Meister-Rune von Futuhiro (Magister Magicae 13) ================================================================================ Kapitel 3: Verstehen -------------------- Waleri saß in der Küche, hatte seinen Oberkörper vornüber auf der Tischplatte abgelegt und die Arme unter dem Kinn verschränkt. Er brütete dumpf vor sich hin und wusste nichts rechtes mit sich anzufangen. In den ersten Tagen war er unablässig draußen in der Natur rumgezogen oder hatte seine Frau mit den Kindern weggeschickt, um möglichst viel allein zu sein. Er wusste, dass Victor sich niemals zeigen würde, wenn es nicht unter vier Augen war. Olha war natürlich sehr schnell skeptisch geworden und hatte darauf bestanden, zu erfahren, was diese plötzliche Distanzierung sollte. Also hatte er ihr notgedrungen von der Meister-Rune auf seinem Rücken erzählt. Victor hatte er mit keiner Silbe erwähnt, so dass seine Frau glaubte, Waleri brauche nach so einer "tödlichen Diagnose" einfach nur Ruhe und Zeit für sich. Das war für sie okay gewesen. Im Moment war sie mit den Kindern für eine Weile zu ihrer Familie gefahren. Dummerweise tat Waleri das Alleinsein überhaupt nicht gut. Und von den "paar Tagen", von denen Victor gesprochen hatte, konnte auch längst keine Rede mehr sein. Der Muskelprotz schoss in eine senkrechte Sitzhaltung hoch, als sich in der Tür plötzlich etwas bewegte. "Victor!" Kurz ploppte in seinem Kopf die Frage auf, wie der ins Haus gekommen war. Andererseits hatten Türen ihn ja noch nie aufgehalten. Victor stand da, mit seinem typischen Ledermantel, den schulterlangen, offenen Haaren, ein großes, schweres Buch an seine Brust gedrückt, und lächelte schief. "Sieh mal an. Wer hätte gedacht, dass du dich über einen Besuch von mir mal freuen würdest?" "Naja, es ist immerhin über einen Monat her ..." Victors Lächeln schwächte etwas ab und machte einem leicht zerschlagenen Gesichtsausdruck Platz. Er war eindeutig übernächtigt und körperlich ermüdet. "Ja. Meine Suche nach Infos zu dieser Meister-Rune war schwerer als erhofft. Als ich in meiner privaten Bücherei nicht fündig geworden bin, habe ich angefangen, die großen Bibliotheken des Landes abzuklappern, und Leute zu suchen, die mir vielleicht helfen können. Es war furchtbar mühsam." Waleri nickte nur und mahnte sich, jetzt bloß keinen ungeduldigen oder aufgekratzten Eindruck zu machen. Natürlich war er beeindruckt von der Mühe, die Victor sich gemacht hatte, aber ob er jetzt auch Ergebnisse liefern konnte, war ihm gerade entschieden wichtiger. Victor kam näher und legte den fetten Wälzer, den er in den Armen trug, behutsam auf dem Tisch ab. Schon dem ledernen Einband sah man an, dass das ein uraltes und vermutlich verdammt wertvolles Buch war. Als der ehemalige Vize es aufschlug und beim Blättern sorgsam Seite für Seite mit der Hand glattstrich, sah Waleri kryptische Symbole, Tabellen und eine Schrift, die er nicht lesen konnte. Es erinnerte zwar an Kyrillisch, war aber keins. Waleri hatte trotzdem keinen Zweifel daran, dass Victor das übersetzen konnte. "Also!", begann Victor stoisch und setzte sich ermattet mit an den Tisch. Sicher wäre er lebhafter gewesen, wenn er ausgeruhter gewesen wäre. Waleri nahm es ihm nicht übel. "Die Meister-Rune ist eine harte Nuss. Sie ist so komplex, weil es mehrere davon gibt, die sich teilweise arg unterscheiden. Die finnische Meister-Rune verfolgt einen ganz anderen Ansatz als zum Beispiel die dänische, obwohl sie alle das gleiche Schriftzeichen verwenden. Noch dazu ist es ein Gemisch aus Bann und Fluch. Hybrid-Magie ist immer ein verdammt heikles Ding, selbst wenn man, wie ich, beides gut beherrscht. Aber, nichts desto trotz: diese Rune kann gebrochen werden." Victor legte eine kurze Sprechpause ein, die Waleri unterschwellig mahnte, sich nicht zu früh zu freuen. Er fühlte sich sichtlich nicht wohl mit dem was er sagte. "Ich bin mir zu 95% sicher, dass ich das kann." Waleri sah ihm nur aufmerksam ins Gesicht und wartete auf mehr. "Ich bin ehrlich: ich rechne mit Komplikationen", gab Victor also zu. "Es gibt fast keine dokumentierten Fälle. Und wer die Meister-Rune jemals angewendet hat, erzählt es für gewöhnlich niemandem. Aber was alle gemeinsam haben, und wo sich auch die Literatur einig ist, ist, dass die Meister-Rune grundsätzlich über dem Herzen angebracht wird. Vladislav muss sich etwas dabei gedacht haben, von den Vorgaben abzuweichen und sie dir auf den Rücken zu bannen, statt auf die Brust. Aber egal wie sehr ich recherchiere, ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Und wir können ihn ja dummerweise nicht mehr fragen." Er schaute nochmal wehleidig in das aufgeschlagene Buch, als würde er doch noch im letzten Moment auf den entscheidenden Hinweis hoffen. "Da ich nicht rausbekomme, was er damit bezweckt hat, bleibt also ein gewisses Restrisiko, wenn ich versuche, dich zu entketten." Waleri nickte verstehend in sich hinein. "Ich bin der Meinung, dass ich unerwartete Komplikationen auffangen kann. Ich bin auf alle Eventualitäten, die auftreten können, vorbereitet. Aber du musst selber entscheiden, ob du mir vertraust." "Was hab ich schon groß zu verlieren? Im schlimmsten Fall sterbe ich dabei. Aber das blüht mir sowieso, wenn ich diese Rune nicht loswerde." Victor zog eine unschlüssige Flunsch. "Glaub mir, es gibt schlimmeres als zu sterben. Die Meister-Rune sitzt genau auf deiner Wirbelsäule. Du könntest leben, aber für den Rest deiner Tage querschnittsgelähmt sein. Ich glaube nicht, dass ein Elasmotherium damit noch glücklich werden könnte. ... Die Wirbelsäule hat auch eine direkte Verbindung zum Gehirn. Die Magie könnte auf deinen Verstand ausstrahlen, wenn man an ihr rumpfuscht. Du könntest fortan ein Idiot sein. ... Das Rückenmark ist außerdem der Sitz der Blutregeneration und des Immunsystems. Vielleicht ist deine Gesundheit endgültig hinüber, wenn ich mit dir fertig bin." "Ach hör auf, mir Horrormärchen einzureden!", brummte Waleri. "Ich kenn dich, Victor. Du hast dich über einen Monat lang darauf vorbereitet. Und du wärst nicht hergekommen, wenn du dir deiner Sache nicht sicher wärst." "Na, ich wollte es dir nur gesagt haben. Nicht, dass du dich hinterher beschwerst. Ich BIN mir eigentlich sicher. Aber das ist halt eine sehr seltene und komplizierte Magie, die bei weitem noch nicht ausreichend getestet und erforscht wurde." "Eine 95%.-ige Chance ist mir völlig ausreichend." Victor atmete seufzend durch, als würde er Konzentration und Kraft sammeln, für das was vor ihm lag. "Schön. Dann auf in den Kampf." "Jetzt mal langsam", entschied Waleri stoisch. "Du bist ja genau so am Ende wie ich. Willst du nicht erstmal was essen, oder so?" Der Gestaltwandler grinste schelmisch. "Das täuscht. Unterschätze mich lieber nicht." "Trotzdem!" Waleri holte zwei Tassen aus dem Schrank. "Wenigstens ein Kaffee muss drin sein, sonst lasse ich dich nicht an mir rumexperimentieren. Du siehst nicht aus, als wärst du noch munter genug dafür. Außerdem hatte ich dich ja ursprünglich eingeladen, um mit dir zu quatschen, nicht wahr?" "Quatschen ...", echote Victor wenig begeistert. Dennoch lehnte er die Tasse nicht ab, die vor seiner Nase abgestellt wurde. "Meinethalben. Was willst du wissen?" "Alles. Deine Sicht der Dinge." "Du meinst meine Sicht auf die Motus?" "Ja." Waleri goss ihm und sich selbst Kaffee ein. "Wie bist du zur Motus gekommen? Wie hast du die Zeit dort empfunden? Wie war Vladislav in deinen Augen? Hattest du Spaß an dieser Arbeit? Wieso hast du uns letztlich auffliegen lassen?" Victor schaute einen Moment nachdenklich in das rabenschwarze Gebräu. "Hast du wenigstens Milch dazu?" "Sicher." Waleri stellte die Kanne in den Kaffeeautomaten zurück und zog stattdessen den Kühlschrank auf. „Wie ich zur Motus gekommen bin ... Die russischen Behörden haben mich dazu gemacht. An mich ist damals der Russische Geheimdienst herangetreten, und hat mich für seine Zwecke instrumentalisiert. Man hat mich gefragt, ob ich ihnen Informationen beschaffen will." Waleri brummte leise, während er Victors Kaffee mit Milch aufgoss. "Ein V-Mann. Ich hätte es ahnen sollen." "Sie dachten, als Gestaltwandler wäre ich ein geeigneter Kandidat dafür. Und ich war noch jung und blauäugig und habe ihnen vertraut. Aber natürlich kann man nicht in einer Organisation wie der Motus herumspazieren, ohne in ihren dreckigen Geschäften mitzumischen. Der Geheimdienst dachte wohl, ich würde als völlig unbescholtener Bürger, als unbeschriebenes Blättchen, Zutritt zu den höchsten Kreisen der Motus bekommen, und freien Zugang zu allen Dokumenten. Das war naiv. Wenn ich überhaupt in der Motus Fuß fassen wollte, musste ich ihre Spiele zwangsläufig mitspielen. Als ich natürlich ziemlich schnell straffällig geworden bin, hat der Geheimdienst mich einfach fallen lassen. Sie haben mir die Immunität entzogen, haben mich nicht mehr gedeckt, haben sämtliche Kommunikationskanäle zu mir gekappt und mich in der Motus mich selbst überlassen. Die kannten mich plötzlich nicht mehr. Vielleicht haben sie auch das Interesse an der Motus verloren, oder an mir, weil ich als Gestaltwandler doch nicht die Fähigkeiten drauf hatte, die ihnen vorschwebten. Keine Ahnung.“ Victor legte den Kopf etwas schief und heftete den Blick auf die Tischplatte, als Projektionsfläche für die Bilder vor seinem inneren Auge. Einen Moment überlegte er, wie er weitermachen sollte. „Nun konnte man aus der Motus natürlich auch nicht einfach wieder aussteigen“, fuhr er dann fort. „Wenn man da einmal drinsteckte, haben die einen nicht wieder gehen lassen. Zumindest nicht lebend. Also was sollte ich tun? Ich habe meinen ganzen Ehrgeiz darauf gerichtet, in die Führungsetage aufzusteigen, um den ganzen Laden aus eigener Kraft auffliegen zu lassen. Das war meine einzige Chance. Und die Motus-Typen betrachten einen nur als Chef, wenn man sich auch wie einer benimmt. Ich habe mir einen neuen Namen gegeben, und habe seit damals nie wieder mein wahres Aussehen angenommen, immer nur Tarngestalten, damit der Geheimdienst mich nicht wiederfindet. Der hatte zu diesem Zeitpunkt eh schon viel zu viel gegen mich in der Hand und hätte mich sofort aus dem Verkehr ziehen können. Von meiner Sorte gibt es nicht allzu viele, weißt du? Wäre irgendwo so ein Viech wie ich aufgetaucht, hätten die sofort spitz gekriegt, dass ich das bin.“ "Was bist du denn?", hakte Waleri interessiert nach und nippte an seiner Kaffeetasse. Vladislav hatte dieses Geheimnis nie gelöst. Victors Gesicht wurde wieder verschmitzter. "Vielleicht erzähl ich´s dir irgendwann. Jetzt lass uns endlich deine dämliche Meister-Rune in Angriff nehmen." Im Gegensatz zu Waleri goss er sich den kompletten Pott Kaffee auf ex hinter die Binde, knallte ihn auf die Tischplatte zurück und sprang wieder vom Stuhl hoch. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)