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Raum und Zeit

(Titelvorschläge werden entgegengenommen)
von

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Prolog

Das Potenzial eines Multiversums ist buchstäblich unendlich. Doch allein unser einzelnes Universum erfüllt uns mit Ehrfurcht. Eine Entscheidung führt zur nächsten und zur nächsten.

Wir sagen gern, dass die Möglichkeiten endlos sind. Doch in einem einzigen Zeitstrahl trifft das einfach nicht zu. Jedes fallende Sandkorn in einer Sanduhr beeinflusst, wie jedes andere Sandkorn fallen wird. Wir sind Lenker unseres eigenen Schicksals und zugleich hilflos den Umständen ausgeliefert.

Es ist uns schlicht nicht möglich, zu wissen, was passieren wird, bis es passiert.

− Tom Hiddleston (“Assembled” The Making Of LOKI, 2021)

Statesman - 2017

Das Klopfen an der Metalltür klingt hohl im leeren Flur nach. Nur dumpf kann er die Geräusche der Besatzung durch die endlosen Gänge und Wände des Flugschiffs hören, obwohl sie zu hunderten an Bord waren. Schon seine Schritte hier her haben gehallt, als befände er sich auf einem Friedhof.

Mit einem harten Schlucken klopft er erneut.

Thor hat gar nicht erst lange versucht, Loki unter den Asen, die sich zu hunderten in der Halle der Statesman drängen, zu finden, sondern ist direkt auf die Brücke des Schiffs hinaufgestiegen. Wenn Loki sich irgendwo eingerichtet hat, dann sicherlich nicht in den unten liegenden Lagern und Maschinenräumen, sondern oben, wo die Kommandos gegeben werden.

Und die an der Tür angebrachten goldenen Hörner teilen Thor ihr Übriges mit.

„Loki!“

Thor klopft ein letztes Mal, doch er bekommt keine Antwort.

Kurz überlegt er, sich abzuwenden. Schließlich drückt er kräftig gegen die Tür. Zu seiner Überraschung öffnet sie sich ohne großen Widerstand. Offensichtlich hat sein Bruder sie nicht verriegelt, wie Thor aber angenommen hatte. Krachend schlägt sie im Inneren des Raumes gegen die Wand und Loki fährt hoch.

Loki hatte es sich auf einem prunkvollen Bett bequem gemacht. Jetzt sitzt er aufrecht und die verkrampften Schultern sprechen von Alarmbereitschaft. Erst langsam bemerkt Thor, dass der ganze Raum, den er mit einer leicht gehobenen Augenbraue registriert, vollkommen anders aussieht als jeder andere Winkel des Flugschiffes. Während die Statesman eigentlich ein sakaarisches Transportschiff und nicht für längere Aufenthalte ausgelegt ist, sieht dieser Ort eher nach ihren Gemächern im Palast von Asgard aus.

Fein gedrechselte Holzmöbel, deren Polster mit Stoffen überspannt sind, seidene Vorhänge links und rechts des prominenten Fensters, Regale voller alter und wertvoller Bücher, sowie ein Tisch, dessen glänzend polierte Platte unter verschiedenen Schriften kaum noch zu sehen ist. In einer entfernten Ecke steht sogar ein Steinbecken, das leicht dampft und darauf schließen lässt, dass es warmes Wasser enthält. Alles ist erleuchtet mit asgardischen Fackeln, die ohne Feuer einen warmen, goldenen Schein verbreiten.

„Was ist das hier?“

Lokis Kopf ruckt provokant und mit drohendem Unterton sagt er: „Erwartest du von mir, dass ich wie ein Herumtreiber hause?“

Während er sich von seiner Bettstatt erhebt, streicht Loki sich über das Haar. Er hat sich seiner Kampfausrüstung entledigt und trägt weder seinen waldgrünen Umhang, noch die Schulterverstärkungen.

Loki steht nun aufrecht im möblierten Raum, als gehöre ihm das Schiff und alles, was darauf zu finden ist, und Thor zweifelt keine Sekunde daran, dass sein Bruder tatsächlich in der Lage ist, nach eigenem Willen so viel Materie zu beschwören.

Thor schmunzelt für einen kurzen Moment, dann blinzelt er wohlwollend. Anders als Loki trägt Thor noch immer den Brustpanzer, den er sich als Gladiator auf Sakaar gewählt hat. Die Flucht von Asgard lief so übereilt ab, dass niemand der Zufluchtsuchenden weitere Ausrüstung mit an Bord gebracht hat. Auch wenn Heimdall seine Schützlinge schon einige Zeit vor Hela verborgen hatte, die meisten waren nicht mit mehr geflohen als dem, was sie am Leib trugen. Die Ressourcenknappheit wird ihnen noch den Hals zuschnüren.

Aber immerhin: Während Odin stets Wert daraufgelegt hat, dass seine Familie sich vorzeigbar präsentiert, gibt es auf der Statesman nun auch keinen Bedarf mehr für unbequeme Herrschaftszeichen.

„Mir war nicht bewusst, dass Inneneinrichtung dir Freude bereitet, Bruder.“

Loki wirft Thor einen langen, verkniffenen Blick zu, ohne etwas zu sagen, dann wendet Thor sich ab und betrachtet die Szenerie vor dem Fenster. Um sie herum herrscht nichts als funkelnde Galaxie. Verschiedene Sternennebel leuchten in unterschiedlichen Entfernungen und abwechselnden Farbtönen, je nach Atmosphäre und Wellenlänge des Lichtes.

Zu anderer Zeit hätte Thor sich daran erfreut, doch heute wünscht er sich nichts sehnlicher, als bereits jetzt ein Anzeichen der verbleibenden Acht Welten zu entdecken. Wenigstens deutet auch nichts mehr auf die Zerstörung Asgards hin.

Thors Herz krampft sich zusammen.

Asgard.

„Was treibst du hier?“, fragt er, um sich abzulenken, und greift sich einen Gegenstand von Lokis Schreibtisch. Es ist ein kleiner Hammer aus Metall mit wuchtigem Kopf, der an einem winzigen Karabiner hängt. So etwas ähnliches hat er schon einmal an Darcys Autoschlüssel gesehen, aber es erinnert ihn auch an Mjölnir. „Und was ist das?“

Bevor Loki antworten kann, wirft Thor das kleine Ding nach ihm. Reflexartig fängt Loki es auf, indem er seine langen Finger darum schließt.

„Wie ich bereits sagte: Ich bin hier.“ Loki blinzelt und schaut Thor direkt in die Augen.

Eine Pause entsteht, aber keiner von beiden wendet den Blick ab.

Wie Thor erwartet hat, ergreift Loki nach kürzester Zeit das Wort.

Mit einem Nicken in den Raum sagt er: „Nun, ich habe mir erlaubt, mich zurückzuziehen.“ Loki verschränkt die Arme vor der Brust, den kleinen Hammer am Karabiner noch immer fest in der Hand. „Gibt es etwas, das du von mir benötigst, mein König?

Lokis Worte triefen vor Hohn. Thors Anerkennung als Herrscher von Asgard ist noch keine zwei Stunden her und schon steht die Angelegenheit zwischen ihnen. Thor weicht nun doch Lokis Blick aus.

Dass sein kleiner Bruder anfangs zögerlich, dann aber doch an seiner Seite an der behelfsmäßigen Zeremonie teilgenommen hat, bedeutet Thor viel. Vielleicht sollte er ihm jetzt tatsächlich ein wenig Abstand gewähren.

Aber es ist schwer, Loki zu vertrauen, erstrecht wenn man ihn aus den Augen lässt.

Schließlich sagt Thor: „Nein, ich brauche nicht direkt etwas“ und lässt Loki den Sieg des Hohns.

Stattdessen greift Thor sich das nächstbeste Buch vom Schreibtisch und betrachtet für einen Moment den Titel. Es ist ein abgegriffenes Exemplar, offenbar ist es bereits durch viele Hände gegangen und ist oft gelesen worden. Die Frontseite ist einheitlich grau und nur ein einziges Wort prangt darauf.

„Was ist das, ‚S.E.N.F.‘?“ Die Druckart verrät, dass dieses Buch sicherlich nicht von Asgard stammt. Sein Aussehen erinnert Thor an die Unterlagen im Forschungslabor von Jane Foster und Erik Selvig.

Schneidend entgegnet Loki: „Und seit wann interessierst du dich für Wissenschaft?“

Loki streckt fordernd die Finger aus und Thor übergibt ihm ohne weitere Fragen das Buch, hebt dann in einer entschuldigenden Geste beide Hände.

„Wenn du nichts zu sagen hast, schlage ich vor, dass du jetzt gehst. Ich werde mich ausruhen. Nicht jeder von uns ist gebaut wie ein Stier.“

Thor zögert kurz, dann nickt er. „Gut.“

Er tritt zurück zur Tür, die noch immer offensteht und greift vorsichtig die Klinke.

„Wenn du mich suchst, ich bin-“

„Bei deinem Volk. Wo auch sonst.“ Loki Mundwinkel zucken nach oben, den Kopf hat er leicht schief gelegt, aber das Lächeln erreicht seine Augen nicht.

Thor zieht die Tür vorsichtig hinter sich zu, darauf bedacht, die angebrochenen Angeln nicht gänzlich zu zerlegen. Als er die Treppe zur Brücke nimmt, lächelt er. Vielleicht gleicht das Schiff doch keiner Grabstätte.

Er ist da.

Asgard, Palastgärten - 980

Die Sohlen seiner Lederstiefel gruben sich tiefer in den sandigen Boden, als Thor seinen Stand korrigierte. In Erwartung des Aufpralls neigte er sich leicht nach vorn.

Sein Gegenüber war riesengroß und sicherlich fünfmal so schwer wie er selbst. Und das Geräusch, das es ausstieß, war schlimmer als Metall auf Stein.

Die Augen starr auf die Bedrohung geheftet, nahm Thor die aufgeregten Schreie um sie herum nur am Rande wahr. Natürlich genoss er es, dass ganz Asgard seinen Leistungen Aufmerksamkeit schenkte, aber das einzige Gesicht, dessen stolzer Ausdruck ihm wirklich wichtig war, befand sich ohnehin hinter ihm, außerhalb von Thors Blickfeld.

Das Donnern der Hufte wurde mit jedem Aufschlag lauter. Thor wandte den Blick nicht ab. Er spürte das Kribbeln in seinen Fingern. Die elektrischen Funken unterdrückend, spannte er all seine Muskeln an.

Mit jedem Sprung auf Thor zu, grub das Bilgenschwein seine behuften Vorderfüße tiefer in den Sandboden. Es hatte den Kopf geneigt und schoss mit gesenktem Geweih auf ihn zu. Thor neigte das Kinn niedriger, ließ an beiden Händen die Knöchel knacken und dann, im letzten Moment, bevor er von den Spitzen des Geweihs aufgespießt worden wäre, riss er den rechten Arm nach vorne. Die Schulter durchgestreckt, die Handfläche flach auf die Stirn des Bilgenschweins gepresst, lehnte er sich mit aller Macht in den Aufprall. Ein dumpfer Donner ertönte, als das Ungeheuer abrupt stehen blieb und sich eine Druckwelle zwischen ihnen beiden entwickelte.

Den Frauen im Publikum flogen die Blüten aus den Haarkränzen, Sand wirbelte auf. Im Augenwinkel konnte Thor die bunten Fahnen, Girlanden und Banner erzittern sehen, mit denen man die Tribünen rund um den Turnierplatz geschmückt hatte. Ein zufriedenes Grinsen erhellte sein jugendliches Gesicht.

So sehr das Bilgenschwein auch vorwärts drängte, es konnte keinen Zentimeter gegen Thor gutmachen. Gerade, als es so aussah, als wären sie ebenbürtig, packte Thor mit der freien Hand das Geweih des Biests und mit einem jähen Aufbäumen seiner Muskelkraft riss er es zur Seite und auf den Rücken. Ungläubig und vor Wut tobend, schrie das Bilgenschwein auf. Ein Geräusch als sei es gepfählt worden.

„Jetzt!“

Thor fing das Seil, das man ihm über den Zaun zuschleuderte, mit der rechten Hand auf, warf sich mit einem Knie auf den schutzlosen Bauch des Bilgenschweins und machte sich mit ruppigen Bewegungen daran, ihm die vier Beine zu verknoten. Er war zwar nicht der Fingerfertigste, aber nach einem Moment hörte er, wie die große Glocke über dem Turnierfeld ertönte – das Zeichen dafür, dass er die Aufgabe erfüllt und man seine Zeit gemessen hatte.

Zufrieden ließ er von dem Untier ab und stieß siegesgewiss beide Arme in die Luft, während das Bilgenschwein die Stacheln auf seinem Rücken immer weiter in den Sandboden trieb.

Nun hörte Thor das begeisterte Toben der Menge wieder ganz deutlich und badete in der Euphorie seines Volkes. Er winkte den Zuschauenden zu, drehte sich in alle Richtungen und richtete seinen Blick schlussendlich auf die am höchsten gelegene Tribüne.

Seine Eltern Odin und Frigga hatten sich von ihren goldenen Thronen erhoben und applaudierten. Beide waren sie in ihre Festtagsgewänder gehüllt und strahlten ihn an. Odin hatte gar Gungnir, seinen königlichen Speer, gegen die Seite des Throns gelehnt, um seinem Erstgeborenen die Ehre zu erweisen.

Thor hörte seinen Herzschlag in den eigenen Ohren wummern, während er über das ganze Gesicht lachend die Fäuste in der Luft schüttelte und sich noch einen Moment länger umschwärmen ließ.

Dann fiel sein Blick auf Loki.

Thors Bruder saß bereits auf dem Holzzaun, der das Kampffeld umgab. Offensichtlich wartete er ungeduldig darauf, dass Thor hinaustrat, damit nun er sich an der letzten Aufgabe des Turniers beweisen konnte. Zum fünfzehnten Mal jährte sich der Sieg über Jotunheim und die Eisriesen.

Anders als der Rest seiner Familie hatte Loki sich nicht die Mühe gemacht, Festtagsgewänder anzulegen. Er war von Kopf bis Fuß in feines asgardisches Leder gekleidet. Nicht einmal eine Rüstung hatte er sich übergestreift. Offenbar war er selbstsicher genug, den Kampf mit dem Bilgenschwein auch so anzugehen. Erst im Nachhinein sollte Thor auffallen, dass Loki der Einzige weit und breit war, der nicht zur Feier des Tages auf schwarze Kleidung verzichtet hatte. Einzig und allein, dass Loki Handschuhe trug, war ungewöhnlich.

Anders als der Rest der Asen lächelte Loki auch nicht oder applaudierte. Stattdessen zogen sich seine Brauen konzentriert über seinen blassen Augen zusammen und seine Lippen waren kaum mehr als ein Strich. Er schaute direkt an Thor vorbei, den Blick auf das sich am Boden windende Bilgenschwein geheftet. Es war inzwischen von Wachen, die es fortbringen sollten, umstellt.

Thor ging auf Loki zu und legte ihm auffordernd die Hand auf die Schulter. „Glaubst du, das kannst du schlagen, Bruder?“

Thor warf einen Blick auf die große Tafel, auf der gerade die Zeit, die er für die Bändigung des Untiers benötigt hatte, eingetragen wurde.

Nach allen Aufgaben führte er die Liste der Turnierteilnehmer an, wenn auch nur mit kleinem Vorsprung vor Sif.

„Du wirst es bereuen, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln“, antwortete Loki mit einem beflissenen Unterton, ohne Thor in die Augen zu sehen. Er strich sich über die nach hinten gelegten kurzen Haare, bevor er vom Zaun sprang und leichtfüßig im Sand landete. Das Seil, das man ihm als einziges Werkzeug zur Bändigung seines Bilgenschweins zur Verfügung stellte, hatte Loki sich bereits über die Schulter geworfen.

Die Wachen hatten Thors gefesseltes Bilgenschwein in der Zwischenzeit vom Feld gezerrt. Nun stand Loki allein in der Mitte des zerwühlten Sandplatzes. Er hörte, wie die Asen auf den Tribünen noch immer aufgeregt durcheinanderriefen ob Thors Bestzeit, vernahm entfernt die Schreie des geschlagenen Bilgenschweins und das Kreischen der Vögel über ihm. Er atmete tief ein, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und entspannte bewusst die Schultern. Dann schloss er die Augen, um sich zu konzentrieren.

Erst als er die Schritte weiterer Wachen vernahm, die ankündigten, dass sie Lokis Bilgenschwein auf den Turnierplatz geleitet hatten, öffnete er sie wieder.

Es war ein Untier. Noch riesiger als das von Thor, stand das gigantische Bilgenschwein keine fünf Körperlängen von ihm entfernt. Die längsten Stacheln auf seinem Rücken waren beinahe mit den bunten Girlanden am Rande des Turnierplatzes auf einer Höhe.

Man hatte ihm über den Augen eine Bandage angebracht, die es ruhigstellte.

Doch in diesem Augenblick reckte sich die verbliebene Wache mit furchtverzerrtem Blick vor und zog dem Biest mit einer schnellen Bewegung den Stoff von den Augen. Dann türmte der Mann.

Es war vorbei mit der Ruhe.

Die Trompete, das Zeichen dafür, dass die Aufgabe begann, ertönte über ihnen.

Das Biest richtete seine kleinen schwarzen Schweineaugen auf den jugendlichen Loki. Ein markerschütterndes Kreischen trat aus seinem Maul, das nicht wenigen Anwesenden die Haare zu Berge stehen ließ.

Loki lächelte und verengte seinen Blick.

Dann, ohne mit der Wimper zu zucken, hob er den rechten Arm über den Kopf und zeigte dem bereits mit den Hufen scharrenden Bilgenschwein seine behandschuhte Handfläche. Aus dem Nichts erschienen mit einem goldenen Funkeln große, blutige Fleischklumpen in der Luft. Loki ergriff sie einen nach dem anderen und schleuderte sie mit einer ausladenden Bewegung auf das Bilgenschwein. Punktgenau landeten sie vor dessen hässlicher Schnauze. Das Untier schien für einen Moment zu stutzen. Misstrauisch schaute es Loki aus den kleinen schwarzen Augen an, doch dann richtete es sein ekelhaftes Maul auf die ranzigen Stücke und begann, sie zu verschlingen, wobei es reichlich Sand aufwühlte.

Gelassenen Schrittes ging Loki breit grinsend auf das Bilgenschwein zu. Behände knüpfte er einen Knoten in das Seil, das er von seiner Schulter genommen hatte. So konnte er diesen Teil des Stricks beschweren.

Während das Bilgenschwein, abgelenkt von seinem unverhofften Mahl, seine Aufmerksamkeit gänzlich von Loki abwendete, ließ er das verknotete Ende lässig einige Male über dem Kopf kreisen, um ihm den richtigen Schwung zu geben. Das hintere Stück Strick hielt er fest in der Hand. Dann ließ Loki das Seil ruckartig vorschnellen und, in einer einzigen fließenden Bewegung, schlang sich es sich, den Knoten voran, einmal um alle vier Beine des Untiers. Loki fing das beschwerte Ende wieder auf.

Es dauerte nur einen Wimpernschlag und mit einem jähen Aufbäumen seiner Körperkraft raffte er die beiden Seilenden zusammen, zog dem Biest so den Boden unter den Hufen weg und ließ es mit der Schnauze voran in den blutigen Sand fallen. Es war verschnürt wie der Festtagsbraten, der es werden sollte. Überrascht kreischte das Bilgenschwein auf und Lokis Augenlider zuckten bei dem Geräusch.

Ein wortloses Raunen ging durch das Publikum und für einen Augenblick war es still. Dann ertönte ein weiteres Mal die goldene Glocke über dem Turnierfeld und ein beeindruckter Aufschrei ging durch die Menge. Was für eine Geschwindigkeit!

Beide Arme links und rechts weit von sich gestreckt drehte Loki sich jede Sekunde auskostend um die eigene Achse. Er genoss die Sprachlosigkeit der Asen. Noch nie hatte jemand so schnell ein Bilgenschwein zur Strecke gebracht wie er.

Als Lokis Blick zuletzt hinauf zu den Sitzplätzen seiner Eltern fuhr, erstarrte sein Gesicht zu einer Maske. Etwas knirschte in seiner Brust.

Frigga hatte sich mit einem breiten Lächeln und applaudierend erneut von ihrem Thron erhoben. Odin jedoch saß unverändert auf seinem goldenen Stuhl und zeigte nichts als eine versteinerte Miene. Lokis Augen verengten sich und langsam, ganz langsam, sanken seine Arme. Nach einem Moment des Zögerns schritt er wild entschlossen auf das Königspaar zu und rief: „Was ist, Allvater? Habe ich dich nicht gut unterhalten!?“

Odin richtete den Blick auf seinen jüngsten Sohn und erhob sich schwerfällig von seinem Thron. Frigga musterte ihren Gatten und runzelte die Stirn, kurz bevor der ausrief:

„Loki Odinson, ich disqualifiziere dich hiermit vom Turnier zum Frieden!“

„Was!“, rief Loki perplex aus und sein Blick stand in Flammen. Er starrte mit sprachlos geöffneten Lippen zu seinem Vater hinauf und rief dann: „Warum, was ist das Problem?! Ich habe-“

„Du hast“, schnitt Odin ihm mit gebieterischem Tonfall das Wort ab, „die Regeln der Aufgabe missachtet. Die“, er machte eine dramatische Pause, die in Loki etwas zerquetschte, „einzige Regel, Loki: Das Bilgenschwein muss ohne den Einsatz von Waffen überwältigt werden. Willst du mir sagen, du hättest das nicht gewusst?“

„Ich habe keine Waffe gebraucht!“, rief Loki mit sich überschlagender Stimme und sein Körper bebte, als er hinterhersetzte: „Magie ist keine Waffe, sie gehört einfach zu mir!“

„Du bist“, hob Odin wieder an, ohne Lokis Einwand zu kommentieren, und sein Tonfall machte deutlich, dass er keine weitere Verzögerung duldete, „disqualifiziert. Und nun geh, damit wir den Sieger des Wettkampfes küren können.“ Odins wendete sich von seinem jüngsten Sohn ab und verkündete mit donnernder Stimme:

„Thor Odinson!“

Friggas Gesichtsausdruck, der nichts anderes tat, als an Stelle ihres Gatten um Entschuldigung zu bitten, brannte sich in Lokis Netzhaut ein und in sein Herz.

Asgard, Palast - 980

„Woher, Loki! Woher hattest du es!“

Frigga ließ nicht locker. Sie war beinahe so aufgebracht wie Loki selbst. Wie ein Monument stand sie in der Mitte von Lokis Gemach und er fühlte sich, als würde er unter ihrem Blick schrumpfen.

„Ich habe niemanden getötet, falls das dein Gedanke ist!“, fauchte Loki und räumte unwirsch einen Stoß Papier von seinem Sessel, in den er sich für gewöhnlich zum Lesen zurückzog.

Frigga sagte nichts, presste aber in der Art und Weise die Lippen aufeinander, von der Loki wusste, dass sie ob seiner Unterstellung getroffen war.

„Das habe ich auch nicht angenommen“, erwiderte sie dann, beinah ohne die Lippen zu bewegen.

Er beachtete sie nicht und warf sich mit verschränkten Armen auf seinen Sitz.

„Was hast du dann gedacht? Hm?!“  Eine Ader trat an der Schläfe von Lokis fast noch jungenhaftem Gesicht hervor und ließ auf seinen Puls schließen.

„Du weißt so gut wie ich, dass Bilgenschweine zwar alles zertrampeln, was sich in ihrem Weg befindet“, sagte Frigga gebieterisch und Loki wollte ihr schon ins Wort fallen, denn natürlich wusste er das, „aber genauso wissen du und ich auch, dass sie keine solche Vorliebe für Fleisch aus dieser Welt haben, dass sie alles um sich herum vergessen!“

Sie sah ihn durchdringend an und sagte dann leise, aber bestimmt: „Woher kam das Fleisch?“

Loki antwortete nicht und presste die Unterlippe fest an den Kiefer, damit sie nicht zu zittern begann. Er wusste wie Frigga schaute, er musste gar nicht hinsehen.

„Warst du in Midgard, Loki?“

Als ihr Sohn wieder nicht antwortete, schlussfolgerte sie: „Ihr seid noch zu jung, um allein dorthin zu reisen! Wie hast du es angestellt? Heimdall hätte dich sehen müssen!“

Heimdall sieht überhaupt nichts, wenn ich das nicht will, dachte Loki bissig, und sprang abrupt wieder auf. All seine Glieder zitterten, er musste sich bewegen, um dem Druck in seinem Körper standzuhalten. Er atmete tief ein, dann schaute er Frigga direkt ins Gesicht.

„Vielleicht… ist euer Vertrauen in Heimdall doch nicht ganz so berechtigt, wie du glaubst…“ Lokis Augenbrauen zuckten, aber mehr war er nicht zu sagen bereit.

Schon in so jungen Jahren war Loki in der Lage, seine Stimme gezielt einzusetzen und Bilder in seinem Gegenüber einzupflanzen, ohne sie konkret zu benennen.

Frigga antwortete nicht sofort. Ähnlich wie auch Loki atmete sie ein, straffte ihre Schultern und ließ sich dann auf der langgezogenen Sitzfläche seines Sessels nieder, die Beine elegant übereinandergeschlagen.

Loki musterte sie mit eingezogenem Kopf. Erst jetzt spürte er, wie sein Nacken sich verhärtet hatte.

Frigga legte eine Hand auf die Sitzfläche neben sich und letztlich ließ Loki sich neben ihr nieder.

Eine ganze Weile saßen sie in Stille nebeneinander, bis Frigga ihrem Sohn eine Hand auf den Arm legte. Loki reagierte nicht und starrte weiter auf seine bleichen, zwischen seinen angewinkelten Beinen hängenden Hände. Sie waren keine muskulösen Pranken wie Thors, aber er war deutlich geschickter mit ihnen.

„Ich habe nicht betrogen.“

„Ich weiß. Dein Vater, er… versteht die Magie nicht so, wie du und ich es tun.“

„Ja. Lieber sieht er, wie Thor wie ein gedankenloses Rindvieh mit bloßer Gewalt zuschlägt und seine Kraft unter Beweis stellt, ohne auch nur einen Funken Verstand zu zeigen. Thor versteht nichts von Strategie! Ihm wird nie aufgehen, dass der beste Kampf derjenige ist, den man gar nicht erst selbst bestreiten muss.“

Seine Worte klangen noch immer gepresst, aber Loki spürte, dass sein Kiefer nicht mehr so angespannt war, wie noch eben, als er vom Platz geschlichen war wie ein ungeladener Gast.

Loki hörte Frigga neben sich seufzen.

„Thor ist hitzköpfig. Ja. Aber er wird schon noch zu sich kommen.“

„Warum warten alle immerzu darauf, dass Thor erwachsen wird? Ich bin es! Ich bin ihm in so Vielem voraus, aber das Einzige, was Vater sieht, ist Thors Potenzial.“

Loki zuckte, als Frigga ihn an der Wange berührte und ihn so sanft zwang, sie anzusehen.

„Mein Junge, in wenigen Jahren werdet ihr Männer sein. Und ja, eines Tages wird einer von euch den Thron besteigen, aber das ist nicht alles, was das Leben ausmacht.“

„Ist dem so?“ Lokis Gesicht war für einen Moment wie das eines alten Mannes, der nicht mehr gegen die Müdigkeit ankämpfen wollte. Aber er lächelte schmerzlich.

„Ja. Das habe ich dir schon so oft gesagt. Ihr seid beide mehr als nur Prinzen.“

„Beeindruckend, wie du es stets wieder sagst und es einfach nicht anzukommen scheint, nicht wahr?“ Loki zwinkerte sarkastisch. „Woran mag das bloß liegen?“

Frigga seufzte erneut, aber diesmal wusste Loki, dass sie nicht für ihn, sondern seinetwegen die Luft ausstieß. Nach einem Augenblick schaute sie ihn an und strich ihm übers Haar, das gerade die Länge erreicht hatte, bei der es sich langsam in seinem Nacken zu kräuseln begann.

„Ich weiß, dass du, egal, was du mit deinem Leben anfängst, mich mit Stolz erfüllen wirst.“

Loki erwiderte den Blick, aber er konnte nicht anders. Wie ohne nachzudenken, entgegnete er genauso resigniert wie sarkastisch: „Immerhin eine.“

Statesman - 2017 | Übung 3 - Übungsziele: 970 • 975 • 2015

Er presst die Augenlider zusammen und versucht, an nichts zu denken.

Nichts.

Nichts.

Nichts…

Er hasst diesen Teil. Geduld ist nicht seine Stärke.

 

×

 

970 • Ihm war warm. Friggas Arme hielten Loki umschlungen, während er zwischen ihren Beinen auf dem kahlen Steinboden saß und mit offenem Mund die Funken vor seinen Augen anstarrte. Er sah seine Mutter vergnügt lachen.

Loki streckte eine kleine Hand aus und versuchte, das Blitzen und Funkeln des Feuerwerks, das seine Mutter für ihn heraufbeschworen hatte, mit den Fingern zu berühren. Anders als echtes Feuerwerk war es nicht heiß, aber er gluckste dennoch auf, als die Funken an seiner Haut abprallten und in neuen Farben erstrahlten.

Loki drehte den Kopf zum Gesicht seiner Mutter und sah sie an, wie es nur kleine Kinder können. Dann erstarb sein Lachen, als sein Blick über Friggas Schulter nach hinten glitt. In diesem Raum war es dunkel, doch der Korridor hinter der Silhouette, die im Torrahmen stand, war hell erleuchtet.

Loki erkannte seinen großen Bruder sofort.

Im nächsten Moment rannte Thors Silhouette auf sie zu und warf sich neben Loki in Friggas Arme. Das Feuerwerk erlosch und wurde sogleich erneut heraufbeschworen.

Loki drückte sich näher an die Brust seiner Mutter. Er hatte keine Augen mehr für das Leuchten.

 

×

 

975 • Es war, als sähe er die Szenerie gar nicht durch seine eigenen Augen.

Obwohl das Kind, das er war, es genoss, ein Teil der Gruppe zu sein, und für Außenstehende nicht ersichtlich sein konnte, was in Loki vorging, fühlte es sich für ihn dennoch so an, als stünde er nur am Rand. Irgendwas war anders. Irgendwas… stimmte nicht.

Loki sah, wie er strahlte. Die Gesichter der Kinder waren rot vom Wind und der Aufregung, die ein ganzer Tag im Freien mit sich brachte, und genauso sah auch er aus. Mit den Kindern in der Natur herumzutollen, war eins seiner liebsten Spiele, und bisher war er auch noch jedem spielerischen Angriff der anderen ausgewichen. Loki war schnell und er war klug, wusste, wo er sich verstecken konnte, wie man sich im richtigen Moment duckte und wie man ein anderes Kind in einen Hinterhalt lockte.

Loki sah zu, wie er selbst geschickt durch die Finger pfiff. Mehrere Köpfe drehten sich nach ihm um und Thor nutzte die Gelegenheit, um eins der anderen Kinder von hinten anzuspringen und ihm das Gesicht mit Schlamm einzureiben. Loki traten die Tränen in die Augen vor Lachen und er quietschte vor Vergnügen.

Aber irgendwas hielt ihn fest, innerlich.

Als wäre er angekettet. Es fiel es ihm schwer, sich zu lösen. Sich von seinen eigenen Gedanken und Gefühlen zu befreien und einfach zu sein.

Als würde er nie dazu gehören, als würde er sie immer nur von außen betrachten, die anderen. Als würden sie ohne ihn noch ein kleines bisschen lauter, ein kleines bisschen heller, ein kleines bisschen befreiter lachen. Als könnten sie den Moment, in dem Loki sie in Ruhe ließ, kaum erwarten.

Nun, ein Stück weit genoss er es auch, nicht zu sein wie sie. Er spürte häufig, dass er schneller im Kopf war, schneller in den Beinen und schneller im Herzen als die anderen. Seine Überlegenheit bereitete Loki einen gewissen Stolz und sorgte für ein Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten, an dem es ihm sein ganzes Leben lang nicht mangeln sollte.

Und dennoch… diese Andersartigkeit war dafür verantwortlich, dass er immer nur mit einem Fuß im Kreis stand, während die anderen darin tanzten. Als schaute er in ein Puppenhaus hinein, während andere in einer realen Welt lebten.

Loki musterte eins der Kinder, das dem Rest bedeutete, nach Hause zu gehen. Wie auf Kommando nickten sie beinahe alle, offenbar ging es ihnen ähnlich wie dem ersten und es bedarf gar keiner Diskussion, ob sie sich ihm anschlossen.

Aber Loki wollte noch nicht nach Hause gehen. Er war noch nicht bereit. Er war noch nicht müde und noch zu neugierig auf die Welt.

Er ging mit.

 

×

 

2015 • Loki beobachtete, wie Thor sich auf dem Sims des großen Fensters vorlehnte, um Sif neben sich besser ins Gesicht zu sehen. Er war erst vor Kurzem von seinem Aufenthalt in Midgard zurückgekehrt, das ihn inzwischen als Held feierte.

Zwar konnte Loki seinen Bruder nur von hinten mustern, wohl sah er aber Sifs Miene. Während sich Asgard hinter ihnen ausbreitete, war ihr Gesicht so sehr erfüllt von Freude für ihren Gefährten, dass Loki beinahe aufgelacht hätte.

Lächerlich.

Offensichtlich teilte niemand hier sein Misstrauen gegenüber der Sterblichen und der Stellung, die sie in Thors Leben eingenommen hatte. Alle entzückte nur, wie sehr Thor ihr verfallen war. Dass er den Thron abgelehnt hatte und, wenn er Asgard besuchte, die meiste Zeit nur von der Sterblichen sprach. Thors Leben fand inzwischen beinahe ausschließlich auf der Erde statt.

Nun, selbstredend brachte das auch Vorteile für Loki mit sich. So fiel niemandem auf, dass es er war, der in Odins Gestalt regierte. Aber trotzdem: Was für ein Narr Thor doch war. Verliebt, einer Sterblichen verfallen wie ein Hund, der sich seinem Herrn unterwarf. Sonst nichts. Wie konnten alle nur so blind sein? Als ob Thor und Jane Foster jemals eine beständige Verbindung eingehen könnten!

Loki blieb hinter der Säule stehen und atmete tief aus.

Was machten sich alle nur aus dieser Frau? Sicherlich war sie schlagfertig und hatte einen starken Willen. Aber ihr Körper würde sie verraten und sie würde sterben. In spätestens achtzig Jahren würde sie tot sein, während Thor noch hunderte und tausende Jahre weiterlebte. Es sei denn, natürlich, eine seiner unüberlegten Handlungen brachten auch ihn kurzfristig ins Grab… Man durfte noch hoffen.

In diesem Moment drehte Thor sich um und Loki konnte das Gesicht seines Bruders sehen. Es versetzte ihm einen Stich und es war, als fließe eine plötzliche Kälte durch Lokis Venen. Diese Zuversicht, die Thor ausstrahlte. Diese völlige Abwesenheit von Zweifeln.

Ein altes Gefühl von Widerstand stieg in Loki auf und fraß sich durch seinen Körper.

Mit wehendem Umhang wandte er sich ab.

 

×

 

Nun denn...

Er schlägt die Augen auf und starrt wie festgenagelt an die Decke. Sein Kiefer ist verkrampft und sein Herz rast. Angestrengt reibt er sich über das Gesicht und merkt, dass es glüht vor Hitze.

Und dennoch. Dieser Teil der Übung funktioniert. Es funktioniert.

Es funktioniert, aber es macht keinen Spaß.

Asgard, Palast - 1530

„Du zerfällst hier drinnen noch zu Staub, Bruder!“

Loki richtete seinen Blick verärgert gegen die Decke, aber reagierte nicht darauf, dass Thor hereingeplatzt war. Lokis Bruder warf eine mitgebrachte Aprikose in die Luft und fing sie wieder auf. Dann biss er herzhaft hinein, spuckte den Kern aus und zertrat ihn unter seiner Stiefelsohle zu Staub.

Loki dachte gar nicht daran, Thor zu beachten und richtete seine unterbrochene Aufmerksamkeit wieder auf seine Studien. Sein Bruder hingegen bewegte sich mit schweren Schritten durch die Bibliothek, in der Loki schon seit dem frühen Morgen saß, und würdigte die Bücher, das Wissen und all die Weisheit, die sich hier sammelte, keines Blickes.

Keine Überraschung.

Die Bibliothek des Palastes bestand aus einer einzigen großzügigen Halle, in deren Wände bis zu den hohen Decke Regale geschlagen worden waren. Es gab säulenbesetzte Alkoven, in denen die Asen sich zum Studieren und Lesen zurückziehen konnten, aber bis auf Loki lag die Halle verlassen dar. Heute war er der Einzige, der sich für die ordentlich sortierten Werke, die Lokis Familie besaß und ihrem Volk zugänglich machte, interessierte.

Draußen vor den schmalen Fenstern war bereits die Sonne untergegangen und erst jetzt realisierte Loki, wie lange er schon hier auf dem gedrechselten Stuhl gesessen haben musste.

Er hatte sich wie stets an einen goldbeschlagenen Schreibtisch in einer nur spärlich beleuchteten Ecke zurückgezogen, einen Ort, den er bevorzugte, weil er nicht vom Haupteingang einzusehen war. Eine flammenlose Fackel direkt über ihm beleuchtete die Werke, in die er sich vertieft hatte. Staubkörnchen tanzten im schummerigen Schein. Hier konnte er sich auch an belebten Tagen in Ruhe seinen Studien widmen.

„Alle sind unten und feiern. Es gibt Wein!“ Thor klang, als erwartete er eine Reaktion. Als keine kam, setzte er hinzu: „Komm, du warst schon lange nicht mehr dabei. Vergnügst du dich nicht mehr gern?“

Loki starrte auf den Satz, den er seit Thors Unterbrechung bereits dreimal gelesen hatte, ohne ihn zu verinnerlichen, und musterte dann doch mit angespannten Lippen seinen Bruder. Er wusste, dass Thor ihn ohnehin nicht in Frieden lassen würde, wenn er ihn nur weiterhin ignorierte. Vermutlich wurde er Thor schneller wieder los, wenn er ihn beachtete, als wenn er noch weiter um Lokis Aufmerksamkeit betteln musste.

„Was willst du?“

Du hast den Silberhirsch erlegt, du solltest ihn auch genießen!“, erklärte Thor großzügig, als wäre das selbstverständlich.

„Ich bin nicht hungrig. Und ein Silberhirsch stellt ohnehin kein schwieriges Ziel dar.“ Am gestrigen Tag hatte Loki das Wild mit einem einzigen geschickt geworfenen Messer erlegt. Der Rest der Jagdgesellschaft war enttäuscht gewesen, dass ihr Vergnügen nach schon so kurzer Zeit geendet hatte. Ein Silberhirsch war selten und flink und versprach normalerweise eine herrliche Jagd. Er war sehr wohl ein schwieriges Ziel.

Thor tat überrascht: „Seit wann so bescheiden, Bruder?“

Geistesabwesend warf er Mjölnir in die Luft, nur um den Hammer jedes Mal wieder aufzufangen. Einmal, zweimal, dreimal… Loki beachtete die Angeberei gar nicht, sondern erwiderte gleichmütig: „Ist sonst noch etwas?“

Anstatt zu antworten, griff Thor abrupt Lokis Rückenlehne und zog sie so weit zurück, dass Loki drohte, nach hinten überzuzufallen. Er schrie auf. Instinktiv warf Loki sich nach vorne und sprang augenblicklich auf die Füße, sobald seine Zehen den Boden berührten.

Mit einem Dolch an Thors Kehle fuhr Loki seinen Bruder an: „Was ist bloß mit dir! Fällt es dir wirklich so schwer, dich zu benehmen, als hättest du Verstand? Fällt es dir so schwer, mich in Frieden zu lassen?“

„Es bereitet mir einfach zu viel Freude, dich zu sehen“, grinste Thor, ohne sich einschüchtern zu lassen, „Und ich dachte, du steht auf Tricks.“

„Das ist kein Trick“, gab Loki beleidigt zurück und ließ das Messer sinken. Dann verbarg er seine Waffe wieder dort, wo er sie hergeholt hatte, und ließ sich erneut nieder.

„Was liest du da überhaupt?“, fragte Thor und griff sich das Pergament, über dem sein Bruder zuletzt gebrütet hatte.

„Nichts, was du verstehst“, gab Loki unwirsch zurück und schnappte nach der Schrift, aber Thor war schneller. Mit verengten Augen betrachtete er die Schriftzeichen, die offensichtlich keine asgardischen Runen waren.

„Diese Wörter sind doch erfunden!“

„Alle Wörter sind erfunden“, gab Loki umgehend zurück, „Und das ist Deutsch.“

„Du warst in Midgard? Ich dachte, die Menschen interessieren dich nicht.“

„Tun sie auch nicht. Ich habe lediglich Informationen eingeholt.“

Thor legte das, was er inzwischen als Brief identifiziert hatte, zurück auf den Tisch. „Was besagt er?“

„Ein Mann namens Martin Luther schreibt, dass die Sterblichen keinen freien Willen haben können, da ihr Gott bereits alles für sie entschieden hat.“ Loki lächelte andächtig und legte den Kopf schief. „Da sie uns für Götter halten, eine wirklich erfreuliche Ansicht, meinst du nicht?“

Thor lachte auf. „Sie sind ein seltsames Geschlecht, ja. Aber ich bezweifle, dass unsere Existenz ihnen die Freiheit nimmt.“

„Unsere Existenz vielleicht nicht“, sagte Loki leise, mehr zu sich selbst denn zu Thor, der bereits wieder mit seinem Hammer spielte. Das Licht der flammenlosen Fackel spiegelte sich in Mjölnirs Silber und ein Knoten bildete sich in Lokis Magen, je länger er zuschaute.

„Loki, denkst du nicht, dass du genug studiert hast? Es sieht dir nicht ähnlich, dich tagelang mit langweiligen Schriften zu beschäftigen. Komm mit.“ Er zögerte. „Mutter würde sich freuen.“

Für einen Moment verzog sich Lokis Miene und Thor dachte schon, sein Bruder würde ablehnen, aber dann seufzte er und mit dem Wisch seiner Hand sammelte Loki seine losen Pergamente ein. Nachdem er sie in den versiegelten Schubladen des Schreibtisches verstaut hatte, hob er drei Finger der rechten Hand, machte eine kleine Bewegung und beschwor seinen Umhang, die goldenen Schulterplatten und Armschienen.

Thor schlug ihm begeistert auf den Rücken und Loki rang sich ein Lächeln ab.

Dann folgte er ihm hinaus.

Statesman - 2017 | Übung 5 – Übungsziele: 1103 • 1319 • 1939

Gut. Niemand hat erwartet, dass das Ganze ein Kinderspiel wird.

Loki lehnt sich mit dem Rücken an die Wand hinter dem Kopfteil seiner Bettstatt und legt den Kopf nach hinten. Um einzutauchen, muss er seine Gedanken beruhigen. Muss sie loslösen von dem, was ihn alltäglich beschäftigt. Beruhige deinen Geist, dann konzentrieren sich deine Kräfte. Wie immer. Und wie sonst soll er sich in einen einzelnen Gedanken, eine einzelne Erinnerung versenken können?

Sobald sie Midgard erreicht haben, könnte er wieder umherziehen und sehen, wie er seine geistigen Fähigkeiten noch erweitern kann. Dann wären diese Übungen ein Leichtes.

Doch… wenn sie in Midgard angekommen sind, wird das nicht mehr nötig sein.

Bis dahin wird sein Plan aufgegangen sein. Loki schmunzelt und merkt durch die Muskelbewegung, wie sehr seine Konzentration abgeschweift ist.

Genug der Vorfreude.

Konzentrier dich. Auf Nichts. Loki hört wieder Friggas Stimme, die ihm die Anfänge der Magie beibringt. Doch er bezweifelt, dass Asgards Königin jemals so weit in der Kunst der Zauberei fortgeschritten ist wie er nun. Das hier war Magie des höchsten Levels.

Also ist es nun seine eigene Stimme, die ihn in seinem Kopf zur Konzentration anhält:

Lass die Erinnerung kommen. Von selbst. Sie soll sich vor dir ausbreiten wie eine Landkarte, die du an jeder Ecke betreten kannst. Denk an nichts. Lass dich nicht ablenken.

Und wenn doch, kehre sofort zurück zu deinem Gedan-

Die Position, in der Loki sitzt, ist doch zu unbequem. Sie lenkt ihn ab, ein Nerv in seinem Fuß kribbelt.

Mit einem unbefriedigten Schnaufen legt Loki sich hin und schließt die Augen.

Besser.

 

×

 

1103 • Es kribbelte in ihm. Allein die Ehrfurcht, die die Sterblichen für Loki und seine Familie zeigten, reichte aus, um ein statisches Gefühl auf seiner Haut auszulösen.

Die Menschen gingen vor ihnen auf die Knie und streckten die Arme vor, zum Zeichen ihrer Ergebenheit und ihrer Demut. Und dabei hatte Thor nur einen einzigen Blitz niedergehen lassen. Loki konnte noch so viel mehr tun.

Er ließ einen Lachs aus dem nahegelegenen Fluss springen und vor den Menschen auf den Boden fallen. Es war nur ein Trugbild, aber die Aussicht auf Nahrung setzte ein hungriges Leuchten in ihre verhärmten Gesichter. Der Fisch zappelte im vertrockneten, von der Dürre gezeichneten Gras.

Eins der schmutzigen Kinder schickte sich an, aufzustehen, aber seine Mutter hielt es fest, offensichtlich in Angst, was die Götter tun würden, fühlten sie sich beleidigt.

Loki nickte gebieterisch und ein Mann erhob sich, um den Lachs aufzuheben. Als er ihn berührte, löste der Fisch sich jedoch in einem Aufblitzen goldenen Lichts auf.

Furcht zeichnete sich auf dem Gesicht des Mannes ab, aber noch viel mehr Enttäuschung.

Thor warf seinem Bruder einen missbilligenden Blick zu, doch Lokis Herz klopfte aufgeregt gegen seinen Brustkorb und ein Gefühl von Lebendigkeit durchschoss ihn.

 

×

 

„Dann bin ich auch nicht deine Mutter.“

Frigga schaute Loki mit glatt aufeinander gepressten Lippen an, aber er spürte, was für Emotionen sie dahinter verbarg. Schon ihr gekränktes Lachen, kurz nachdem er sie angeschrien hatte, hatte ihm das Herz gebrochen.

Nun konnte Loki kaum auseinanderhalten, ob sie eine Frage gestellt hatte oder ob es eine Aussage war.

Er zögerte.

Atmete ein, wie um Zeit zu gewinnen.

Blinzelte.

Blinzelte erneut. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Dann streckte er den Rücken durch und antwortete abgeklärt: „So ist es.“

NEIN!

Lass dich nicht ablenken!

Diese Erinnerung ist wie ein Eindringling, der immer wieder mit einem Rammbock gegen Lokis Geist hämmert.

 

×

 

1319 • Er hielt ihm die offene Hand hin. Thor legte den Kopf schief und nahm das glänzende kleine Ding zwischen die eigenen Finger.

Loki schaute seinen Bruder unverwandt an und all seine Zuneigung, die er für Thor hatte, lag in diesem Blick. Dankend neigte Thor den Kopf und legte Loki eine Hand in den Nacken, wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, was er sagen sollte.

Dann steckte Thor sich den Ring an der rechten Hand an und betrachtete ihn. Er war schlicht. Loki hatte schließlich auch nichts damit angestellt.

Als Thor später am selben Tage hereingestürmt kam und fluchend das Abendmahl seiner Familie unterbrach, hob Loki nur mit argloser Miene den Kopf. Er war sich sicher gewesen, dass Thor früher oder später jemanden in einen Faustkampf verwickeln würde, aber dass es so schnell ging, war eine erfreuliche Überraschung.

Frigga erhob sich und deutete auf den Ring an Thors Hand. Verzagt und ratlos über ihren Erstgeborenen schüttelte sie den Kopf. Wie oft hatte sie ihren Söhnen einzubläuen versucht, dass Ringe die Kraft von Faustschlägen ganz anders konzentrierten und so schnell und einfach zu Knochenbrüchen führen konnten?

Loki richtete seinen Blick wieder auf sein Mahl und versteckte sein Grinsen in einem Trinkbecher.

 

×

 

1939 • Endlich wieder eine Wette nach seinem Geschmack!

Die Vorfreude auf Menschengeschrei trieb Loki zur Eile, obwohl er sich Zeit lassen wollte, den Augenblick zu genießen. Er unterdrückte ein Kichern, als er die Finger in die Rillen des Gullys steckte und ihn mühelos einhändig anhob. Loki warf den Metalldeckel über die Schulter und als er mit einem glockenartigen Klang auf dem Betonboden aufschlug, brach ab ein großes Stück davon ab. Kurz erwog er, ihn magisch zu reparieren, aber dann zuckte Loki nur mit der Augenbraue und hockte sich neben die Kanalöffnung.

Vorsichtig öffnete er den langen schwarzen Mantel, den er über dem Anzug trug. Seine rechte Hand tauchte unter den Stoff und zog ein kleines, strampelndes Wesen heraus. Aus gelblichen, geschlitzten Augen starrte es Loki an. Ein leichtes Knurren, dann schmunzelte Loki.

Er beschwor dem schuppigen Alligator ein Paar goldene Hörner, eine winzige Krone, und warf ihn anschließend hinunter in den schwarzen Schacht. Für einen Moment blieb es still, dann hörte Loki Wasser platschen. Damit waren alle Echsen auf Position gebracht.

Er erhob sich aus seiner Hocke und schloss ordentlich seinen Mantel. Dann legte Loki den Kopf in den Nacken und rief grinsend nach Heimdall, damit der ihn wieder zurück nach Asgard holte. Dort hieß es nur noch, dem Spektakel, das er gerade in die Wege geleitet hatte, zuzusehen.

 

×

 

Loki korrigiert sich mit einem siegesgewissen Lächeln.

Es funktioniert, und es kann sogar Spaß machen. Wenn man sich zusammenreißt.

Asgard, Palast - 1732

„Und so laufe ich meiner Wege, den Fuchs über die Schulter geknotet, und entdecke plötzlich diese Frau am Wegesrand, angelehnt an einen alten Ahorn. Eine Frau von so unglaublicher Schönheit, dass mir heiß und kalt wird. Haar wie Seide, Haut, als würde sie von innen strahlen, und ein Gang, als würde sie tanzen.“ Er seufzte mit verträumten Augen. „Neben ihr auf dem Boden steht ein Tonkrug und sie…“, Fandral neigte sich vor und stellte sicher, dass die Kinder, deren Gesichter nur vom Kaminfeuer erhellt wurden, ihm all ihre Aufmerksamkeit schenkten.

„Ich meine…“ Er zuckte mit den Schultern und zwinkerte vielsagend. „Ihr kennt mich.“

„Ohh ja“, murmelte Sif leise und anklagend und Loki bemühte sich gar nicht erst, sein Grinsen beim Anblick ihres Augenrollens zu verbergen.

„Das Herz am rechten Fleck und immer bereit, einer Dame in Nöten zu helfen!“, führte Fandral aus, ohne Sifs Einwurf zu beachten, und kehrte er zu seiner Geschichte zurück.

„Vielleicht ist es ja… Lorelei?“, mutmaßte Volstagg gespielt, aber als er Sifs Reaktion, einen vernichtenden Blick, sah, entschied er sich aus reinem Selbsterhaltungstrieb dafür, besser in eine verbliebende Schweinshaxe zu beißen und gar nichts mehr zu sagen.

„Ich gehe also auf sie zu und frage sie, ob sie sich verlaufen hat. Und die schöne Maid nickt mit Tränen in den Augen und bittet mich, sie aus dem Wald zu führen. Sie war schon seit zwei Tagen unterwegs und das Wasser in ihrem Krug ist längst erschöpft. Natürlich biete ich ihr meinen Arm an und so machen wir uns auf den Weg. Seit an Seit durch den Wald, die Vögel zwitschern und das Sonnenlicht fällt durch die Baumwipfel…“ Fandral gestikulierte in die Luft, bedeutete mit den Händen das Dach des Waldes. „Wir unterhalten uns über dies und das und gerade, als sie meinen Bart bewundert“ – Sif schaute Loki vielsagend an – „höre ich dieses Geräusch…“

Fandral hielt sich die Hand ans Ohr und genau wie er begannen einige der Kinder zu lauschen.

„Hört ihr das?“, flüsterte er geheimnisvoll.

Die Kinder reckten die Hälse in alle Richtungen, aber um sie herum war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Nur die Erwachsenen auf den langen Holzbänken, die in angemessener Entfernung zum Kamin standen, die Wachen an den Eingängen der Halle und die Reste des Festmahls auf den Tischen. Die Sonne war längst untergegangen und die Musik hatte aufgehört zu spielen, als Fandral sich erhoben hatte, um den Kindern eine Geschichte zu erzählen. Loki, Sif, Thor, Volstagg und Hogun hatten sich gemeinsam eine Tafel genommen und saßen sich gegenüber, gesättigt und betrunken.

Loki nahm einen Zug aus seinem Weinkelch und warf Thor einen vielsagenden Blick zu, während es immer stiller im Raum wurde. Fandral hatte ein Talent dafür, die Aufmerksamkeit seines Publikums so sehr auf sich zu ziehen, dass es beinahe das Atmen vergaß.

Aber Loki flüsterte wie ein Schulmeister: „Es beginnt.“

Man hätte die Schritte einer Ameise hören können. Die Kinder schauten sich nervös um und einige der Erwachsenen taten es ihnen gespielt gleich, um die Spannung für sie zu erhöhen.

Dann, mit einem Mal, schrie Fandral wie ein Berserker und die Kinder kreischten erschrocken auf. Ein Echo der vielen Stimmen zog sich bis in die angrenzenden Korridore der Festhalle.

„Genau das!“, rief Fandral wie von Sinnen aus und sprang auf die Füße. Er erhob sich aus dem Kreis der Kinder am Feuer und begann, sie mit langsamen, schlurfenden Schritten zu umkreisen. „Genau das habe ich gehört… Ich drehe mich also zu der holden Schönheit um und sehe, dass sie überhaupt nicht mehr schön ist.“ Er hauchte: „Nein…“

Einen Jungen, der Fandral nicht mit den Augen verfolgt hatte, sondern sich der Anwesenheit seiner Eltern versicherte, berührte Fandral mit spitzen Fingern am Nacken und das Kind schreckte mit einem weiteren Schrei zusammen.

„Sie ist nicht mehr schön. Nein. Sie ist groß, riesig! Ihre Haut ist blau und von Narben überzogen, ihr Haar fällt schwarz und schmutzig bis zum Boden. Aus ihrem Mund hängen kaputte Zähne und ihre Augen… Ihre Augen sind so rot wie Blut und starrten mich an, als wäre sie schon längst tot. Sie ist…“, Fandral ließ eine dramatische Pause wirken und hauchte dann, „eine Eisriesin!“

Ein Raunen ging durch die Schar an Zuhörenden und eins der kleinsten Kinder rappelte sich hoch, um seinem nicht weit entfernt sitzenden Vater auf den Schoß zu klettern.

Loki hingegen hob nur seinen Becher und prostete Thor selbstzufrieden grinsend über den Tisch hinweg zu.

Mit einem missbilligenden Blick schob der daraufhin einen mit einem Juwel besetzten, silbernen Dolch über die Tischplatte. Mit einer geschickten Bewegung steckte Loki ihn ein und nickte dankend. Dann lehnte er sich zurück und streckte die langen Beine aus.

Fandral hatte sich wieder an seinen Platz neben den Kamin gekauert und die Kinder starrten ihn mit entsetzten Augen an.

„Ich zücke natürlich sofort mein Schwert und springe zurück, als sie beginnt, mich mit vereisten Steinbrocken zu bewerfen. Ich weiche aus und ducke mich blitzschnell hinter einen Baumstumpf. Eisriesen sind taub und blind, müsst ihr wissen. Ihre roten Augen können kein Licht sehen und das heißt, sie kann mich nur noch riechen…“

Loki zog die Augenbraue hoch und lehnte sich halb-flüsternd zu Sif: „Seit wann sind Eisriesen taub und blind?“

„Lass ihn doch seine Geschichte erzählen“, mischte Thor sich geringschätzig ein, doch Volstagg schüttelte nur grinsend den Kopf.

„Krrrrz… krrrz… ich höre wie ihre lahmen Füße über den Waldboden scharren. Ihr Schnüffeln ist so laut wie das eines Höhlenbären und ich sitze in der Falle.“

„Ach, und ich dachte, er sitzt hinter dem Baum!“, fing Loki wieder an, diesmal etwas leiser.

Die Kinder schienen ihn nicht gehört zu haben und rutschten unangenehm berührt auf dem Boden herum. Teilweise hielten sie sich an den Händen und schauen sich gegenseitig hilfesuchend an.

„Da durchfährt mich ein Geistesblitz! Ich springe auf und schnell knote ich den Fuchs von meinem Rücken los. Dann packe ich ihn.“ Fandral hatte sich wieder zur Gänze erhoben und gestikulierte entsprechend, griff ruckartig die Luft und stellte dann ein Schleudern dar.

„Und mit einem großen Wurf schmeiße ich den Fuchs, soweit ich nur kann, weg von mir ins Unterholz. Die Eisriesin denkt, dass ich es bin, dessen Fährte sie wittert. Sie hat die ganze Zeit nur den blutigen Fuchs gerochen und beginnt jetzt, ihm hinterher zu schlurfen. Das ist meine Chance! Mit gezogenem Schwert schleiche ich ihr nach…“ Fandral legte einen Finger an die Lippen und die unruhigen Kinder wurden auf einen Schlag wieder ganz still.

Als Loki sich anschickte, einen weiteren Kommentar beizusteuern, trat Thor ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein und bedeutete seinem Bruder, einfach mitzuspielen.

„Ich hebe mein Schwert…“, Fandral stand nun mit weit über den Kopf gehobenen Händen in der Mitte des Kreises der Kinder, „und mit einem Schlag meiner Klinge hacke ich ihr den rechten Arm ab!“

„Warum nicht den Kopf?“, schlug Loki flüsternd vor und Sif nickte zustimmend: „Ja, warum nicht?“

„Sie fährt herum und versucht, sich auf mich zu stürzen. Da merke ich, dass ihr blaues Blut mich ganz besudelt hat und es fängt fürchterlich an, auf meiner Haut zu brennen!“ Fandral griff sich selbst an den Hals und tat so, als würde ihn der Schmerz in die Knie zwingen. „Ich muss verschwinden. Ich greife nach dem abgeschlagenen Arm und dann renne ich, renne ich um mein Leben!“

Der Spannungsbogen fiel ab. Mit einem düsteren Nicken trat Fandral einen Schritt auf den Kamin zu, nahm einen großen Knochen vom Sims und hielt ihn dann den Kindern unter die Nasen.

„Das, meine Freunde, ist das Einzige, was von ihrem Arm übriggeblieben war, als ich wieder am Palast eintraf…“ Er hielt den Knochen hoch wie eine Trophäe. „Man sagt, noch heute wandelt sie in den tiefen Wäldern von Asgard umher, auf der Suche nach ihrem Arm. Und nach einer unschuldigen Seele, die sie hier in unsere Mitte führt. Damit sie unser Volk heimsuchen kann, denn…“ Er ging wieder in die Hocke und schaute die Kinder eins nach dem anderen bedeutungsschwanger an: „…am liebsten… fressen die Eisriesen… kleine Asen!“

Mit einiger Belustigung musterte Loki zwei kleine Geschwister, die sich verstört bei den Händen griffen. Das Mädchen sah aus, als würde es nie wieder freiwillig in einen Wald gehen.

Volstaggs lauter Applaus riss Loki aus seiner Beobachtung und andere Erwachsene fielen in das Klatschen ein. Thor knallte anerkennend seinen Trinkpokal auf den Holztisch und Loki tat es ihm nach.

Es dauerte keine zehn Minuten, da waren alle Kinder in die Betten geschickt worden und die Halle hatte sich zur Hälfte geleert. Fandral setzte sich zu Sif und Loki auf die Bank.

„Na, wie war ich?“ Er legte den Klippenwolfsknochen in die Mitte des Tisches und schob dabei Platten mit Beeren aus dem Weg. Dann griff er seinen Trinkpokal.

„Vortrefflich, wirklich vortrefflich“, antwortete Sif eifrig und mit einer Spur Ironie, und Loki setzte feixend nach:

„Ja… aber bist du ganz sicher, dass du dich nicht einfach nur in einem Weiher gespiegelt hast?“ Mit der Hand gestikulierte er vieldeutig in Richtung von Fandrals Gesicht. „Ich meine… das mit den Zähnen…?“

Fandral trank in diesem Moment einen großen Schluck Wein und konnte nicht antworten, sodass Thor seine Chance ergriff: „Und auch diese roten Augen! Kann es nicht vielleicht sein, dass du nur ein wenig zu viel geweint hast, nachdem du uns verloren und dich verirrt hattest?“

Als Fandral den Kelch wieder abgesetzt hatte, schnalzte er missbilligend mit der Zunge und richtete beleidigt das Wort an Volstagg: „Hat’s dir auch nicht gefallen?“

„Doch, es war großartig, ganz großartig“, beteuerte der mit hochgezogenen Augenbrauen und als Fandral sich davon ablenken ließ, dass sich eine junge Frau neben ihn auf die Bank setzte, fügte Volstagg hinzu: „Wenn man fünf Jahre alt ist.“

Thor schenkte ihnen allen aus der großen Karaffe Wein nach und hob an: „Freunde, lasst uns anstoßen. Darauf, dass Vater diesen verrotteten Monstern gezeigt hat, wo ihr Platz ist. Auf dass wir niemals wirklich auf sie treffen. Und wenn doch, dann mit unseren Klingen voran.“

„Mit unseren Klingen voran!“, stimmten sie mit dem Übermut der Jugend zu und ließen ihre Kelche gegeneinander krachen, dass der Wein über den Tisch schwappte. Alles war so leicht.

In diesem Moment hätte Loki ewig bleiben können.

Statesman – 2017 | Übung 23 – Übungsziele: 1365 • 1477 • 1972

„Dann bin ich auch nicht deine Mutter.“

Frigga schaute Loki mit glatt aufeinander gepressten Lippen an, aber er spürte, was für Emotionen sie dahinter verbarg. Schon ihr gekränktes Lachen, kurz nachdem er sie angeschrien hatte, hatte ihm das Herz gebrochen.

Nun konnte Loki kaum auseinanderhalten, ob sie eine Frage gestellt hatte oder ob es eine Aussage war.

Er zögerte.

Atmete ein, wie um Zeit zu gewinnen.

Blinzelte.

Blinzelte erneut. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Dann streckte er den Rücken durch und antwortete abgeklärt: „So ist -.“
 

NEIN, NEIN, NEIN!

Verdammt noch mal! Lass. Dich. Nicht. Ablenken!
 

×
 

1365 • Loki ließ den Kopf nach hinten fallen und schloss für einen Moment die Lider, damit die anderen sein Augenrollen nicht sehen konnten. Thor war so ein unglaubliches Rindvieh. Sicherlich entnervten viele Brüder ihre Geschwister, aber Loki war davon überzeugt, dass Thor ein ganz besonderes Exemplar war. Seit er Mjölnir vor gut drei Wochen von Vater erhalten hatte, hatten wirklich alle Asen nur noch Augen für ihn. Egal, wohin er ging, die Köpfe drehten sich nach Thor, ihrem Prinzen, um und obwohl selbst Sif und die Tapferen Drei von ihm angestrengt wirkten, sonnten sie sich doch in dem Glanz, den der Hammer auf sie warf.

Nun, es war keine Überraschung, denn für abhängige Persönlichkeiten war es nun einmal schwer, sich nicht auch mit fremden Lorbeeren zu schmücken.

Loki verschränkte die Hände unter dem Kopf und ertastete das grüne Gras. Es war saftig und feucht und gesund. Es ging Asgard blühte auf und seit Langem hatte es kaum einen Vagabunden mehr hierher verschlagen. Die Kunde, dass die Krieger von Asgard, angeführt durch die beiden Prinzen, ihre Heimat mit Erfolg vor Eindringlingen schützten und sich dabei alles andere als stümperhaft anstellten, hatte sich offenbar in den Neun Welten herumgesprochen.

Und das war auch schon der Fall gewesen, bevor Thor diesen unsäglichen Hammer bekommen hatte.

Loki unterdrückte ein Seufzen und beobachtete die anderen, die anfingen, mit Thor ein Spiel zu spielen. Sif, Volstagg und Fandral warfen unter Hoguns strengem Blick abwechselnd Felsbrocken, die sie am Rande der Weide entdeckt hatten, und Thor schwang mit ausladenden Bewegungen seinen Hammer, um zu testen, ob die Brocken entweder in kleine Kiesel zersprangen oder wie ein Geschoss durch die Luft segelten. Wann immer Letzteres der Fall war, schlugen sie hinter Loki in die steil abfallende Felswand ein. Dann donnerte ein Hallen durch die Tiefebene am Rande von Asgard. Loki vermutete, dass man den Lärm noch im Palast vernehmen konnte.
 

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1477 • Sif lief in ihrem gewohnten, zielgerichteten Schritt an ihm vorbei. Wenn er so darüber nachdachte, war sie wirklich eine beeindruckende Person. Tatsächlich traute Loki ihr zu, nicht nur Feldherrin für die Streitmacht zu werden, sondern, hätte es keine festgeschriebene Thronfolge gegeben, auch die Herrschaft zu übernehmen. Sie war klug, resolut und empathisch. Nicht ohne Grund war sie dazu auserkoren worden, die Verbrecherin Lorelei zu verfolgen und zurückzubringen, nachdem sie versucht hatte, mit den Männern, die sie magisch kontrollierte, in anderen Welten einzufallen. Selbst den Tod ihres Geliebten Haldors schien Sif unerwartet schnell verarbeitet zu haben. Das Einzige, was Loki an ihr zweifeln ließ, war ihre unverhohlene Eitelkeit.

Anders als die anderen weiblichen Kriegerinnen von Asgard hatte sie sich beispielsweise nie dafür entschieden, ihre langen Haare abzuschneiden oder unter einen Helm zu zwingen. Zwar hatte ihr Zopf sie noch nie in brenzlige Situationen gebracht, aber was nicht war, konnte natürlich immer noch werden. Es brauchte nur einen Gegner, der sie bei den Haaren packte, und dann…

War es nicht vielleicht besser, sie im Voraus auszuschalten? Nicht, dass sie noch irgendwann einmal ganz Asgard in Gefahr brachte.

Geräuschlos rückte Loki ein Stück hinter dem Wandvorsprung vor und hob die Hand neben den Kopf. Ein kleines Messer materialisierte sich golden leuchtend zwischen seinen Fingern.

Loki stand in einer Nische verborgen, die er schon als Kind als hervorragendes Versteck ausgemacht hatte, wollte man belauschen, was im Thronsaal gesprochen wurde.

Es würde nicht lange dauern, bis Sif ihren Bericht bezüglich Loreleis Ergreifung an Odin abgeliefert hatte und noch einmal diesen Weg lief. Er musste nur… warten.

Es juckte Loki in den Fingern. Er hasste Warten.

Als die große Tür zum Thronsaal aufschwang und Sifs gerüsteten Stiefelschritte über den Korridor hallten, sog Loki ein letztes Mal die Luft ein.

Ein Wurf und es war vorbei. Nur ein Wurf.

Er hörte Sif näherkommen und genau in dem Moment, in dem sie an Lokis Erker vorbeischritt, warf er lautlos sein Messer. Der Dolch sirrte durch die Luft. Sif schien ihn nicht zu bemerken. Loki sah schon, wie er sein Ziel erreichte. Doch in dem Moment, in dem er sie im Nacken hätte treffen sollen, hob Sif unvermittelt die Hand. Erst dachte Loki, sie würde sich schützen, doch offenbar war es nur ein Gruß: Eine der Wachen am Eingang des Korridors stammte aus ihrer Kompanie.

Diese kleine Bewegung reichte jedoch aus, um ihren seidigen Zopf aus der genau berechneten Flugbahn zu nehmen und so durchschnitt die Klinge nur einen Teil ihres zusammengebundenen Schopfes. Die abgetrennten Haare schwebten lautlos hinter ihr zu Boden.

In seinem Versteck verzog Loki peinlich berührt das Gesicht. Vermutlich würde Sif in kürzester Zeit herausfinden, wer für ihren neuen Haarschnitt verantwortlich war.

Sie würde ihm vermutlich den Kopf abreißen wollen. Und sie war keine von denen, die in Anbetracht ihrer royalen Stellung die Prinzen nicht anpackten.

Naja, immerhin beachtete ihn dann überhaupt mal wieder jemand.
 

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1972 • Gelangweilt streifte Loki durch die Bibliothek auf der Suche nach neuen Themen, die ihn interessieren konnten. Die Menschen hatten immer eine solche drollige Auswahl an Büchern.

Zu seiner Linken befanden sich Exemplare über Astrologie. Offenbar eine Wissenschaft, die die Menschen lehrte, wo der Zusammenhang zwischen Sternenkonstellation und Schicksal war. Ihrer Meinung nach entschieden die Planeten und Sterne darüber, ob sie krank wurden, reich wurden oder doch von ihren Liebsten verstoßen. Als Loki das erste Mal davon gehört hatte, hatte sein Puls sich beschleunigt. Konnte es solche Verkettungen geben, die das Handeln bestimmten? Doch schon nach kurzer Zeit, die er zwischen zwei Buchdeckeln verbracht hatte, stellte er fest, dass die ganze Abteilung nur Irrsinn enthielt. Die Sterblichen wollten offenbar glauben, aber zu wissen, schienen sie nichts.

Zu Lokis Rechten erstreckte sich hingegen ein langes Regal mit Büchern über Astronomie. Hier hatte Loki noch nie zugegriffen. So sehr die Allväter den Menschen schon vor tausenden von Jahren beizubringen versucht hatten, wie das Universum funktionierte, sie schienen es einfach nicht zu begreifen. Seine Mutter hatte Loki von klein auf mit Astronomie-Büchern versorgt und sein Wissen überstieg das der Menschen bei Weitem. Es ergab also keinen Sinn, sich hier noch weiter bedienen zu wollen.

Ziellos zog Loki weiter und entdeckte schließlich bei den Neuerscheinungen einen scharlachroten Einband mit dem Aufdruck eines Mannes im Anzug mit Schulterpolstern. Er entsprach der aktuellen Mode in diesem Teil Midgards, aber Loki hielt nicht sonderlich viel davon und entschied sich bei seinen gelegentlichen Ausflügen auf die Erde nach wie vor für eher körperbetonte Jacketts. Schon von Kindesbeinen an hatte er stets androgyne Kleidung bevorzugt.

Bei der Person auf dem Einband handelte es sich offenbar um den Autoren des Buches, einen J. Jonah Jameson. Aber das, was Loki eigentlich hatte innehalten lassen, war der Titel, der in großen weißen Buchstaben gegen einen schwarzen Hintergrund gedruckt war, ganz ähnlich der typischen Optik einer irdischen Zeitung:

SCHLECHTE PRESSE IST GUTE PRESSE

Stirnrunzelnd las Loki, was auf den hinteren Buchdeckel gedruckt war. Dann klappte er es mit gehobenen Augenbrauen auf, blätterte an verschiedenen Stellen ein wenig und ließ es letztlich unter seiner Anzugjacke verschwinden. Nur zwei Tage später reihte Loki es in seiner persönlichen Ecke in der Palastbibliothek ein. Man sah dem Buch die Gebrauchsspuren eines konzentrierten Lesers an.
 

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Loki grinst, als er einen Blick hinüber zu seiner kleinen Auswahl an Büchern in seiner Kabine der Statesman wirft. Auch hierher hat er Jamesons Buch mitgenommen. Er kann nicht ganz sagen, warum ausgerechnet diese Erinnerung ihn so amüsiert, aber vielleicht ist das genau die Information, die er über sich selbst gebraucht hat, um zu verstehen, wie seine Gedanken, seine Aufmerksamkeit und seine Konzentration auf einzelne Fakten funktionieren. Dadurch kann er beurteilen, ob ein Szenario ihm glaubhaft oder nicht erscheint. Er muss letztlich nicht alles perfekt gestalten, sondern eine Szene muss dort stimmig sein, wo die Aufmerksamkeit des Erlebenden liegt. So simpel diese Erkenntnis auch ist, Loki realisiert, dass es sich bei dieser Übung um einen Meilenstein in der Vorbereitung seines Plans handelt.

Asgard, Palast - 1925

Die Bibliotheksecke war mehr und mehr zu der seinen geworden. Über die Jahrhunderte hatte Loki mehrere Regale in seiner direkten Umgebung neu sortiert. Er hatte sie gefüllt mit den Schriften, die ihn am meisten faszinierten, und die weniger interessanten Bücher entfernt. So war sein Bereich ein Fundus an asgardischen und irdischen Wissenschaften und Theorien geworden, die kaum ein anderer Ase jemals gelesen hatte. Soziologie, Psychologie, Biologie, Theologie… die verschiedensten Richtungen der menschlichen Lehren reihten sich aneinander.

Besonders die neusten europäischen Theorien verschlang Loki, auch wenn einige von ihnen so lächerlich waren, dass er nur den Kopf schütteln konnte.

Seit wann bedurfte es eines aufwändigen Bekenntnisses, um zu erklären, warum das eigene Volk das wichtigste war? War nicht einmal das Teil des natürlichen Menschenverstandes?

„Bist du schon wieder hier drin?“, fragte Thor, aber da es eine rhetorische Frage war, reagierte Loki nicht. Diese Unterhaltung hatten sie in den letzten Jahrhunderten zu häufig geführt, als dass er für Thors Langeweile alles stehen und liegen ließ. Und sein neues Buch war zu fesselnd. Er legte die Finger an die Stelle, die er gerade gelesen hatte, um sie nicht zu verlieren, und schaute dann Thor an.

„Und wann bist du mal freiwillig hier?“ Loki war frohen Mutes, darum lächelte er und fügte hinzu: „Was gibt es?“

„Ich will, dass du mit uns den Sieg von Harokin betrinkst!“

„Schon wieder?“ Loki lachte auf. „Ist Sif inzwischen wieder bei Bewusstsein?“

Thors donnerndes Gelächter schallte durch die Halle und Loki klappte sein Buch zu, nachdem er ein kleines silbernes Messer als Markierung zwischen die Seiten gelegt hatte. Dann stand er auf und lehnte sich mit verschränkten Armen seinem Bruder gegenüber an den Schreibtisch.

Das flammenlose Licht ließ den Staub in der Luft zwischen ihnen leuchten.

„Ich hörte heute Morgen, sie sei noch immer im Rausch. Wirklich beeindruckend, die Schlacht liegt immerhin schon gut zwei Wochen zurück…“

„Das ist wahr. Aber sie hat sich auskuriert und ihre erste Frage war, wie weit die Weinbrenner mit dem Met sind!“ Thor schlug sich in einem Anfall von Übermut mit der Faust auf den Brustpanzer.

Dann bemerkte er die Frontseite des Büchleins, das Loki zuletzt studiert hatte. Es hatte einen dunklen, irdischen Einband, bedruckt mit nur zwei Worten, die das Portrait eines Mannes mit fragwürdiger Frisur umrahmten. Thor hob die Augenbrauen.

„Wer ist der Mann mit dem mickrigen Bärtchen unter der Nase?“

„Nur ein Sterblicher, der glaubt, er sei etwas Besseres als der Rest seines Geschlechts.“ Loki schüttelte abfällig den Kopf und seufzte über so viel Begriffsstutzigkeit. „Als wären sie nicht alle nur… Ameisen.“

Thor schnaubte. „Dafür, dass sie nur Ameisen sind, weißt du inzwischen ganz schön viel über sie, Bruder.“ Er gestikulierte in Richtung von Lokis Sammlung. „So viel, wie du schon von der Erde mitgebracht hast, müsstest du doch inzwischen besser über sie Bescheid wissen als sie selbst, nicht?“

Loki neigte anerkennend den Kopf und sagte schmunzelnd: „Der Gedanke drängt sich auf.“

„Weißt du was“, hob Thor an und grinste waghalsig, „Du solltest Lehrmeister werden. Auf der Erde. Geh runter und lehre an ihren… wie nennen sie es…“

„Universitäten.“

„Richtig. Ich wette mit dir. Wenn du es schaffst, eine Woche als Lehrmeister durchzuhalten, dann…“ Thors Worte verloren sich, während er über einen Einsatz nachdachte.

„Eine Woche? Das ist keine Herausforderung.“ Loki feixte und hatte schon vor Augen, wie er sich das Ganze vorstellte. „Die Sterblichen werden betteln nach meiner Führung, wenn sie sie erst einmal gekostet haben.“

Thor pflichtete ihm seufzend bei: „Gerade nachdem sie sich gegenseitig in jahrelangen Schlachten massakrierten.“

„Bruder, du überraschst mich. Wer hätte gedacht, dass du Acht gibst, wenn Vater und Mutter die Schicksale der Neun Welten bemessen?“

„Du weißt, dass ich den Krieg suche. Dass er mich sucht. Ich bin geschaffen für die Schlacht.“ Thor klopfte mit seinem Hammer auf Lokis Stuhllehne und grinste selbstzufrieden. „Mag wohl daran liegen, dass ich sie immer gewinne.“

„Wohl möglich“, gab Loki zu, „Was soll nun dein Einsatz sein? Für die Wette?“

Thor machte eine vage Bewegung mit den Händen. „Ewiger Ruhm und Ehre?“

„Habe ich schon. Ein schlechter Anreiz, Bruder“, entgegnete Loki, „Aber dennoch verspricht die Idee, ein Vergnügen zu werden…“ Er lächelte selbstgefällig. „Wie wäre es damit? Wenn ich einen ganzen Monat lang unentdeckt bleibe, dann bist du für die nächsten zweihundert Jahre dafür verantwortlich, meine Waffen und Rüstungen zu reinigen, wann immer wir aus einer Schlacht zurückkehren.“

„Das ist Wahnsinn!“, empörte sich Thor, aber Loki wusste schon, dass er gewonnen hatte. Sein Bruder war noch nie gut darin gewesen, seine Gefühle zu verstecken und der Witz sprühte nur so aus ihm.

Wie erwartet lenkte Thor ein: „Aber nur, wenn du es übernimmst, wenn ich gewinne. Und keine Magie!“

„Natürlich nicht“, antwortete Loki beflissen, „Das wird auch nicht notwendig sein.“

Midgard, Oslo - 1926

Der Blick über den Fjord war atemberaubend. Zwar war er nicht mehr in Asgard, aber Loki war ergriffen von dem spiegelglatten Wasser, das strahlend blau unter dem klaren Himmel lag. Er hörte Möwen über sich kreischen und für einen Moment war es so, als befände er sich gar nicht in der Stadt, sondern auf dem offenen Meer. Eine kalte Brise ließ seinen schwarzen Anzug und seine Haare erzittern, aber Kälte hat ihn noch nie sonderlich behelligt.

Mit der Stadt im Rücken atmete er tief ein und genoss den salzigen Geruch in der Nase. Hier würde es sich aushalten lassen, auch wenn alles voller Menschen war.

„Professor Guðason?“

Loki wandte sich mit der Aktentasche in der Hand um und entdeckte einen jungen Sterblichen in einem grauen, nichtssagenden Mantel vor sich, der sich nervös die Brille auf die Nase schob. „Darf ich mich vorstellen, Benjamin Fredrik. Ich bin hier, um Sie abzuholen.“

Loki nickte und gab, wenn auch etwas unwillig, dem jungen Mann die Hand, um sich nicht verdächtig zu machen.

„Haben Sie gut hergefunden, Professor?“

„Oh ja“, antwortete Loki und strich sich über das Haar, „Die Reise war… zielgerichtet.“

Sie setzten sich in Bewegung und Loki musterte mit wachen Augen die Umgebung. So oft er auch schon auf Midgard war, hatte er sich noch immer nicht ganz daran gewöhnt, dass es hier beinahe keine Gefahren gab. Auf jedem anderen Planeten mussten die Asen damit rechnen, dass die Einheimischen ihre Heimat verteidigten. Stattdessen würde dieser törichte Sterbliche ihn hier sogar ins Herzen ihrer wissenschaftlichen Institutionen leiten.

Loki hatte sich mit einigen einfach gefälschten Papieren als Professor ausgegeben und in den Semesterkalender eintragen lassen. Es war keinerlei Herausforderung gewesen, die paar Professoren und Sekretärinnen zu überzeugen, ihn als Gastdozent sprechen zu lassen. Und wie närrisch wären sie auch, ihn abzulehnen? Er, Loki, Prinz von Asgard, war lebendige Geschichte.

„Wie kommt es, dass Sie dieses Gastseminar halten, wenn ich fragen darf, Professor? Mussten Sie mal ‘runter von der Insel?“

„Es sieht ganz danach aus“, antwortete Loki, dessen falsches Profil besagte, er sei Professor an der Universität von Island und unterrichte dort Nordische Studien.

„Das verstehe ich. Die Abgelegenheit macht einen ja auch irgendwann wahnsinnig.“

„Wahnsinnig?“, entgegnete Loki amüsiert über so viel Einfalt, „Ich finde sie… erbaulich.“

„Oh. Ja. Oder das“, gab Fredrik offensichtlich überfordert zurück und deutete mit der Hand auf ein vor ihnen aufragendes Gebäude. Als sie auf die Glastür an der Front zu liefen, konnte Loki sein Spiegelbild in ihr sehen.

Es war zwar nicht seine asgardische Tracht, aber diese Anzüge der Menschen hatten schon einen gewissen Stil.

Fredrik stieß mit einem Arm die Tür auf und sie betraten das Gebäude. Lokis Blick zuckte abwertend über die hässlichen grauen Gänge, die sie auf ihrem Weg passierten. Er hatte über die Jahrhunderte schon so manche Universitätsbibliothek betreten. Aber diese Lehranstalt sah nicht danach aus, als wollte er in nächster Zeit hierher zurückkehren. Sie war erst seit einigen Jahren in Betrieb, spiegelte aber nichts von dem Glanz der Weisheit wider, die hier eigentlich vermittelt werden sollte.

Erbärmlich. Aber nun ja, es war ja auch Weisheit nach irdischen Standards.

„Haben Sie sich schon überlegt, welches Thema Sie heute beleuchten möchten?“, fragte Fredrik, der sich offensichtlich Mühe gab, das Gespräch am Laufen zu halten.

„Oh ja. Selbstredend“, antwortete Loki mit einem Raunen in der Stimme, aber er würde es jetzt noch nicht verraten. Der junge Mann würde seinem Vortrag doch ohnehin beiwohnen und wer würde denn die Spannung kaputt machen?

„Hier entlang. Die Studenten sind bereits anwesend. Kann ich Ihnen noch einen Kaffee anbieten?“

Leichter Ekel umspielte Lokis Lippen, als er abfällig den Kopf schüttelte. Bis zum heutigen Tag konnte er nicht verstehen, wie die Sterblichen dieses fürchterliche Gebräu zu sich nehmen konnten, obwohl es ihnen nicht einmal zusätzliche Macht verlieh.

Das Auditorium war bereits großzügig besetzt, als Fredrik die Tür zum Lehrraum für Loki öffnete. Um die hundert junge Männer schauten ihren vermeintlichen Professor an, als er den Raum betrat, vor Fredrik die Stufen nach unten lief und dort seine schwarze Aktentasche auf das Pult legte.

Bedächtig schaute Loki sich um und musterte die Sterblichen. Es war ein berauschendes Gefühl, dass sie alle auf ihn warteten, obwohl sie noch nicht einmal durch höfische Etikette dazu angehalten wurden.

Loki stellte fest, dass die meisten von ihnen wohlgenährt wirkten, aber sie sahen trotzdem fahl und ermüdet aus. Offenbar waren die Auswirkungen des Krieges weiter südlich in Europa nicht ganz bis hierher vorgedrungen, doch die Unsicherheit, die dadurch auch in ihren Leben eine Rolle spielen musste, tat ihr Übrigens. Vermutlich konnten sie sich glücklich schätzen, dass sie nicht Teil der Schlacht geworden waren.

Für Menschen waren Kämpfe nicht das Gleiche wie für Asen. Für sie war es keine Probe ihrer Fähigkeiten und ob sie sich würdig erwiesen. Für sie war der Krieg ein lebensbedrohlicher Schrecken.

Es war so offensichtlich, wie sehr die Menschheit einen Anführer brauchte, der sie davon abhielt, sich gegenseitig niederzumetzeln.

Flackernd ging ein Licht über ihren Köpfen an.

„Guten Morgen“, richtete Fredrik das Wort an die Runde der Studenten und er begann, Loki als Professor Larus Guðason vorzustellen und dessen gefälschten Lebenslauf zu erläutern. Dann überließ er endlich Loki das Feld und hielt sich für seine Aufgabe bereit, Bilder mit Ausdrucken herumzureichen, wenn er die Anweisung dazu erhielt.

Loki stütze die Hände auf dem Podest vor sich auf und hob die Stimme.

„Nun. Wie Sie vermutlich bereits wissen, werde ich in dieser Reihe vier aufeinander aufbauende Veranstaltungen halten. Das Thema sind die Götter der sogenannten Nordischen Mythologie und ihre Beziehungen zueinander. Anders, als viele meiner… Kollegen möchte ich jedoch nicht Thor ins Zentrum dieser Abfolge setzen.

Im Gegenteil. Die Beziehung des Allvaters Odin zu seinem Sohn ist sicherlich aufschlussreich, keine Frage. Vor allem dessen viele Charaktermakel, für die sich zahllose Beispiele finden lassen, sollten uns im Gedächtnis bleiben, wann immer wir über Thor nachdenken.

Und auch Odin für sich ist eine aufschlussreiche Erscheinung, die nicht mit Schwächen spart. Aber ich bitte Sie: Sie sind alles findige junge Zuhörer. Sollten wir uns also aufhalten an einem alten, ignoranten Narren? Nein.

In den folgenden vier Vorträgen möchte ich Ihnen den vielleicht verkanntesten, aber gerissensten aller Götter besser bekannt machen“, sagte Loki mit Stolz, der laut genug war, um auch den letzten Winkel des Auditoriums zu erreichen: „Loki von Asgard.“

Statesman - 2017 | Übung 44 – Übungsziel: 2011

Sich in gewisse Erinnerungen zu vertiefen, ist natürlich angenehm. Gute Erinnerungen können schließlich auch eine Art Unterhaltung darstellen, wie Fantasien, die sich besser anfühlen als die Realität. Und Loki genießt Unterhaltung. Doch er ist zu mehr bestimmt, als ausschließlich seinem eigenen Glücksgefühl hinterherzulaufen.

Es ist Zeit, die nächste Stufe seiner Experimente in Angriff zu nehmen.

Loki legt den kleinen Hammer wieder auf die glänzende Holzplatte, schiebt seinen Stuhl zurück und steht vom Schreibtisch auf. Er wirft einen letzten Blick auf die Notizen, die er sich zu seinen Erinnerungen und zu seinen Theorien gemacht hat.

Bisher haben fast alle Übungen seine Vermutungen bestätigt: Je stärker eine Emotion ist, desto einfacher taucht die zugehörige Erinnerung auf, wenn er seinen Geist läutert und sich treiben lässt. Und die Schlimmsten schießen immer zuerst hervor, wenn er sich nicht aktiv dagegen wehrt.

Mit einem Wink seines Handgelenkt lässt Loki die Notizen verschwinden. Es ist Zeit.

Sein Herz schlägt aufgeregt gegen seinen Brustkorb, als er sich wieder auf der Bettstatt niederlässt und die Augen schließt. Er spürt die freudige Erwartung in seinen Adern pulsieren, und die Unsicherheit darüber, ob er schon bereit ist, nicht nur einzutauchen, sondern auch einzugreifen.

Als tief ein- und ausatmet, nimmt er wahr, wie viel schärfer seine Konzentration über die letzten Wochen geworden ist.

Ja, es scheint ein guter Tag für den nächsten Schritt zu sein.

Denn wenn die Erinnerung erst so überzeugend ist, dass sie dich täuschen könnte, kann sie auch jeden anderen hinters Licht führen.

Denk an nichts. An nichts. Nichts.

 

×

Mit langsamen, zittrigen Schritten ging Loki auf die Urne des Ewigen Winters zu. Es war, als wollten seine Beine ihm bedeuten, einfach davon zu laufen, und der Gedanke ließ sich ihm den Magen umdrehen. Der Keller mit den Artefakten, die Odin über die Zeit seiner Herrschaft errungen hatte, lag verlassen dar, sodass Loki sich sicher war, seine Fragen für sich allein klären zu können.

Loki bereute nicht, dass er Thors Krönung am Vortag vereitelt hatte. Und auch nicht, dass Thor nach seinem hirnlosen Angriff auf Jotunheim, für den Loki auf geschickte Art und Weise ebenfalls indirekt verantwortlich war, von Odin nach Midgard verbannt worden war. Beides trug nur zu Asgards Wohlergehen bei. Doch etwas beschäftigte ihn, seit sie aus Jotunheim zurückgekehrt waren. Noch immer fühlte es sich an, als würde seine Hand, mit der er den Eisriesen im Kampf berührt hatte, glühen vor Hitze. Sie hatte ihre normale Hautfarbe zwar unverletzt wieder angenommen, aber warum? Sie war nur einen kurzen Moment eisblau gewesen, wie die Haut von Lokis Gegner. Volstaggs Verletzung bereitete ihm hingegen noch immer Schmerzen und seine Haut sah aus, als hätte sie ihm jemand vom Arm gebrannt. Warum nicht auch bei Loki?

Er hatte einen Verdacht, der ihm beinahe die Kehle zuschnürte.

Lokis Atem ging stoßweise und für einen Moment zögerte er in ungläubigem Kopfschütteln, dann fasste mit beiden Händen die Griffe links und rechts der blauen Urne, die Odin den Eisriesen vor über eintausend Jahren entwendet hatte. Sie war wunderschön. Die blau leuchtende Schatulle wirkte so eine starke Faszination auf ihn aus, dass Loki sich selbst verachtete.

Als er die Urne mit einem Ruck anhob, spürte er einen kalten, beruhigenden Hauch auf der zuvor glühenden Haut. Die Finger beider Hände schimmerten blau im Widerschein des eisigen Urnenlichts.

„HALT!“

Loki brauchte sich nicht umzudrehen, um die Stimme seinem Vater zuzuordnen. Wie hypnotisiert starrte er auf die Schatulle und deren blaues Leuchten, das ihn in sich hineinzuziehen versuchte.

Einfach kopfüber hineinstürzen und die Schmerzen vergessen.

Er riss sich gedanklich los und fragte, ohne sich nach Odin umzuwenden: „Bin ich verflucht?“

Die Angst in seiner Stimme ließ sie leicht zittern.

„Nein“, gab Odin zurück, aber sein Tonfall verriet, dass da noch mehr war.

Loki senkte die Urne zitternd wieder auf ihre Stele und neigte zeitgleich mit einem tiefen Ausatmen den Kopf: „Was bin ich dann?“

„Du bist mein Sohn!“, erwiderte Lokis Vater augenblicklich und Loki konnte keinerlei Zweifel in der Lüge ausmachen.

Mit einem entsetzlichen Gefühl von Verrat drehte er sich langsam, beinahe drohend zum Allvater um, der noch immer am weit entfernten Treppenabsatz stand. Im Schein des goldenen Fensters hinter Loki war zu erkennen, dass sich seine gesamte Haut zu einem tiefen Eisblau, ganz dem der Eisriesen, verfärbt hatte und Loki fragte schneidend: „Was bin ich no-?"

Er ballt die Faust.

Mit langsamen, zittrigen Schritten ging Loki auf die Urne des Ewigen Winters zu. Es war, als wollten seine Beine ihm bedeuten, einfach davon zu laufen, und der Gedanke ließ sich ihm Magen umdrehen. Der Keller mit den Artefakten, die Odin über die Zeit seiner Herrschaft errungen hatte, lag verlassen dar, sodass Loki sich sicher war, seine Fragen für sich allein klären zu können.

Der Keller mit den Artefakten, die Odin über die Zeit seiner Herrschaft errungen hatte, lag verlassen dar, sodass Loki sich sicher war, seine Fragen für sich allein klären zu können.

Loki bereute nicht, dass er Thors Krönung am Vortag vereitelt hatte. Und auch nicht, dass Thor nach seinem hirnlosen Angriff auf Jotunheim, für den Loki auf geschickte Art und Weise ebenfalls indirekt verantwortlich war, von Odin nach Midgard verbannt worden war. Beides trug nur zu Asgards Wohlergehen bei. Doch etwas beschäftigte ihn, seit sie aus Jotunheim zurückgekehrt waren. Noch immer fühlte es sich an, als würde seine Hand, mit der er den Eisriesen im Kampf berührt hatte, brennen. Seine Haut regenerierte sich noch stets und er konnte froh sein, dass er wenigstens kein mickriger Mensch war. Den hätte der Kontakt mit dem Eisriesen vermutlich augenblicklich umgebracht.

Lokis Atem ging stoßweise und für einen Moment zögerte er in ungläubigem Kopfschütteln, dann fasste mit beiden Händen die Griffe links und rechts der blauen Urne, die Odin den Eisriesen vor über eintausend Jahren entwendet hatte. Sie war beängstigend. Es war, als ginge ein lockendes Lied von ihr aus, das einem innerlich das Herz erstarren ließ.

Als er die Urne mit einem Ruck anhob, spürte er einen kalten, schneidenden Hauch auf den Händen. Sie schimmerten blau im Widerschein des eisigen Urnenlichts.

„HALT!“

Loki brauchte sich nicht umzudrehen, um die Stimme seinem Vater zuzuordnen. Wie hypnotisiert starrte er auf die Urne und das blaue Leuchten, das ihn anwiderte und zugleich in seinem Bann gefangen hielt.

Mit aller Macht, die er aufbringen konnte, riss Loki sich gedanklich los und fragte, ohne sich nach Odin umzuwenden, „Du weißt, was sie kann?“

„Ja“, gab Odin zurück, aber sein Tonfall verriet, dass da noch mehr war.

Loki senkte die Urne zitternd wieder auf ihre Stele und neigte zeitgleich mit einem tiefen Ausatmen den Kopf. „Welche Kräfte verbirgt sie?“

„Sie verändert unser Denken“, erwiderte Lokis Vater. Er stand nun direkt hinter seinem Sohn und legte ihm eine Hand auf den Arm. Die Wärme der Berührung durchfloss Lokis Körper und er spürte, wie seine Muskeln aufhörten zu verkrampfen. Für einen Moment starrten sie gemeinsam auf die still daliegende Urne.

„Sie versucht, uns ins ewige Eis zu locken, damit wir dort erstarren und leichte Ziele darstellen. Du solltest ihr nicht zu nahekommen, mein Sohn. Wenn du sie berührst, wird sie dir die Haut verbrennen, stärker noch als zuvor. Dann gibt es keine Heilung mehr.“

Loki nickte nachdenklich.

×

Loki schlägt die Augen auf und schaut an die vertraute Decke. Sein Lächeln wird immer breiter. Das war detailreich. Das war glaubhaft. Das war ein voller Erfolg.

Statesman - 2017

Die große Halle, die sie inzwischen den Thronsaal nennen, ist voll mit lärmenden Flüchtlingen von Asgard. Loki kann auf den ersten Blick die Gladiatoren von Sakaar nicht unter den anderen Personen ausmachen, nicht einmal den steinigen Körper des Kronan Korg. Doch vermutlich läuft der Hohlkopf mit seinem Haustier unterm Arm nur irgendwo im Schiffsrumpf herum. Er hat angefangen, die Arbeiten, die an Bord getan werden müssen, zu koordinieren, ähnlich seiner Position als Gladiatorenorganisator auf Sakaar.

Die meiste Zeit halten sich im Thronsaal ohnehin nur die Asen auf, wenn sie sich nicht gerade zum Schlafen in kleinere Kammern zurückziehen, Arbeiten verrichten oder versuchen, sich beschäftigt zu halten. Um nicht der Trauer um ihre Heimat und ihre Angehörigen zu erliegen.

In einer etwas abgeschiedenen Ecke sitzt Thor und unterhält sich leise mit Brunnhilde. Die beiden haben vertraut die Köpfe zusammengesteckt und beugen sich über irgendetwas. Loki bezweifelt, dass es sich hier um eine pragmatische Unterredung handelt.

Er verdreht die Augen. Auch als König bleibt Thor eine hoffnungslose Marionette seiner Gefühle.

Dann entdeckt Loki unter den vielen Personen aber doch noch etwas, das seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Endlich etwas Abwechselung.

Grinsend tritt er an einen der improvisierten Tische aus Lagerkisten und unterbricht das dortige Gespräch. „Hast du dich also endlich beruhigt“, sagt er mit ausdrücklich gleichmütigem Tonfall.

„Sieht wohl so aus“, wehrt Banner, der asgardische Kleidung trägt, kurzangebunden ab. Nichts an der äußeren Erscheinung des Sterblichen erinnert noch an den Hulk, der sich beinahe einen Monat lang nicht in seine menschliche Form zurückpressen hatte lassen wollen. Stattdessen war er immer wieder durch das Schiff gestürmt wie ein Bilgenschwein und hatte mit jedem schweren Schritt die Wände erzittern lassen. Zweitweise haben Brunnhilde und Thor sogar versucht, ihm mit Argumenten nahezulegen, warum er sich in einem vollbesetzten Flugschiff so nicht betragen kann, aber irgendwann doch resigniert aufgegeben.

Und das, obwohl den Hulk und Brunnhilde offenbar eine Art Freundschaft verbindet, wie Loki beobachtet hat.

„Diesmal keine zwei Jahre am Stück, hm? Ist dir langweilig geworden da drin?“, triezt Loki weiter und man sieht ihm die Schadenfreude an.

Die letzten Wochen haben ihm gezeigt, dass der Hulk wohl durchaus eine Art Verstand hat und nicht jede Kleinigkeit dafür sorgt, dass er Loki bei den Fußgelenken packt und ihn zu Brei schlägt. Und möglicherweise hat die gemeinsame Schlacht mit Hela Lokis Furcht vor dem Monster auch etwas schwinden lassen.

Die beiden Heilerinnen, mit denen Banner sich unterhalten hat, stehen auf und nicken ihrem Gesprächspartner vielsagend zu, bevor sie sich entfernen. Banner schaut ihnen unglücklich nach.

Loki grinst.

„Ist es nicht eine Schande? Die Leute von Sakaar waren stets so erfreut, dich als Gladiator antreten zu sehen“, überlegt Loki von oben herab und fügt hinzu: „Mich auch. Vor allem, als du aus Thor beinahe in Stücke gerissen hast. Sehnst du dich nicht danach?“

Mit verkniffenem Mund fragt Banner endlich „Hast du das hier so nötig?“ und steht ungelenk vom Boden auf.

Loki durchzuckt kurz das Befremden, das ihn stets überkommt, wann immer er realisiert, was für eine Jammergestalt der Mann unter dem Hulk eigentlich ist.

Anstatt auf eine Reaktion zu warten, führt Bruce aus: „Stell dir vor, es ist tatsächlich angenehmer, nicht permanent angesehen zu werden wie eine tickende Bombe. Aber nein, vermutlich kannst du dir das nicht vorstellen. Du stehst ja drauf, wenn Leute dich hassen und verabscheuen.“ Mit einem angewiderten Blick mustert er Lokis Gesicht und spuckt die folgenden Worte geradezu aus: „Keine Angst, die Rolle kriegst du auf der Erde sofort wieder.“

Loki hebt amüsiert die Augenbrauen und deutet mit ausgestrecktem Arm auf die restlichen Asen. „Ich glaube nicht, dass man mir sonderlich feindlich gesinnt ist. Ich bin derjenige, der dafür sorgt, dass wir überhaupt regelmäßige Mahlzeiten erhalten auf diesem verfluchten Schiff.“ Er neigt den Kopf. „Wären meine Beschwörungen nicht, wären wir schon längst alle -“

„Ich rede auch nicht von deinen Leuten, sondern von meinen!“, unterbricht Banner ihn mit einem furchterregenden Funkeln in den Augen, „Du hast ordentlich Eindruck hinterlassen da unten, glaub mir. Auch wenn es Jahre her ist. Ich bezweifle, dass New York dich vergessen hat. Ich habe es jedenfalls nicht!“

Für einen Moment erinnert Banner ihn an Jane Foster, die Loki bei ihrer ersten Bewegung ebenfalls mit Bezug auf New York City ins Gesicht geschlagen hat. Thor hatte wirklich ein Händchen für heitere Spielkameraden.

Mit einer aufgebrachten Geste wendet Banner sich zum Gehen, während Lokis Blick sich verdüstert. Er ist noch nicht fertig mit dem Sterblichen. Zwei schnelle Schritte geht er ihm nach und ihre gehobenen Stimmen haben bereits die Blicke der Asen auf sich gezogen, die in einzelnen Gruppen in der Halle am Boden sitzen.

„Solange du in Midgard herumläufst“, erwidert Loki angriffslustig und spielt seine ganze Körpergröße aus, „wird man mich nicht einmal beachten!“

„Und dann was?“, faucht Banner und für einen Moment ist Loki sicher, dass sein Gesicht grünlich schimmert, „Dann brauchst du wieder Aufmerksamkeit und zettelst irgendeine neue Katastrophe an, so vielleicht?!“

„Du hast keine Ahnung, wozu ihn fähig bin.“

„Ganz genau! Und ich will es auch nicht wissen. Ich will einfach nur, dass du dich fernhältst.“ Banners Blick brennt sich in Lokis Augen. „Niemand will dich, also such‘ dir irgendeinen abgelegenen Planeten und bleib da. Ohne alles in Schutt und Asche zu legen. Vielen Dank!“

Midgard, Reykjavik - 2011

Mit einer schwungvollen Bewegung strich Loki mit einem roten Stift die Passage unter seinen Fingern durch.

Hörten diese lächerlichen Menschen denn nie zu? Immer wieder kam ihm ein Student unter, der behauptete, Thor und Odin seien die zentralen Figuren der Nordischen Mythologie. Besuchten die seine Vorlesungen etwa nicht? Wozu machte er sich die Mühe überhaupt?

Nachdem Loki im Anschluss an Odins Zurückweisung alt in das Wurmloch unterhalb des zerstörten Bifrösts gesogen worden war, musste er in seine Atome zersprengt worden sein und sich dann nach und nach neu materialisiert haben. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie der Prozess vonstattengegangen war. Die einzige Erinnerung daran, die überdauert hatte, war das gleiche Gefühl wie im Bifröst – ein Reißen an allen Gliedmaßen und dann ein plötzliches Gefühl der Schwerelosigkeit.

Wieder zu Bewusstsein gekommen war Loki ausgerechnet mit dem atemberaubenden Blick auf die blaue Kugel Midgards. Er hatte er sich aus dem Staub hochgerappelt und erleichtert festgestellt, dass er auf keinem der Planeten mit zerstörerischer Atmosphäre gelandet war, die ihn sofort erstickt hätte. Es war der Erdmond. Und da er auch keiner seiner Fähigkeiten beraubt worden war, obwohl das Wurmloch heftig an Loki gezerrt hatte, war es ihm gelungen, sich nach kurzer Zeit in das Raumschiff einiger Sterblicher einzuschleusen, die eine sogenannte Mondmission durchzuführen schienen.

So war es ihm erspart geblieben, längerfristig auf dem trostlosen Trabanten zu verharren und mit dem luftleeren Raum zurecht zu kommen, der ihn aufgrund seiner magischen Kräfte zwar nicht sofort umbrachte, aber auch alles andere als einladend war.

Und dennoch, auf dem Schiff hatten sich lachhafte Szenen abgespielt.

Was die Menschen unter Mission verstanden, war nicht mehr als ein sinnloser Spaziergang. Sie hantierten, ganz ähnlich wie Thors sterbliche Freunde, mit Maschinen herum und gruben Steine aus, die sie in gesicherte Behältnisse verpackten, um keine Keime mit nach Midgard zu schleppen. Außerirdisches Leben konnte dort unten vermutlich eine tödliche Seuche auszulösen.

Wohl wahr. Und doch trotz allem, was sie taten, hatte Loki nicht dein Eindruck, dass sie wirklich verstanden.

Und das alles hatte Loki beobachten müssen mit dem ständigen Gefühl von Niederlage im Leib. Es war bereits drei Monate her, dass er Asgard vor Thors gedankenloser Herrschaft bewahrt hatte, indem er dessen Krönung vereitelt hatte. Dass er Laufey getötet hatte, um dessen Zürnen ein für alle Mal zu beenden, und dass er beinahe Jotunheim in Schutt und Asche gelegt hätte, um endlich die Zwietracht zwischen ihren Welten auszumerzen. Aber nichts davon hatte Odin als Dienst an ihrer Heimat gewertet. Nein, der Allvater hatte sich geweigert, die Fähigkeiten und die Weitsicht seines sogenannten Sohns anzuerkennen.

Noch immer waren die irdischen Nachrichten voll von Reportagen, Verschwörungstheorien und Interviews zu dem, was außerdem in Puente Antiguo passiert war. Die Stadt war dem Erdboden gleich gemacht worden, nachdem Odin Thor zunächst ohne seine Kräfte auf die Erde verbannt und Loki ihm dort nachgesetzt hatte. Teilweise stellten die Sterblichen sogar Lokis Destroyer als irgendeine irdische Waffe dar. Diese mickrigen Menschen waren so selbstzentriert, dass Loki nur schlecht werden konnte.

Er strich eine weitere Passage des Aufsatzes unter seinen Händen durch und stand entnervt auf. Sein Kiefer war angespannt und er hatte ohnehin keine Muße, sich mit den lachhaften Theorien der Studenten auseinander zu setzen, die glaubten, etwas über Lokis Leben zu wissen.

Er verließ sein karges Büro und lief über den Flur, um sich etwas zu trinken aus der kleinen Küche der Fakultät zu holen und mal etwas anderes zu sehen. Auf dem Weg dahin passierte er die Türen mehrerer sogenannter Kollegen: Psychosozialer Dienst, Studierendenvertretung, Austauschorganisation… Loki zuckte mit den Augenbrauen. Wann immer er sich hier aufhielt, erstaunte ihn das Ausmaß, mit dem die Menschen sich vorzugaukeln suchten, dass alles gerecht, gemeinschaftlich, brüderlich ablief. Als wären es nicht auch hier letztlich die Vorgesetzten, diejenigen mit Macht, die entschieden, welche Studenten welche Angebote annehmen konnten und welche Menschen welche Stellung in der Gesellschaft verdienten. Irgendjemand hatte letzten Endes immer die Gewalt über andere und diese wiederum konnten nur in einem bestimmten Rahmen handeln. Und glaubten, sie träfen freie Entscheidungen. Lügen.

In der Teeküche nahm Loki sich eine Glasflasche aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Saft ein. Er stand zwar in keinem Vergleich zu dem aus frischen Früchten, die Loki von zuhause gewohnt war, aber immerhin gestaltete das breite Sortiment an Nahrungsmitteln, über das Midgard verfügte, den Aufenthalt hier einigermaßen angenehm.

Es war nicht so, dass Loki überhaupt nicht verstand, was Thor an Midgard lag. Es war… nett hier und man konnte sich herrlich vergnügen. Aber Lokis Verständnis von Herrschaft würde immer ein anderes bleiben.

Auf dem Tisch am Fenster lagen wie immer reihenweise Broschüren und Loki blätterte eine nach der anderen lustlos durch. Kulturveranstaltungen, Sportvereine, Therapieangebote. Create happy memories. Dann versank er doch in Gedanken und sein Blick schweifte ab.

Er hätte es vollbringen können, da war er sich sicher.

Aber Odin hatte sich wieder einmal dafür entschieden, Loki all seine Handlungen so negativ wie nur möglich auszulegen. Hatte niemand jemals einen Gedanken daran verschwendet, dass Lokis Ziel es womöglich wert gewesen wäre? Hatte niemand jemals daran gedacht, was der Sinn hinter all seinen Handlungen gewesen war? Gerade Odin, der so viele Leben genommen hatte, um Frieden in den Neun Welten einkehren zu lassen. Gerade Odin erschrak über ein paar tote Jotunen?

Nur Thor hatte gewirkt, als trauerte er um Loki, als der in das Wurmloch gesogen worden war. Während er selbst in dem unfassbaren Sog nicht einmal mehr Luft in die Lunge bekommen hatte, hatte Thor sich die Seele aus dem Leib geschrien.

Thor. Was er gerade wohl tat?

Loki war noch nie so lange am Stück fern seiner Heimat und fern von Thor gewesen.

Zwar hatte Loki ihn schon mehrmals in den Nachrichten gesehen, aber es waren nie Gespräch mit seinem Bruder – nein, seinem Adoptivbruder – gewesen, sondern nur Berichte über ihn. Man hatte Thor einen Scharlatan und einen Aufschneider genannt, einen Verrückten und noch Schlimmeres. Die Sterblichen, was glaubten sie, wer sie waren? Thor war ein Gott!

Der Umgang mit Thor in der Öffentlichkeit ähnelte den lachhaften Aufsätzen von Lokis Studenten, die ihn langweilten und die sicherlich nicht der Grund waren, warum er sich hier auf Island eine vorübergehende Existenz aufgebaut hatte. Loki brauchte ganz einfach einen Ort, an dem er nachdenken konnte - und Vorlesungen zu geben, war in erster Linie unterhaltsam. Dass die Studenten seine Worte geradezu aufsogen und Loki die Macht über sie in der Hand hielt, löste bei ihm auch nach hundert Jahren noch immer ein Hochgefühl aus.

Aufsätze zu bewerten war hingegen reine Zeitverschwendung.

„Ah, Larus! Hier bist du. Ich habe das Buch, das du haben wolltest auf deinen Schreibtisch gelegt. Sehen wir dich denn heute Nachmittag zum Konferenzauftakt?“

Eine rothaarige Sterbliche stand in der Tür hinter Loki und er drehte sich mit neuerlich gefestigtem Gesicht um. Er erinnert sich an sie. Sie arbeitet hier auf dem Flur als Beraterin, für den Fall, dass Studierende Nervenzusammenbrüche hatten oder was schwächliche Psychen sonst so erleideten.

„Konferenz?“

„Ja. Du hast doch sicher von all diesen Verschwörungstheorien um Asgard gehört, nicht? Die in den letzten Monaten aufgekommen sind? Die Fakultät hat sich doch tatsächlich entschieden, eine Konferenz zum Thema auszurichten und allerhand Leute eingeladen, du weißt schon…“

Die Frau machte eine vage Geste mit dem Kopf, die Loki verriet, dass sie offensichtlich nicht viel von der Existenz ihres Gegenübers hielt.

„Ich meine, das sind alles tolle Geschichten und Märchen, aber dass jetzt die halbe Menschheit anfängt, sie ernsthaft zu glauben…“ Sie schüttelte den Kopf. „Naja, jedenfalls – ich würd‘ mich freuen, dich nachher zu sehen.“ Sie lächelte gewinnend und nach einem kurzen Moment der Irritation zuckte Loki schelmisch mit den Augenbrauen.

Na, wenn dem so war…

 

Behände stahl Loki ein Konferenzband vom Stapel im Rücken der Universitätsmitarbeiterinnen, während sein Trugbild sie am Empfang in eine Unterhaltung verwickelte. Ein kleines Werbegeschenk hing daran, offenbar ein Witz der Universität.

Es handelte sich um einen winzigen Hammer mit wuchtigem Kopf, auf dessen Seite etwas eingeprägt war: „Wer auch immer diesen Hammer hält, wenn er seiner würdig ist, möge er die Kraft Thors besitzen.“

Mit säuerlicher Miene riss Loki den Hammer vom Band ab und war drauf und dran, ihn wegzuwerfen, zögerte dann aber und steckte ihn in die Innentasche seines Jacketts.

Sicherheitshalber verdrängte er die Frage, warum.

Im Vorbeigehen griff Loki sich ein Sektglas von einem am Rande aufgebauten Erfrischungsbüffet und schlenderte gut gelaunt zum Konferenzsaal. Er ließ auf magische Weise seinen falschen Namen auf dem Namensschild erscheinen und hängte sich, wie es üblich war, das Band um den Hals.

Als Loki ganz hinten in den Konferenzsaal schlüpfte, hatte der Dekan der Universität von Island bereits auf Englisch begonnen, ein paar einleitende Worte zu sprechen.

Mit seinem Glas lehnte Loki sich in einer schlecht ausgeleuchteten Ecke an die Rückwand der Halle und betrachtete die Hinterköpfe der Personen in den zahlreichen Sitzreihen vor ihm. Viele Haarschöpfe der Männer wurden bereits lichter und die wenigen Frauen hatten praktische Kurzhaarfrisuren. Stillos.

„Und nun möchte ich Ihnen unsere Ehrengäste vorstellen, die wir glücklicherweise für unsere Keynote Speech gewinnen konnten. Aus New Mexiko zu uns gekommen ist zuallererst Junior-Professorin Jane Foster, Astrophysikerin und die Begründerin der Foster-Theorie! Einen Applaus bitte.“

Loki verschluckte sich an seinem Sekt und hustete verhalten, dann richtete er seine geweiteten Augen auf die kleine Frau, die aus dem Schatten eines Vorhangs am Rande der Bühne trat. Sie hatte offenbar versucht, sich schick zu machen und trug einen schlechtsitzenden Hosenanzug. Während das Publikum applaudierte, begrüßte Jane Foster den isländischen Dekan und hielt sich dann im Hintergrund.

„Des Weiteren“, setzte der Dekan wieder an, „freuen wir uns sehr über den Besuch ihres Kollegen Dr. Erik Selvig von der Culver University, West Virginia.“

Selvig kam hinter dem gleichen Vorhang hervor, hinter dem auch Jane Foster sich verborgen hatte. Loki starrte das ungleiche Paar an.

Die zwei waren ungefähr die letzten beiden, die er hier erwartet hatte. Nun, man konnte natürlich nicht ignorieren, dass sie Recht hatten mit ihren Theorien. Die Regenbogenbrücke, die Verbindung zu anderen Planeten, die Existenz von Thor – und Loki! –, all das war den ahnungslosen Sterblichen natürlich eine Einladung wert.

Wie hatte Loki damit nicht rechnen können?

Wo war er mit seinen Gedanken gewesen?

Erik Selvig begann, eine Eröffnungsrede über seinen bisherigen Forschungsweg bis zum heutigen Stand zu halten, während Jane Foster hinter ihm nervös an einem Notizbuch herumfingerte, das sie in Händen hielt. Es war sehr offensichtlich, dass sie nur ungern auf einer solchen Bühne stand. Loki vermutete, dass sie eher die Variante Mensch war, die sich hinter Büchern versteckte und keinerlei Verständnis hatte dafür, was für eine Macht Öffentlichkeit einem verleihen konnte.

Törichte Frau.

Loki stieß sich von der Wand ab und ging bedächtigen Schrittes den Weg zwischen den Sitzreihen entlang, um näher an die beiden heranzukommen. Er war nicht darum besorgt, erkannt zu werden. Zwar hatte Loki sein Äußeres, abgesehen von seiner Kleidung, nicht verändert, doch weder Jane Foster noch Erik Selvig waren ihm jemals gegenübergetreten. Die einzige indirekte Interaktion hatte stattgefunden, als Thor für sie und ihre anderen sterblichen Gefährten sein Leben in die Hände von Lokis Destroyer gelegt hatte. In Puente Antiguo, vor einigen Monaten. Loki hatte so natürlich beobachten können, mit wem Thor sich abgab. Sie hingegen hatten ihn noch nicht zu Gesicht bekommen. Das war nun durchaus von Vorteil...

„Larus!“, zischte eine Stimme neben ihm.

Loki wandte bewusst den Kopf, denn es fiel ihm auch nach Monaten noch immer schwer, instinktiv auf den falschen Namen zu reagieren, und entdeckte auf dem äußersten Platz der Reihe die Sterbliche aus der Teeküche, die ihn überhaupt erst auf diese Veranstaltung aufmerksam gemacht hatte.

Er nickte kaum merklich als Zeichen der Wiedererkennung und sie rutschte einen Stuhl weiter. Offenbar war der neben ihr frei und so konnte er unauffällig in ihrer Reihe platznehmen. Er hatte nur Aufmerksamkeit für Jane Foster und Erik Selvig.

In seinem Kopf rasten die Gedanken. Es gab eine Menge, die er mit den beiden anstellen konnte, um Thors Aufmerksamkeit zu erringen und womöglich seine Rückkehr nach Asgard auszuhandeln, freizupressen… Aber wollte er das überhaupt?

Er hatte sich freiwillig vom Wurmloch verschlingen lassen und Odin hatte mehr als deutlich gemacht, dass er nichts von Lokis Anstrengungen hielt, die Anerkennung zu bekommen, die er trotz fehlender Blutbande verdiente. Loki hatte keinen Platz mehr in Asgard.

Er begann, aufmerksamer zuzuhören, als Jane Foster über ihre Forschung sprach, aber der Inhalt ihrer Rede war dermaßen banal, dass es ihm schwerfiel, seine Gedanken zu konzentrieren. Und das passierte ihm selten. Stattdessen stellte er fest, dass sie, die dastand und ununterbrochen an ihrem Notizbuch knibbelte, nichts anderes war als Durchschnitt.

Was fand Thor bloß an ihr? Loki suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt für dessen Zuneigung, aber konnte weder in ihrem Gesicht noch in ihrer Haltung oder ihren Worten etwas finden, das seinen Bruder – nicht Bruder! – faszinieren konnte. Sie war schwach, besaß keine Kräfte, war sterblich und nicht einmal schöner als die Frauen von Asgard. Und nach allem, was Loki aus ihrem Mund vernommen hatte, versprach auch ihr Intellekt nicht gerade außergewöhnlich zu sein.

Und dennoch, hätte Loki sich nicht dafür entschieden, Thors Leben in Puente Antiguo zu verschonen, wäre er für sie und seine anderen Freunde gestorben. Weshalb bloß?

Unbewusst schüttelte Loki nachdenklich den Kopf und die Sterbliche neben ihm flüsterte bekräftigend: „Wirklich nicht zu fassen, oder?“

Loki antwortete nicht und ließ sie in dem Glauben, dass auch er an den Theorien der beiden Astrophysiker zweifelte.

„Und nun“, sagte Erik Selvig und es wurde deutlich, dass ihrer beider Sermon beinahe vorbei war, „Wollen wir Ihnen natürlich eine Sache nicht vorenthalten. Wir reden hier die ganze Zeit über Thor, Mjölnir, Bifröst. Natürlich glauben Sie uns nicht. Ich habe es anfangs genauso wenig glauben wollen. Das sind die Geschichten, mit denen wir als Kinder aufgewachsen sind, verstehen Sie. Und von Aliens hielt ich auch nichts.“ Er grinste und zwinkerte wie ein Onkel, der einen besonders guten Scherz gemacht hatte. „Aber… was soll ich noch sagen. Sehen Sie selbst.“ Erik Selvig trat einen Schritt zur Seite, ebenso wie Jane Foster und der Dekan, und noch vor allen anderen hörte Loki es.

Nein.

Das konnte nicht wahr sein.

Ein Donnergrollen fegte über den Konferenzsaal der Universität hinweg und auf einen Schlag begann vor dem Fenster neben dem Notausgang ein Regenguss niederzugehen. Er machte es den Menschen schwer, dort draußen noch etwas zu erkennen.

Lokis Hände verkrampften sich in seinem Schoß und er sank tiefer in die Stuhllehne, um seine hochaufragende Gestalt zu kaschieren. Dann hörte er das Getuschel einiger Leute, die näher am Fenster saßen, und die in den Regen hinaus deuteten.

„Alle mal herschauen“, rief Jane halbherzig. Sie war ebenfalls zu den Fenstern neben dem Notausgang hinübergetreten und deutete nun mit dem Daumen über ihre Schulter hinweg nach draußen.

Loki zog die Schultern an und den Kopf ein, dann rauschte es vor der Tür so sehr, dass der Boden der Halle vibrierte. Im nächsten Moment schoss der bunte Wirbel an Farben vom Himmel herab, direkt vor die Konferenzhalle. Jemand im Raum schrie auf, als man eine menschenähnliche Gestalt in dem Wirbel ausmachen konnte.

Dann hob sich der Farbschleier und im abklingenden Regen stand Thor in Rüstung, scharlachrotem Umhang und mit wehendem Haar.

Breit grinsend hob er Mjölnir zum Gruß und Loki traute seinen Augen kaum. Thor benahm sich wie ein Schausteller, der seine Macht den Sterblichen zum Spaß demonstrierte. Wie ein dressierter Köter! Kein Wunder, dass die Menschen in den Nachrichten so ein lächerliches Bild von ihm zeichneten.

In der Konferenzhalle war es auf drückende Weise still geworden. Loki versank noch tiefer in seinem Sitz, als Jane Foster den Notausgang öffnete und Thor, trocken, wohlbehalten und strahlend wie ein polierter Apfel durch die Tür schritt.

„Das ist doch ein Trick“, murmelte die Sterbliche neben Loki, während ihr Blick auf den Neuankömmling geheftet war, aber ihre eigene Stimme klang nicht mehr überzeugt.

„Oder? Larus, du glaubst auch, dass das ein Trick ist, oder?“

Als eine Antwort ausblieb, wandte sie den Kopf zu Lokis Platz und musste feststellen, dass er verschwunden war.

Sanctuary - 2012

Loki spürte den Hass in seinen Fingerspitzen pulsieren.

Es war ein erhöhendes Gefühl.

Schon immer hatte er gewisse Abneigungen nutzen können, um seine Kräfte zu entfalten und sie punktgenau zu lenken, aber das hier war neu. Das hier war eine andere Ebene der Macht.

Und sie gefiel ihm.

Er schloss die Finger fester um das Zepter mit dem blau schimmernden Stein und spürte die Energie in seiner Hand brodeln, als hätte der Stab einen Herzschlag.

Der Moment war gekommen. Erik Selvig war beinahe so weit, den Tesserakt ausreichend zu stabilisieren, dass Loki und Thanos‘ Unterhändler ihn von dieser Seite aus zugänglich machen konnten. Sie würden Loki nach Midgard zurückzuschicken. Und sobald die Macht des Tesserakts in die vorgesehenen Bahnen gelenkt war, würde sich das Portal für die Chitauri öffnen. Loki würde sie als Feldherr gegen die Menschen in den Krieg führen. Gegen die großen Lügen des Lebens.

Er stand ungeduldig neben dem Handlanger des Titanen, mit dem Loki das Zepter und Midgard für sich selbst und den Rest des Universums für seinen Herren ausgehandelt hatte, und wartete auf den vertrauten Sog eines Portals.

Loki hatte die letzten Monate ausschließlich damit verbracht, eine Möglichkeit zu finden, sich an der Erde zu rächen. Erik Selvigs Wissen und Jane Fosters Theorien hatten ihm erfreulicherweise geholfen, in Kombination mit seinen eigenen Kräften Kontakt mit anderen Wesen draußen im Universum aufzunehmen. Und nachdem er jemanden gefunden hatte, der sich bereit erklärte, genügend schwarze Materie, ganz ähnlich der Odins, zu versammeln, um Loki gegen eine Gegenleistung von Midgard wegzuholen, hatte er nicht lange gezögert. Der Handel mit dem Titanen klang vielversprechend, es mussten nur noch die letzten Einzelheiten geklärt werden.

Der Schmerz über Thors Unbeschwertheit auf Island hatte Loki beinahe um den Verstand gebracht. Das Bild hatte sich tief neben den anderen schmerzlichen Erinnerungen in Lokis Gedächtnis eingebrannt und einen Krater in seine Brust gerissen. Nach und nach war an dessen Stelle jedoch der Hass in ihm eingezogen und hatte das Vakuum mit schwarzen Gedanken gefüllt. Jetzt stellte er die Orientierung für Lokis Fassungslosigkeit dar.

Sah so ein Mann aus, der um seinen sogenannten Bruder trauerte?

Sah so ein Mann aus, den es irgendwie berührte, dass Loki im Wurmloch in all seine Atome zersetzt worden war?

Nein.

Stattdessen spielte er für die Menschen den Possenreißer.

Und Loki war vergessen.

Ganz Asgard und so auch Thor musste davon ausgehen, dass Loki tot war. Noch nie war jemand aus einem Wurmloch zurückgekehrt. Wie oft hatten Frigga und Odin ihre Jungen davor gewarnt, was für ein Grab ein Wurmloch für jeden war, der ihm zu nahekam?

Nun, selbstverständlich hatte noch nie jemand Lokis herausragenden magischen Fähigkeiten besessen, aber keiner konnte bei vollem Verstand sein und dennoch glauben, dass Loki lebte.

Und Thor spielte lieber mit seinen Menschen als noch einen weiteren Gedanken an seinen ach so vertrauten Bruder zu verschwenden. Alles, was sie jemals behauptet hatten, sie alle, Odin, Frigga, Thor, war eine Lüge. Es gab keine Liebe. Es gab keine Loyalität. Und es gab auch keine Freiheit.

Er war von Anfang an ein politisches Druckmittel, ein geraubtes Kind, ein vorübergehender Zeitgenosse gewesen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nicht mehr als eine blasse Erinnerung, die im Angesicht von anderen Annehmlichkeiten verpuffte.

Und darum würde Loki dafür sorgen, dass man ihn so schnell nicht wieder vergaß, wenn er erst mit Midgard fertig war und es nach seinen Vorstellungen umgestaltet hatte. Wenn er das, was sie ihm sein Leben lang vorgegaukelt hatten, umgesetzt hatte.

Ein König zu sein, sich unsterblich zu machen.

Nur eben nicht ganz so, wie sie es sich vorstellten.

Lokis Vorfreude spiegelte sich auf seinem Gesicht und Thanos‘ Unterhändler warf ihm einen misstrauischen Blick zu.

Seit Loki das Zepter trug, waren seine Gedanken ganz klar. Wie Glas konnte er sie selbst durchschauen, ordnen, ohne lästige Zwischentöne. Es schien, als habe die Welt schärfere Konturen bekommen. Unterscheidungen fielen leichter. Beurteilungen gingen schneller. Schatten wurden härter, Licht wurde dünner. Das Universum verlor seine Scheinheiligkeit.

Mit einem gewaltigen Zischen begann die Luft vor Loki zu vibrieren. Es war, als würde die Atmosphäre aufreißen und ein tiefes Grollen durchfuhr das Dunkel um sie herum. Loki trat einen festen Schritt direkt auf das entstehende Portal zu, mitten hinein in den Wirbel aus Energie.

Augenblicklich spürte er eine Schwerkraft, wie er sie nie gekannt hatte. Unwiderstehlich riss sie ihn in Knie, das Zepter gerade noch so auf einem gebeugten Bein aufgestützt. Als die Atmosphäre um ihn herum begann, blaue Flammen zu schlagen, zog er den Kopf ein und das Kinn auf die Brust. Seine Trommelfelle schienen jeden Moment zu platzen und er roch verbranntes Haar.

Alles um ihn herum verwandelte sich in einen Storm aus Licht und Farben, bis der Druck zu groß wurde, um die Augen offen zu halten. Der Schweiß brach ihm aus und Loki schmeckte Galle.

Dann war es vorbei.

Es war still, nur leises statistisches Knistern war durch den Energieschub übriggeblieben. Die Luft war unverkennbar die von Midgards Atmosphäre und als Loki sich langsam aus seiner gebückten Haltung erhob, grinste er, obwohl ihm die Schweißperlen auf der Stirn standen.

Es hatte funktioniert.

Die Sterblichen, in deren Halle er sich materialisiert hatte, starrten ihn an wie einen Vorboten der Hölle.

Gut so.

Statesman - 2017

Es ist jetzt zwei Monate her, dass sie mit der Statesman geflohen sind. Inzwischen hat sich eine eigenartige Routine eingespielt, die zwar nichts mit dem bequemen Leben von früher gemein hat, aber irgendwie erträglich ist.

Nach Thors improvisierter Krönung, die Loki noch immer juckt wie ein Haar im Auge, haben die Flüchtlinge behelfsmäßig mit dem, was sie an Bord des Raumschiffs fanden, verschiedene Rückzugsräume, Versorgungsstätten und Aufenthaltsmöglichkeiten ausgestattet.

Loki hat ein ums andere Mal unter Beweis gestellt, dass seine magischen Kräfte, die er nun schon über Jahrhunderte und Jahrtausende perfektioniert, ihre einzige Rettung sind. Wann immer nötig, beschwört er essenzielle Geräte und notwendige Güter, wenn auch teilweise unter enormem Energieaufwand, der ihn anschließend kraftlos zurücklässt.

Vor allem aber der schier unendliche Bedarf an Lebensmitteln, Wasser und Treibstoff treibt sie regelmäßig an den Rand einer Krise.

Loki hat inzwischen einen gewissen Ruf als ihr Retter, ganz wie er es den Asen angekündigt hatte, als er mit dem Raumschiff in Asgard aufgetaucht war, um dem verängstigten, in die Ecke gedrängten Volk einen Ausweg zu bieten. Und wann immer er nun hört, wie man sich in einer Ecke des Thronsaals leise und bewundernd über ihn äußert, schwellt sein Brustkorb ein wenig an. Ohne Loki wäre Asgard inzwischen wohl tatsächlich zugrunde gegangen.

Wenn er einen guten Tag hat, ruft er sogar zur Belustigung der gelangweilten und quengeligen Kinder Feuerwerk auf. So wie jetzt.

„Es ist schön, dich so ausgelassen zu sehen, Bruder.“

Thor macht eine vage Geste mit dem Kopf in Richtung der Funken unter der Hallendecke und setzt sich neben Loki auf die Treppe. Die Stufen führen von der Brücke des Raumschiffs hinunter in den Thronsaal und verbinden ihn direkt mit der Kommandozentrale und dem Korridor mit den wenigen Kabinen, die Thor, Loki, Brunnhilde, Banner und Korg bezogen haben.

Still betrachten die beiden die vergnügten Kinder, die in die Luft springen, um Lokis Sternenregen zu berühren.

Bisher gibt es wenig Streit unter den Besatzungsmitgliedern, aber Loki ist sich bewusst, dass nur eine zusätzliche Belastung auftreten muss, um die Moral zu kippen. Aus seiner Sicht ist es essenziell, genau das zu verhindern. Erst recht mit dem Hulk an Bord.

Thor hat Brunnhilde zur Anführerin der verbliebenen Streitkräfte gemacht. Alle, die kämpfen können, unterstehen nun ihr. Auf Lokis Anraten hin hat sie die asgardischen Soldaten jedoch angewiesen, ihre Helme und Rüstungen abzulegen und sich so weniger bedrohlich unter das Volk zu mischen. Soweit Loki sich erinnert, hat es zwar ohnehin nur wenige Situationen gegeben, in denen die Palastwachen sich jemals gegen die eigene Bevölkerung gerichtet haben. Aber es war ein guter Kompromiss, um die Beengtheit des Schiffes nicht noch zusätzlich zu unterstreichen.

Gerecht, gemeinschaftlich, brüderlich.

Augenscheinlich ist Thor nicht einmal auf die Idee gekommen, sich über so etwas Gedanken zu machen. Er läuft tagein, tagaus auf dem Schiff herum, erzählt Geschichten von Midgard, um sein Volk auf ihre neue Heimat einzuschwören, und schäkert mit Brunnhilde, wann immer sie ihn lässt.

Allen ist klar, wie sehr Thor sich auf die Erde freut.

„Sag mal“, beginnt Loki, ohne den anderen anzuschauen, „Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie du den Sterblichen erklärst, dass wir ein gesamtes Volk auf ihrem Planeten ansiedeln?“

„Wieso?“, fragt Thor zurück, „So viele sind wir nicht. Und wir bringen Technologie und Arbeitskraft. Meinst du, damit haben sie ein Problem?“

„Möglicherweise nicht... Nicht mit uns. Aber was ist mit denen?“

Thor zögert.

Loki weist mit ausgestrecktem Arm auf die Bande an Gladiatoren, die auf Sakaar eingekerkert gewesen ist. Die verschiedenen Wesen lungern in einer Ecke des Thronsaals herum und es ist deutlich, dass sie nichts mit sich anzufangen wissen. Sie sind Kämpfer, keine Reisenden. Und vor allem sehen sie keineswegs aus wie Menschen: Dreiköpfig, metallen, schuppig…

Nun ist aber sowohl Loki als auch Thor bewusst, dass die Sterblichen an sich eine ausgesprochen geringe Toleranz für Andersartigkeiten haben. Man denke nur an Banner. Oder dass es ihnen bereits reichte, einander zu hassen, wenn nur jemand eine andere Hautfarbe hatte.

Es war nun auch nicht so, dass Loki Korgs Rebellengruppe für eine überaus angenehme Gesellschaft hielt, aber er und die Asen waren zumindest daran gewöhnt, Vertreter von verschiedenen Völkern unter sich zu wissen.

Thor hat Loki erzählt, dass Banner hingegen auf Sakaar beinahe den Verstand verloren hat, als er erfuhr, dass er sich auf einem fremden Planeten aufhielt.

„Wenn sie erstmal sehen, was wir alles können, werden die Menschen sich schon zusammenreißen. Ich leg ja schließlich ein gutes Wort für sie ein“, antwortet Thor schließlich, aber Loki hört die Spur verbleibende Besorgnis aus seiner Stimme.

„Nun gut.“

Loki zweifelt grundsätzlich häufig an Thors Optimismus, aber in diesem Fall nicht nur stellvertretend für die Gladiatoren. Banner hat Recht. Auch ihn wird Midgard alles andere als offen gegenübertreten. Womöglich muss er sich auf Attentate einstellen, wenn es nicht sogar offizielle Regierungen sind, die nach ihm fahnden. Wenn er genauer darüber nachdenkt, wird ihm klar, dass Loki womöglich würde anfangen müssen, seine Gestalt rund um die Uhr zu verschleiern, sobald sie eintrafen. Die Vergangenheit würde ihn andernfalls heimsuchen. Das, was er unter dem Einfluss des Zepters getan hat, unter dem Einfluss des Gedankensteins, wird nicht wieder gutzumachen sein.

Auch Odin hat stets behauptet, mit den Jotunen ein Friedensabkommen geschlossen zu haben und hat doch nie selbst wirklich an Frieden geglaubt. Nein, die Vernichtung Jotunheims wurde zu einem asgardischen Feiertag! Und die Quelle der Macht der Eisriesen und damit die einzige Möglichkeit, ihre Welt wieder aufzubauen, hat Odin ihnen auch Jahrtausende später noch immer vorenthalten. Als Herrscher hat Odin den Jotunen nie vertraut und so werden auch niemals wieder die Sterblichen Loki trauen oder ihn auch nur tolerieren, solange sie sich an den Überfall in New York erinnern.

Es gibt kein Vergeben ohne Vergessen, nicht wirklich.

Gut, dass Loki einen Plan hat.

Midgard, Massachusetts - 2016

Loki begutachtete seine Gestalt im Spiegel und hielt kurz inne. So oft er sein Aussehen auch schon verändert hatte, er war es noch immer nicht gewohnt, sich dabei auch zuzusehen. Er schob sich den goldenen Haarreif höher auf die Stirn und die junge Frau im Spiegel tat es ebenfalls, anschließend strich er sich übers gewellte Haar und kontrollierte seinen Sitz.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass jemand mit einem Filzstift etwas an den Spiegel geschmiert hatte.

Crying for daddy to change is a different kind of hurt.

Er rollte die Augen und schaute sich daraufhin selbst mit strenger Miene im Spiegel an.

Dann besann sich Loki sich wieder auf sich und die feminine Variante seiner selbst.

Inzwischen hasste er es, sich von früh bis spät für jemand anderen auszugeben. Ob auf Asgard als Odin, der zwar Respekt erhielt und mit königlichen Würden ausgestattet war, oder ob hier als durchschnittlicher Mensch, der in der Masse untergehen konnte, wann immer er wollte: Niemand sah ihn.

Immerzu stand er im Schatten anderer.

Doch so sehr ihm dieses Versteckspiel auch missfiel, er akzeptierte es. Jedenfalls jetzt. Denn mittlerweile war sein Gesicht überall auf Midgard bekannt und gerade, wenn er mit Stark konfrontiert war, musste er Vorsicht walten lassen.

Inzwischen konnte er nicht mehr als Professor Guðason durchgehen, wenn er Midgard besuchte. Stattdessen nutzte er meist diese Gestalt.

Mit mittellangen blonden Haaren, schwarzer Steppweste und festem Schritt verließ Loki die Toilettenräume des MIT und machte sich auf den Weg zum Audimax.

„So hätte ich es mir gewünscht“, erklärte Tony Stark etwa eine halbe Stunde später an das Publikum gerichtet, nachdem er eine herzerweichende kleine Sequenz auf der Bühne vorgespielt hatte, eine manipulierte Erinnerung an die letzten Minuten mit seinen Eltern. Offenbar war sie dazu geeignet, sein schlechtes Gewissen und seine Sehnsucht nach ihnen zu stillen, zu therapieren, wie er es nannte. In dieser falschen Erinnerung strafte Stark die beiden, die nur kurze Zeit nach der Szene sterben würden, jedenfalls nicht mit Nichtbeachtung, wie es der Realität entsprochen hatte.

„Sensitives emotionales Neuro-Framing. Kurz: SENF - ich brauch dringend ‘ne schärfere Abkürzung… - Eine extrem kostenintensive Methode, um durch das Kapern des Hippocampus traumatische Erinnerungen zu löschen.“

Eins musste man ihm lassen. Stark wusste, wie man die Aufmerksamkeit eines Publikums fesselte. Die Studenten um Loki herum schienen ihn zu vergöttern. Seine Lippen wurden schmal, während er den kleinen Mann musterte.

Stark würde nie ein Gott sein.

Nun wendete der Sterbliche sich direkt an die Studierenden. Da Loki in der ersten Reihe saß, kam er in den zweifelhaften Genuss von Starks Versuch, Augenkontakt aufzunehmen. Loki tat so, als reagierte er auf ihn, aber schaute in Wirklichkeit durch ihn hindurch. Auch wenn es unbegründet war, seine Enttarnung zu befürchten, war Loki nicht gewillt, dem Avenger direkt in die Augen zu sehen. Er strich sich über das wellige Haar und entspannte sich erst, als Stark eine andere junge Frau anschaute.

In letzter Zeit, eigentlich seit seiner Machtübernahme in Odins Gestalt, hatte auch Loki versucht, das kollektive Gedächtnis Asgards in seinem Sinne zu beeinflussen. Er hatte nicht nur als Odin Reden gehalten oder sich selbst ein Denkmal in Auftrag gegeben. Nein, er hatte sogar begonnen, ein Theaterstück zu entwerfen, das sich um Lokis angeblich letzte Stunden und seine Heldentaten auf dem Schlachtfeld von Svartálfheim drehte. Sein Volk und auch Thor waren nach wie vor davon überzeugt, dass Loki damals gefallen war. Bereits beinahe drei Jahre lang.

Und fürwahr, Loki hatte die Hand des Todes schon um seine Kehle gespürt. Alles war kalt geworden. Kälter noch als damals, als vorübergehend die Urne der Jotunen die Macht des Eisriesen in ihm entfesselt hatte. Die Kälte war ihm vom Herzen her unter die Haut gekrochen und hatte sich wie ein Virus bis in die Haarspitzen vorgefressen.

Irgendwann hatte er nicht einmal mehr Thors Gewicht auf sich gespürt, der Lokis reglosen Körper an sich gepresst hatte.

Als kurze Zeit später ein Sandsturm aufgekommen und unwirtlich über die verwüstete Ebene von Svartálfheim hinweggefegt war, hatte Thor sich und Jane Foster in Sicherheit bringen müssen.

Im Auge des Sturms hatte Lokis Bewusstsein geflackert wie eine Kerzenflamme. Mal hallte Thors Schrei, der die Trauer um seinen verlorenen Bruder widerspiegelte, laut in ihm nach. Mal spürte Loki nichts als die Kälte, die sein Herz und sein Hirn im festen Griff hielt.

Der Kummer, der aus Thors Stimme gesprochen hatte, war ähnlich dem, den er gezeigt hatte, kurz bevor Loki vor einigen Jahren vom Wurmloch verschlungen worden war. Der Kummer, der sich nur wenige Monate später als Farce erwiesen und Loki zu seinen Taten in New York City getrieben hatte.

Loki hatte selbst nicht gewusst, wie viel Zeit vergangen war, als er mit Sand in den Augen und trockener Kehle wieder erwacht war. Der Planet schien wie ausgestorben und seine Brust schmerzte an der Stelle, wo der Dunkelelf ihn mit dem Schwert durchbohrt hatte.

Mit zittrigen Händen hatte Loki die Stelle betastet und festgestellt, dass seine Haut sich bereits wieder geschlossen hatte. Einzig das bläulich glänzende Gewebe zeigte, dass seine Jotunen-Herkunft mehr konnte als nur die gewöhnliche Heilung der Asen.

Als Loki von seiner Brust abließ, stürmte die überwältigende Einsamkeit eines verlassenen Planeten auf ihn ein. Das bedeutete es also, wenn ein Volk seine Heimat aufgab.

Es war, als würde über die leere Steppe hinweg eine Erkenntnis auf ihn zu rollen wie eine Sturmflut, vor allen ungeschützten Flanken auf einmal.

Er war allein. Vollkommen allein.

Sie hatten ihn zurückgelassen.

Loki war zu geschwächt gewesen, um aufzustehen. Gekrümmt und ohne Zuversicht saß er zwischen dem Geröll am Boden und wartete darauf, dass die Kälte zurückkehrte.

Er war nicht einmal mehr ungeduldig.

Doch als nach einer Zeit, die sich wie die Unendlichkeit angefühlt hatte, eine asgardische Wache in Svartálfheim eintraft, stritten sich zwei verbliebende Gefühle in ihm. Einerseits war da die unbändige Erleichterung, von hier fortzukommen und zu überleben. Andererseits die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit, die sich nicht abschütteln ließ.

Eines der zwei Gefühle war überwältigend.

In Gestalt der Wache und an Bord deren Raumschiffs war Loki zurück nach Asgard geschlichen.

Bis heute zogen sich die Jahre.

Natürlich war er nun König von Asgard, aber es fühlte sich noch immer nicht so an. Die Leute jubelten nicht ihm zu, nein, sie hielten ihn natürlich für Odin, und nach und nach hatte Loki festgestellt, wie hohl und inhaltsleer sein Leben war. Frigga war nicht mehr da. Thor war nicht mehr da. Und Odin hatte er mühelos entfernt.

Wenn die Leute doch nur erkannten, dass er es war, der erfolgreich herrschte und Asgard gedeihen ließ, dann würde sich endlich Genugtuung einstellen.

Wenn sie ihn endlich sahen.

Aber wie sollte das vonstattengehen?

Ohne Antwort auf diese Frage und ohne erfüllende Aufgabe vergrub Loki sich wieder in seine Bücher, verbrachte in Odins Gestalt mehr und mehr Zeit in seinen abgeschotteten Gemächern und experimentierte mal an dieser, mal an jener magischen Technik. Er musste sich beschäftigen, um nicht der Sinnlosigkeit zu erliegen und sich die Kälte zurückzuwünschen.

Und eines Tages lachte ihm das Glück zu.

Nach dem Kampf gegen Malekith und seine Dunkelelfen, nach Lokis vermeintlichem Tod und Thors Rückkehr nach Asgard hatte Letzterer bereitwillig auf den Thron verzichtet, um mit Jane Foster und den restlichen Menschen zusammen zu leben. Dieser Umstand sorgte dafür, dass Loki die meiste Zeit geschützt war vor Enttarnung. Nur, wenn Thor Asgard besuchte, lief Loki Gefahr, dass er sein Trugbild durchschaute. Thor war die einzige verbleibende Person, die Odin gut genug kannte, um die Züge seines vermeintlichen Bruders in dem Verhalten des Allvaters zu entdecken. Also war alles, was er tun musste, seine eigene Magie darauf zu verwenden, immerzu im Blick zu haben, was Thor auf Midgard trieb.

Und so entging Loki auch nicht, was Thors sterbliche Spielkameraden mit ihren erbärmlichen Leben anstellten. Einige kämpften sinnlose Schlachten, andere versuchten, sich vor ihrem eigenen Volk zu verstecken, obwohl sie als Helden gefeiert wurden.

Und als Tony Stark verkündete, eine neue Manipulationstechnologie am MIT vorzustellen, wurde Loki hellhörig. So sehr er diesen arroganten Menschen auch verachtete, es war nicht zu verleugnen, dass Stark immer wieder mit guten Ideen aufwarten konnte.

Jetzt schaute er Stark aus seinen blauen Augen unter dem goldenen Haarreif nach, der in unerwarteter Hast von der Bühne schritt.

Veränderte Erinnerungen…

Je weiter Loki das Thema durchdachte, desto klarer wurde ihm eine Erkenntnis: Manipulierte Erinnerungen boten eine unendliche Anzahl an daraus folgenden Realitäten. Wenn die Asen, die Menschen, das ganze Universum auf falsche Erinnerungen zurückblickten, dann würden ihre heutigen Empfindungen und Handlungen sich vermutlich fundamental anders darstellen.

Loki warf einen langen Blick auf die Stelle, an der Starks Hologramm seiner erinnerten Vergangenheit verblasst war, während sich das restliche Publikum erhob und den Raum verließ.

Es musste einen Weg geben, wie man nicht nur selbst Erinnerungen neu durchlebte, sondern auch wie man sie anderen glaubwürdig vor Augen führte.

Selbstredend war Asgards Technologie viel grundlegender entwickelt als die irdische. Dieses SENF nachzubauen, sollte für sie vermutlich keine Hürde darstellen. Aber damit würde Loki weitere Personen einweihen müssen, denn er war kein technischer Architekt.

Es war also selbstverständlich, dass Loki auf seine Magie zurückgreifen musste, nicht auf Technologie. Und dafür würde er mehr Energie benötigen, als er irgendwie aufwenden konnte.

Nun… Der Tesserakt lag ohnehin im Verließ des Palastes, seit Loki von Odin in den Kerker geworfen worden war, und wenn er, Loki, erst gelernt hatte, Erinnerungen zu verändern, würde er nicht zögern, seine Vision mithilfe von dessen Energie auch großzügig umzusetzen.

Statesman - 2017 | Übung 87 – Übungsziel: 2012

„Dann bin ich auch nicht deine Mutter.“

Nein, Schluss damit!

Immer das Gleiche!

Loki knurrte missgelaunt und schüttelte den Kopf, um seine Konzentration unter Kontrolle zu bringen. Diesen Eindringling von einer Erinnerung musste er endlich in den Griff bekommen.

Aber für heute hat er sich etwas anderes vorgenommen. Etwas Komplexes.

 

×

Loki schaute Stark direkt an und spürte jede einzelne Verletzung im Körper aufflammen, als er versuchte, sich einigermaßen erträglich hinzusetzen. Er stützte seine Hände auf der Treppe ab, auf der er hockte, und stemmte sich in Position.

Barton hielt seine Pfeilspitze weiterhin direkt auf Lokis Gesicht gerichtet, die restlichen Avengers hatten sich um ihn herum gruppiert wie ein Gemälde. Agent Romanoff hielt sogar Lokis Zepter, aber das war es nicht, was Loki die Augen niederschlagen ließ. Es war Thors fassungsloser, fast angewiderte Blick.

„Wenn’s keine Umstände macht“, presste Loki nach einem Moment hervor und lächelte gequält, „dann nehm‘ ich jetzt den Drink.“

„Gut, hoch mit ihm“, instruierte Stark seine Freunde und im Gehen fügte er unnötigerweise hinzu: „Wir können später noch ‘n bisschen Superhelden-Posing betreiben.“

Thor packte Loki am Arm und zog ihn unsanft auf die Füße. Sein ganzer Körper schrie innerlich auf. Das, was der Hulk mit ihm angestellt hatte, war nicht von dieser Welt.

In kürzester Zeit tauchten weitere Sterbliche in Kampfausrüstung auf und nahmen Romanoff das Zepter ab, während Thor Loki asgardische Handschellen anlegte. Er wehrte sich nicht.

Loki würdigte seine frühere Waffe keines Blicks mehr, als Thor ihn an ihr vorbei und zum Fahrstuhl führte. Seit er das Zepter nicht mehr hielt, wirkte die ganze Welt, alle Gedanken und jegliche Motivation irgendwie... stumpf.

Der Soldat warf sich in seinem Clownsaufzug in Führungsrolle – „Ich gehe nach unten, unterstütze die Rettungskräfte“ - und sah dabei so lächerlich aus, dass Loki geradezu reflexartig Rogers Aussehen annahm und ihn mit betont ehrenvoller Stimme nachäffte.

Einer der fremden Sterblichen lachte verhalten, doch Thor schien seinen Humor verloren zu haben.

„Mal ehrlich, wie behaltet ihr euer Essen bei-“, setzte Loki gespielt ahnungslos an, aber Thor streckte nur mit entnervtem Blick die Hand aus und drückte Loki eine asgardische Mundfessel ins Gesicht. „Schweig, Bruder.“

Augenblicklich stellte Loki resigniert fest, dass der Knebel ihn sowohl daran hinderte, seine Fähigkeiten einzusetzen als auch überhaupt zu sprechen. Das war die gleiche Technik, die er vor Jahrhunderten gegen die magiekundige Lorelei empfohlen hatte. Ah, Ironie.

Mit einem Schlag auf den Rücken, der Lokis Muskeln in Flammen stehen ließ, bugsierte Thor ihn in den Fahrstuhl, umringt von Sterblichen mit Schutzausrüstung und Waffen im Anschlag. Tony Stark verstaute den Tesserakt in einem Metallkoffer und folgte ihnen. Im Fahrstuhl nahm er auf dem Koffer Platz, offensichtlich war er erschöpft.

Armes Ding.

Als der Hulk ihnen in den kleinen Metallkäfig folgen wollte, hielten Stark und Thor ihn auf.

Loki fiel ein Stein vom Herzen.

Er war alles andere als erpicht darauf, den beengten Fahrstuhl mit dem Hulk zu teilen. Schadenfroh angesichts dessen Zurückweisung winkte Loki dem grünen Monster mit spitzen Fingern, gerade als die Türen sich schlossen.

Außer sich vor Wut rammte der Hulk von außen seine Faust gegen die Wand und hinterließ eine deutliche Ausbeulung auf der Innenseite des Fahrstuhls.

Loki schoss augenblicklich das Adrenalin ins Blut. Erst nachdem sie angefahren waren, atmete er wieder ein.

Sobald sie unten den Fahrstuhl verließen, folgte Loki widerwillig dem mit wehendem Umhang vorausstürmenden Thor. Der hatte offenbar noch jede Menge Energie übrig, während Loki selbst mit seinen Schmerzen kämpfte.

Je weiter sie gingen, desto mehr ließ er sich zurückfallen. Er konnte den Tross vielleicht nicht aufhalten, aber er konnte immer noch zeigen, dass er keineswegs kooperierte.

Die Sterblichen mit ihren Gewehren trieben ihn vor sich her, aber Loki fürchtete sie nicht. So viel Groll Thor auch gegen ihn hegte, er würde niemals zulassen, dass die Menschen ihm seinen ach so wichtigen Bruder nahmen.

Auf halbem Weg durch die verglaste Halle stellte sich ein blonder, älterer Mann Stark und Thor in den Weg und fing ein Streitgespräch an. Loki kannte das Gesicht nicht und inzwischen war es ihm auch einerlei. Er sehnte sich nur noch nach Ruhe. Die Augen schließen. Vergessen.

Tony Stark stellte den Mann dennoch vor, der sich aber offensichtlich nicht angemessen vertreten fühlte: „Meine Freunde sagen ‚Mr. Secretary‘. Und ich will, dass Sie mir den Gefangenen überstellen.“

Augenblicklich Loki fasste den Sterblichen in einen scharfen Blick und machte sich bereit, sich gegen einen potenziellen Angriff zu erwehren, doch Thor schaltete sich mit amüsiertem Tonfall dazwischen: „Äh, Loki verantwortete sich vor Odin.“

Entnervt rollte Loki die Augen. Hätte er die Mundfessel nicht getragen, hätte er mit der Zunge geschnalzt.

„Nein, vor uns. Odin kriegt, was übrig ist. Und ich diesen Koffer. Er gehört SHIELD seit über 70 Jahren.“

Damit waren wenig überraschend weder Thor noch Stark einverstanden und begannen, mit Mr. Secretary und seinem Anhang zu diskutieren. Loki stand abwartend da, bis die Unterhaltung schließlich handgreiflich wurde und sich die Menschen mehr und mehr um den Tesserakt scharten, begannen, einander zu schubsen und sich gegenseitig festzuhalten.

Ein Krachen zerschnitt die Luft.

Der Hulk war hinter Loki aus dem Treppenhaus in die Lobby gesprungen und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Lokis Herz begann augenblicklich wieder zu rasen. Er war immer noch gefesselt!

Der Streit mit dem Mann von SHIELD war wie vergessen, Menschenschreie durchzogen das Atrium und Stark aktivierte seinen glänzenden Anzug in Erwartung neuerlicher Kampfhandlungen.

Thor hingegen nutzte ungewöhnlich geistesgegenwärtig die Gelegenheit und packte Loki wieder am Arm. Wieder Schmerzen.

Loki schüttelte unwillig den Kopf und schaute missbilligend den untätigen Secretary an, der sich einfach so seines Gefangenen berauben ließ.

Thor schleifte Loki zum Hinterausgang. Sobald sie durch die Tür traten, war Loki klar, was als nächstes kam: Ein schwarzer, gepanzerter Wagen stand mit offenen Flügeltüren in ihre Richtung gedreht. Wie erwartet stieß Thor Loki in den Gefangenentransporter, den er offensichtlich als Kerker für ausreichend hielt, nun da Loki all seiner Kräfte beraubt war. Dennoch band Thor Lokis ohnehin schon gefesselten Hände mit einer Kette an einer Wandvorrichtung an.

Die Fahrt war kurz. Als die Türen sich wieder öffneten, sprang Thor behände hinaus. Alles, was Loki von draußen sehen konnte, war eine massive Betonwand. Dann schlossen die Türen sich mit einem lauten Knall und er saß im Dunkeln. Durch die Transporterwand konnte Loki gedämpft die Stimmen der Menschen hören, die den Wagen offensichtlich umstellten und ihn bewachten.

Nun wieder warten. Eine Ewigkeit im Dunkeln.

Das Schlimmste war, dass die Mundfessel offensichtlich auch seine Heilungskräfte unterbrach. Jeder Atemzug erinnerte Loki daran, dass der Hulk ihm mehr als nur eine Rippe gebrochen haben musste. Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal solche Schmerzen gespürt hatte.

Und der Gedanke daran, was ihm durch die Hand des Titanen noch bevorstand, lastete schwer auf seinem Geist. Odin war eine Sache. Aber Thanos…

Erst als die Türen sich geräuschvoll öffneten, stellte Loki fest, dass er eingenickt sein musste. Er öffnete die Augen und richtete sie umgehend auf Thor. Der wirkte gefasst und schien bester Laune.

„Zeit für die Heimreise, Bruder!“ Thor versuchte sich an einem Grinsen, aber Loki tat ihm nicht den Gefallen, auf die Provokation zu reagieren.

Er setzte sich neben Loki, dann fuhr der Transporter an.

„Ich hab so gut geschlafen heute Nacht. Und gegessen, gestern Abend, weißt du. Schawarma. Hast du schon mal von Schawarma gehört?“

Als Loki keine Reaktion zeigte, stieß Thor stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. Zischend stieß Loki die Luft durch die Nase aus.

„Ach ja, das hab‘ ich vergessen.“

Für einen Moment herrschte Ruhe. Loki starrte an die gegenüberliegende Wand, bis Thor sagte: „Weißt du, diese Maske steht dir. Lässt dich irgendwie freundlicher aussehen.“

Loki sah ihn ausdruckslos an, was genug einer Antwort war.

Seine Gedanken kreisten. Offenbar hatte er tatsächlich die ganze Nacht in dem Gefangenentransporter in irgendeinem Bunker ausgeharrt. Ohne, dass er versucht hatte, zu fliehen. Ohne, dass er versucht hatte, seine Kräfte wieder anzurufen. Ohne Ziel.

Wohin sollte er auch fliehen?

Als die Türen der Ladefläche von außen geöffnet wurden, fand Loki draußen alle von Thors neuen Freunden vor. Vor ihnen erstreckte sich ein weitläufiger, unnatürlich anmutender Park, der nichts mit der Natur Asgards gemein hatte.

Erik Selvig und Banner verschraubten gerade einen transparenten Zylinder, eine Transportvorrichtung für den darin blau glühenden Tesserakt. An beiden Seiten entsprangen ihm Griffe, von denen Loki sich bereits ausmalen konnte, wer sie halten würde.

Als er ungelenk ausstieg, zog Loki es vor, niemandem ins Gesicht zu sehen und sich darauf zu konzentrieren, nicht allzu tief einzuatmen.

Thor führte ihn weiter zu einer Stelle, die mit einer kreisförmigen Eisenplatte am Boden markiert worden war. Während Thor sich von Selvig verabschiedete, neigte Romanoff sich zu Barton und flüsterte ihm mit Andeutung auf Loki etwas ins Ohr, was den Schützen grinsen ließ. Lokis Blicke durchbohrten sie beide. Niederträchtige Menschen, dachte er, und kämpfte die Scham nieder.

Thor stieß wieder zu ihnen und hielt den Zylinder mit dem Tesserakt an einem Griff. Den anderen streckte er Loki auffordernd entgegen. Für einen Moment suchte Loki Thors Augen, um zu erfahren, ob er wirklich plante, seinen angeblichen Bruder der Gnade des Allvaters auszuliefern. Als Loki nichts als Genugtuung in Thors Blick entdeckte, umfasste er im Anflug eines kurzen Prozesses den zweiten Griff.

Thor nickte seinen Gefährten zu, dann drehte er ruckartig das Handgelenk und damit auch die Schraubvorrichtung des Zylinders. Der Sog riss Loki beinahe in die Knie. Die blauen Flammen schlugen über den beiden Asen zusammen, als der Tesserakt reagierte, und mit einem Gefühl von Schwerelosigkeit zog die freigesetzte Energie sie ins Nich-

Auf halbem Weg durch die verglaste Halle stellte sich ein blonder, älterer Mann Stark und Thor in den Weg und fing ein Streitgespräch an. Loki kannte das Gesicht nicht und inzwischen war es ihm auch einerlei. Er sehnte sich nur noch nach Ruhe. Die Augen schließen. Vergessen.

Tony Stark stellte den Mann dennoch vor, der sich aber offensichtlich nicht angemessen vertreten fühlte: „Meine Freunde sagen ‚Mr. Secretary‘. Und ich will, dass Sie mir den Gefangenen überstellen.“

Augenblicklich Loki fasste den Sterblichen in einen scharfen Blick und machte sich bereit, sich gegen einen potenziellen Angriff zu erwehren, doch Thor schaltete sich mit amüsiertem Tonfall dazwischen: „Äh, Loki verantwortete sich vor Odin.“

Entnervt rollte Loki die Augen. Hätte er die Mundfessel nicht getragen, hätte er mit der Zunge geschnalzt.

„Nein, vor uns. Odin kriegt, was übrig ist. Und ich diesen Koffer. Er gehört SHIELD seit über 70 Jahren.“

Damit waren wenig überraschend weder Thor noch Stark einverstanden und begannen, mit Mr. Secretary und seinem Anhang zu diskutieren. Loki stand abwartend da, bis die Unterhaltung schließlich handgreiflich wurde und sich die Menschen mehr und mehr um den Tesserakt scharten, begannen, einander zu schubsen und sich gegenseitig festzuhalten.

Dann sackte Stark röchelnd zusammen. Er ließ den Koffer fallen.

Für einen Moment herrschte Irritation, aber beinahe augenblicklich begannen die Sterblichen, nach ihren stümperhaften Heilern zu rufen. Loki bewegte sich keinen Zentimeter. Wenn den Mann in der Rüstung nun endgültig das Zeitliche segnete, wäre es allenfalls Genugtuung, die er spürte.

Plötzlich schoss der Metallkoffer aus der Menschentraube heraus. Loki verfolgte seinen Weg mit den Augen, aber ehe er reagieren konnte, wurde er von einem weiteren Soldaten in schwarzem Kampfanzug aufgegriffen.

Ein Krachen zerschnitt hinter Loki die Luft und er hörte den Hulk grollen.

Lokis Herz begann augenblicklich wieder zu rasen. Im Kopf spielte er bereits verschiedene Fluchtszenarien durch, doch er war immer noch gefesselt und der Einzige, der sich potenziell für sein Wohlergehen interessierte, hatte für niemand anderes Augen als den zusammengebrochenen Stark. Hatte er in der kurzen Zeit wirklich solch eine Bindung zu dem Mann aufgebaut? Was war es nur immerzu mit Thor und den Menschen?

Etwas berührte Lokis Fuß mit einem hellen Klingen. Er neigte den Kopf und traute seinen Augen kaum. Reflexartig, beinahe ohne nachzudenken, versicherte er sich mit einem Blick über die Schulter, dass der Hulk weit genug entfernt war.

Dann ging Loki innerlich stöhnend vor Schmerz in die Hocke. Griff mit gefesselten Händen den blanken, blau glühenden Tesserakt.

Und mit einem Gefühl von Schwerelosigkeit zog die freigesetzte Energie ihn ins Nichts.

×

 

Ein Freudenfeuer überkommt Loki, rieselt ihm den Nacken herunter und strahlt bis in die Zehenspitzen aus. Es funktioniert!

Die Eindrücke in seinem Kopf wirken so detailreich, komplex, dass er sie beinahe für die Realität hält. Die Übungen haben sich tatsächlich ausgezahlt.

Als Loki vor Kurzem Brunnhilde gezeigt hat, wie all die anderen Walküren an ihrer Seite gefallen waren, war ihm erst richtig bewusst geworden, wie einflussreich Erinnerungen sein konnten. Und was passiert erst, wenn das, was er ihnen zeigt, verändert ist?

Inzwischen ist es, als habe Loki schon jeden einzelnen Millimeter der Decke über sich genaustens betrachtet, so viel Zeit hat er schon auf dem Rücken liegend auf dieser Bettstatt verbracht. Er hat sich in endlos viele alte Erinnerungen versenkt, hat mit denen begonnen, in denen die Emotionen besonders stark waren, hat immer mehr Details entdeckt. Hat die Sequenzen noch einmal durchlebt und sie analysiert. Hat überlegt, wie die Geschehnisse anders enden konnten. Wie er der Realität einen Stoß in die richtige Richtung geben kann.

Und es funktioniert, sich selbst falsche Erinnerungen vorzuspielen. Er spürt, wie die Freude der falschen Realität ihn durchfährt wie ein elektrischer Schlag.

Er ist nicht im Kerker gelandet! Niemals!

Loki selbst erinnert sich zwar an die tatsächliche Realität, aber wenn er erst dafür sorgt, dass alle anderen nur noch manipulierte Erinnerungen aufrufen können, dann war das einerlei.

Sie würden ihn so behandeln, wie ihre Erinnerungen es ihnen einflüstern.

Alle würden seine manipulierte Realität, ihre falschen Erinnerungen für wahr halten.

Dann ist egal, was für Fehler Loki einmal gemacht hat. Was für Handlungen er ausprobiert hat. Niemand würde es wissen. Er hätte wieder eine weiße Weste.

Er kann wieder von vorne anfangen.

Es gibt so viel, was sich ändern wird.

Der Schmerz wird endlich aufhören.

Friggas Tod wird nicht mehr Lokis Schuld sein.

Niemand wird sich daran erinnern, dass er sich für Odin ausgegeben hat.

Die Sterblichen werden ihn nicht mehr als Bedrohung sehen, weil sein Feldzug mit den Chitauri nie stattgefunden hat…

Loki zögert.

Vielleicht ist das zu viel. Vermutlich ist es besser, nur Kleinigkeiten zu ändern, um nicht eine zu unvorhersehbare Verkettung von neuen Handlungen hervorzurufen. Vielleicht ist es besser, einfach nur die zentrale Figur auszutauschen.

Vielleicht ist jemand anders mit den Chitauri auf Midgard einfallen, nicht Loki von Asgard…

Er dreht im Liegen den Kopf und wirft einen Blick hinüber zum Hammer-Schlüsselanhänger, mit dem schon Thor instinktiv gespielt hat.

Nach dessen unbedarftem Umgang damit hat Loki den Hammer magisch gesichert. Natürlich war sein erster Reflex gewesen, ihn einfach wegzuschließen. Aber das war darin gemündet, dass Loki mehrmals am Tag zu seiner Kabine gehastet war und, einem unguten Gefühl folgend, nachgesehen hatte, ob der Hammer noch in der Schreibtischschublade lag.

Nun also so, magisch versiegelt, lag der Anhänger friedlich auf Lokis Schreibtisch, war aber weder für Uneingeweihte einfach so anzuheben, noch konnte Loki selbst ihn ohne Auflösung der Zauber aus dem Zimmer entfernen.

Nicht einmal per Beschwörung.

Denn wenn erst einmal jemand herausfand, was sich hinter dem Trugbild verbarg, war die Jagd nach dem Hammer eröffnet, ob würdig oder nicht.

Ein schmales Lächeln schiebt sich auf Lokis Züge.

Dann erhebt er sich von der Bettstatt und vergewissert sich in der spiegelnden Fensterscheibe, dass nichts auf seinem Gesicht seine Gedanken verrät. Es ist besser, wenn er sich mal wieder unter das Volk mischt und sich Thor zeigt.

Vermutlich denken die anderen bereits, er hecke irgendetwas aus.

Nun, da liegen sie nicht falsch.

Statesman - 2017 | Übung 117 – Übungsziel: 2013

Er schließt die Augen. Augenblicklich hört er ihre Stimme in seinem Kopf:

„Dann bin ich auch nicht deine Mutter.“

Lokis Fingerknöchel knacken, als er kurz die Fäuste ballt, als mache er sich bereit für einen Kampf. Er lockert die Nackenmuskulatur ebenfalls und beißt sich auf die Unterlippe.

Diesmal.

Diesmal wird er es aushalten.

Er kann er das Schuldgefühl bereinigen.

Er hat gelernt, wie.

 

×

„Finden die Bücher, die ich dir geschickt habe, nicht dein Interesse?“

Loki wendete den Blick von den neuen Gefangenen, die vor seiner Zelle entlanggeführt wurden, ab und drehte sich mit unterdrückter Abscheu zu Frigga um. Er brodelte und es war mehr als nur Wut, die in ihm tobte. „Soll ich etwa so die Ewigkeit verbringen? Mit Lesen?“

Sie ging einige Schritte auf Loki zu, der die Hände hinter dem Rücken verschränkt hielt und sich selbst so eine besonders aufrechte Körperhaltung verlieh. Wie als wüsste sie um die siedenden Gefühle unter seinem glatten Gesicht, hielt Frigga Abstand, indem sie sich so positionierte, dass Lokis niedriger Tisch zwischen ihnen stand.

„Ich habe alles, was ich konnte, getan, damit du dich wohlfühlst.“

„Ach was“, antwortete Loki und seine Augen verengten sich, als er Frigga zunickte. Er lehnte sich mit beiden Händen auf den Tisch und kam so mit ihr auf eine Augenhöhe. Beinahe lächelte er, aber es war nicht mehr als eine freundlose Drohung. „Teilt Odin deine Fürsorge? Oder Thor?“

Er gab ihr nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu antworten und fuhr mit einem zynischen Augenbrauenzucken fort: „Es muss wahrlich lästig sein, wie sie sich Tag und Nacht nach mir erkundigen.“

„Du weißt sehr wohl, dass es deine Taten waren, die dich hierherbrachten.“

Mit einer wegwerfenden Geste der rechten Hand stieß Loki sich vom Tisch und wandte sich ab: „Meine Taten? Ich habe nur das umgesetzt, was ihr mir mein Leben lang vorgelogen habt.“ Er schritt durch den beengten Raum, wich Friggas Blick aus. „Dass ich als König geboren sei.“

„Als König?“ Friggas Stimme klang so ungläubig, dass er nicht anders konnte, als sich ihr wieder zuzudrehen. Sie hatte sich fragend, gerade zu ratlos vorgelehnt, um sein Gesicht sehen zu können. „Ein wahrer König gesteht seine Fehler ein. All die Leben, die du auf der Erde nahmst…“

Es war einfacher, den Blick wieder durch die transparente Barriere auf den Kerkerflur zu richten. Loki versuchte, die Genervtheit in seiner Stimme nicht durchdringen zu lassen, aber es gelang ihm nicht vollkommen, als er umgehend konterte: „Nicht mehr als eine Handvoll verglichen mit der Zahl, die Odin selbst genommen hat.“

„Dein Vater-“

„ER IST NICHT MEIN VATER!“ In einem Aufbranden von Zorn war er herumgewirbelt, ohne es überhaupt zu spüren.

Frigga lachte gekränkt auf.

In Loki ging etwas kaputt.

Sie schaute ihn mit glatt aufeinander gepressten Lippen an, aber er spürte, was für Emotionen sie dahinter verbarg. Sie waren sich so, so ähnlich. Vielleicht nicht optisch, aber innerlich. Sie verhielten sich in vielen Situationen geradezu gleich und selbst Lokis Mimik ähnelte Friggas häufig. Und dennoch konnte Loki kaum auseinanderhalten, ob Frigga eine Frage stellte oder ob es eine Aussage war, als sie sagte: „Dann bin ich auch nicht deine Mutter.“

Er zögerte.

Atmete ein, wie um Zeit zu gewinnen.

Blinzelte.

Blinzelte erneut. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Dann streckte er den Rücken durch und antwortete abgeklärt: „So ist es.“

Friggas Kopf zuckte, dann lachte sie freudlos auf und lächelte Loki an, wie sie es zuletzt getan hatte, kurz bevor Odin ihn auf Lebenszeit in den Kerker geworfen hatte. Als Odin von ihm nur noch als dem Gefangenen gesprochen hatte. Als er Frigga fortgeschickt hatte, um Loki in Ruhe zu demütigen.

„Du hast eine erstaunliche Auffassungsgabe. Bei allem anderen, nur nicht bei dir selbst“, sagte Frigga ganz ohne Anklage in der Stimme. Sie ging einen Schritt auf ihn zu und hielt zärtlich die Hände für ihn auf. Loki konnte nichts als Feingefühl aus ihren Worten hören und es war schwer, dagegen anzukämpfen. Wie sollte er stark bleiben und sich gegen ihrer aller Lügen erwehren, wenn Frigga ihn so liebevoll anschaute?

Er zitterte, innerlich.

Dann schlug Loki die Augen nieder und streckte beide Hände nach den ihren aus. Anstatt sie zu berühren, fielen sie durch ihr Trugbild hindurch und von den Fingerspitzen an begann Frigga, sich in glühendes Licht aufzulösen. Bis zum letzten Augenblick schaute sie Loki an, mit dem gleichen liebevollen Blick wie zuvor.

Loki biss den Kiefer zusammen, um sein Kinn nicht zittern zu lassen, und erst als sie verschwunden war, schloss er die Augen. Scham übermannte ih-

 „Dann bin ich auch nicht deine Mutter.“

Er zögerte.

Atmete ein, wie um Zeit zu gewinnen.

Blinzelte.

Blinzelte erneut. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Dann streckte er den Rücken durch und antwortete abgeklärt: „Du hast mich immer wie deinen Sohn behandelt. Du. Odin nicht. Er hat mich nie wirklich als Sohn gesehen. Das ist etwas anderes.“

„Ist es das?“, fragte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. Hielt die Hände auf, damit Loki sie ergreifen konnte. Ihre Frage war keine Anklage.

Loki biss den Kiefer zusammen, um sein Kinn nicht zittern zu lassen. „So ist es.“

„Du hast eine erstaunliche Auffassungsgabe. Bei allem anderen, nur nicht bei dir selbst.“

„Ist dem so?“ Loki lächelte schwach und schlug die Augen nieder, dann streckte er beide Hände nach den ihren aus. Kurz bevor er sie berührte, hielt er inne. Er durfte das Trugbild nicht stören.

„Geh nicht“, flüsterte er.

„Ich gehe nirgendwo hin, mein Junge.“

×
 

Bevor er die Augen öffnet, trocknet er sich sein Gesicht.

Und lächelt.

Statesman - 2017

Wie ohne Ziel schlendert Loki durch die Gänge der Statesman. Ab und zu trifft er auf andere Personen und fast alle von ihnen neigen nach wie vor den Kopf, um seinem königlichen Stand Respekt zu zollen.

Eigentlich hat Loki bereits einen Entschluss gefasst, aber etwas hält ihn davon ab, direkt zum richtigen Zimmer zu gehen und seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Wer ihn beobachtet, könnte denken, er langweile sich nur, doch das Jahr in der Zelle von Asgard hat Loki gezeigt, was wirkliche Langeweile war. Sich in Geduld zu üben, ist zwar nach wie vor nicht seine Stärke, aber hier kann er sich wenigstens mit anderen unterhalten, sie provozieren, sich betrinken, kann lesen und Fallen stellen, wie ihm der Sinn steht.

Und er hat die Möglichkeit, sein Schicksal zu verändern.

Er steigt hinauf zur Kommandoebene. Seine eigene Kabine links legen lassend, bleibt Loki letztlich mit klopfendem Herzen vor der richtigen Tür stehen.

Er schließt die Augen. Atmet tief ein. Zieht bewusst die Schultern nach unten und lässt die Luft lange ausströmen.

Dann klopft er.

„Komm rein, Bruder!“

Loki öffnet die Tür und betrachtet das minimalistisch eingerichtete Zimmer. Ein großer Spiegel dominiert den metallverkleideten Raum und darunter steht ein Tischchen mit Gläsern und Flaschen. Das ist, abgesehen von einer niedrigen Pritsche als Bettstatt, die vor dem Fenster steht, alles, und damit so ganz anders als Lokis eigene Kabine, die inzwischen mehr seinem früheren Gemach ähnelt als seiner Kerkerzelle. Hier hat er Thor vor Monaten angetroffen, als er das erste Mal seine Augenklappe anlegte, die sie aus einer Gladiatorenrüstung geschnitten hatten.

Der andere sitzt auf der Pritsche und starrt durchs Fenster hinaus ins Universum. Vermutlich sucht er, wie alle anderen auch, nach einem Anzeichen der Erde.

Loki kann selbst nicht einmal mehr sagen, wie lange sie noch nach Midgard brauchen werden. Er hat die Orientierung verloren. Manchmal fehlt ihm ein Tag oder auch zwei, weil er sich mit der Beschwörung der Lebensmittel, die ihr Volk braucht, zu sehr verausgabt, und manchmal kommt er gar nicht aus seinem Gemach heraus, weil er noch immer seine verschiedenen Erinnerungen prüft und testweise modifiziert. Inzwischen fühlt er sich selbstbewusst damit, glaubwürdige Trugerinnerungen zu erstellen. Jetzt fehlt nur noch, dass er sie auch der entsprechenden Person einsetzt.

Wenn das erst einmal vollbracht ist und keine Auffälligkeiten mehr zu bemerken sind, kann er sich der nächsten, viel größeren Aufgabe widmen: Die Erinnerungen aller Sterblichen und die der anderen Personen auf der Statesman mit Hilfe des Tesserakts umzuformen, sobald sie Midgard erreicht haben. Der Tesserakt war zwar nicht der Gedankenstein, aber Lokis magische Fähigkeiten waren inzwischen so konzentriert, dass die Energie an sich ausreichen sollte, um einen Teil der Erinnerung auszutauschen: Die zentrale Person.

„Ist es nicht eigentlich schön hier?“ Der andere hat sich noch immer nicht zu Loki umgedreht, denn seine Augen verfolgen einen Kometenschauer, bis er aus dem Blickfeld herausgeschwirrt ist. Er wirkt, als sei er gar nicht richtig anwesend und für einen Moment fragt Loki sich, ob ihm hier etwas entgangen ist.

„Ja. Durchaus“, gibt er dann leise zu und bleibt unschlüssig schräg neben dem anderen stehen. So, dass er sich geradeso außerhalb dessen Blickfeldes befindet.

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich habe lange nicht mehr so eine friedliche Umgebung erlebt.“

Loki hasst dieses Gefühl. Zögern.

So kennt er sich nicht. Er muss ich selbst einen Ruck geben. Er muss handeln.

Nur noch die Hand ausstrecken. Er ist ihm nah genug, er muss nur noch die Hand ausstrecken.

Wenn er es jetzt nicht tut, wird er es nie tun.

Loki versichert sich, dass ihre gemeinsame Spiegelung in der dunklen Fensterscheibe undeutlich genug ist, um unerkannt zu handeln, dann hebt er blitzartig die Hand, legt sie dem anderen auf den Kopf und stößt ihm seine eigenen Erinnerungen in den Schädel.

Die Sekunden vergehen, während Lokis Gedanken an die Zeit vor, während und nach seinem Angriff auf Midgard durch seinen Kopf schießen.

Der Handel. Das Zepter. Die glasklaren Gedanken. Sein Eintreffen in Midgard. Barton. Stuttgart. Die Gefangennahme. Der gläserne Käfig. Ihnen mangelt es an Überzeugung. New York. Das Portal. Seine Zweifel. Die Chitauri. Die Kämpfe. Der Hulk. Thanos‘ Bedrohung. Der Kerker.

Er droht, ebenfalls in den Strudel hineingesogen zu werden, doch der glasklare Gedanke an ein neues Schicksal hält Loki aufrecht. Als sie zum Ende der Sequenz kommen, reißt Loki seine Hand los und taumelt. Er verliert mit pochendem Herzen das Gleichgewicht und landet mit einem pfeifenden Atemzug neben dem anderen auf der Pritsche.

Stille.

Als sei gar nichts geschehen.

Hat sein Zauber überhaupt seine Wirkung entfaltet?

Dann hört er leise die Stimme: „Weißt du, Bruder. Manchmal fragte ich mich, warum ich das Midgard damals angetan habe.“

„Ich weiß“, antwortet Loki schwer, „Und ich kann es dir auch nicht erklären.“

Statesman - 2017 | Übung 122 – Übungsziel: 2013

Seit Wochen, seit er begonnen hat, seine Fähigkeiten zu schärfen, ist es, als verstecke sich hinter den offensichtlichen Erinnerungen, die er bewusst aufruft, ein Schatten, der undeutlich und grau hinter den anderen aufragt. Der seine Fühler nach Loki ausstreckt und ihn immer wieder in die Arme der schmerzvollen Erinnerungen treibt. Der darauf wartet, dass Loki sich in den kleineren Erinnerungen verstrickt, um ihn dann zu packen und zu verschlingen.

Aber Loki hat sich lange genug davor versteckt.

Er hat so viel Vorbereitung hinter sich. Und er hat schon viel komplexere Erinnerungen zu seiner Wunschvorstellung umgeformt. Er hat sogar begonnen, seinen Plan konkret in die Tat umzusetzen, indem er nicht mehr der einzige ist, der seine manipulierten Erinnerungen in sich trägt.

Damit ist jetzt Schluss.

Ich kann das.

Ich kann das.

Ich kann –

 

×

Anders als die anderen Zellen im Verlies von Asgard war Lokis mit ein paar wenigen Möbelstücken ausgestattet. Anders als die anderen Zellen im Verlies von Asgard lag diese außerdem an einer Korridorgabelung und hatte darum zwei Fenster in zwei Richtungen, die einem beide die Haut von den Knochen brannten, wenn man sie berührte. Nun, anders als andere Gefangene im Verlies von Asgard war Loki allerdings auch dazu verdammt, hier bis ans Ende seiner Tage zu verrotten.

Loki saß in dem kleinen Sessel an der magischen Barriere seines Verlieses und las das Buch, dass Frigga ihm zuletzt geschickt hatte. Asgardische Astronomie. Sie wusste, auf welchem Stand er sich bewegte.

Der Streit mit ihr bezüglich ihrer Verwandtschaft lag bereits einige Tage zurück und nach dem Gefängnisausbruch an diesem Morgen, bei dem Loki dem feindlichen Wesen geraten hatte, den linken Aufgang zu wählen und so umso schneller den Weg in die Gemächer Odins zu finden, war nichts Aufregendes mehr passiert.

Er wünschte sich bloß, das fremde Wesen hätte auch ihn befreit.

Das Einzige, worauf er sich nun noch freuen konnte, war die nächste Unterhaltung mit Frigga. Er musste sich entschuldigen. Natürlich liebte er sie wie ein Sohn. Natürlich litt er unter ihrer Enttäuschung und er vermutete, dass sie es genauso tat. Sie würde ihn doch wieder besuchen kommen?

Eine Gefängniswache blieb unübersehbar vor Lokis Fensterbarriere stehen, sodass er den Blick von seiner Lektüre hob. Der Mann hatte seinen Helm abgenommen und trug ihn im Arm. Ungewöhnlich.

Als Loki die Wache musterte, zögerte sie kurz.

„Königin Frigga ist tot.“

Ein Abgrund tat sich auf.

Die Wache wartete auf eine Reaktion, auf eine Nachfrage von Loki, der noch immer ein Prinz war und so darüber entschied, wann eine Unterredung mit ihm beendet war. Doch Loki war wie versteinert.

Er nickte dem Mann höflich zu, der sich daraufhin abwandte und ging.

Er fiel.

Wie in Zeitlupe legte Loki Friggas Buch auf den gepolsterten Hocker vor sich und stand auf.

Er fiel und fiel.

Er wollte schreien, aber er hatte keine Kraft.

Er wollte weinen, aber sein Körper war taub.

Unwillkürlich ballte er wie von selbst die Fäuste und setzte einen schwächlichen Stoß Energie frei, der die Möbel in der Zelle gegen die Wände schleuderte.

Er schlug auf.

 

Als Loki wieder zu sich kam, saß er auf dem Boden und lehnte an der Wand.

Seine Zelle war verwüstet.

Spuren von Fingernägeln und Schlagabdrücke zogen sich über die weißen Wände. Blutige Fußabdrücke und zerquetschte Beeren besudelten den Boden, der übersäht war mit zerbrochenem Holz und Glasscherben und zerrissenen Buchseiten. Das, was von seinem Tisch, seinem Sessel, seinem Waschbassin übriggeblieben war, lag in zerschlagenen Einzelteilen im Raum. Selbst sein Ledermantel und seine Stiefel waren zerfetzt, sodass er nur noch in seinem Wams und Stoffhose dasaß, mit nackten, zerschnittenen Füßen.

Sie war fort.

Er atmet flach und der Schweiß rinnt ihm über die Stirn.

Kämpfe!

Eine Gefängniswache blieb unübersehbar vor Lokis Fensterbarriere stehen, sodass er den Blick von seiner Lektüre hob. Der Mann hatte seinen Helm abgenommen und trug ihn im Arm. Ungewöhnlich.

Als Loki die Wache musterte, zögerte sie kurz.

„Königin Frigga ist tot.“

Ein Abgrund tat sich auf.

Die Wache wartete auf eine Reaktion, auf eine Nachfrage von Loki, der noch immer ein Prinz war und so darüber entschied, wann eine Unterredung mit ihm beendet war. Doch Loki war wie versteinert.

Er nickte dem Mann höflich zu, der sich daraufhin abwandte und ging.

Er fiel.

Wie in Zeitlupe legte Loki Friggas Buch auf den gepolsterten Hocker vor sich und stand auf.

Er fiel und fiel.

Nein, kämpfe!

Kämpfe!

Eine Gefängniswache blieb unübersehbar vor Lokis Fensterbarriere stehen, sodass er den Blick von seiner Lektüre hob. Der Mann hatte seinen Helm abgenommen und trug ihn im Arm. Ungewöhnlich.

Als Loki die Wache musterte, zögerte sie kurz.

„Königin Frigga ist –“

Eine Gefängniswache blieb unübersehbar vor Lokis Fensterbarriere stehen, sodass er den Blick von seiner Lektüre hob. Der Mann hatte seinen Helm abgenommen und trug ihn im Arm. Ungewöhnlich.

Als Loki die Wache musterte, zögerte sie kurz.

„Königin Frigga–“

„Frigga ist to– “

„F-Frigga ist–“

„ist tot“

„tot”

×
 

Ein stechender Schmerz durchfährt ihn.

„Loki!“

Er schlägt die Augen auf und schreckt zurück. Thor beugt sich tief über ihn. Dann spürt Loki den Schmerz im Gesicht und das warme Blut, das sein Kinn herunterläuft.

„Hast du mich geschlagen?“, zischt er erbost. Das Blut spritzt im Luftzug seines Atems.

„D- du hast geschrien wie am Spieß. G-geweint.“ Thor scheint um Fassung zu ringen. „Ich wusste nicht mehr, wie ich dich noch wachkriegen soll.“

Loki hält sich die Nase und rutscht ans Kopfende des Bettes, wo er sich anlehnt und die Beine aufstellt. Thor macht einen Schritt zurück. Für einen Moment wissen sie beide nicht, was sie sagen sollen.

„Ich hatte…“, beginnt Loki ziellos, während in seinem Kopf nur Leere herrscht, die versucht, ihn implodieren zu lassen.

Thor nickt, aber wendet den Blick ab: „Ist schon gut. Auch ich werde von Albträumen heimgesucht.“

Man muss einem Hornochsen nur die Möglichkeit geben, blinden Flecken in seinem Wissen selbst zu füllen.

Loki wischt sich das Blut mit dem Handrücken vom Kinn, das bereits beginnt, zu gerinnen.

„Ich habe von Mutter geträumt.“

„Auch das passiert mir“, antwortet Thor in einem abgestumpften Tonfall.

„Du hast damals eine Wache geschickt, um mich zu informieren“, erinnert ihn Loki und der Vorwurf in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

„Vater hat sie geschickt. Ich war nicht in der Lage, dir die Nachricht selbst zu überbringen“, gibt Thor hart zurück. Seine Augen sind wie Steine.

„Ich konnte nicht einmal ihrer Bestattung beiwohnen!“

„Deine eigenen Taten brachten dich in diese Lage!“

Loki stößt ein sarkastisches Lachen aus und lässt kraftlos den Kopf gegen die Wand sinken.

„Das hat sie damals auch gesagt…“

„Sie war eine kluge Frau.“

„Das war sie.“

„Ich vermisse sie.“ Thor starrt ins Nichts.

Als Loki antwortet, ist seine Stimme ganz dünn. „Ja.“

Statesman - 2018

Sie stehen im Vorzimmer von Thors Kabine und schauen aus dem Fenster. Loki hat das Gefühl, als täten sie seit Wochen und Monaten nichts anderes, als aus dem Fenster zu starren. Und doch ist es diesmal anders. Bis Midgard ist es nicht mehr weit. Man kann bereits den Stern sehen, der im Herzen des irdischen Sonnensystems liegt, und die freudige Erwartung ist der Besatzung der Statesman anzumerken.

Der Anblick ihrer zukünftigen Galaxie stimmt Loki froh, vor allem nachdem er bereits begonnen hat, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Die Sonne wird wieder für sie scheinen.

Doch bis dahin gab es noch eine Sache zu tun.

„Hältst du’s wirklich für eine gute Idee, wieder zur Erde zurückzukehren?“

Der andere dreht ihm den Kopf zu und antwortete selbstbewusst: „Selbstverständlich. Die Menschen der Erde lieben Thor. Er ist da echt angesagt.“

Loki atmet mit unterdrücktem Kopfschütteln ob der Ignoranz ein, dann sagt er: „Lass es mich anders ausdrücken. Hältst du’s denn auch für eine gute Idee, dass du wieder zur Erde zurückkehrst?“

„Um ganz ehrlich zu sein, nicht“, gibt Korg augenblicklich zurück. Er greift sich betreten an den steinigen Hinterkopf und schaut Loki zerknirscht an. „Ich versuche einfach, mir keine Sorgen zu machen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass alles gut wird.“ Er zuckt etwas hilflos mit den Schultern, dann richtet er seinen Blick wieder nach vorne auf die Sonne, ihren Fixstern.

Plötzlich schiebt sich ein Schatten vor das Fenster. Loki und der Kronan heben beinahe simultan die Köpfe und lassen die Augen über das gigantische Raumschiff, dass vor ihnen aufgetaucht ist, wandern.

Loki bleibt der Mund offenstehen.

Nein.

Damit hat er nicht mehr gerechnet.

Er erkennt das Schiff mit den doppelten Flügeln, die wie zwei schwebende Ebenen von beiden Seiten des Rumpfes abgehen, sofort. Er hat es schon einmal gesehen. Die Sanctuary II.

Er weiß, zu wem es gehört.

Wie von den Eisriesen gejagt stürmt er aus dem Zimmer, ohne einen weiteren Blick auf Korg.

„THOR!“, schreit Loki mit überschlagender Stimme und sein Bruder springt von der Kommandobrücke aus hinaus auf den Flur, „Es ist Thanos!“

Loki sieht, wie seinem Bruder alle Gesichtszüge entgleiten.

„Thanos, der Titan?“

Loki bekommt kein Wort heraus, seine Pupillen zittern in den blassen Augen.

Thor steht ebenfalls da wie angewurzelt. Loki erblickt durch den offenen Türrahmen Brunnhilde, die sich zu ihnen umwendet, und schreit ihr zu: „Walküre! Evakuier alle! Sofort! So schnell es geht, so weit nach unten wie möglich! Zu den Triebwerken! In die Lagerhallen!“

Sie starrt ihn an.

„JETZT!“, brüllt Loki.

Sie zuckt zusammen und schlägt ohne weitere Nachfragen auf einen Knopf auf dem Cockpit, woraufhin alarmierende Durchsagen über das ganze Schiff schallen. Dann rennt sie los, durch Thor und Loki hindurch und die Treppe hinab.

Der angstgelähmte Blick seines Bruders verschlägt Loki den Atem. Thor scheint es ähnlich zu gehen. Er ist kreidebleich.

Als Loki seine Stimme wiederfindet, flüstert: „Er wird uns alle vernichten.“

Im gleichen Augenblick trifft eine Schockwelle die Statesman und selbst Thor verliert für einen Moment das Gleichgewicht. Loki findet sich auf dem Boden wieder, während das Licht über ihnen ausfällt. Sein Kinn schmerzt vom Aufschlag.

„Wir müssen etwas tun. Ich-“, keucht er, doch eine Explosion an der Spitze des Raumschiffs übertönt seine Worte.

Thor ist zuerst wieder auf den Beinen, greift Loki am Oberarm und zieht ihn hoch. Dann hasten die beiden Brüder Brunnhilde nach.

Nur dumpf können sie den Notruf, über das Kreischen der Leute verstehen. Die wenigen bewaffneten Asen und selbst die Gladiatoren haben sich kampfbereit zusammengekauert, doch Loki spürt, wie das Schiff bereits immer mehr an Schlagseite gewinnt.

Angeleitet von Brunnhilde und Korg verlassen noch immer asgardische Familien den Thronsaal und den Rest der Ebene, aber ihre Anzahl ist bereits dezimiert. Sie stauen sich an den Durchgängen, die wie Flaschenhälse wirken.

Die improvisierten Möbelstücke beginnen, über den Boden zu rutschen und vereinzelt Leute umzureißen, die nicht schnell genug ausweichen. Noch funktioniert die künstliche Schwerkraft, aber wer wusste schon, wie lange?

Eine Explosion auf der Brücke taucht den Thronsaal von oben her in blutiges Licht, im nächsten Moment reißt die Druckwelle beinahe alle Anwesenden von den Füßen. Lokis Trommelfelle krachen und er spürt etwas Feuchtes, Warmes aus seinen Ohren tropfen.

Er stemmt sich mit schwankendem Gleichgewichtssinn auf die Ellenbogen, blickt Thor in die Augen, der sich ebenfalls aufrappelt, und schreit: „Ich habe einen Plan! Aber halt mir den Rücken frei!“

Mit einem Satz springt er auf die Füße, taumelt. Blickt auf. Dort, wo die Treppe zu den Kabinen war, klafft ein Loch. Gerade ist das noch der obere Treppenabsatz gewesen, jetzt liegen die Stufen als verbogene Metallteile am Boden des Thronsaals. Teilweise sind sie in Stücke gerissen.

Stattdessen stehen vier hoch aufragende Gestalten in der Öffnung oberhalb ihrer Köpfe. Auf einen Blick ist zu erkennen, dass sie zu unterschiedlichen Völkern gehören. Drei von ihnen tragen wuchtige Waffen, die vierte ergreift das Wort und hebt die Hände wie zum Empfangen eines Segens: „Freuet euch! Denn ihr sterbt durch die Hände der Kinder des Thanos.“

Alles in Lokis Körper schrillt.

Wo ist Banner? Sie brauchen Banner!

Er linst in eine dunkle Ecke der schiefstehenden Halle und wie auf Kommando schießt der Hulk von dort hervor, springt auf den früheren Treppenabsatz und stellt sich den Vieren in den Weg. Er brüllt sie an, dass ihnen die Kleidung um die Körper flattert, und auch einige der fliehenden Asen schützen schreiend ihre Köpfe mit den Armen.

Inzwischen ist auch Thor in Kampfhaltung gegangen, mit Heimdall an seiner Seite, aber Loki ist sehr wohl bewusst, dass sein Bruder noch immer keine Waffe hat. Hela, seine Schwester aus der Hölle, hatte Mjölnir nach ihrer Wiederauferstehung in Midgard in der Hand zermalmt wie eine Glaskugel. Es war schon ein Wunder, dass Thor den Kampf gegen Hela – und Ragnarök - überhaupt überlebt hatte. Nun, sein Auge hatte er eingebüßt.

Loki wirft sich einen Zauber über und verschwindet aus dem Blickfeld seines Volkes, der Sakaar-Rebellen und Thor. Alles in ihm weigert sich, ihnen den Rücken zuzudrehen.

In diesem Moment sticht einer der Feinde auf den Hulk ein und es wird deutlich, dass das Monster nur ein Trugbild gewesen ist. Augenblicklich löst er sich in goldenes Licht auf und Loki kann noch das enttäuschte Aufstöhnen einiger Asen hören.

Dann hastet Loki bereits über die schräg in der Luft liegenden Gänge, die den Thronsaal mit den anderen Ebenen verbinden. Stolpert beinahe, rennt weiter. Hinter sich hört er weitere Explosionen, Schreie, die kratzenden Geräusche von Schwertklingen.

In seinem Kopf brennt die Panik. Nein, nein, nein!

Wo war Banner? Wie lang konnte Thor durchhalten? Ohne Hammer?

War Thanos der Folterer selbst hier?

Loki eilt, fällt beinahe eine Treppe hinunter, nur um an deren Ende durch den angrenzenden Korridor zu hasten und dann schwer atmend eine weitere Treppe wieder nach oben zu hetzen.

Wieso hatte er bloß diesen törichten Zauber gewirkt?

Wieso hatte er bloß diesen törichten Zauber gewirkt!

Als Loki Stimmen am Ende des abzweigenden Flurs hört, durch den er jetzt rennt, verlangsamt er augenblicklich seine Schritte.

Er ist auf der Kommandoebene angekommen. Muss alle Muskeln im Brustkorb anspannen, um nicht zu laut zu atmen. Wenn sie ihn entdecken, ist er tot. Und alle anderen auch.

Loki lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und rutscht langsam, einen Schritt vor den anderen setzend, bis an die Abzweigung, hinter der die Angreifer sich aufhalten müssen.

Still. Vorsichtig.

Er linst um die Ecke. Nur noch einer der Vier steht auf dem ehemaligen Treppenabsatz, die anderen, so klingt es, richten auf der unteren Ebene Lokis verbliebene Freunde, Familie und Nachbarn hin. Ihm stehen die Haare zu Berge.

Schräg gegenüber liegt das Zimmer mit den goldenen Hörnern an der Tür.

Sein Zimmer. Sein Ziel.

Die Hand gehoben und die Zauber, die den Tesserakt in seinem Zimmer festhalten, auflösend, stürzt Loki in seine eigene Kabine. In Erwartung eines Angriffs hechtet er direkt hinter den Schreibtisch, um sich zu schützen. Wartet mit pochendem Herzen. Zwingt sich, nicht die Augen zu schließen. Doch nichts passiert.

Nur das gigantische Raumschiff des Titanen schaut ihm drohend über die Schulter. Loki wird übel, in seinen Ohren klingelt es.

Unwirsch Bücher und Schriften herunterfegend, greift Loki hektisch den kleinen Hammer vom Schreibtisch. Er fährt mit der Hand darüber und mit einem Aufleuchten goldenen Lichts gibt er dem Tesserakt sein eigentliches Aussehen zurück, löst endlich die Tarnung auf. Unwirklich wabert das blaue Licht in dem ansonsten still daliegenden Kubus.

Nun ist auch der Zauber, der den Tesserakt gegen fremden Zugriff und gegen jegliche aufrufende Magie geschützt hat, endgültig gebrochen. Doch dafür hat Loki wertvolle Zeit vergeudet.

Mit zitternden Händen verbirgt Loki den Würfel an seinem Körper und schleicht zum Türrahmen. Er späht hinaus und stellt fest, dass der Treppenabsatz zum Thronsaal leer ist.

Doch noch etwas ist anders.

Eine gespenstische Stille liegt über dem Schiff, das vor Kurzem noch vor Vorfreude auf Midgard gesummt hat.

Thor!, schießt es Loki siedendheiß durch den Kopf.

Diesmal macht er sich nicht die Mühe, den Umweg über die anderen Ebenen zu rennen.

Es war zu still!

Mit zitternden Beinen geht Loki zum Treppenabsatz. Alles in seinem Körper sagt ihm, er solle fliehen. Nicht dorthin gehen. Nicht hinunterschauen.

Es graut ihm vor dem Anblick.

Und tatsächlich. Als er über die zerrissene Klippe schaut, breitet sich vor ihm ein Blutbad am Boden des Thronsaals aus. Da liegen Wachen. Rebellen. Kinder. Leichen. Galle steigt in Lokis Hals hoch.

Die Handlanger Thanos‘ schlurfen drohend durch die Halle wie Aasgeier. Von hier aus kann Loki nur drei der Gestalten sehen. Der mit der Lanze sticht immer wieder auf am Boden liegende Asen ein, die nicht einmal mehr die Kraft haben, um ihr Leben zu flehen. Der Prediger schwingt schwülstige Reden und steigt dabei tänzelnd über die Toten hinweg, als wären sie nur weitere Schuttteile. Ein Dritter steht im Gegenlicht am Frontfenster, wo zuvor noch Thors Thron seinen Platz gehabt hat. Von der Herrlichkeit der Krönung ist nichts mehr übrig.

Dieses Raumschiff ist ein Grab.

Loki schnürt es den Hals zu, als er stumm seine Gestalt verbirgt und unter dem Deckmantel seines Zaubers den Treppenabsatz herunterspringt.

Beim Aufkommen am Boden fühlt er sich wie gelähmt. Wie angewurzelt steht er da und kann den Blick nicht abwenden von der Silhouette vor dem Fenster.

Er hat sich geirrt.

Das ist keiner der Handlanger.

Die Panik steigt ihm bis unter die Kopfhaut, er vergisst, seinen Zauber aufrecht zu erhalten. Augenblicklich steht er für alle sichtbar im Raum.

Doch niemand reagiert.

Hinter sich hört Loki die schleimige Stimme desjenigen, der schon zu Anfang das Wort an sie gerichtet hat.

„Hört meine Worte und erfreut euch ihrer! Euch wurde das Privileg zuteil, von dem Großen Titanen errettet zu werden. Ihr mögt dies als Leid empfinden... Nein, es ist Erlösung! Die Waagschalen des Universums sind etwas mehr im Gleichgewicht dank eures Opfers.“

Red‘ nicht so geschwollen daher!, knurrt Loki innerlich, doch er bekommt die Zähne nicht auseinander. Seine Muskeln sind so verkrampft, dass er kaum Luft holen kann. Und ohnehin verschlägt der Gestank nach verbranntem Haar und Fleisch ihm den Atem.

Der Prediger rückt in Lokis Blickfeld. Ohne ihn zu beachten, säuselt er friedlich: „Lächelt, denn selbst im Tode seid ihr zu Kindern des Thanos geworden.“

Hölzern starrt Loki ihm nach, unfähig, ein Wort herauszubringen. Dabei will er ihm alle Flüche an den Kopf werfen, die die Welten kennen.

Er hatte einen Plan gehabt, sein Schicksal zu ändern!

Und jetzt…

Und jetzt… jetzt….

Loki kann sich nicht durchdringen, die Gedanken zu Ende zu denken.

Als die Gestalt am Fenster sich zu ihm umwendet und mit tiefer Stimme zu sprechen beginnt, fasst Loki sie reflexartig in den Blick.

„Ich weiß, wie es ist, zu verlieren. Dieses verzweifelte Gefühl, im Recht zu sein und dennoch zu scheitern.“ Er kennt diese Stimme. Vor Jahren hat sie in Lokis Anwesenheit mit dem Unterhändler des Thanos gesprochen, bevor Loki das Zepter erhalten hat.

Erst jetzt realisiert Loki, wer die Leiche zu Thanos‘ Füßen ist.

Der Titan, von oben bis unten durch eine goldene Rüstung geschützt, die im krassen Kontrast zu seiner violetten Hautfarbe steht, ragt übermächtig neben Thors reglosem Körper auf.

In Loki zerbricht etwas. Kurz wird ihm schwarz vor Augen.

Er hatte doch einen Plan gehabt…

Dann sieht Loki, wie Thors Hand sich bewegt. Nur leicht, wie ein Zucken.

Lokis Augen weiten sich, genau so wie seine Luftröhre. Gierig saugt er die Luft ein.

Thanos geht in die Knie, greift Lokis Bruder am Brustpanzer und hebt ihn hoch wie eine Puppe, ein Spielzeug.

Langsam geht der Titan auf Loki zu, jeder Schritt eine Drohung.

Loki fürchtet, dass ihm die Beine nachgeben.

„Es ist beängstigend. Die Knie werden weich.“

Kann Thanos auch noch Gedanken lesen? Lokis Pupillen ziehen sich zusammen, sein Blickfeld wird klein.

Er will mit erstarrtem Herzen zurückweichen, doch hinter ihm haben die vier Handlanger sich aufgereiht. Einer von ihnen bedroht ihn mit einem dreizackigen Speer, direkt auf Kopfhöhe. Instinktiv zieht Loki die Schultern hoch.

„Doch ich frage euch, was nützt das?“, sagt Thanos und Loki hört in seinem Tonfall, dass er eine unterschwellige Wut überspielt, „Fürchtet es, flieht davor... das Schicksal holt euch trotzdem ein.“

Schicksal.

Obwohl Loki sich alle Mühe gibt, auszumachen, wie schwer Thor verletzt ist, schafft er es nicht, den Blick von Thanos abzuwenden. Wie das Kaninchen vor der Schlange steht er da, während sein Bruder schmerzerfüllt stöhnt.

Handlungsunfähig. Gelähmt.

Er hatte einen Plan gehabt, für sich, für sein Leben. Aber jetzt hat er noch einen. Einen neuen Plan. Für jetzt. Nicht den eigentlichen, nicht den für die sorgenfreie Zukunft.

Loki hat immer einen Plan.

Er muss ihn

Er muss ihn nur

Er muss ihn ausführen.

Siegesgewiss tritt Thanos auf Loki zu: „Und nun ist es hier. Oder sollte ich sagen: Ich bin hier?“

Das Schicksal.

Irgendetwas in Lokis Kopf blitzt. Rastet ein. Findet seinen Platz.

Er kann nicht sagen, ob es Thors Ächzen ist, als er von Thanos zwar fallen gelassen, aber noch immer von der riesigen violetten Pranke am Kopf gepackt wird, das es ausgelöst hat, oder ob es etwas Altes ist, das in Loki erwacht.

Etwas springt an, wird größer, bringt ihn in Bewegung.

Loki schüttelt sein Handgelenk und auf magische Weise erscheint der Tesserakt auf seiner leeren Handfläche. Thor keucht auf bei dem Anblick.

„Du bist wahrlich… der schlimmste Bruder, den man haben kann“, presst er undeutlich hervor, während Thanos Thors Kopf zu zerquetschen droht. Doch kaum, dass Thor zu Ende gesprochen hat, nimmt Loki den blauen Kubus zwischen beide Hände.

Mit dem reißenden Gefühl von Abschied holt Loki Luft, dann durchfährt ihn eine so starke Stoßwelle, dass alles außer ihm selbst, der er mit dem Tesserakt verbunden ist, nach hinten gedrückt wird. Selbst Thanos weicht einen halben Schritt rückwärts, was dafür sorgt, dass sich Thor aus seiner riesigen Hand befreien kann. Dumpf fällt Thors Kopf zu Boden, mit dem Gesicht voran auf den metallenen Untergrund.

Der Tesserakt glüht weiter auf, bekommt kleine Risse und dann berstet er in Myriaden kleiner Splitter. Wie eine Sprengladung bohren sie sich in alles, was sie umgibt, zerreißen Lokis Arme, seine Brust, bohren sich in seinen Hals, werden von seinen Rüstungsteilen abgelenkt und schneiden ihm ins Gesicht. Doch er hält die Augen geöffnet, starr auf Thanos gerichtet.

Die Kinder des Thanos, die ebenfalls von den Geschossen getroffen werden, kreischen hinter Loki auf und schützen ihre Gesichter mit ihren Armen. Die rasiermesserscharfen Teilchen prasseln in alle Ecken des entweihten Thronsaals.

Und zwischen all den Bruchstücken kommt etwas Neues zum Vorschein. Ein funkelndes kleines Juwel, das zwischen Lokis aufeinander gerichtete Handflächen schwebt. Es leuchtet strahlend blau und erinnert ihn für den Bruchteil des Moments an die Urne der Jotunen. Doch diesmal ist Loki froh über diesen Anblick. Er bildet sich ein, leise das alte, sehnsuchtsvolle Lied in seinem Kopf zu hören, doch er reißt sich los. Er hat keine Verbindung mehr zu den Eisriesen, er ist sein eigener Herr!

Loki umfasst den Raumstein mit einer Hand und schleudert ihn auf Thanos.

Alles geschieht wie in Zeitlupe. In dem Moment, indem der Stein in Thanos‘ goldenen Brustpanzer einschlägt, reißt die Atmosphäre auf. Eine blaue Stichflamme explodiert an genau dieser Stelle, verzehrt Thanos und lässt Loki Sterne sehen. Der Energieschub schleudert ihn nach hinten und schlägt ihn hart auf den Metallboden.

Und dann ist es still.

„Was“, keucht Thor als erster und rappelt sich nach einem Augenblick schwankend auf die Füße, „hast du gemacht?“

„Ich habe ihn weggeschickt. Soweit ich nur konnte“, bringt Loki atemlos hervor, während er noch im Liegen den Kopf zu den Handlangern herumdreht.

„Du bist wirklich“, sagt Thor und tritt taumelnd an Lokis Seite, „der Gott des Schabernacks.“

Lokis Mundwinkel zucken für eine Sekunde. Dann ergreift er Thors ausgetreckte Hand und zieht sich daran auf die Füße. Blutüberströmt stehen die beiden Brüder nebeneinander, doch für einen Moment ist es wie früher.

Dann beginnt der Tanz.

Loki feuert in einer fließenden Bewegung beider verschlissener Arme die erste Salve Dolche auf die vier Feinde. Die Kinder des Thanos, offenbar noch immer sprachlos über das Verschwinden ihres Meisters, suchen vergeblich Deckung. Thor bückt sich schwankend, greift ein am Boden liegendes Schwert und klaubt es auf.

„Nicht gerade Mjölnir, aber ein Anfang“, scherzt Loki in einer Tonlage, die ihm gar nicht ähnlich klingt, und spürt Thors Hand auf seiner Schulter. Sein Bruder muss sich festhalten, um die Balance wiederzufinden.

Obwohl eine Rüstungsplatte dazwischen ist, bildet Loki sich ein, durch die Berührung Wärme zu spüren.

„Machen wir sie fertig.“

„Für Asgard.“

Statesman - 2018

„Wir wurden angegriffen. Ich wiederhole: Wir wurden angegriffen. Triebwerke sind ausgefallen. Lebenserhaltungssysteme versagen. Erbitten Hilfe von jedem Schiff in Reichweite. Unsere Crew besteht aus Familien aus Asgard. Wir haben kaum Soldaten an Bord. Dies ist kein Kriegsschiff. Ich wiederhole: Es ist kein Kriegsschiff.“

„Gib mir das!“

„Aber, äh-“

„Hier ist Thor, verdammt noch mal! Selvig! Stark! SHIELD! Irgendwer? Hallo? Hallo!“

Nichts als Rauschen.

Thor schüttelt den Kopf und lässt sich wieder in den Sitz am Cockpit der Kommandobrücke fallen. Der Funker, dem er das Mikrofon aus der Hand gerissen hat, schaut ihn mit verkniffenem Gesicht an.

Thor ist müde. Er kann nicht mehr.

Loki kommt zum Türrahmen hinein und Thor sieht sein fragendes Gesicht.

„Nichts.“

„Ich hab’s gehört“, gibt sein Bruder beflissen zurück und greift sich den anderen Stuhl, von dem der Funker kurz aufgestanden war, um an einer der vielen Schalttafeln etwas an der Frequenz umzustellen. Als er zurückkommt, schaut er auch Loki entnervt an, sagt aber nichts.

Man sieht Loki an, dass der Kampf nicht spurlos an ihm vorbeigegangen ist.

Zwar hat er sich umgezogen und nicht mehr das zerschlissene Lederwams an, sondern ein langärmliges grünes Hemd aus asgardischer Wolle, aber die Schnitte im Gesicht, am Hals und auf den Handrücken sind noch nicht verblasst. Und vor allem sind seine Handflächen verbrannt, als hätte er dem Feuerriesen Surtur persönlich die Hand geschüttelt.

Der Raumstein war kein Spielzeug, nicht mal für Loki.

Doch Thor sieht kein Stück besser aus. Immer wieder läuft ihm Blut unter der Augenklappe hervor. Außerdem zeigt sein Oberarm eine tiefe Einstichstelle, die der Handlanger mit dem Speer ihm beigebracht hat. Thor bewegt ihn kaum. Die Haut hat gerade erst begonnen, sich neu zu bilden und glänzt ungesund im künstlichen Licht der Kommandozentrale.

Die Handlanger des Thanos haben ihnen einiges abverlangt. Glücklicherweise waren Banner und Brunnhilde in den Kampf eingetreten, sobald die letzten lebendigen Personen auf dem Schiff nach unten in die Maschinenhallen gebracht worden waren, wo Korg über sie wachte. Der Hulk hatte sich offenbar, ähnlich wie auf der Regenbogenbrücke noch vor einigen Monaten, bitten lassen, überhaupt aufzutreten. Doch so waren sie den vier Feinden augenblicklich ebenbürtig gewesen und machten mit vereinten Kräften kurzen Prozess.

Den Größten der Feinde konnte Loki mit zwei gezielt in den Hals gerammten Messern töten, während Brunnhilde ihm den Rücken freihielt. Doch daraufhin setzte der Prediger seine telekinetischen Kräfte ein und brachte sich und seine beiden Geschwister auf ihrem Mutterschiff in Sicherheit, bevor noch ein weiterer von ihnen erschlagen wurde.

Offenbar waren sie doch nicht bereit, für Thanos zu sterben.

Beinahe augenblicklich setzte sich die Sanctuary II in Bewegung.

Hulk, Loki und Thor waren ihnen nachgesetzt, um ihre Raketen und Laser unschädlich zu machen. Eine Aufgabe, die vor allem den Hulk zu amüsieren schien. Doch als deutlich geworden war, dass Thanos‘ Schiff nicht mehr auf die Statesman feuern würde, sondern sich tatsächlich auf und davon machte, waren die drei zurückgekehrt.

Zu ausgelaugt waren sie selbst. Zu blutleer waren ihre Angriffe. Zu verwundbar war die Statesman.

Sie hatte weder Waffen an Bord noch die Ausstattung für eine Verfolgung, also mussten sie Thanos‘ Handlanger ziehen lassen. Es war wichtiger, die verbliebenen Asen zu schützen, als auf eine lebensmüde Jagd zu gehen. Asgard ist kein Ort, es ist ein Volk.

Trotzdem haben Duzende ihre Leben gelassen, darunter Heimdall, den Thor sichtlich betrauert. Selbst Loki fühlt einen gewissen Verlust, den er nicht recht einzuordnen weiß.

Was ihn mehr beschäftigt, ist, dass Thanos nun im Besitz des Raumsteins ist. Bedauerlicherweise ist zumindest nicht davon auszugehen, dass der unfreiwillige Ortswechsel Thanos umgebracht hat. Vielleicht hat er ihm geschadet, ihm ein ähnliches Loch in die Brust gebrannt wie in Lokis Handflächen. Das hofft Loki zumindest. Doch die Bedrohung ist keineswegs vorüber. Falls Thanos weiß, wie der Stein richtig eingesetzt werden kann, könnte er damit innerhalb eines Augenschlags an jedem Ort im Universum auftauchen, einfach so.

Sie müssen hier verschwinden, sie brauchen Verbündete.

„Hey, Bruder.“

Loki wendet den Kopf und Thor tut es ebenso, aber keiner von beiden hat etwas gesagt.

Im Türrahmen steht der Kronan.

„Hey Korg.“ Thor hebt müde die Hand. „Was gibt’s?”

„Ist das gerade ein guter Zeitpunkt, um was zu besprechen?“

Loki hebt die Augenbrauen und mustert den Steinmann.

„Kommt drauf an, worum geht’s?“ Thor dreht sich auf seinem Stuhl, während der Funker im Stehen weiter an der Anlage herumfingert und leise und unermüdlich versucht, Kontakt zur Erde aufzunehmen. Loki schaut ihm zu, aber spitzt in erster Linie die Ohren.

„Also, es geht um Folgendes, Bruder. Weißt du. Ich hab‘ mir Gedanken gemacht und, naja, also, wie hast du dir das vorgestellt, wenn wir auf der Erde ankommen?“ Korg legt verlegen den Kopf schief und Loki verzieht peinlich berührt das Gesicht.

Das klingt nicht gut.

Ohne den Tesserakt wird er nie in der Lage sein, seine Magie auf die ganze Besatzung, Thor und auf die ganze Erde auszuweiten. Sein Schicksal war geplatzt. Thanos hatte gewonnen.

Da war mehr als nur Schmerz, das war Vernichtung. Das war Aussichtslosigkeit an, die sich in ihm breit macht.

Loki betrachtet die Spiegelung seines eigenen Gesichts in einem der toten Monitore des Cockpits. Alles, was er sehen kann, ist Verlust.

„Wieso, was meinst du denn, Korg?“, fragt Thor ahnungslos.

„Ach, naja, also wenn wir die Triebwerke erst wieder flott gemacht haben, die sind ja nicht völlig futsch, da geht noch was, und uns dann auf den Weg zu deiner blauen Kugel machen“, Korg nickt zum Fenster, wo man am anderen Ende der Galaxie einen Planeten ausmachen kann, „Ich dacht, ich komm einfach mal und frag‘, wie du dir das dann vorstellst. Wegen früher und s-“

„EIN SIGNAL!“, brüllt der Funker unvermittelt und Loki zuckte in seinem Stuhl zusammen. Er ist schon drauf und dran gewesen, sich eine passende Lüge zurecht zu legen und einen Fluchtplan zu schmieden, aber augenblicklich ist jeder von Thors misstrauischen Gedanken verpufft.

Im nächsten Moment dröhnt kreischende Rockmusik durch die Kommandobrücke und vermutlich auch durch den Rest des Schiffs.

Es dauert keine fünf Sekunden, bis Brunnhilde mit gezogenem Schwert in der Tür steht.

„Was ist hier los!“, brüllt sie und richtet ihre Waffe ausgerechnet auf Loki, als sei der Lärm seine Verantwortung.

„Das wollte ich euch auch gerade fragen“, tönt eine Stimme aus der Funkanlage und Thor springt von seinem Stuhl auf, plötzlich voller Elan.

„Stark! Stark, ich bin’s Thor! Von Asgard! Stärkster Avenger!“

Er wirft dem irritiert schauenden Funker einen Blick zu und erklärt: „Ein Freund aus der Arbeit.“

„Ich wusste doch, dass da ein Fleck auf der Linse meines Weltraumteleskops ist“, schnarrt Stark, „Hattet ihr vor, da länger ‘rumzuhängen?“

„Stark, wir wurden attackiert. Thanos. Der, der damals Loki geschickt hat!“

Es knallt.

Loki weiß nicht, wie er auf die Füße gekommen ist, aber er hat dabei seinen Stuhl umgeworfen.

Thor schaut ihn an.

Loki schaut zurück.

Dann neigt er langsam das Kinn, presst die Lippen aufeinander und ignoriert Brunnhildes irritierten Blick, der zwischen ihnen hin- und herwandert.

Es ist still, bis Stark dazwischenplärrt: „Hallo? Erde an Thor?“

Ohne ein weiteres Wort an seinen Bruder geht Loki an Korg vorbei zum Türeingang und sagt bestimmt: „Du, Kronan.“

Korg zuckt zusammen.

„Mitkommen.“

Sie verlassen die Kontrollbrücke. Im Korridor weichen sie den Spuren der Explosionen und der Kampfhandlungen aus. Im Augenwinkel sieht Loki das Loch, das einst eine Treppe gewesen ist.

„Alles okay, Kumpel? Siehst ein bisschen blass aus um die Nase. Brauchst du ‘ne Umarmung?“

„Schweig“, gibt Loki zurück und schreitet voraus, während Korg ihm auf seinen Steinfüßen nachklappert.

Thor folgt ihnen nicht.

Natürlich nicht.

Loki bleibt vor seiner Tür stehen, reißt mit einer ruckartigen Bewegung die goldenen Hörner ab und tritt dann ein. Korg bleibt unschlüssig zurück. Er hat dieses Zimmer noch nie betreten.

„Brauchst du eine Einladung?“, fragt Loki schneidend, während er die Hörner auf die Bettstatt wirft, wo sie liegen bleiben. Als Korg doch hereinkommt, fügt er hinzu: „Und mach die Tür zu.“

Korg tut wie ihm geheißen, schaut sich irritiert um und weiß offenbar nicht, was er sagen soll oder was er hier macht. Es ist nun nicht so, dass Loki ihm bisher wahnsinnig viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Und hier drinnen sieht es außerdem aus wie in einer anderen Welt.

Jetzt geht Loki drohend auf den Kronan zu und starrt ihm direkt in die winzigen Augen.

Dann hebt Loki schlagartig die Hand, presst sie Korg auf den steinernen Schädel und wirkt seinen Zauber.

Diesmal ist es, als würde der Film seiner Erinnerungen rückwärtslaufen. Sie fließen durch ihn hindurch und sammeln sich, breiten sich aus, drohen ihn zu sprengen.

Loki spürt, wie er schwächer wird. Er hat sich schon so sehr verausgabt.

Seine Beine wollen nachgeben.

Ihm wird schwarz vor Augen.

Dann ist es vorbei.

Das letzte Bild vor seinem inneren Auge zeigt Thanos‘ Handlanger, der das Zepter in der Hand hält, um es Loki zu übergeben.

Hätte er damals den Handel bloß abgelehnt. Dann hätte er nun ein anderes Schicksal vor sich.

Loki schwankt nach hinten und lehnt sich mit dem unteren Rücken gegen den Schreibtisch.

„Yo, was war das denn gerade? Hast du das auch gesehen?“, fragte Korg, der offensichtlich mit seiner magisch bedingten Amnesie zu kämpfen hat und sich nicht recht an das Wirken des Zaubers erinnern kann.

Loki atmet nur schwer und fasst sich an den Kopf. All die Gedanken und Gefühle von damals sind wieder da. Und die Schuld. Und die Konsequenzen.

Thors Verachtung im Stark Tower.

Mutters Enttäuschung bei Lokis Tribunal.

Ihm stehen die Schweißperlen auf der Stirn.

„Weißt du was“, sagt Korg und hebt eins der Bücher auf, die seit Stunden überall im Raum verteilt liegen, „Ich glaube, irgendwie wird alles gut. Vielleicht stehen die Fundamente von eurem Zuhause nicht mehr, a-“

„Asgard war nicht mein…“, setzt Loki reflexartig an, aber dann bringt er den Satz nicht zu Ende.

Korg scheint den Einwurf gar nicht gehört zu haben, sondern studiert mit schräggelegtem Kopf das Buch. Dann drückt er es Loki in die Hand, der es gar nicht zurückgefordert hat.

„Brauchst du mich noch? Weil, sonst würde ich zurückgehen und gucken, dass wir unten bei den Triebwerken klar Schiff machen. Kleiner Seemannswitz am Rande, wo wir doch auf einem Schiff sind. Auch wenn wir schweben. Ohne Schwerkraft. Dann können wir hoffentlich bald starten zu unserem neuen Zuhause.“

Loki zuckt nur mit dem Kinn und schaut schon gar nicht mehr hin, als Korg den Raum verlässt.

In dem Buch, das der Kronan aufgehoben hat, steckt eine Visitenkarte.

Loki streicht mit dem Daumen darüber, dann stößt er resigniert und belustigt zugleich die Luft aus, legt die Karte wieder in das Buch und das Buch auf den Tisch.

Steif klettert Loki unter die Decke auf seiner Bettstatt, lässt den Kopf auf das Kissen sinken und fällt zum ersten Mal seit Jahren in einen traumlosen Schlaf.

Epilog

Obwohl er sich schon seit Stunden hier aufhält, ist es noch immer ein befremdliches Gefühl, zurück zu sein. Und egal, wo Loki sich befindet, er hat permanent das Gefühl, ein Flüstern folge ihm, und zwar keines der guten Sorte. Köpfe drehen sich nach ihm um, rücken zusammen und besprechen verhalten ihre düsteren Vermutungen. Selbst hier noch, auf dieser Insel am Ende der Welt.

Und irgendwie erfreut es ihn nicht mehr, Angst zu schüren.

Es ermüdet ihn und er kommt sich vor wie in einem Kreislauf, aus dem er nicht ausbrechen kann.

Er ist erneut das Monster, von dem die Eltern ihren Kindern Schauergeschichten erzählen.

Als Loki eine verlassene Gasse betritt, nutzt er einen unbeobachteten Moment und wechselt seine Gestalt. Aus den Anzugschuhen werden lederne Schnürstiefel, aus seiner Hose eine nahtlose Strumpfhose und sein dunkles Jackett verwandelt sich in ein waldgrünes Kleid mit Goldapplikation um den Hals. Nur der lange schwarze Mantel bleibt derselbe.

Zügigen Schrittes läuft er über die vereiste Straße und zieht gegen den pfeifenden Wind den Kragen enger. Als Loki sich durch die Haare fährt, sind sie gewellt und blond. Auf den Haarreif verzichtet er diesmal.

Natürlich hat er niemandem gesagt, wohin er verschwunden ist. Oder wie lange er fortbleiben würde. Vermutlich bekommt Thor bereits Zustände, weil Lokis mysteriöse Abwesenheit für ihn in den letzten zehn Jahren immer nur Leid bedeutet hat.

Die Korridore der Universität von Island verlaufen noch genau so, wie er es in Erinnerung hat. Mehrere der Büroschilder sind neu beschriftet, haben offenbar neue Verwendungszwecke. Kein Wunder, nach irdischen Maßstäben war mehr als nur ein wenig Zeit vergangen.

Es gibt aber ohnehin nur eine Tür, für die Loki sich interessiert.

Als er davor stehenbleibt, streckt er die Hand in den Mantel und zieht die Visitenkarte heraus. Sigyn Volundardóttir. Er gleicht die Karte nickend mit dem Namensschild neben der Tür ab.

Jetzt hat er keinen Grund mehr, wieder nach Hause zu gehen.

Loki hebt die Hand, um zu klopfen, doch kurz bevor seine Knöchel das graue Holz berühren, zögert er. Sein Stolz streitet sich mit seinem Wunsch, endlich Ruhe zu finden.

Er klopft.

„Herein!“, antwortet eine Frauenstimme.

Loki öffnet nur langsam die Tür, als habe sein Körper sich noch immer nicht gänzlich damit abgefunden, seinem Kopf zu gehorchen, und tritt ein.

Ein kleines, charakterloses Büro breitet sich vor ihm aus. Es wird dominiert von einem vollgeladenen Schreibtisch, die stereotype Zimmerpflanze steht in der Ecke. An der Pinnwand daneben hängen eine Handvoll englischsprachige Zeitungsausschnitte über, ausgerechnet, Thor, Loki und die Avengers. Einer zeigt Jane Foster und Thor bei der Konferenz in Island. Lokis Bruder grüßt breit grinsend mit dem Hammer in die Kamera. Alle Fotos sind bereits von der spärlichen isländischen Sonne ausgeblichen.

Eine Frau mit Rotstich im Haar und Brille sitzt an einem Computer und schaut ihn erfreut an.

„Ach, Sylvie, bist du da? Wie schön dich zu sehen! Das muss ja eine Ewigkeit her sein. Was kann ich für dich tun?“ Die Frau deutet vage auf den vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl, aber Loki bringt es nicht über sich, sich zu setzen. Wenn er sich setzt, ist es entschieden.

„Du hast mir vor Ewigkeiten mal diese Karte gegeben. Ich will wissen, ob das Angebot noch steht.“

Loki schiebt die Visitenkarte über den Schreibtisch. Die Frau rückt ihre Brille etwas tiefer auf die Nase und mustert über den Rand hinweg ihre eigene Handschrift. Ihre Augenbrauen ziehen sich irritiert zusammen, die Verwirrung steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Es ist bereits beinahe sieben Jahren her, dass sie mit einem blauen Kugelschreiber ihre Telefonnummer unterstrichen und „Falls du mich mal brauchst“ darauf geschrieben hat.

„Woher hast du-“, setzt sie an, aber erstarrt mitten im Satz, als sie von der Karte aufschaut.

„Du hast sie mir selbst gegeben“, antwortet Loki sanft.

Er hat die Maskerade fallenlassen und hat seine eigene Gestalt wieder angenommen. Auf seine asgardische Tracht hat er verzichtet, aber offensichtlich macht er auch so genügend Eindruck.

Der Frau entgleisen die Gesichtszüge.

„Larus!“, ruft sie aus und fährt von ihrem Stuhl hoch, „Ich meine, L-“

„Ich sehe, du erinnerst dich an mich.“

Loki verschränkt die Arme vor der Brust und versucht, den entsetzten Blick der Psychotherapeutin nicht an sich heranzulassen. Und auch nicht, dass sie mit zittrigen Fingern nach ihrem Smartphone greift.

Mit übermenschlicher Geschwindigkeit kommt Loki Sigyn zuvor.

„Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Ich bin in friedlicher Absicht hier. Ich bin nicht mehr wie… damals.“ Er zuckt mit den Augenbrauen und sein Blick huscht zur Pinnwand.

Dann legt Loki ganz langsam das Telefon wieder auf den Tisch. Augenblicklich nimmt Sigyn es in beide Hände wie einen verloren geglaubten Schatz.

„Was… willst du dann?“, fragt sie und Loki merkt, wie sie mit ihrem Bürostuhl ein klein wenig vor ihm wegrollt.

„Wie gesagt. Ich möchte wissen, ob dein Angebot von damals noch steht.“ Er deutet auf die Visitenkarte.

„Und w-was war das gerade mit Sylvie?“

„Ich weiß nicht einmal, wer das ist. Ihr seid bekannt? Ich nehme an, ich habe sie vor langer Zeit mal irgendwo gesehen und ihre Gestalt hat mir zugesagt. Das ist alles. Du weißt aber offenbar um meine Fähigkeiten?“

„Jeder weiß das! Alle wissen alles über dich!“

„Das will ich doch nicht hoffen“, antwortet Loki und schmunzelt.

Als die Frau ebenfalls mit den Mundwinkeln zuckt, hat er das Gefühl, dass sich etwas löst. Ihr scheint es ähnlich zu gehen.

Loki setzt sich hin.

Für einen Moment sortiert Sigyn sich. Sie schiebt ihre Brille wieder auf die Nase, greift einen Schreibblock und einen blauen Kugelschreiber und sagt dann, sich offensichtlich auf ihre Professionalität berufend: „Mit welchem Anliegen kommst du denn zu mir?“

„Nun, wo soll ich beginnen…“

Er überschlägt die Beine, dann öffnet er die Arme weit.

„Ich bin Loki, von Asgard. Und ein glorreiches Ansinnen ist meine Bürde.“



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