder-Catsuit?“ Mit einem dicken Grinsen auf dem Gesicht, blickt eine pummelige, blondierte Japanerin um die Ecke. Bevor Elsa über die Aufzählung auch nur nachdenken kann, winkt Becky ab und schiebt sie energisch Richtung Badezimmer. „Such irgendwas aus. Sie wird ja eh, noch ein paar mal wechseln heute.“ „Was?“ Elsas Augen werden groß. „Ich denke, ich soll nur Fotos machen!“ „Jaja, aber so ein bisschen mitmachen wirst du auch. Meine Güte, du bist ja völlig durchgeweicht! Aber die Kamera ist hoffentlich trocken geblieben?“ Elsas Augen leuchten, als sie nickt. ~~~ Es ist bereits zehn Uhr, als Elsa sich schweren Herzens verabschiedet und sich auf den Weg nach Hause macht. Ein dickes Lächeln prangt auf ihrem Gesicht. Sie hat schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Becky sollte Recht behalten: Am Ende hat sie nicht nur Fotos von den anderen Mädchen gemacht, sondern schließlich, unter großem Jubel der anderen, auch selbst Kleider und Lippenstifte ausprobiert. Beckys Freundinnen sind alle sehr nett gewesen und Elsa konnte sich durchaus vorstellen, dass sie auch ihre Freundinnen werden könnten. Ihre durchgeweichte Kleidung ist in der Zeit ausreichend getrocknet, sodass sie diese für den Heimweg wieder anziehen konnte. Nur ihre Schuhe sind immer noch so nass gewesen, dass Becky ihr diese nur kopfschüttelnd aus der Hand nahm. „Du bleibst in denen, die du gerade anhast. Bring sie einfach beim nächsten Mal zurück.“ Stirnrunzelnd betrachtet Elsa die knallroten Pumps an ihren Füßen. Sie sind erstaunlich bequem und hatten sie ohne Probleme bis nach Hause getragen. Was Viktor wohl dazu sagen würde? „Ich bin wieder da!“, ruft sie in die Wohnung hinein, als sie die Tür öffnet. Vom Sofa ertönt ein kleiner Aufschrei: „Endlich! Ich warte auf dich! Wo bist du nur solange gew…. Wie siehst du denn aus?!“ Verdutzt mustert Viktor seine Freundin. Ihre Augen leuchten, die Wangen sind vor Aufregung immer noch gerötet. Er blinzelt. Auf ihren Lippen prangt zart rosafarbener Lippenstift. Rasch tritt er einen Schritt zurück und betrachtet sie im Ganzen. Sie trägt die gleiche Kleidung, mit der sie auch heute früh aus dem Haus gegangen ist, bis auf…. „Weißt du, wie unfair ich das finde?“, platzt es aus ihm heraus. „Was, unfair?“ „Ich komme extra früh nach Hause, damit wir Zeit zu zweit verbringen können. Ich lasse ausnahmsweise Arbeit im Büro liegen, damit ich mich ganz auf dich konzentrieren kann und du, du lässt mich hier warten, während du dich amüsierst!“ Für einen Moment ist Elsa sprachlos. „Aber…, aber ich habe dir doch heute früh gesagt, dass ich zu Becky gehe und nicht weiß, wann ich zurückkomme.“ „Ja, du hast so etwas gesagt. Aber ich dachte nicht an zehn Uhr, sondern vielleicht um acht. Dann hätten wir immer noch ein paar Stunden für uns gehabt. Vergiss nicht, wie lange ich dich vermisst habe. Jetzt bist du endlich hier und dann hast du nur deine Freundinnen im Kopf und lässt mich warten.“ Verblüfft klappt Elsa ihren Mund auf und wieder zu. Seine Anklage kommt ihr plötzlich seltsam vertraut vor. Hatte sie ihm nicht erst vor ein paar Tagen genau das gleiche an den Kopf geworfen? Dass er immer nur an Fußball denkt und sie warten lässt? „Dann siehst du, wie sich das anfühlt.“ „Was?“ Viktor tritt überrascht noch einen halben Schritt nach hinten. „Jetzt weißt du, wie sich das anfühlt, wenn man die ganze Zeit auf den anderen wartet, während der nur Fußball im Kopf hat.“ Ihre Stimme zittert etwas, aber sie wird jetzt nicht klein beigeben. Entschlossen tritt sie auf ihn zu. „Und jetzt war ich mal weg und ja, ich habe mich amüsiert. Ich hatte wirklich einen schönen Abend. Darf ich das nicht? Willst du mir das verbieten?“ Viktor hebt entwaffnend beide Hände. „Hey, hey, warte mal. Natürlich will ich dir nichts verbieten.“ Etwas verlegen fährt er sich durch die Haare. „Heißt das, du wartest den ganzen Tag auf mich, dass ich nach Hause komme, um dann bei mir zu sein?“ „Natürlich. Darum bin ich hierher gezogen.“ „Darum hast du dich neulich so aufgeregt, dass ich auch an Fußball denke, wenn ich hier bin.“ „Ja, genau so war das.“ „Elsa, du weißt, dass mein Job als Manager nicht einfach so nach Feierabend aufhört. Fußball ist nun mal mein Leben….“ Seine Augen weiten sich entsetzt, als er sieht, wie Elsa den Kopf schüttelt. „Nein, Viktor, Nein. Ich will dir Fußball auch nicht wegnehmen. Ich habe heute Abend etwas verstanden: Es ist nicht gut, wenn sich mein Leben nur um dich dreht. Ich muss auch etwas eigenes haben. Es bringt nichts, wenn ich den ganzen Tag darauf warte, dass du Zeit für mich hast.“ Viktors Mund ist wie ausgetrocknet. „Was willst du damit sagen? Willst du nicht mehr…?“ Doch Elsa lächelt. „Doch, ich will noch. Natürlich will ich noch. Aber du darfst zu deinem Fußball gehen. Ich werde dir keine Vorwürfe mehr machen. Denn ich mache in der Zeit einfach etwas für mich.“ Sie hält die Kamera hoch. „Ich will wieder mehr fotografieren. Becky und ihre Freundinnen heute abend waren tolle Motive.“ Viktor strahlt und ergreift ihre Hand. „Dann muss ich kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich zum Fußball gehe?“ „Nein. Ich würde zwar nicht soweit gehen, wie Becky, die sagt, dass sie froh ist, wenn Steve sie allein lässt. Aber du darfst gerne raus gehen und das tun, was du willst. So wie ich auch.“ „Und wenn wir zuhause zusammenkommen, gehört die Zeit nur uns.“ „Ja genau, nur uns.“ Wie zur Besiegelung dieses Versprechens haucht sie ihm einen Kuss aufs Kinn. „Sag mal, was hattest du dir denn heute Abend vorgestellt, als ich dich habe warten lassen?“ „Nicht so wichtig.“ „Sag schon. Willst du mir nicht auf die Nase binden, was ich verpasst habe?“ „Hmmm… ziemlich viel.“ „Ahja“ „Aber jetzt ist es zu spät.“ „Glaube ich nicht.“ Plötzlich blitzt es in seinen Augen auf: „Es ist schon ziemlich spät, aber da du die Schuhe bereits anhast: Hast du Lust zu tanzen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)