Die letzte Hoffnung von BuchTraumFaenger ================================================================================ Kapitel 7: 7. Der verschollene Bruder ------------------------------------- Für einen Moment wurde es still auf der Lichtung. Sogar die Kinder brachten kein Wort heraus. Nur Jian blieb gelassen und strich über eine Saite seines Musikinstrumentes. „Ich wusste nicht, dass du einen Bruder hast, Dad.“ Xia hielt ihm schnell den Schnabel zu. Shen schien es doch selber nicht gewusst zu haben… oder doch? Der weiße Pfau stand da wie vom Blitz erschlagen, dennoch schaffte er es sich auf den Beinen zu halten. Aber da Jian schon seinen Gedanken ausgesprochen hatte, wollte Xia selber sofort eine Antwort hören, um zu wissen, wie sie sich verhalten sollte. „Vater, hast du das gewusst?“ Endlich löste sich der weiße Pfau aus seiner Erstarrung. Die Aussage der alten Ziege hatte ihn geistig völlig aus der Bahn geworfen. Normalerweise war er sonderbare Zitate von ihr gewohnt, aber nicht sowas. Und statt auf die Frage seiner älteren Tochter zu antworten, schlug sein Verhalten in Aggressivität um. „Was meinst du damit „es könnte sein“?“, fauchte er. „Habe ich oder habe ich nicht??!!“ Seine Stimme war laut. Die Ziege senkte ihren Blick in tiefster Trauer, aber das machte Shen nur noch wütender. „Was ist?!! Hat es dir die Sprache verschlagen, oder was?!“ Mit einem Mal richtete sich die Ziege, zu Überraschung aller, auf ihren Gehstock auf. „Deine Eltern wollten nicht, dass du es erfährst“, antwortete sie mit fester Stimme. „Sie hielten es für das Beste, und alle anderen auch, dass er vergessen werden sollte.“ Po, der ebenfalls noch etwas benommen war von dieser neuen Erkenntnis, verstand überhaupt nichts mehr. „Äh, wieso das denn jetzt?“ Er sah sich um, traf aber nur auf verwirrte Gesichter. Einzig Meister Ochse und Meister Kroko bildeten von dem Überraschtsein die Ausnahme, nur mit dem Unterschied, dass Meister Kroko zutiefst bestürzt dreinschaute, während Meister Ochse nur ein abfälliges Schnauben ausstieß. „Den, den du meinst, ist aber schon lange tot.“ Shen drehte sich ruckartig zu ihnen um und sah die zwei Meister fassungslos an. „Ihr wusstet davon?“ Der Ochse hob die Nase höher. „Ich wüsste nicht, was es dich angehen sollte. Du hast schon das Familienerbe nicht gewürdigt und mit Füßen getreten. Hast sogar dein eigenes Haus niedergerissen…“ Shen sprang auf. „Wird mir das jetzt noch bis an mein Lebensende vorgehalten?!“ Ochse und Pfau stierten sich an. „Wenn es mir Spaß macht, dann ja“, konterte der Ochse. „Bitte!“, mischte Yin-Yu sich ein und zog Shen etwas von Meister Ochse weg. „Streitet euch doch nicht schon wieder.“ Wenigstens lenkte das Shens Aufmerksamkeit wieder auf die Ziege, die ihm immer noch eine Erklärung schuldig war. „Wieso weiß ich nichts davon?!“, fuhr er sie an. „Oder ist er vor mir geboren?! Wie alt ist er?!“ Die Ziege schluckte schwer, wobei sie Schwierigkeiten hatte bei Shens Wortschwall ausführlich zu antworten. „Er ist jünger…“ „Du hast mir doch gesagt, dass meine Eltern nach mir keine Kinder mehr haben wollten?!“, schrie er sie an. „Was soll das???!!!“ Die Ziege hob ruhig den Huf. „Shen, ja, ja es stimmt, sie konnten es wirklich nicht über sich bringen, neuen Kinder zu haben. Sie wären niemals auf den Gedanken gekommen, dich zu ersetzen. Du warst ihr ein und alles gewesen…“ „WIE KANN ICH DANN EINEN BRUDER HABEN?!“ „Vielleicht lässt du sie erst einmal zu Wort kommen“, meinte Meister Ochse mit seinem gehässigen Grinsen, dem es irgendwie Freude bereitete den weißen Pfau so verwirrt zu sehen. „Shen, wenn du dich beruhigst, dann sage ich es dir“, beteuerte die alte Dame. Shen verengte bösartig die Augen. „Wehe du verheimlichst mir erneut etwas!“ „Ich sage dir alles“, versicherte sie. „Nur bitte tu mir den Gefallen und rede dich nicht in Rage.“ Shen wollte gerade wieder zu einem harten Argument ansetzen, als Yin-Yu ihn beruhigend aber bestimmt an seinen Schultern fasste und ihn bittend ansah. „Deine Mutter war schwanger, während du verbannt wurdest“, klärte die Ziege auf. „Von daher konnte sie es dir nie sagen. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass sie schwanger gewesen war. Und er wurde einen Monat später geboren, nachdem du die Stadt verlassen hattest.“ Sie bedeckte ihre Augen und schüttelte bekümmert den Kopf. „Es hat deiner Mutter das Herz gebrochen, als er geboren wurde. Er sah aus wie du. Seine Federn weiß wie Schnee… sogar die Augen waren dieselben…“ Sie seufzte schwer. „Nachdem er geschlüpft war, brach sie weinend zusammen. Er hatte sie so sehr an dich erinnert, dass es ein Schock für sie gewesen war.“ Shen verengte die Augen. „Wieso? Sie konnte doch froh sein, etwas zu haben, das wie ich aussah.“ „Sie wollte niemand anderen“, versicherte sie ihm, „sie wollte nur dich. Obwohl er so aussah wie du… Er wurde geboren wie du… Aber deine Mutter konnte ihn nie lieben. Sie konnte es nicht… vom ersten Tag an…“ Vor 28 Jahren in Gongmen Der Arzt, eine alte Echse, schloss die Tasche und warf nochmal einen sorgenvollen Blick auf das weiße Küken im Bett, das in Decken eingewickelt war. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich leicht. Es atmete noch etwas schwer durch den Schnabel, aber es war nicht mehr so schlimm wie in den Abendstunden nachdem es geschlüpft war. Sein Vater stand neben dem Bett und beobachtete es besorgt. Die Echse flackerte mit ihrer gespaltenen Zunge. Er war eine Mischung aus Waran und Basilisk. Er war nicht sonderlich groß. Seine Zunge war die eines Warans, aber die Statur einer Basilisken-Echse und sogar die merkwürdig geformten Füße und beschuppten Schilde auf den Rücken, wenn auch nicht so stark ausgeprägt, weshalb ihn einige einen Artbastart nannten. Aber das machte ihm wenig was aus. Er war üble Nachreden gewohnt. Dennoch waren seine Dienste am Hofe des königlichen Palastes Gongmen stets willkommen. Besonders da er der einzige Arzt war, der bis jetzt ein Mittel erfunden hatte, was das Überleben der royalen Kinder stets gerettet hatte. Die Echse nahm eine kleine Flasche zur Hand und strich nachdenklich über ein selbstgeschriebenes Etikett. Dann gesellte er sich neben den Lord. Von der Statur her reichte die Echse dem Herrscher gerade knapp unter die Schultern. „Er ist wie er“, murmelte er leise und reichte dem Lord die Flasche. „Morgens, mittags und abends eine Dosis. Das wird seine Lebenskraft wieder neu beleben.“ Lord Liang, ein blauer Pfau, nahm das Gebräu dankbar entgegen. „Du warst schon bei meinem ersten Sohn eine große Hilfe gewesen. Wir sind dir dafür zu großem Dank verpflichtet.“ Die Mischlingsechse winkte ab. „Das ist mein Job. Die Gesundheit Ihrer Kinder sind schon eine große Besonderheit.“ Er versuchte seinen Satz so zu formulieren, dass es nicht herabwürdigend klang. „Vielleicht könnte es sogar noch anderen Kindern helfen, wenn die Symptome rechtzeitig erkannt werden.“ Lord Liang senkte den Blick. „Es ist sonderbar“, sagte er leise. „Egal ob bei Shen oder bei ihm“, seine Augen wanderten wieder zu seinem kleinen Sohn. „jeder von ihnen hat kurz nach der Geburt mit Atemnot und Kreislaufproblemen zu tun. Es scheint irgendwie in der Familie zu liegen. Dabei lag der letzte ähnliche Fall zwei Generationen zurück.“ Der Arzt nickte bedächtig. „Soweit ich weiß, kam für dieses Kind dann jede Hilfe zu spät. Mein Beileid.“ Der Lord nickte ihm dankbar zu. „Hauptsache es geht ihm gut.“ Sein Blick wanderte zum Fenster. Die Sonne ging langsam auf und hüllte die Stadt Gongmen in ein rotes Morgenlicht. Am Balkon stand die Mutter, Lady Ai, und starrte schon seit Stunden nach draußen. Kurzentschlossen ging Lord Liang auf die lila-pinkfarbene Pfauenhenne zu. „Ai, es geht ihm schon besser.“ Doch eine Antwort von seiner Frau blieb aus. Unbeweglich starrte sie aus dem Fenster. „Willst du deinen Sohn nicht ansehen?“ „Meinen Sohn?“ Langsam wanderte ihr Blick zu ihrem Mann, dann wandte sie ihn sogleich wieder von ihm ab. „Ich habe schon einen Sohn, und der ist da draußen.“ Lord Liang seufzte schwer. „Ich weiß, Ai. Er sieht genauso aus wie er, aber er braucht uns auch.“ „Sein Überleben ist vorerst gesichert, meine Lady“, meldete sich der Echsen-Arzt zu Wort. „Das Mittel hat schon bei Ihrem ersten Sohn gut angeschlagen. Es sieht so aus, als würde es auch ihm in diesem Fall helfen.“ Mit diesen Worten holte er einen Block aus der Tasche. „Ich müsste dann noch meinen Arztbericht schreiben. Wie soll der Junge denn heißen?“ Seine Augen wanderten zwischen dem Lord und der Lady, doch Lady Ai schien seine Frage nicht gehört zu haben, weshalb Liang nochmal nachfragte. „Ai, wir müssen ihm noch einen Namen geben. Vielleicht Sheng… oder Zheng…“ „Nein!“, fiel sie ihm plötzlich ins Wort und wandte sich vom Fenster ab. „Nein, er wird ihn nie ersetzen!“ Der Arzt sah ihr verwundert nach. „Und wie soll er dann heißen?“ „Ist mir egal! Nur nicht seinen Namen, oder aus der Familie, auch keinen ähnlich klingenden Namen!“ „Aber Ai“, schaltete sich ihr Mann erneut ein. „Einen Namen müssen wir ihm geben. Fällt dir denn keiner ein?“ „Nimm irgendeinen Namen!“, wehrte Lady Ai ab. „Nimm… nimm seinen!“ Sie deutete auf den Antilopen-Wächter, der neben der Tür stand. Dann rannte sie aus dem Zimmer. Schweigend sahen die Echse und der Pfau ihr nach. „Es ist noch zu früh für sie“, entschuldigte der Lord sich beim Arzt. „Sie ist noch nicht über Shens Verurteilung hinweggekommen.“ Die Augen der Echse sahen den Lord prüfend an. „Euch scheint es aber auch nicht spurlos an Ihnen vorbeigegangen zu sein. Hab ich nicht recht, mein Lord?“ Für einen Moment sah es so aus als würde Lord Liang ebenfalls in Verzweiflung ausbrechen, doch dann beherrschte sich der Pfau wieder und hob den Kopf höher. „Er hat viele Unschuldige umgebracht“, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme. „Es war nur berechtigt, dass er für seine Tat bestraft wurde.“ Die Echse legte die Stirn in Falten. So sehr er auch selber geschockt gewesen war, als er von dem Massaker im Panda-Dorf erfahren hatte, so hätte er es dem Lord von Gongmen auch nicht übelgenommen, ein tiefes Bedauern zu empfinden. Immerhin war auch er bei Shens Geburt anwesend gewesen und hatte ebenfalls immer noch das hilflose weiße Baby vor Augen, das er mit seiner experimentellen Medizin noch am Leben erhalten konnte. Eine Weile standen beide noch schweigend im Raum, bis sie vom Bett her ein leises Quicken vernahmen. Sie drehten sich um. Das weiße Küken war aufgewacht und reckte sich in den Decken. Sogleich eilte der Lord zu ihm ans Bett. Das Baby hatte die Augen offen, was in dem Lord wieder die tiefste Wehmut aufsteigen ließ. Sie waren wirklich genau gleich wie die von seinem Bruder. Lord Liang stellte sich vor, wie sehr Shen sich über die Geburt von einem gleichaussehenden Bruder gefreut hätte. Sonst gab es nie jemanden, der seine Federfarbe hatte, weshalb er nicht sonderlich beliebt gewesen war. Egal ob als Kind oder Jugendlicher. Jemanden zu haben, mit dem er sein Aussehen und Anderssein teilen konnte, hatte ihm so gefehlt. Und jetzt war es da – aber er selber nicht mehr. Seufzend strich der Lord über den kleinen Körper. Das Küken sah den blauen Pfau mit großen roten-schwarzen Augen an. Dann strampelte es mit den kleinen Füßen und streckte seine Flügel nach seinem Vater aus. Wieder wurde der Lord sehr traurig. Bei Shen hatte er sich mit Zuneigung zurückgehalten. Anfangs standen seine Überlebenschancen sehr schlecht. Der Lord hatte sich davor gefürchtet an der Trauer des Verlustes zusammenzubrechen, und beschloss Shen schon ab diesem Zeitpunkt gefühlsmäßig nicht an sich heranzulassen. Er hatte gedacht, dann würde er seinen Tod besser verkraften können. Es war ein Wunder gewesen, dass Shen überlebt hatte, und auch später, dank guter ärztlicher Behandlung. Doch dass der Lord aus Angst ihn innerlich nicht sofort in sein Herz geschlossen hatte, war ein Fehler gewesen. Er streckte seine Flügel nach seinem Sohn aus und hob das strampelnde Baby aus den Decken heraus. „Warte noch ein bisschen mit dem Ausfüllen der Formulare“, wandte er sich schließlich an den Arzt. „Wir werden uns über einen Namen schon einig werden. Dein Lohn wird dir zugeschickt.“ Die Echse zuckte die Achseln. „Wie Sie meinen, mein Lord“, und packte den Notizblock wieder weg. Dann verabschiedete er sich und ließ Lord Liang mit seinem Sohn zurück. Das Küken rekelte sich erneut und sah babbelnd zu seinem Vater hoch. Der Lord seufzte tief. Er schaute auf seinen frischgeborenen Sohn, dann auf den Wächter. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging zu der Antilope rüber. Ai wollte, dass er seinen Namen nahm. Prüfend betrachtete er den Wächter. Vielleicht würde ihm der Name ja doch gefallen. „Nun, wie heißen Sie?“, fragte er. „Long-Long, mein Lord“, antwortete die Antilope. „Long-Long?“ Liang klang etwas enttäuscht. Es war nicht gerade der Namen, den er sich vorgestellt hatte. „Na gut, danke.“ Mit diesen Worten schritt der Lord aus dem Zimmer. „Long-Long“, murmelte Lord Liang vor sich hin, während er mit seinem Sohn in den Flügeln durch die Flure ging. Ai war die Treppe einen Stock höher gestiegen, doch der Lord ließ sich Zeit. Der Name, dem ihm der Wächter genannt hatte, ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf und stellte sich vor, wie man den Kleinen dann später nennen würde. „Lord Long-Long.“ Liang verzog den Schnabel. Eigentlich hatte er sich einen anderen Namen für seine Nachfolge vorgestellt. “Long-Long, Long-Long. Lord Long-Long.” Liang konnte sich irgendwie nicht so damit anfreunden. Unterwegs kamen sie an Shens ehemaligem Zimmer vorbei. Der Lord hielt an und betrachtete nachdenklich die Tür. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken und vielleicht auch eine Gelegenheit, dass sein Sohn indirekt mit seinem Bruder in Berührung kam. Es fiel dem Lord schwer diesen Raum zu betreten, bei der Vorstellung, dass Shen auf ihn zukommen würde, um sein Geschwisterchen zu sehen. Was hätte er gefragt? Hätte er einen guten Namen für seinen Bruder gehabt? Langsam ging der Lord mit dem Küken durch den Raum. Das Zimmer war so wie nach Shens Abreise. Nichts war berührt worden. Jeder Schrank, jeder Tisch, jeder Gegenstand stand immer noch an seinem Platz. Als sie an ein paar Waffen vorbeikamen, die Shen sich zur Anschauung an die Wand gestellt hatte, es waren hauptsächlich einfache Säbel, wurde das Küken auf einmal aktiv und streckte seine kleinen weißen Flügel nach etwas aus. Lord Liang hielt an und schaute verwundert auf den Gegenstand, dass die Aufmerksamkeit des Babys erregt hatte. „Der Dandao?“ Er betrachtete den einschneidigen Säbel. Das war Shens erste Trainingswaffe gewesen. „Dein älterer Bruder hatte damit geübt.“ Eine Weile hing Lord Liang seinen Erinnerungen nach. Shen war so stolz gewesen, eine Waffe zu besitzen, mit der er Eindruck schinden konnte. Er hatte sich schon immer Respekt gewünscht. Anfangs war Lord Liang dagegen gewesen, aus Angst er könnte sich wehtun. Doch Shen verstand es mit der Zeit hervorragend mit Waffen umzugehen. Es hatte den Lord selber erstaunt wie geschickt er sein konnte, was sich beim Kung-Fu-Training weniger gezeigt hatte. Im Gegenteil, er war sogar ziemlich schlecht gewesen, obwohl die Meister ihn unterrichtet hatten. „Dandao“, murmelte Lord Liang vor sich hin. „Dao.“ Dao war ein Überbegriff für diese Waffen und als Name für seine Familie eher ungewöhnlich. Aber vielleicht…. Nachdenklich sah er seinen kleinen Sohn an. „Dao bedeutet auch „der Weg“.“ Er hob das Küken hoch und betrachtete es eingehend. Das Baby empfand große Freude bei diesem Hochheben und lachte. Lord Liang legte die Stirn in Falten. Vielleicht… nur vielleicht. „Vielleicht findest du ja einen Weg zu ihm. – Dao.“ Als er das Zimmer betrat, schaute seine Frau nicht auf. Die Lady von Gongmen saß auf einem Stuhl, den Kopf zur Seite geneigt und mit einem Flügel verdeckt. Sie schien ihren zweiten Sohn nicht sehen zu wollen. Als sie ihren Mann näherkommen hörte, bewegte sie zögernd die Schnabellippen. „Und? Wie hieß er?“ „Dao“, log Liang. Er hasste es zu lügen. Seine Frau sprang auf. „Das war Shens erste Waffe gewesen! Nein! Nimm was anderes…“ „AI!“, unterbrach ihr Mann sie schroff. „Entweder diesen oder gar keinen! Namenlos können wir ihn nicht durchs Leben ziehen lassen. Das können wir ihm nicht antun. Es sei denn du willst, dass ich ihn Chen, Sheng oder Zhen taufe! Wäre dir das lieber?!“ Eine Weile sah die Pfauenhenne ihren Mann sprachlos an. Schließlich sank sie zurück auf den Stuhl und Liang vermutete, dass sie nichts weiteres mehr dazuzusagen hatte. Er fühlte das Küken in seinen Flügeln wieder strampeln. Lächelnd hob er das Küken erneut hoch. Es sollte wenigstens etwas mit seinem ersten Sohn verbinden, selbst wenn es seiner Frau nicht gefiel. Ein wenig glücklich rieb er seinen Schnabel an seinem Sohn. „Mein kleiner Dao.“ Das Baby quietschte vergnügt. Doch seine Mutter bekam das Fiepen von ihrem Sohn nicht mit. Sie saß nur da und starrte ins Leere. Die alte Ziege seufzte. „Als ob das nicht schon schlimm genug gewesen wäre. Viel schlimmer war, was danach passierte.“ Jetzt hoben auch alle anderen die Köpfe. Wenn die alte Dame sowas sagte, dann musste es wirklich etwas Schlimmes gewesen sein. Nur Meister Ochse verzog keine Miene, da er, genauso wie Meister Kroko, die Geschichte schon kannten. „Was ist passiert?“, fragte Po neugierig. Doch die Worte der Ziege galten wieder Shen, der sie erwartungsvoll ansah. „Deine Mutter konnte sich nie von dir lösen“, fuhr die alte Ziege fort. „Niemals wollte sie dich ersetzen. Und immer, wenn sie Dao sah, erinnerte er sie an dich. Deine Mutter konnte ihn nie als ihren Sohn akzeptieren. Sie redete ununterbrochen nur von dir…“ Sie seufzte erneut. „Sehr zum Leidwesen von anderen.“ Drei Jahre später nach Daos Geburt… Mit tapsigen Schritten ging das junge weiße Küken durch die Gänge des Palastes. Aus dem Zimmer seiner Eltern drangen laute Stimme zu ihm hindurch. Neugierig steckte Dao seinen kleinen Kopf durch den Türspalt. Im Raum standen seine Mutter mit seinem Vater. Lady Ai hatte das Gesicht in den Flügeln vergraben und weinte. Wie so oft. Noch nie hatte das Küken sie lachen gesehen. „Ich will meinen Sohn! Ich will meinen Sohn!“, schrie Ai mit weinerlicher Stimme. Lord Liang schüttelte bekümmert den Kopf und nahm sie in die Flügel. „Er ist aber nicht mehr hier.“ Er umfasste ihr Tränenüberströmtes Gesicht und sah ihr feste in die Augen. „Aber Dao ist auch dein Sohn. Du solltest ihn genauso viel Liebe geben. Er braucht das.“ Lady Ai öffnete mühsam den Schnabel. „Ich… ich kann nicht!“ In diesem Moment vernahmen beide die kleine Gestalt im Türrahmen. Lady Ai genügte nur ein einziger Blick, dann rannte sie schnell davon. Traurig sah Dao ihr nach. „Hab ich Mama wieder verjagt?“ „Nein, nein“, versicherte ihm sein Vater und umarmte ihn. „Sie war nur etwas durcheinander.“ „So war dein Vater hauptsächlich für ihn da gewesen“, erzählte die Ziege weiter. „Aber das hatte Dao natürlich nicht genügt. Dein Bruder hatte es manchmal nicht ertragen, dass deine Mutter ihn gemieden hatte wie einen Wildfremden. Er wollte so gerne ihre Aufmerksamkeit. Und als dann der Tag kam, an dem du schon genau fünf Jahre die Stadt verlassen hattest, wollte er ihr ein besonderes Geschenk machen. Er hatte sich solche Mühe geben, ihr was Schönes zu schenken, doch stattdessen, ist sie von ihm weggelaufen. Sie war so entsetzt über seine Bemühungen, dass sie Hals über Kopf die Stadt verließ und sich auf die Suche nach dir machen wollte. Aber wie du weißt, erlitt sie einen Unfall in den Bergen. * Und als sie dann in Gongmen starb, da machte… da machte sich dein Bruder große Vorwürfe.“ Vor 23 Jahren in Gongmen Eine Weile blieb Lord Liang noch neben dem Totenbett seiner toten Frau, bevor man sie endgültig mit einem Laken bedeckte. Mit schweren Schritten entfernte er sich. Erschrocken blieb der Pfau stehen, als er seinen fünfjährigen Sohn in der Tür stehen sah. Das weiße Kind sah ihn entgeistert an. Lord Liang stellte sich schnell vor ihm, um ihn die Sicht auf das Laken verdeckte Bett zu versperren, doch der Junge wusste ganz genau was passiert war. „Mama ist tot“, hauchte das Kind mit erstickter Stimme. Der Lord senkte den Blick. „Sie ist eingeschlafen.“ Sanft legte er die Flügel auf Daos Schultern. Doch das konnte den Jungen nicht beruhigen. „Mama ist meinetwegen gestorben.“ Geschockt von diesen Worten kniete sich der Lord vor ihm hin. „Das ist nicht wahr! Es war ein Unfall gewesen.“ Dem Jungen stiegen die Tränen in die Augen. „Es war meine Schuld gewesen! Ich hab sie verjagt!“ Noch bevor sein Vater etwas sagen konnte, entwand sich der Junge aus seiner Umarmung. „Ich hab sie umgebracht!“ Weinend rannte der weiße Junge aus dem Zimmer. Bestürzt rannte sein Vater ihm nach. „DAO!“ „Dein Bruder rannte davon“, führe die Ziege traurig ihre Erzählung fort. „Ich weiß es noch genau. Ich hab ihn durch die Gänge laufen sehen, hab ihn weinen gehört. Er rannte durch die Wachen hindurch. Man hatte ihn nicht aufhalten können. Er floh aus der Stadt. Das waren zumindest die letzten Aussagen, wo man ihn noch an den Häusern hat vorbeirennen sehen. Man hat natürlich anschließend sofort alles nach ihm abgesucht. Die ganze Umgebung. Aber… aber alles was man von ihm fand, war nur sein weißer Umhang, den man irgendwo im Wald aufgelesen hatte.“ Die Ziege stützte sich schwer auf ihrem Gehstock ab. Anscheinend dachte sie noch daran, wie verzweifelt Lord Liang darüber gewesen war. „Monate lang suchte dein Vater nach ihm“, berichtete sie weiter. „Doch er konnte ihn nie finden. Nachdem ein Jahr ins Land gezogen war, ohne auch nur eine Spur von ihm zu finden, musste er die Suche endgültig aufgeben und dein Bruder wurde für tot erklärt. Man nahm an, dass er irgendwo verunglückt war, allerdings hatte man nie von einer Leiche eines kleinen weißen Pfauenjungen berichtet. Aber andererseits wurde auch später nirgendwo in China ein anderer weißer Pfau gesichtet. Nachdem die Suche eingestellt worden war, fasste dein Vater schließlich einen Entschluss. Ich unterhielt mich noch mit ihm. Dann sagte er zu mir: „Mein erster Sohn wurde verbannt, meine Frau ist tot, nun ist auch noch mein zweiter Sohn von mir gegangen.“ Aber er wollte sein Versprechen einlösen, was er seiner Frau gegenüber am Sterbebett gegeben hatte. Nämlich dafür zu sorgen, dass du noch eine Zukunft hast. Den Rest kennst du ja. Dein Vater brachte mühsam über die Jahre das nötige Geld für dich zusammen, damit du wieder eine Existenz hattest. Er starb drei Jahre bevor du wieder nach Gongmen zurückkamst. Seit dem Verschwinden von deinem Bruder sind nun schon 23 Jahre vergangen. Bis heute hatte man nie mehr wieder etwas von ihm gehört und niemand hat ihn jemals wiedergesehen.“ Nachdem die Ziege ihre Geschichte mit diesen Worten beendet hatte, schaute sie Shen mit trauriger Miene and. Shens Schnabellippen begannen zu beben. „W-warum hat man mir das nie erzählt?!“ „Was hätte es gebracht?“, gab die Ziege zurück. „Dein Bruder galt für tot, warum sollte man dir von einem toten Bruder erzählen, der kaum existiert hat? Und außerdem, selbst wenn ich vorgehabt hätte es dir zu sagen, hätte es dich interessiert? Du warst doch damals nur mit deinem Traum beschäftigt, China zu erobern.“ „Warum hast du es mir dann nicht später gesagt?!“ Die Ziege schüttelte wehmütig den Kopf. „Damit du hinter einem Bruder nachtrauerst, den du nie gekannt hast, und auch nie hättest kennenlernen können?“ Sie schüttelte wehmütig den Kopf. „Du hattest doch schon deine Eltern verloren. Warum sollte ich dich auch noch damit belasten? Ich war so froh gewesen, dass du einmal seit langem wieder richtig gelacht hattest, als du deine Familie wieder gefunden hattest. Wieso hätte ich dir dann sowas erzählen sollen?“ Sie senkte den Blick. „Shen, ich konnte es nicht tun. Ich konnte es nicht.“ Ein Schweigen legte sich über die Gruppe. Eine Weile sah Shen sie noch an, dann senkte er den Blick und massierte seine Stirn. Po war der Erste, der sich traute wieder ein Wort zu sagen und schaute auf Yamato, der ebenfalls still geworden war. „Tja, ich schätze, damit wäre der Fall ja wohl klar, oder?“, fragte der Panda vorsichtig in die Runde, um auf den Vorfall von vorhin aufmerksam zu machen. „Dann kann Shen es ja nicht gewesen sein. Ich meine, dann war es wohl er. Oder war es vielleicht doch ein anderer? Und was war das nochmal mit den Ninjas gewesen?“ Tigress gab ihm einen Stoß in die Rippen. So sehr Po wie die anderen auch neugierig war, so schien diese Frage eher unangebracht zu sein. Einzig nur Meister Ochse besaß die Unverschämtheit sich über den gebeugten weißen Pfau zu beugen und mit einem spöttischen Ton seinen Senf noch dazu zuzugeben. „Bilde ich es mir nur ein, oder bist du jetzt um eine Erfahrung reicher geworden?“ Empört schlug Shen ihm mit dem Fuß ins Gesicht, was dem Ochsen aber nichts ausmachte. Doch statt sich weiter zu prügeln rannte der Pfau einfach davon. Yin-Yu wollte ihm nach, doch die Ziege hielt sie zurück. Sie wusste, Shen wollte jetzt alleine sein. König Wang kratzte sich verwirrt am Kopf. „Also wirklich, diese Familie überrascht mich immer wieder.“ Po sah ihn tröstend an. „Da bist du nicht der Einzige, Kumpel.“ Das chinesische Wort “Dao” kann je nach Aussprache verschiedene Bedeutungen haben. Es kann sowohl „Dāo – Schwert, Klinge“ als auch „Dào – Weg“ heißen. Weitere wären z.B. Dǎo – Insel, aber auch andere Bedeutungen als Nomen, Verben ect…, sind möglich, was hier aber jetzt nicht wesentlich ist. Danke fürs Lesen. :-) * Siehe „Die letzte Chance“, Kapitel 26 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)