Walpurgismacht von Coronet (Fragmente eines Todesserlebens) ================================================================================ Kapitel 1: Angst ---------------- Angst gehörte zu Alston Mulcibers Leben wie die Magie, mit der er – zum Glück – geboren worden war. Er erinnerte nicht, wann er sich das erste Mal gefürchtet hatte oder weshalb, er wusste nur, dass es so war. Die Furcht lauerte immer ihn ihm, ein steter Begleiter. Mal Freund, noch häufiger Feind. Vielleicht gehörte sie schon zu seinem Leben, seit er in den frühen Morgenstunden des 11. Novembers 1926 als erstes, einziges und perfekt reinblütiges Kind von Aloysius Mulciber und Evgenia Fawley in Chiltern Hall nahe High Wycombe zur Welt gekommen war. Bei der Realität handelte es sich immerhin um ein harsches, kaltes Erlebnis, das bisher noch jeden Säugling verschreckt hatte. Besonders, wenn man keine zehn Minuten alt war und schon mit der ersten familiären Enttäuschung konfrontiert wurde. »Für einen Jungen ist er ziemlich schmächtig. Hoffentlich kein Schwächling ...« Das waren die ersten Worte, mit denen Aloysius seinen Nachwuchs bedacht hatte – und für lange Zeit würden es auch die einzigen bleiben. Evgenias weiche Arme, die sich bei ihrem Klang enger um Alston geschlungen hatten, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihren Sohn keine bedingungslose Wärme empfing, ganz gleich, wie gemütlich die Einrichtung des Anwesens anmutete. Von einem Dramatiker wäre der Situation wohl ein Gewitter angedacht worden, aber das Wetter hatte sich nicht zu einer derart klischeehaften Laune hinreißen lassen. Stattdessen wurde der Herbstmorgen in absolut durchschnittliche Nebelschwaden gehüllt, die niemand als böses Omen sah. Doch da selbst solch lichter Nebel zuweilen Dementoren gebar, beschenkte er den Jungen an jenem Tag trotzdem mit etwas Dunkelheit – die im Schatten von Angst selbstredend prächtig gedieh. Dabei war Alston Mulciber natürlich kein Feigling (und entgegen allen Befürchtungen Aloysius’ ebenso wenig ein Schwächling). Im Gegenteil! Er liebte es, auf dem Besen über den Wald hinter seinem Elternhaus zu jagen, immer eine Stiellänge vor seinen Freunden (einem kleinen Beschleunigungszauber der Hauselfe zum Dank). Er hatte auch keine Angst, durch den See zwischen eben jenen Bäumen zu schwimmen, als Lewis Avery ihn dazu herausforderte. Obwohl darin ein Kelpie leben sollte (den er nie sah, obgleich er anderes behauptete). Genauso wenig fürchtete er sich davor, des Nachts im Dunkel durch das Zaubertranklabor von Gideon Rosiers Vater zu schleichen. Oder gar einen Tropfen von dessen selbstgebrautem Felix Felicis zu entwenden (weil er genau wusste, welche Fallen Rosier senior ausgelegt hatte – und wie man sie umging). Nein, im Alter von elf Jahren war Alston Mulciber groß gewachsen, mit dem aristokratischen Äußeren seines Vaters gesegnet, insbesondere dem schwarzen Haar und dessen kantigen Gesichtszügen, und er bewies ebenso viel Schläue wie Gerissenheit. Trotzdem lebte die Angst tief in seinem Herzen versteckt, ein kleines Monster so nachtschwarz wie die Tinte, mit der er gewissenhaft die Hausarbeiten für seinen Privatlehrer erledigte. Immer, wenn er zu viel gelacht hatte; zu lange vergessen hatte, dann streckte sie ihre Fangarme aus und drückte zu, dass es sich anfühlte, als würden seine eigenen Rippen sich zusammenziehen, um ihn zu ersticken. (So wie jetzt.) »Was machst du hier, Junge? Starr nicht so blödsinnig! Du solltest oben sein, bei deinen Rechenaufgaben! Oder willst du als Versager enden, der nicht mal seine Sickel in Galleonen umrechnen kann? Der alte Burke würde dich ausnehmen wie Wilderer einen Diricawl!« Alston drückte den Pergamentumschlag in seinen Händen fester. Das schwere Material wurde schon ganz wellig, so sehr schwitzte er. Und der oberste Knopf seines Hemdes schien plötzlich viel zu eng (enger als sonst zumindest). Er musste sich zusammenreißen, damit das kleine Metallstück nicht in einem Ausbruch spontaner Magie abriss und seinen Vater wie ein Miniaturklatscher zwischen die Augen traf. (Am besten mitten auf jene steile Falte, die schon seit Jahren nicht mehr verschwand, sondern sich nur tiefer und tiefer in dessen Stirn grub; Schluck für Schluck, Streit für Streit (Fluch für Fluch).) »Verzeih, Vater ...«, hörte Alston sich durch den Nebel in seinem Kopf murmeln, während er mit den Augen seine auf Hochglanz polierten Schuhspitzen suchte. Sprich bloß nicht so leise, hämmerte im selben Moment ein verzerrtes Echo durch seine Gedanken. Du bist ein Mann, besser noch – ein blutreiner Mulciber! Verhalte dich auch so! Brust raus, Stimme fest, lass die ganze Welt deinen Stolz sehen! Er trat einen Schritt vorwärts, in den großen Salon und dessen Kühle hinein. »Ich muss dir etwas zeigen –« »Ach ja?«, fuhr sein Vater ihm dazwischen. Das ohnehin gerötete Gesicht unter dessen streng zurückgekämmten Haaren verdunkelte sich. (Ein bisschen wirkte es für Alston, als würde der steife Kragen seines Umhangs ihm ebenfalls die Luft abschnüren. Aber in diesem Fall wusste er es besser. Er sah das gehässige Funkeln in den Augen seines Vaters, lange bevor dessen Worte zuschlugen.) »Wer sagt denn, dass ich deinen Kram überhaupt sehen will, Junge?«, zischte Aloysius Mulciber da auch schon. Und prompt erinnerte Alston sich an den Rest seines Mantras. Immer Stolz zeigen, aber niemals Hochmut; keine Arschkriecherei oder Frechheiten von sich geben; stets im richtigen Moment nicken und dabei nie feige wirken – alles, um Vater bloß nicht zu verärgern. »Also, kommt da auch noch was Sinnvolles?«, grollte dieser bereits wieder. Der Zauberstab in seiner Hand schnallte mit dem Klang einer Peitsche gegen seinen Oberschenkel. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!« Alston erstarrte, der Mund so trocken, dass die nächsten Worte wie Staub zwischen seinen Zähnen hängen blieben. Er hatte alles falsch gemacht. Das sprichwörtliche Erumpent war gekitzelt. Deshalb zog es die Mundwinkel seines Vaters gen Erde, während diese eine besondere Ader an seiner Schläfe gefährlich pulsierte, als wäre sie die kurze Lunte eines Filibuster-Feuerwerksknallers. Mehr und mehr gleißende weiße Blitze jagten mitten durch Alstons Augäpfel in seinen Kopf hinein, je fester er die Zähne zusammenbiss. Denk!, schrie ihn seine innere Stimme an, denk verflucht noch mal schneller! Was will er jetzt von dir hören? Wie kannst du die Situation retten? Oh, wenn er nur Gedanken lesen könnte! Doch bevor er überhaupt die Zähne auseinanderbekam, schnalzte sein Vater schon mit der Zunge. Er wandte den Kopf ab, seine glasigen Augen gen Boden gerichtet. »Ganz dein Sohn, Evgenia«, spie er aus. »Kann sich einfach nicht vernünftig ausdrücken. Faselt wie ein dumm geficktes Weib!« In Alstons Nacken knackte ein Wirbel, aber er weigerte sich, dem Blick seines Vaters zu folgen. Oder überhaupt woanders hinzusehen als auf dessen pulsierende Stirnader. Was er nicht sah, existierte nicht. Was er nicht sah, konnte nicht sein. Was er nicht sah, würde ihn nicht in den Schlaf verfolgen. »Ich wollte dich nicht verärgern, Vater«, versuchte er es erneut, obgleich seine Stimme verräterisch schwankte. Der Situation entkommen konnte er nicht mehr, so viel wusste er. Wenn er jetzt ging, würde er erst recht bereuen. »Ich dachte nur –« »Ich dachte nur«, äffte sein Vater ihn nach. Er riss den Kopf wieder hoch und Speicheltröpfchen flogen, als er ein verächtliches Geräusch von sich gab. »Denkst du nur oder hast du auch mal was Sinnvolles zu sagen?« Pergament knirschte, so fest grub Alston seine Finger in den Umschlag. Für einen Augenblick starrte er geradewegs in die dunklen Augen seines Vaters und die Blitze am Rande seines Gesichtsfeldes zogen sich zu einem heißen Ball in seiner Brust zusammen. »Mein Hogwartsbrief ist gekommen«, stieß er gepresst hervor. »Du hast letzte Woche gesagt, ich solle dich sofort darüber informieren.« »Hah«. Anstatt etwas zu sagen, schnaubte Aloysius Mulciber bloß. »Das sind wirklich wunderbare Neuigkeiten, Liebling«, kam dafür eine dünne, matte Stimme von weiter unten, aus Richtung des mit teuren Teppichen ausgelegten Salonbodens. Alston sah immer noch nicht hin. »Danke, Ma- Mutter.« (Mama war für Babys und Weicheier, warum konnte er das nicht endlich begreifen? In seiner Position war diese Schwäche untragbar!) Er hörte es rascheln. Stoff glitt über anderen Stoff, Knöpfe fanden zurück in ihre Löcher. Und sein Vater stand nur daneben und langte nach einem Whiskeyglas auf dem Kaffeetisch, den Zauberstab immer noch in der rechten Hand. Nun starr nicht so, hallte es wieder durch Alstons Kopf, sein Schädel ist schließlich nicht explodiert und deine Blicke werden das nicht ändern. Du kannst glotzen, so viel du willst, wenn er es eines Tages von alleine schafft, dass man sein Hirn von der Decke kratzen muss. Oder hast du etwa vor, hier und jetzt nachhelfen? Hastig riss er die Augen los – zumindest versuchte er es. Ihm war, als würde ein Dauerklebefluch ihn gefangen halten und er kämpfte dagegen an wie eine Fliege im Honig, der ihre Flügel beschwerte. Träge. Sollte er aus den Salonfenstern in den sommergrünen Garten sehen? Oder vielleicht zu dem großen Kamin, in dem nur kalte Asche lag? Schlussendlich entschied er sich für den mit Blumen gemusterten Sessel, auf dem er im Winter am liebsten saß und sich bei heißer Schokolade von seiner Mutter vorlesen ließ. Zumindest war das früher mal so gewesen. Bevor er Lesen gelernt hatte. Jetzt lag der letzte Vorleseabend Ewigkeiten zurück, schließlich zahlte sein Vater laut eigener Aussage nicht umsonst ein kleines Vermögen für den Privatlehrer, der ihm alles beibrachte, was in Hogwarts vorausgesetzt wurde. Kalte Finger legten sich auf Alstons Handgelenk und rissen ihn zurück in die Wirklichkeit. »Zeig mal her, Liebling«, sagte seiner Mutter in einer festen Stimme, um die er sie nur bewundern konnte. Das Zittern in ihren Gliedern hatte keinen Platz darin, wie immer sie das schaffte. Wehrlos ließ er zu, dass sie ihm den dicken Pergamentumschlag entzog. »Du hast ihn ja noch gar nicht geöffnet.« »Falls Vater sich die Ehre geben will.« Der Zauberstab in dessen Hand zuckte verräterisch. »Verzeih«, flüsterte Alston, bevor er den Mund aufmachen konnte. »Ich meinte nur – falls es ihm ... wichtig ist, es selber zu sehen ...?« Erneut bekam er nur ein Schnauben zu hören. Doch er wusste, dass seine Worte mal wieder nicht weise gewählt waren. Erst zu frech; dann zu kriecherisch. Nie war es richtig. Warum strengte er sich überhaupt an? »Jetzt mach schon auf, Evgenia!«, knurrte sein Vater. »Nicht, dass es nachher doch eine Absage ist.« »Das wird es nicht sein.« Erst jetzt traute Alston sich, seine Mutter anzusehen, die ihm den Briefumschlag wieder entgegenhielt. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht, aber der Lippenstift darauf war verschmiert. Nur ein bisschen, sodass es aussah, als hinge ihr linker Mundwinkel hinab. Oder ... Alstons Herz verwandelte sich in einen Eisblock. Es war kein Lippenstift, der dort klebte – aber genauso rot. Er entriss seiner Ma-, nein – Mutter den Umschlag. Ihm zitterten nicht vor Aufregung die Finger, auch wenn es jetzt so aussah, während er das wächserne Siegel vom Pergament löste. Dass er nach Hogwarts kommen würde, stand schließlich schon lange fest (und er war ganz sicher kein dreckiger Squib, das fühlte er im Kribbeln seiner Fingerspitzen, wann immer er an Zauberei dachte!). Seinen ersten Magieausbruch erinnerte Alston zwar nicht, doch an den guten Tagen wurde sein Vater nicht müde davon zu erzählen, wie er im Alter von drei Jahren sein Lieblingsbilderbuch verändert hatte. Jedes Mal, wenn seine Mutter es aufgeschlagen hatte, waren neue Seite hinzugekommen, gefüllt mit anderen Geschichten. Und seit diesem Mal hatte es unzählige weitere Beispiele gegeben, bei denen seine Magie Alston wie eine warme Decke umschlungen und glücklich gemacht hatte. (Hin und wieder sogar seinen Vater, wenn nicht gerade dessen beste Whiskeyflasche explodierte.) Ohne etwas zu fühlen, riss Alston die Seiten des Briefes nun auseinander und überflog den Text. Wir freuen uns, Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei begrüßen zu dürfen ... Die Zeilen enthielten keine Überraschungen. Besen waren für Erstklässler verboten, eine Liste benötigter Bücher und dergleichen folgte, alles signiert vom stellvertretenden Schulleiter Albus Dumbledore – irgendwo in Alstons Magen kribbelte es doch ein bisschen, aber die tintenschwarzen Fangarme um seinen Brustkorb zerdrückten das Gefühl sogleich wieder. »Hier.« Er hielt die Blätter seiner Mutter hin, die sie mit gesenktem Kopf an seinen Vater weiterreichte. Jetzt (endlich) nickte dieser. Wohlwollend? Zumindest nicht wütend. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen glättete sich. »Wunderbar«, sagte er, bevor er doch glatt seine Zähne in einem Grinsen zeigte. Man könnte meinen, er lächelte (aber diese Zeiten waren lange vorbei, spätestens seit aus dem Wein am Abend ein Whiskey am Morgen geworden war). Großen Schrittes kam er herüber und klopfte mit der Zauberstabhand auf Alstons Schulter, als wäre er ein besonders tüchtiger Abraxaner. »Endlich darf mein Junge seinen Zauberstab bekommen! War ja auch lange überfällig. Verfluchte Gesetze zur Verhinderung jugendlicher Magie. Alles nur Kokolores! Du könntest schon so viel weiter sein, wenn es diesen Schwachsinn nicht gäbe.« Alston atmete tief ein und hielt die Luft in seinen Lungen. Sein Vater erinnerte sich offenbar wieder an den Whiskey in seinem Glas, denn ungerührt nahm er einen großzügigen Schluck. »Ahhh, aber jetzt – jetzt wirst du der ganzen Welt zeigen, was in einem Mulciber steckt, Sohn!«, rief er. »Diese eingebildeten Fatzkes vom Reinblüterverzeichnis werden es noch bereuen, in ihrem elenden neuen Buch zu behaupten, dass unsere Familie nicht des allerreinsten Blutes ist! Also, welchem Haus wirst du dich wohl anschließen? Schon große Träume?« Aufgeregt leckte Alston sich über die Lippen. Obwohl er sie nicht ansehen wollte, zuckte sein Blick zurück zu seiner Mutter, die sich mit einem Spitzentaschentuch den Mund abtupfte. Sie hielt ihren Bauch und er sah kaum schnell genug fort, um nicht zu bemerken, dass auch der Teppich zu ihren Füßen rostrote Spuren trug. »Ich bin sicher, er würde einen wunderbaren Ravenclaw abgeben«, errettete sie ihn aus seiner Sprachlosigkeit. »Oder, Liebling? So wie schon dein Großvater.« (Nicht ‚wie ich', obwohl das ebenso wahr wäre.) Alston nickte vage. »Aber wenn der Hut fragt – werde ich natürlich um Slytherin bitten.« Das entlockte Aloysius Mulciber ein bellendes Lachen. »Gut so. Aber bitte nicht, fordere es! Schließlich hab ich keinen jämmerlichen Hufflepuff erzogen.« Nun konnte auch Alston sich ein Grinsen entringen. »Nur über meine Leiche setze ich einen Fuß in den stinkenden Dachsbau.« »Weise Worte, weise Worte.« Sein Vater stürzte den letzten Rest Whiskey in einem Zug hinunter. »Na komm, Evgenia, wir müssen unseren Jungen feiern gehen! Immerhin hast du ihn mit deinem Weibergewäsch doch noch nicht ruiniert.« Vergessen schien jeder Zorn, jede Versuchung von eben. Alles war gut, in bester Ordnung. Evgenia Mulciber schwang ihren Zauberstab und der Teppich sah wieder aus wie neu. Es war nie etwas passiert, redete Alston sich ein, und langsam, ganz langsam, verschwand der Druck auf seiner Brust. »Freust du dich schon auf Hogwarts?«, fragte seine Mutter. »Sehr! Vor allem auf den Zaubertrankunterricht! Die anderen können bestimmt noch nicht mal eine Abschwelllösung brauen. Aber ich bekomme dann hoffentlich ein paar Spezialaufgaben vom Professor, weil ich schon so weit bin!« Sie lachte und dieses Mal konnte er mit einstimmen. Endlich würde er richtige Zaubertrankzutaten zur Verfügung haben, nicht nur jene jämmerlichen Kräuter und Pulver, die in dem Spielset für Kinder waren, das er zu seinem achten Geburtstag bekommen hatte. Vielleicht würde er es dann schaffen, einen vernünftigen Trank zu erfinden und nicht bloß bunte Funkenlösung oder harmlose Kleinigkeiten herzustellen. Vorsichtig linste Alston zu seinem Vater. Dieser schenkte sich ein weiteres Glas Whiskey ein, das er in einem Zug leerte. Obwohl sein Kopf roter als ein Erumpenthorn vor der Explosion wurde, schwand die pochende Ader an seiner Schläfe. »Den Ehrgeiz lobe ich mir«, verkündete er. »Nur so wird etwas aus einem Mann. Und du hast schließlich der ganzen Welt etwas zu beweisen. Also los, Evgenia, wo ist das Flohpulver? Wir müssen in die Winkelgasse! Ich werde nicht einen Moment länger damit warten, meinem Sohn den Zauberstab zu kaufen, der ihm zusteht!« »Hier ist es«, erwiderte Alstons Mutter hastig und entzündete im gleichen Atemzug ein Feuer im großen Kamin. Immer noch mit einem Grinsen im Gesicht legte sein Vater ihr einen Arm um die Taille und zog sie mit sich darauf zu. Er flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr und sie lächelte sofort, wie im Zauberstabumdrehen. Erst jetzt ließ Alston die Luft in seinen Lungen los. Er hatte es geschafft. Alle waren zufrieden. Niemand schrie, niemand weinte (niemand spürte, wie sich ein Fluch durch die Haut fraß). Und wenn er erstmal seinen Zauberstab in der Hand hielt, würde alles noch so viel besser werden. Endlich würde er Macht haben. Nein, Alston Mulciber war wahrlich kein Feigling. Aber er fürchtete sich vor dem alkoholgeschwängerten Atem seines Vaters. Oder den Nebelschleiern, die sich immer dann über die Augen seiner Mutter legten, wenn dessen Glas leer war. Er zitterte vor Worten, die tief schnitten und deren Wunden keine Magie heilten (im Gegensatz zu Knochenbrüchen, Verbrennungen und Fluchmalen). Er wollte nie, dass seine Eltern stritten oder ... Schlimmeres. Das Geschirr sollte nicht fliegen, egal wie oft es repariert werden konnte. Und ganz bestimmt sollte seine Anwesenheit sie nicht weiter an den Rand treiben. Er wollte nur ein guter – perfekter! – Sohn sein. Sie stolz machen. Alle beide. Und manchmal (ganz selten, wenn er es nicht mehr aushielt) dachte er doch daran, fortzulaufen. An Tagen, wo das Geschehen einen anderen Weg einschlug als heute. In diesen Momenten stellte er sich vor, auf seinen Besen zu steigen und über die Grenzen von Chiltern Hall und seinen Gärten hinwegzufliegen; weit, weit weg, so weit er konnte. Aber immer wenn dieser Gedanke aufkam, meldete sich eine ganz andere Angst zu Wort. Sobald er nur den Besenstiel ergriff, wurden seine Handflächen rutschig und die Füße schwer wie Blei. Es war das eine, mit seinen Freunden zu wetteifern, wer schneller durch den Wald fliegen konnte. Ihnen seine Stärke zu beweisen war ein Klacks. Doch wirklich ... gehen? Alleine? Da draußen erwartete ihn eine Welt, die er nicht kannte. In die er nicht gehörte, nicht gehören wollte. Sein Reich, das war das Stadthaus seiner Familie in London, natürlich ihr Anwesen Chiltern Hall nahe High Wycombe, die Winkelgasse und die viele Meilen entfernten Wohnsitze seiner Freunde, sowie eine Handvoll berühmter magischer Restaurants, die überall in Großbritannien verstreut waren. Vielleicht noch der Drachenschwanzboulevard in Edinburgh. Hinter den Grenzzaubern um sein Zuhause erstreckte sich jedoch eine fremde Welt. Dort lebten die Muggel. Manchmal, wenn die Schutzbanne am Waldrand schwächelten, verirrte sich einer der nicht-magischen Menschen auf das Gelände. Alston würde sich bis in alle Ewigkeit lebhaft an den Tag erinnern, den so ein unglücklicher Tor versucht hatte, mit dem Gewehr Jagd auf ihre Jobberknolls zu machen. Da hatte er zum ersten Mal die Wut seines Vaters verstanden, denn die bunten Vögel waren die Lieblingstiere seiner Mutter. Dass die Schüsse ihn auf dem Besen nur knapp verfehlt hatten, war ein ganz anderes Thema. Zum Glück hatten die sonst so lästigen Bowtruckles in den Bäumen den Muggel mit ihren spitzen Krallen bestraft und somit dafür gesorgt, dass er das letzte Mal den Wald hinter den Zaubern gesehen hatte. »Geschieht dem Bastard recht«, hatte Aloysius Mulciber daraufhin verkündet. »Die Viecher kann man immerhin nicht für ihre Verbrechen nach Askaban schicken. Hat's mir gespart, den Zauberstab an dem Kerl zu beschmutzen.« Alston beschlich das Gefühl, dass er es dennoch getan hatte – aber selbst wenn, der Muggel konnte das nicht mehr wissen, da nicht nur seine Ignoranz dafür sorgte, dass seine Augen fortan für immer vor der Magie verschlossen blieben. (Und vielleicht fürchtete Alston seither auch Bowtruckles.) In eine Welt voll mit diesen Menschen wollte er jedenfalls nicht flüchten. Da wäre er kaum besser dran. Es reichte schon, dass sein Magen jedes Mal einen Salto machte, wenn er wieder auf seinem Besen flog und einen Knall hörte. Dann dachte er daran, wie grob die Schüsse an jenem Tag den Himmel zerrissen hatten. Kein bisschen so elegant wie Magie, sondern laut und hässlich und ungenau. Den letzten, langen Schrei des Jobberknolls, dessen Körper eine Kugel aufgerissen hatte, trug er immer noch im Herzen. Und so wählte er doch jedes Mal wieder die schwarzen Schlingen um seine Brust anstatt die Flucht. Eines Tages, so redete er sich ein, würde er schon lernen, was er sagen musste, damit sein Vater nicht zornig sein brauchte. Er würde herausfinden, was es verlangte, um seine Mutter ohne schlechtes Gewissen umarmen zu können. Und dann würden sie wieder eine Familie sein. Denn egal was kam – er wollte nicht alleine sein. Ja, er sehnte sich sogar nach dem Zucken um die Mundwinkel seines Vaters, wenn bei einem seiner Experimente mit dem Zaubertrankkasten für Kinder tatsächlich etwas Funktionstüchtiges herauskam. Der Moment der Reue kam trotzdem. Zumeist schneller als gedacht. Immer dann, wenn die familieneigene Hauselfe in seinem Zimmer landete und ihn anflehte, dass der junge Meister nicht in den Salon gehen sollte, obwohl das Gebrüll durch alle Wände drang. Wann immer Alston mit geballten Fäusten den frischen roten Flecken unter den Füßen der Elfe beim Trocknen zusehen musste, fragte er sich, ob seine Hoffnungen ihn nicht belogen und es keinen Ausweg gab. Wenn er schließlich die Abdrücke seiner eigenen Fingernägel noch Stunden später in den Handballen sah, überkam ihn die Versuchung, die Sorgen in mehr von diesem Schmerz zu ertränken. Es war so einfach, fester zuzudrücken, bis die Blutergüsse sich violett färbten ... Dann kamen allerdings wieder Tage und Wochen – manchmal sogar Monate – in denen nichts geschah. Plötzlich wichen die Schleier in den Augen seiner Mutter der Sonne und sie unternahmen Ausflüge. Sein Vater erfüllte ihm in der Winkelgasse alle Wünsche, während der Whiskey ihn bloß lustig werden ließ. In diesen Zeiten schnurrte die Angst leise wie ein Kätzchen, fast vergessen. So wie jetzt, als Alston das Flohpulver nahm, in den Kamin streute und laut »Winkelgasse« rief. Aber weg, das war sie nie. Und weder zum ersten noch letzten Mal fragte sich Alston tief im Herzen, ob er nicht einfach mit Magie einen Weg finden konnte, den nächsten Stimmungsumschwung seines Vaters zu verhindern. Dann müsste er nie wieder Angst vor seinen eigenen Worten haben. Alles würde sofort besser werden. Für immer. Vielleicht war er ganz nah dran an der Erlösung. Würde er sie in Hogwarts finden? Ach was, bestimmt sogar! Welches Problem konnte man schließlich nicht mit etwas Zauberei lösen? Das war doch das Gute daran, kein Squib zu sein! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)