Der Fund von Arcturus ================================================================================ III --- Dafür, dass Tavell ewig an dem Schloss hatte herumfriemeln müssen, war der Stollen dahinter nahezu enttäuschend. Da war nur noch mehr dunkles Gestein, noch mehr glimmendes Kasalt. Immer wieder formten sich aus den purpurnen Flecken lange, scharfe Zähne und Augen, die ihnen den Stollen hinab folgten. Wasser, das an den Wänden herablief, glänzte wie Geifer. Doch all das änderte nichts daran, dass sie noch immer die einzigen Lebewesen weit und breit waren. Nachdenklich fuhr Pax mit dem Finger über eines der leuchtenden Bänder. Ein Hauch von Purpur blieb an seiner Haut haften. „Haben sie euch im Unterricht auch beigebracht, dass sich in Minen giftige Gase bilden können?“ „Unterricht?“, fragte Tavell trocken. Pax verdrehte die Augen. „Ja, Unterricht. Du weißt schon. Das, wo du dich mit einem Dutzend anderer Kinder in einen Raum begibst und den furchtbar langweiligen Vorträgen deiner Lehrer zuhörst.“ Er rieb mit dem Daumen über seinen Zeigefinger, doch der purpurne Schein verteilte sich dadurch nur weiter. Er zog die Augenbrauen zusammen. „Wir haben uns ein Semester lang mit dem Bergbau beschäftigt, weil sie uns für die Kasaltforschung gewinnen wollten.“ „Oh. Ich glaube, da hatte ich ein Rendezvous.“ Das Bedürfnis, Tavell seinen Umhang um den Hals zu schlingen und sich an den Saum des Stoffs zu hängen, damit Schwerkraft und sein Gewicht den Rest der Arbeit übernahmen, wallte in Pax auf. Dem Tonfall nach zu urteilen, der in Sairas Stimme mitschwang, als sie sprach, verspürte sie es auch. „Keine Details, Tavell.“ Es war keine Bitte. „Pax – was meinst du mit Gasen? Der Vorarbeiter sprach von einem massigen Wesen mit messerscharfen Klauen. Er klang sehr … entschieden.“ „Wenn man Gestein abbaut, kann es vorkommen, dass dabei Gase freigesetzt werden.“ Er spähte zur Stollendecke, während er sich die Worte seiner Lehrerin in Erinnerung rief. Statt dem Gesicht von Miss Goldblossom blickten nur tausende kleine Kasaltaugen zurück, reglos und kalt. „Die können in Schächten wie diesem hier nicht entweichen und sammeln sich an. Manche können dir die Luft abschnüren, andere benebeln deine Sinne.“ „Sowas hast du im Unterricht gelernt?“, warf Tavell dazwischen. „Ein bisschen bleibt halt hängen, wenn man dich ewig damit gängelt.“ Mit einem Seufzen wandte Saira sich von ihnen ab und warf dem Kasalt einen skeptischen Blick zu. „Du glaubst also, sie bilden es sich nur ein?“ Pax zuckte mit den Achseln. „Nun, die Klauen sehe ich hier, sobald ich an die Wände schaue.“ „Weil du den Finsteren Gott an die Wand malst, sobald sich nur eine halbe Möglichkeit dafür ergibt.“ Pax warf Tavell einen finsteren Blick zu. „Weil er nicht mehr als eine halbe Möglichkeit braucht.“ Die oder einen feuchtfröhlichen Abend in der Verschollenen Ziege. „Aber das ist nicht der Punkt. Was ich sagen wollte … Bergleute sind abergläubisch. Und natürlich erklären uns all die Industriellen, die Kasalt abbauen lassen, dass das Erz vollkommen harmlos ist. Und die Forscher auf ihrer Gehaltsliste plappern das natürlich nach. Aber … wie lange verwenden wir Kasalt jetzt? Fünfzig Jahre? Nicht ganz?“ „Genug Zeit, um Nebenwirkungen festzustellen, oder?“ „Wenn sich jemand dafür interessiert, ja.“ Während Tavell und Saira auf der Implikation seiner Worte kauten, besah Pax sich seine Finger. Seine Haut schimmerte noch immer violett. Er rieb mit seinem Finger über seinen Ärmel, doch auch das verteilte die Partikel nur weiter. Irgendwo in der Ferne tropfte Wasser von der Stollendecke und übertönte ihr Schweigen mit seinem monotonen Platsch-Platsch-Platsch. „Leute?“, sagte Tavell leise. „Was machen wir, wenn Pax recht hat?“ Saira fasste nach dem Griff ihres Hammers. „Dann finden wir es heraus und erstatten Bericht.“ Ein Scheppern unterstrich ihre Worte. Es klang schwer und anklagend und hinter ihnen. Pax wirbelte herum. „Was war das?“ „Ich würde sagen Metall?“, schlug Tavell vor. Saira nickte, die Hand noch immer auf dem Griff ihres Hammers. „Klang nach der Eisentür.“ „Die –“ Pax spürte, wie seine Fantasie am Rande seiner Wahrnehmung den Kopf hob und unruhig mit den Hufen scharrte. Zumindest hoffte er, dass es nur seine Fantasie war. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. „Das heißt, wir hängen hier fest?“ Hinter sich hörte Pax es rascheln. Einen Moment später spürte er Tavells Atem eindeutig viel zu nah an seinem Ohr. „Angst?“ Ein Schauer lief über Pax’ Rücken. Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur eine gesunde Portion Vorsicht.“ „Wie viele finstere Götter sind das mittlerweile an der Wand?“ „Haha.“ Er drehte sich um, um seinen Kameraden anfunkeln zu können. „Riechst du nur noch nach Räucherstäbchen oder hast du noch welche?“ „Wir haben noch Sairas Hammer.“ „Sankta Nadezhda ist kein Türöffner“, sagte Saira in einem Tonfall, der keinen weiteren, noch so pfiffigen Spruch dudelte. Bevor Tavell, der trotzdem den Mund öffnete, etwas antworten konnte, fuhr sie fort. „Aber solang es nur die Tür ist, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wir sind schon mit ganz anderen Dingen fertig geworden.“ „Ja, aber wäre die Tür nicht, könnten wir jederzeit gehen. Ohne erst einen Türöffner suchen zu müssen.“ Sie tauschten einen Blick. „Notfalls haben wir immer noch Sankta Nadezhda“, sagte sie schließlich und schenkte ihm ein Lächeln. Dieses Mal war es Tavell, der die Arme vor der Brust verschränkte. „Ach, aber wenn ich den Hammer vorschlage, ist er tabu?“ Saira tätschelte Tavells Schulter. „Ja.“ Mit diesen Worten ließ Saira sie stehen. Pax warf Tavell einen knappen Blick zu, dann folgte er ihr.   Der Stollen wurde enger. Während Pax weiterhin bequem aufrecht gehen konnte, drohte Saira bald, mit den Hörnern gegen die Decke zu stoßen. Das dunkle Grau des Stollens wich streckenweise vollständig dem unwirklichen, purpurnen Leuchten des Kasalts. Bald war alles purpur. Die Wände des Stollens genauso wie das Wasser, das vom Gestein herablief. Längst plätscherte es in einem flachen, doch steten Strom über den Boden Richtung Ausgang. Alles, das es berührte, färbte sich erst rosa, dann violett, bis es schließlich in einem tiefen, purpurnen Farbton leuchtete. Pax’ Lederstiefel färbten sich genauso, wie die mit Stahl beschlagenen Kappen von Sairas Schuhen. Selbst Tavells sonst so unverwüstlicher Umhang glomm vom Kasalt. Pax, der seinen Platz hinter Tavell wieder eingenommen hatte, beobachtete, wie sich mit jedem Spritzer weitere Muster über den Stoff zogen, das sonst so farbenfrohe Grün schluckten und übertünchten. Sein Blick glitt zu seinen Fingerkuppen. Mittlerweile hatten sich die Kasaltpartikel über alle Finger verteilt, genauso wie über den Ärmel, den er mit ihnen berührt hatte. Der Schimmer schien selbst durch all das Wischen nicht nachlassen zu wollen. Wenn überhaupt, wirkte das Leuchten dadurch noch stärker. Längst war es nicht mehr nur seine lebhafte Fantasie, die all das Erz kritisch beäugte. Die dunkle Ahnung, die sonst nur am Rande seines Bewusstseins lauerte, erschien ihm mittlerweile beinahe greifbar. Nah. Aufmerksam. Eine Bewegung vor ihm riss Pax aus den Gedanken. Tavell strauchelte, stürzte, erst Sairas Rüstung hielt ihn laut scheppernd auf. Einen Moment lang taumelten sie beide. „Eigentlich“, japste Saira, die Hände gegen die Stollenwände zu beiden Seiten gestemmt, „ging ich davon aus, dass ich nicht die Person bin, in deren Arme du dich werfen willst.“ Tavell lachte, peinlich berührt.  „Zugegeben. Trotzdem … Danke. Saira.“ Behutsam löste er sich von ihrer Rüstung und drehte sich um. „Was war– was ist das?“ Stirnrunzelnd beugte er sich vor. Pax tat es ihm nach. Dann sah er es auch: In dem Gerinnsel zu ihren Füßen lag ein Gegenstand. Er hatte einen langen Schaft, vermutlich aus Holz, und einen klobigen Kopf aus Metall, der zu beiden Enden spitz zulief. Der Gegenstand leuchtete wie das Wasser, das um ihn herum plätscherte, in unwirklichem Purpur. „Eine Spitzhacke?“, fragte Pax. „Offensichtlich. Hrmpf.“ Tavell stemmte die Arme in die Hüften. „Ich wusste nicht, dass die Dinger Tarnfarbe haben können. Oder dass Magenta als Tarnfarbe taugt.“ „Überraschung?“ Saira gesellte sich zu ihnen. Mit spitzen Fingern fischte sie die Spitzhacke vom Boden und hielt sie auf Augenhöhe. In trägen, purpurnen Tropfen floss das Wasser den Griff hinab und färbte das Leder ihrer Handschuhe rosa. Während die Struktur des Holzes zum Vorschein kam, ließ sich die ursprüngliche Farbe nicht einmal mehr erahnen. „Das ist das erste Werkzeug, das ich hier unten sehe.“ „Und es lag mitten im Weg“, sagte Pax. „So als hätte es jemand … fallen lassen?“  Den Blick noch immer auf die Spitzhacke gerichtet, nickte Saira. „Wer auch immer es war, hatte es eilig.“ „Also doch keine Gase?“, fragte Tavell und klang dabei halb hoffnungsvoll, halb besorgt. „Oder sehr, sehr eindringliche.“ Pax nickte den Stollen hinunter. „Ich glaube, da hinten liegt noch eine.“   Und dabei blieb es nicht. Auf ihrem Weg tiefer in die Mine fanden sie ein Sammelsurium an Werkzeug. Nicht nur Spitzhacken, sondern auch Hämmer und Pickel, Nägel, Knochenlichter und eine ganze Reihe noch unverbauter Holzbohlen lagen kreuz und quer im Stollen verstreut. Sogar ein halbvoller Karren wartete auf den Schienen auf einen Abtransport, der nicht geschehen war. Am Ende des Schienennetzes, ein paar Dutzend Meter hinter dem Karren, endete der Stollen. Gestein, das die Arbeiter dem Berg abgerungen hatten, lag noch immer dort, wo es aufgeschlagen war, obwohl auch in diesen Brocken Kasalt glomm. Die Decke fiel schräg nach vorne ab und die Streben, die anderswo die Stollendecke an Ort und Stelle hielten, fehlten. Am äußersten Ende hatten die Arbeiter ein Loch in die Wand geschlagen, kaum einen Meter im Durchmesser. Hinter den grob behauenen Kanten öffnete sich der Raum zu einer tiefen Höhle, deren Ende zumindest Pax nicht erkennen konnte. Behutsam und streng darauf bedacht, das Kasalt nicht zu berühren, spähte Pax durch die Öffnung. Sein erster Blick fiel auf unzählige Stalaktiten, die lang und spitz von der Höhlendecke hingen. Unter den spitzen Zacken erstreckte sich ein purpurfarbener See, der die Höhle in unwirkliches Licht tauchte. Ein dünner Nebel hing über dem Wasser. Dazwischen trieben Seerosen mit dicken, dunklen Blättern auf der Wasseroberfläche, deren orangefarbene Blüten strahlten wie Laternen. Pax hatte dergleichen noch nie gesehen, doch es war nicht der Anblick, der ihm den Atem raubte. Es war der überwältigende Gestank nach Verwesung, der ihm entgegenschlug. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)