Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 1: Kiseki – Wunder -------------------------- Uruha:   Das metallene Glöckchen an der Ecke links oben beginnt zu schwingen und munter zu klingeln, als ich die schwere holzgerahmte Glastür nach innen aufdrücke. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee vermischt mit dem trockenen Aroma der vielen Bücher weht mir um die Nase und lässt mich tief einatmen. Ich betrete den Laden mit seinen holzvertäfelten Wänden und der hohen Decke, die dem ansonsten eher dunkel eingerichteten Raum eine gewisse Luftigkeit verleiht. Der alte, an manchen Stellen deutlich ausgetretene Dielenboden knarrt vertraut unter meinen Schritten, die mich tiefer in das Innere bringen. Es ist jedes Mal der Höhepunkt meines Morgens hier herkommen zu dürfen – hier her, in mein Refugium.   Am liebsten würde ich nun die Arme ausbreiten und mich im Kreis drehen, die zahllosen Bücher als verschwommene Schemen an mir vorbeiziehen lassen. Genau dies habe ich schon des Öfteren getan. Mich gedreht und gedreht, wie Alice im Wunderland, bis mir so schwindlig war, dass ich mich setzen musste. Und warum auch nicht? Mein Leben war ein viel zu enger, angsteinflößender und verwirrender Kaninchenbau gewesen, durch den ich mich hatte kämpfen müssen, bis ich endlich hier gelandet war. Ich bin wie Alice und habe mir diesen Buchladen vor nunmehr fünf Jahren zu meinem ganz persönlichen Wunderland gemacht. Das Kiseki ist ein Traum des geschriebenen Wortes, eine Zuflucht für all jene, die sich in der Welt dort draußen ebenso unwohl fühlen, wie ich es manchmal noch immer tue.   Meine Hände zucken an meinen Seiten – ob es überhaupt auffallen würde, wenn ich mich nur einmal ganz kurz im Kreis drehe? Nur einmal? Ein Lächeln zupft an meinen Lippen. Nein, heute sollte ich mir dieses Vergnügen besser verkneifen, sonst halten mich meine Kunden nicht mehr nur für exzentrisch, sondern für rundheraus verrückt.   Ich mag es, früh morgens der Erste zu sein, der den Laden aufschließt, genieße die ruhigen Minuten, bevor Ruki oder Kai, manchmal auch beide gleichzeitig, ihre Schicht beginnen. Aber dieser Luxus ist mir heute nicht vergönnt, dank des Stromablesers, auf den ich bis vor einer halben Stunde hatte warten müssen. Ich spüre, wie plötzlich eine unangenehme Unruhe in mir hochsteigt, meine Handflächen schwitzen lässt. Abweichungen von meiner Routine sind mir mittlerweile nur noch unangenehm, aber heute scheint einer dieser selten gewordenen Tage zu sein, an denen eine geänderte Routine das Potenzial in sich birgt, mich aus der Bahn zu werfen. Verdammt, so elend habe ich mich schon eine ganze Weile nicht mehr gefühlt – und das aus heiterem Himmel. Was soll das denn? Ich spüre, wie sich mein Atem beschleunigt, sich kalter Schweiß auf meinen Nacken legt.   „Moin Ruha“, trällert eine gut gelaunte Stimme neben mir und holt mich aus der mentalen Abwärtsspirale, in der ich mich beinahe verloren hätte. Der Duft von Kaffee verstärkt sich, als mir eine dampfende Tasse entgegengehalten wird. Ruki kennt mich zu gut. Ich lächle den kleinen Mann mit dem wilden blond gefärbten Haar erleichtert an und nehme dankend die Tasse entgegen. Unter seinem forschenden Blick trinke ich einen großen Schluck und noch einen, bevor ich tief durchatme. „Na? Ist wieder alles so, wie es sein soll?“   „Ja. Keine Ahnung, wo das gerade herkam.“ Ich schüttle den Kopf, um die Reste der Panik loszuwerden, und atme tief durch. „Dir auch einen guten Morgen.“   „Ich habe schon lange aufgehört, verstehen zu wollen, was mein Hirn so veranstaltet. Solltest du auch machen.“ Wieder grinst Ruki mich an und diesmal erwidere ich aus vollster Überzeugung.   „Danke, Ruki.“   „Immer wieder gern. Ich will ja nicht, dass du irgendwann vergisst, weshalb du mich eingestellt hast.“   Nun muss ich herzhaft auflachen, schlage mir jedoch sofort die Hand vor den Mund und schaue mich verstohlen um. Keiner der Kunden sieht in meine Richtung und ich atme erleichtert aus. Glück gehabt. Nach der Episode gerade eben kann ich eines am wenigsten gebrauchen – das Interesse anderer Menschen, welches auf mich gerichtet ist.   „Glaub mir, Ruki“, spreche ich also weiter, als wäre nichts passiert, „spätestens, wenn ich mir die Verkaufszahlen am Ende des Monats ansehe, wird mir aufs Deutlichste bewusst, warum du hier arbeitest.“ Ich lege Ruki den Arm um die Schultern und führe ihn zurück hinter den Verkaufstresen, wo der hell erleuchtete Bildschirm des Laptops darauf wartet, von mir mit neuen Bestellungen und Inventarisierungen gefüttert zu werden. Ich mag der Inhaber des Kisekis sein, aber Ruki und Kai sind die Gesichter des Ladens.   „Tja, meinem Charme kann eben niemand so leicht widerstehen und Kais Lächeln zieht den Kunden ohne Anstrengung die Geldscheine aus den Taschen.“   „Wahrere Worte wurden nie gesprochen“, entgegne ich übertrieben blasiert, bevor mir aufgeht, was genau mein Freund soeben gesagt hat. Er hat recht, als ich das Kiseki noch allein geführt habe, waren die Kunden von meiner sozial unbeholfenen Art und anderen … Dingen … abgeschreckt gewesen und hatten nur das Nötigste gekauft. Seit Ruki und Kai hier arbeiten, schlendern Jung und alt durch die Reihen an Büchern, lassen sich beraten und nicht selten zu Spontankäufen hinreißen. „Was gäbe ich nicht alles für einen Bruchteil deines Selbstvertrauens“, murmle ich unbewusst, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, und bemerke dabei nicht, wie sich meine Hand automatisch auf meine linke Wange legt, die zum Größten teil hinter langen Strähnen meines Haars verborgen ist. Erst Rukis zerknirschter Seitenblick lässt mich mein Verhalten bemerken. Unangenehm berührt bücke ich mich nach einem Aktenordner unter der Theke und ziehe ihn hervor, um darin zu blättern. Tarnung ist alles, sagt man das nicht so? „Ist Frau Yamadas Bestellung schon geliefert worden?“   „Ja, sie liegt hinter dir im Fach, Ruha ich …“   „Gut, ich rufe sie gleich an.“ Ich klemme mir den Aktenordner unter den Arm, nehme das schnurlose Telefon von der Ladestation und drehe mich von Ruki weg. Betont ruhig schlendere ich ins Büro, um den Anruf zu tätigen. Ich weiß, dass ich ihm mit meinem abrupten Abgang vor den Kopf gestoßen habe und dem Stechen in meiner Brust zu urteilen, hat auch mein Gewissen diesen Fehltritt bemerkt. Im Augenblick will ich jedoch nicht darauf eingehen. Die Narbe auf meiner linken Wange beginnt zu jucken, als würde sie mich daran erinnern wollen, dass sie immer ein Teil meines Lebens bleiben wird. Als könnte ich jemals vergessen, dass es lediglich einer kindlichen Unvorsichtigkeit bedurft hatte, um meine Zukunft grundlegend zu verändern.   Ich habe aufgehört mitzuzählen, zu wie vielen Gelegenheiten mir meine Ärzte gesagt haben, dass ich unglaubliches Glück hatte. Hätte sich das gezackte Eisenstück damals nach meinem Sturz vom Skateboard statt in meine Wange in mein Auge gebohrt, hätte ich blind werden können. Ich hätte mir auch die Halsschlagader aufschlitzen und an Ort und Stelle verbluten können, was ähnlich wenig erstrebenswert gewesen wäre. Mein Status als Glückspilz hat meine Klassenkameraden allerdings nie davon abgehalten, mich meines entstellten Aussehens wegen zu hänseln. Kinder können unglaublich grausam sein, ohne zu ahnen, wie ihre Worte das Leben eines anderen für immer prägen.   Narbenfratze. Monster. Missgeburt.   Geisterhafte Stimmen schrillen in meinen Ohren, bis ich energisch den Kopf schüttle und Frau Yamadas Bestellschein auf den Schreibtisch lege. Nur kurz suchen meine Augen nach ihrer Rufnummer, bevor ich diese in das Telefon zu tippen beginne. Ich hasse es, wenn mich meine Vergangenheit einholt, aber wenigstens lähmt sie mich nicht mehr vollständig, wie sie es früher getan hat. Ich habe gelernt, dass ich stärker als die Schatten bin, die mich verfolgen, und verstecke mich nicht mehr länger vor ihnen. Mittlerweile gehe ich sogar unter Menschen, auch wenn mich Kai noch immer mit Engelszunge überreden muss, Ruki und ihn in einen Klub zu begleiten. In diesen Tanztempeln, auf engstem Raum mit Fremden und mit dröhnender Musik in den Ohren, fühle ich mich nicht wohl. Ich glaube, das wird sich nie ändern, egal wie oft die beiden mir versichern, dass es mir irgendwann Spaß machen wird. Kurz schließe ich die Augen, lasse das Lächeln zu, das sich auf meine Lippen legt. Meine Gefühle sind heute die reinste Achterbahnfahrt, aber das ist okay. Auch solche Tage müssen sein, nicht wahr? Wäre Kai nun hier und würde meine Gedanken lesen, würde er heftig nicken und mir eines seiner strahlenden Lächeln schenken. Ach diese beiden. Wer hätte je gedacht, dass ausgerechnet ich in zwei so unterschiedlichen Persönlichkeiten meine besten Freunde finde? Ruki, quirlig und ein wenig verrückt und Kai, der Ruhepol, dem ich nie etwas abschlagen kann.   Mein Lächeln weitet sich, als sich am anderen Ende der Leitung die knorrige Stimme der alten Yamada meldet. Ich hoffe, dass sie meinen freundlichen Gesichtsausdruck hören kann, als ich sie spontan frage, ob ich ihr ihre Bestellung nach Hause bringen soll, denn ich will nicht, dass sie sich durch mein Angebot gekränkt fühlt. Jedoch ist meine Sorge unbegründet, als sie erfreut entgegnet: „Oh das wäre wunderbar, Herr Takashima. Herzlichen Dank.“   „Das mache ich gerne. Wäre es Ihnen recht, wenn ich in ungefähr einer Stunde bei ihnen bin?“   „Aber natürlich.“   Nachdem wir ein paar Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht haben, lege ich auf und recke beide Arme über den Kopf, um mich zu strecken. Die erste gute Tat des Tages, stelle ich in Gedanken fest und bin tatsächlich ein wenig stolz auf mich. Normalerweise müssen bestellte Bücher persönlich im Laden abgeholt werden, doch im Falle von Frau Yamada, die sich noch immer von ihrem Schlaganfall erholen muss, mache ich sehr gerne eine Ausnahme.   ~*~   Oh Gott, da ist er wieder. Augenblicklich halte ich die Luft an, als er das Kiseki betritt. Das Regenwetter hat ihm sichtbar zugesetzt, ich sehe sein Schaudern, als ihn die Wärme des Ladens umfängt. Als er sich die Kapuze vom Kopf zieht, sind seine blauen Haare nicht nur verwuschelt, sondern auch stellenweise durchnässt. Seiner Attraktivität leistet das keinen Abbruch. Ich schlucke, mahne mich, nicht zu starren, aber ich kann nicht anders. Um ehrlich zu sein, warte ich jeden Tag darauf, dass er vorbeikommt, nur um in heillose Panik zu verfallen, wenn er es tut. So auch jetzt. Wo sind Ruki und Kai? Ich weiß, dass die beiden hier irgendwo stecken, aber sie scheinen vom Erdboden verschluckt. Ich bete, dass er heute nur durch die Buchreihen schlendert und dann wieder geht. So aufgewühlt, wie ich noch immer bin, kann ich nicht garantieren, keine Dummheit zu begehen.   Nicht einmal der Besuch bei Frau Yamada hat es geschafft, mein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Der Zuckerschock durch ihre unfassbar guten Schokoladenkekse und viel zu viel Koffein in meinem Blut tragen auch nicht dazu bei, meine nervös flatternden Nerven zu beruhigen. Ich kann mich heute nicht mit ihm befassen! Vermutlich würde ich nicht einmal ein Guten Abend herausbekommen, wie er es gerade in den Raum spricht. Himmel, diese Stimme, dieser dunkle Timbre, der meinen Ohren schmeichelt, tut Dinge mit mir, über die ich nicht nachdenken will. Ist mein Verhalten unprofessionell? Natürlich, was für eine Frage, aber ich kann nicht aus meiner Haut. Zielsicher geht er auf die Regalreihen mit den Fantasy-Romanen zu, doch ich sehe die Bewegung seiner Lippen, weiß, dass er seine Schritte zählt.   Als er vor über einem Jahr zum ersten Mal in meinen Laden kam, war mir nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen. Als er seine Besuche zu einer wöchentlichen Routine machte, bemerkte ich Verhaltensweisen, die ich damals nicht einordnen konnte. Er ließ sich immer außergewöhnlich lange Zeit, jedes Buch anzusehen, hatte stets sein Smartphone in der Hand, um die Buchrücken mit der integrierten Taschenlampe besser auszuleuchten. Er reagierte nicht, wenn Kai oder Ruki, mit denen er sich im Handumdrehen angefreundet hatte, ihm nur winkten. Er zahlte immer bar, das Geld im Voraus passend abgezählt. Es waren Kleinigkeiten und im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich zu sehr von ihm als Person fasziniert gewesen war, um mir mehr dabei zu denken.   Auch nach all der Zeit kann ich mich noch immer nicht an ihm sattsehen. Sein schönes, markantes Gesicht verfolgt mich regelmäßig bis in den Schlaf, und in sein Lächeln verliebte ich mich augenblicklich. Oh, dieses Lächeln. Meist ist es offen und herzlich, aber manchmal versteckt es sich kaum erkennbar in seinem Mundwinkel. Dann erinnert er mich an Bilder der Mona Lisa, geheimnisvoll und amüsiert, als wüsste er etwas, das er nie mit jemandem teilen wird.   Obwohl mein Herz jedes Mal durchdrehte, wenn er ins Kiseki kam, hatte ich mich schnell daran gewöhnt, ihn mindestens einmal die Woche zu sehen. Wie schnell war mir erst bewusst geworden, als seine Besuche ausblieben. Wochenlang war er spurlos verschwunden und ich kurz davor, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um nicht nur seinen Namen herauszufinden, sondern auch, was mit ihm passiert war.   Dann, vor nun beinahe einem Jahr, kam er wieder. Er sah exakt so aus, wie vor seinem Verschwinden, sein Lächeln hatte keine Spur seiner Wirkung auf mich verloren, und doch war alles anders. Seine Schritte waren zögerlicher, die Schultern konzentriert hochgezogen, während er den Bereich vor seinen Füßen mit einem Blindenlangstock abtastete. Kapitel 2: Sukuinushi – Retter ------------------------------ Aoi:   Na wunderbar, nun fängt es auch noch an zu Regnen. Ich ziehe mir die Kapuze meines Pullovers tiefer ins Gesicht und senke den Kopf, um dem beißenden Wind weniger Angriffsfläche zu geben. Neben mir Rauschen die Reifen der Autos auf der immer nasser werdenden Straße und übertönen beinahe den Signalton der Fußgängerampel, die drei Schritte vor mir liegt. Zur Absicherung taste ich mit der Linken nach der Ampel und dem daran befindlichen Kästchen, das zu vibrieren beginnt, kaum habe ich die Unterseite berührt. So gefällt mir das. Wer wartet bei diesem Mistwetter schon gerne auf das grüne Männchen?   Ein erleichtertes Seufzen entkommt mir, als ich mein Ziel endlich erreicht habe. Unter munterem Klingeln betrete ich den Laden, warme Luft schlägt mir entgegen und lässt mich unwillkürlich erschauern. Oh ja, hier zu sein ist wie nach Hause kommen, vor allem nach dem Tag, den ich hatte. Wie automatisch sinken meine Schultern herab und meine Gesichtszüge entspannen sich. Ich schiebe den Ärger über unfreundliche Gesprächspartner, nicht funktionierende Technik und ignorante Passanten beiseite und atme tief den angenehmen Geruch nach Kaffee, Büchern und Gewürzen ein, die mich an Besuche auf dem Weihnachtsmarkt erinnern. Und nun, da mir dieser Umstand aufgefallen ist, nehme ich auch die leise Weihnachtsmusik im Hintergrund wahr. Wie charmant. Normalerweise schätze ich gerade diesen Buchladen, weil mir hier für einmal nicht die Gehörgänge mit viel zu lauter Musik geputzt werden, doch da die Adventszeit bereits in den Startlöchern steht, sorgen die ruhigen Klänge zusätzlich für ein anheimelndes Ambiente.   Die Tür fällt hinter mir ins Schloss und ich sage ein nicht allzu lautes Guten Abend in den Raum, erhalte jedoch keine Antwort. Auch gut, vermutlich ist Kai beschäftigt oder ist heute Rukis Abend? Ich habe schon wieder vergessen, wie die beiden arbeiten. Schande über mein Haupt. Meine Schritte führen mich tiefer in den Laden, immer dem leisen Rattern meines Stocks über die Dielen folgend. Zehn Schritte geradeaus, dann fünf nach links, bis ich das glatte Holz eines Regals unter meinen Fingerkuppen fühlen kann. In die Fantasy-Abteilung zieht es mich meist als erstes, wenn ich hierherkomme, immer auf der Suche nach einem neuen Abenteuer, in das ich mich vertiefen kann. Zu Hause habe ich mir bereits ein Hörbuch für meine abendliche Lektüre heruntergeladen und hoffe nun, dass ich das dazu passende Hardcover finde. Ich zücke mein Handy und schalte die Taschenlampe ein, bevor ich die Buchreihen vor mir besser ausleuchte. Es ist noch immer hart, nicht frustriert zu sein, während sich die Schriftzeichen auf den Buchrücken nur langsam aus dem trüben Grau meines immer weiter schrumpfenden Gesichtsfeldes schälen. Gefühlt dauert es eine Ewigkeit, in Wahrheit nur etwas weniger als eine Minute, bis sich meine Augen soweit an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, dass ich mit meiner Suche beginnen kann. Ich lese langsam, sehr langsam und vieles errate ich, weil ich die Titel bereits kenne. Aber hey, habe ich etwas anderes vor? Eher nicht.   Irgendwo von rechts vernehme ich Rukis Stimme und muss lächeln. Egal wann ich hier bin, der kleine Mann hört sich immer gehetzt an.   „Kai. Kai?“   „Ja?“   Ah, dann ist heute einer der seltenen Tage, an denen die beiden gleichzeitig im Laden sind. Wie schön, vielleicht haben sie nachher Lust und Zeit für ein kleines Pläuschchen.   „Ist Uruha schon wieder zurück? Ich muss ihm unbedingt …“   „Pscht.“   „Hm? Was denn?“   „Ich denke, du solltest ihn im Moment besser nicht stören.“   „Was? Waru… oh.“ Ruki stockt, ,bevor ich ein leises Lachen vernehmen kann. „Oh Mann, ernsthaft?“   „Ernsthaft. Uruha hat sich nicht mehr bewegt, seit er reingekommen ist.“   „Wir sollten ihm sagen, dass Starren unhöflich ist.“   „Wag es bloß nicht. Ich bin froh, dass er mal für etwas anderes Interesse zeigt als für seine Bücher.“   „Na, wohl besser für jemand anderes, was? Er sieht heute aber wirklich gut aus. Diese Lederjacke und dann noch die leicht feuchten, blauen Haare, mmmh.“   „Ruki!“, zischt Kai, „nicht so laut.“   Ich muss mich zusammenreißen, nicht auffällig beschämt den Kopf zu senken. Reden die beiden über mich? Nein, das … oder doch? Wie groß sind die Chancen, dass noch ein Typ in Lederjacke mit blau gefärbten Haaren im Laden herumsteht? Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beiden mein aufmerksames Gehör unterschätzt haben, deutlich höher. Heißt das etwa …? Ein verstohlenes Lächeln kriecht auf meine Lippen und ich drehe den Kopf weg von der Stelle, aus der ich Rukis und Kais Stimmen gehört habe. Ein wildes Kribbeln macht sich in meinem Magen breit und Wärme durchflutet mich.   Es ist immer der Höhepunkt jedes Besuches hier, wenn ich es schaffe, den wortkargen Besitzer dieses Ladens dazu zu bringen, ein paar Sätze mit mir zu wechseln. Ich mag seine Stimme, die ruhige, bedachte Art, wie er spricht. Ich habe mir schon lange eingestanden, dass ich einen Narren an ihm gefressen habe und dass auch er der Grund dafür ist, weshalb ich so gern hierher komme.   Langsam drehe ich mich von dem Regal weg und beginne bedacht, in Richtung der Kasse zu gehen. Ich habe bislang nie versucht, Uruha in ein längeres Gespräch zu verwickeln, weil ich immer eine gewisse Reserviertheit mir gegenüber gespürt habe, aber wenn Ruki und Kai eben die Wahrheit gesagt haben und ich nicht komplett auf dem Holzweg bin, dann … Mein inneres Kind beginnt zu Kichern und sich die Hände in Vorfreude zu reiben. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zum letzten Mal so aufgeregt war und dieses Gefühl als positiv empfunden habe. So sehr bin ich in meinen Gedanken versunken, dass meine Schritte automatisch schneller werden und ich nicht mehr richtig darauf Achte, was vor mir liegt. Mein Stock knallt gegen etwas, kurz bevor ich Uruhas erschrockene Stimme höre.   „Vorsicht!“   Aber es ist zu spät; ich bleibe mit der Spitze des Langstocks an etwas Schwerem hängen, mein Arm dreht sich zur Seite weg und ich spüre, wie ich nach vorne kippe. Ich habe noch Zeit, mit dem anderen Arm zu rudern, um irgendwie mein Gleichgewicht wiederzufinden und mir zu denken, wie dämlich ich aussehen muss. Es hilft jedoch alles nichts und mir bleibt nichts weiter zu tun, als in Vorahnung des kommenden Aufpralls die Augen fest zusammenzukneifen. Doch der Aufprall kommt nie. Stattdessen spüre ich einen festen Griff um meinen Oberarm und einen Ruck, der mich wieder auf beide Füße befördert.   „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, keucht Uruha neben mir und der erste Gedanke, der mir in den Kopf schießt, ist, dass ich zu gern gesehen hätte, wie er so schnell an meine Seite hatte gelangen können. War er über den Tresen der Kasse gehechtet? Mein Held. Ich muss mir ein aufgekratztes Kichern verkneifen, welches zum Teil meinen idiotischen Überlegungen und zum Teil dem Adrenalin geschuldet ist, das durch meine Adern jagt. Verdammt, das hätte übel ausgehen können. „Haben Sie sich etwas getan?“, erkundigt sich Uruha erneut bei mir und jetzt erst fällt mir auf, dass ich mich noch immer nicht bewegt habe, und verkrampft im Griff des anderen verharre.   ‚Toll gemacht, Aoi, so bekommt er gleich den besten Eindruck überhaupt von dir.‘  Ich verkneife mir ein Seufzen, richte mich auf und streiche über meine Kleidung, nachdem Uruha mich losgelassen hat. „Dank Ihrer schnellen Reaktion geht es mir gut“, entgegne ich und schicke ein schiefes Lächeln in Uruhas vage Richtung. „Nur mein Stolz hat ein paar Beulen abbekommen, aber damit wird er leben müssen.“   „Es tut mir so leid. Wir haben heute eine große Lieferung für das Weihnachtsgeschäft bekommen und sind noch nicht dazugekommen, alles wegzuräumen.“ Das Schuldbewusstsein des Ladenbesitzers ist unverkennbar in seiner Stimme zu hören, also schüttle ich schnell den Kopf und taste in seine ungefähre Richtung, bis ich seinen Unterarm streife. Leicht drücke ich zu und drehe mich nun ganz zu ihm.   „Es ist alles gut, mir ist nichts passiert … Dank Ihnen.“ Ich höre ihn etwas murmeln, was sich ganz nach: „Hätte ich meine Arbeit besser gemacht, wäre wirklich nichts passiert“, anhört und beschließe spontan, dass ich für sein schlechtes Gewissen nicht verantwortlich sein will. Mangels einer besseren Idee taste ich mich also bis zu seiner Hand vor, die ich umfasse und ein paar Mal kräftig schüttle. „Mein Name ist übrigens Aoi“, rede ich munter weiter und lächle ihn breit an. „Ich behaupte jetzt einfach mal, dir beinahe vor die Füße zu fallen, berechtigt mich dazu, deinen Vornamen zu erfahren, was meinst du?“ Es ist nicht so, dass ich seinen Namen dank Ruki und Kai nicht längst kennen würde, aber das wiederum muss er nicht wissen.   „Ehm … ich … Uruha“, stottert er auf entzückende Art und Weise, während seine kalte Hand bewegungslos in der meinen verharrt. “Mein Name ist Uruha.“ Nun zucken seine Finger und für einen kurzen Moment erwidert er den Handschlag, bevor ich ihn aus dieser für ihn unangenehmen Situation entlasse und meine Hand zurückziehe.   „Freut mich, Uruha.“   „Ja, mich auch. Also … Du wolltest zur Kasse, oder? Hast du schon gefunden, wonach du gesucht hast?“ Mit sanftem Druck an meinem Oberarm dirigiert er mich um das Hindernis, bis mein Stock gegen das Holz der Theke stößt, gegen die ich mich lehne.   „Wenn ich ehrlich bin, wollte ich gar nicht zum Bezahlen zu den Kassen.“ Kapitel 3: Shoujiki - Ehrlichkeit --------------------------------- Uruha:   Mein Herz rast noch immer. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, hätte ich ihn auch nur ein paar Sekunden später erreicht. Ich hätte es mir nie verziehen, hätte er sich wegen meiner Unfähigkeit, mich heute zu irgendetwas aufraffen zu können, ernsthaft verletzt.   „Ehm, Uruha?“, sagt er leise, zögernd, als wäre er sich nicht sicher, ob ich vor ihm stehe. Natürlich ist er das nicht. Ich bin so ein Idiot.   „Ich bin hier“, beeile ich mich zu sagen, und halte mich gerade so noch davon ab, mir vor den Kopf zu schlagen. Erst zerre ich ihn wie ein Berserker von den Kartons nicht ausgepackter Bücher weg und dann lasse ich ihn ohne weitere Worte vor der Kasse stehen, weil ich mich so schäme. Kein Wunder, dass er die Orientierung verloren hat. „Wir stehen vor den Kassen. Also besser gesagt, du stehst vor und ich hinter den Kassen.“ Mein Lachen klingt selbst in meinen Ohren gepresst und peinlich berührt – es käme einem Weltwunder gleich, wenn er es nicht bemerkte.   Aber Aoi ist und bleibt der wunderbare Mann, dem ich schon seit Monaten schöne Augen mache, wenn man Rukis Worten glauben will, und lächelt mich liebenswert an.   „Danke für die Aufklärung, Uruha.“   Und da ist er wieder; mein Name aus seinem Mund. Ob es auffällt, wenn ich an Ort und Stelle schmelze? Bei meinem Glück schon. Ich verkneife mir ein Seufzen und erwidere das Lächeln, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er meinen Gesichtsausdruck überhaupt erkennen kann. Was er wohl noch sieht? Diese Frage brennt unter meinen Fingernägeln, aber selbst ein Trampel wie ich weiß, dass sie zu stellen schlichtweg unhöflich wäre.   „Wenn du mir verrätst, nach welchem Buch du gesucht hast, bringe ich es dir.“ Meine Worte sind unbeholfen, allem voran, weil ich über die so vertraute Anrede stolpere. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass er mir seinen Namen gesagt hat! Natürlich kannte ich ihn schon, aber ihn gesagt zu bekommen, ist etwas ganz Besonderes, zumindest für mich. Aoi. Es muss ein Spitzname sein, vielleicht seiner Haarfarbe wegen? Unwillkürlich steigt in mir die Frage auf, wer ihm diesen gegeben hat. Himmel, ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Mann immer mehr zum Enigma wird, je mehr ich von ihm erfahre.   „Ja~“, kommt lang gezogen von ihm, bevor er sichtbar die Schultern strafft und das Lächeln wieder auf seine schönen Lippen zaubert, das für einen Sekundenbruchteil verschwunden war. Habe ich etwas Falsches gesagt? Doch bevor ich jedes meiner Worte der letzten Minuten analysieren kann, um meinen Fauxpas ausfindig zu machen, redet Aoi weiter. „Da hast du mich jetzt eiskalt erwischt.“   Ja, habe ich? Meine Stirn legt sich in Falten, während ich angestrengt darüber nachdenke, was er nun wieder meint.   „Genaugenommen habe ich nicht wirklich nach einem Buch gesucht. Also ja, schon, aber vielmehr habe ich gehofft, dass so etwas wie gerade passieren könnte.“   „Ehm … so etwas, wie dass du mit der Nase auf dem Boden gelandet wärst, wäre ich nicht schnell genug gewesen, um genau das zu verhindern?“   Ich bin so überrumpelt, dass ich einfach reagiere und drauflos rede, ohne über meine Worte nachzudenken. Als mir bewusst  wird, was ich gesagt habe, würde ich am liebsten im Boden versinken. Bevor ich versuchen kann, Schadensbekämpfung zu betreiben, höre ich das schönste Geräusch, das je an meine Ohren gedrungen ist. Aoi lacht. Kein Lächeln, kein kurzes Schnauben oder amüsiertes Glucksen – nein, ein herzhaftes Lachen, das seinen ganzen Körper zum Beben bringt und kleine Tränchen in seine Augenwinkel zaubert.   „Was für eine Vorstellung“, prustet er und wieder bin ich verunsichert. Ist es okay, über sein unverschuldetes Missgeschick zu lachen? Nein, eindeutig nicht, aber er wirkt ehrlich amüsiert über die ganze Situation, obwohl er jedes Recht hätte, wütend auf mich zu sein. Schließlich bin ich mit schuld daran, dass die Kisten noch immer nicht ausgeräumt sind und im Weg herumstehen.   „Ich hätte zu gern gesehen, wie du wie ein Superheld über den Tresen gesprungen bist, um mich davor zu bewahren, den Boden zu küssen.“   „Das … war bei Weitem weniger spektakulär, als du es klingen lässt“, murmle ich und kann mir ein kleines Schmunzeln doch nicht verkneifen. „Aber wonach genau hast du gesucht, wenn nicht nach einem Buch?“ Die Frage nagt noch immer an mir und ich stelle sie, bevor ich überlegen kann.   „Ich hatte gehofft, endlich mit dir ins Gespräch zu kommen und voilà, es hat geklappt.“ Aoi grinst mich an und wirkt plötzlich wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hat.   „Du wolltest … aber warum?“ Ich blinzle fassungslos und ein noch leises Surren lässt meine Ohren klingeln. Er wollte mit mir ins Gespräch kommen, mit mir? Mein Atem beschleunigt sich und mein Herzschlag, der sich erst vor wenigen Minuten beruhigt hat, setzt zum nächsten Marathon an.   „Ich mag deine Stimme“, nuschelt er, als wäre ihm dieses Geständnis ungeplant über die Lippen gekommen. Meine Ohren werden heiß und die Fähigkeit, Worte aneinanderzureihen und Sätze zu bilden, ist gerade ausgeflogen.   „Du findest … ich meine …“   „Ehm ja.“ Er fährt sich durchs Haar, eine Geste, die Hitze durch meinen Körper jagt. „Vergiss, was ich gesagt habe. Für Sehende klingt das wie eine plumpe Anmache, ich weiß, aber so war das nicht gemeint, ehrlich. Ich wollte nur … Also, was ich eigentlich sagen wollte …“   „Danke für das Kompliment“, flüstere ich, weil ich befürchte, meine Stimme versagt, sobald ich versuche, lauter zu sprechen. „Ehrlich, das hat noch niemand zu mir gesagt.“   „Das glaub ich sofort.“ Aois Lächeln ist schief, leicht beschämt, aber auch irgendwie erleichtert. Dachte er wirklich, ich würde auf so eine schöne Aussage hin negativ reagieren? „Du bist nicht gern direkt mit deinen Kunden beschäftigt, oder?“   „Was? Nein, wie kommst du darauf?“   „Ich hatte nur den Eindruck gewonnen, dass du lieber im Hintergrund bleibst oder warum sonst haben wir vorher noch nie ein Wort miteinander gewechselt?“   Mein Mund steht leicht offen, als Aois suchende Augen plötzlich innehalten und direkt in die meinen sehen. Ertappt will ich die Lider senken, aber die Intensität, mit der er mich betrachtet, lässt mich wie eingefroren verharren. Sieht er mich? Was sieht er? Ich habe das Gefühl, als würde sein Blick all meine Barrieren durchdringen und bis auf den Grund meiner Seele reichen.   „Bitte entschuldige, wenn ich dir den Eindruck vermittelt habe, dass ich nicht mit dir sprechen will, aber du hast recht. Der Umgang mit anderen fällt mir schwer und ich bin immer froh, wenn Ruki oder Kai die Kundengespräche für mich übernehmen.“   Oh Gott, warum erzähle ich ihm das alles? Meine Hand vergräbt sich in meinen Haaren und beinahe hätte ich dem Drang nachgegeben, kräftig an meinen Strähnen zu ziehen. Aois nächste Worte retten mich jedoch vor einer weiteren Peinlichkeit. Kapitel 4: Sotchoku – Offenheit ------------------------------- Aoi: „Es tut mir leid. Du musst denken, dass ich dich aushorchen will, aber dem ist wirklich nicht so.“ „Keine Sorge, das ist auch nicht so bei mir angekommen.“ Uruhas Stimme ist in den letzten Minuten noch sanfter geworden – eine Tonlage, der ich Stunden lauschen könnte, ohne, dass es mir langweilig werden würde. „So schön.“ „Bitte was?“ Oh Gott, habe ich das gerade laut gesagt? Ich spüre, wie Hitze in meine Wangen steigt, und senke blitzschnell den Kopf. „Ehm, nichts, ich dachte, mir wäre etwas heruntergefallen“, lüge ich und bücke mich, um einige Male über den Boden zu streichen und so zu tun, als würde ich etwas suchen. Natürlich werde ich nicht fündig und stelle mich unverrichteter Dinge wieder gerade hin, immer in der Hoffnung, Uruha führt meine geröteten Wangen auf meine vorgebeugte Haltung zurück. „Mh, doch nicht.“ Gerade so schaffe ich es, meinen Worten kein ertapptes Auflachen hinterherzuschicken. „Soll ich nachsehen?“ „Nein, nein“, beeile ich mich, sein höfliches Angebot auszuschlagen, und versuche, ihn mit einem herzlichen Lächeln von meiner Idiotie abzulenken. „Alles gut, ich hab mich geirrt.“ „Sicher? Ich könnte wirklich …“ „Ganz sicher. Aber sag mal, Uruha …“ „Ja?“ „Vielleicht kannst du mir in Sachen Lektüre doch helfen. Vermutlich hört sich das für dich eigenartig an, aber … ich wollte mir heute den neusten Band der Dogma-Reihe besorgen. Habt ihr den schon reinbekommen?“ Ich bilde mir ein, spüren zu können, wie Uruha nach den richtigen Worten sucht und sie doch nicht findet. Sein fragender Blick brennt förmlich auf meiner Haut und ich muss mir ein genervtes Seufzen verkneifen. Nein, ich bin nicht seinetwegen genervt, vielmehr meinetwegen. Hätte ich nicht einfach sagen können, nach welchem Buch ich suche, ohne das ganze Drumherum? Warum will ich, dass er nachfragt, was ich mit eigenartig meine? Warum ist es mir wichtig, dass er Interesse an mir zeigt und deutlich macht, dass ich nicht nur ein Kunde bin, den er lieber früher als später an Ruki oder Kai abtreten möchte? Es ist dumm von mir, mir selbst diese Fragen zu stellen, wenn ich die Antwort bereits kenne. „Oh, ich liebe die Dogma-Reihe. Die Bücher sind die Besten, die ich seit Langem gelesen habe. Ich bin schon so auf den Showdown gespannt“, schneiden seine Worte zielsicher in meine Gedanken und bringen mich für eine Sekunde aus dem Konzept. Wie bitte? Er mag die Bücher auch? „Schon oder?“, platze ich heraus, bevor ich noch weiter darüber nachdenken kann. „Der Schreibstil ist unglaublich mitreißend, von der Handlung gar nicht zu sprechen. Den letzten Teil konnte ich praktisch nicht aus der Hand legen.“ „Du kannst also noch lesen?“ Für einen Augenblick herrscht Stille zwischen uns und nur Uruhas erschrocken klingendes Einatmen unterbricht diese. „Bitte entschuldige. Das war unhöflich von mir. Das geht mich absolut nichts an. Ich …“ „Nein, alles gut, ich bin froh, dass du fragst. Ich erkläre meine Sehbehinderung, Blindheit, wie auch immer du sie nennen willst, lieber, als dass sie wie ein Phantom zwischen uns schwebt.“ „Ein Phantom?“ „Ja“, ich lache kurz auf, „das ist sie doch.“ „Schon irgendwie. Nimmst du mir meine Neugierde auch wirklich nicht übel?“ „Wirklich nicht“, versichere ich ihm und hätte zu gern meine Hand auf die seine gelegt, wenn ich nur sehen könnte, wo sie sich befindet. „Es ist noch nicht lange her, dass ich Bücher nicht mehr lesen kann. Ein Jahr vielleicht? Mittlerweile ist es zu anstrengend geworden, also bin ich auf Hörbücher umgestiegen. Zum größten Teil sind die auch ein prima Ersatz, aber gerade wenn es um Belletristik geht oder eben wie jetzt darum, eine Buchreihe weiter zu verfolgen, bei der ich die ersten Bände noch selbst lesen konnte, fällt es mir schwer, den gedruckten Roman nicht auch haben zu wollen. Allein der Geruch des Papiers und das Gefühl der Seiten unter meinen Fingerspitzen geben mir so viel mehr, als die Geschichte nur vorgelesen zu bekommen.“ Unwillkürlich entkommt mir ein wehmütiges Seufzen. „Das klingt lächerlich, nicht wahr?“ „Überhaupt nicht“, entgegnet Uruha auf energische Art, als müsste er mich vor meinen selbstironischen Gedanken beschützen. „Ich kann das sehr gut nachvollziehen, nicht umsonst umgebe ich mich tagtäglich mit Büchern.“ „Du hast recht, wenn das jemand verstehen kann, dann der Besitzer eines Buchladens.“ Lächelnd fahre ich mir durch die mittlerweile wieder trockenen Haare. Hoffentlich sehe ich nicht aus, wie ein explodierter Handfeger, aber die Strähnen zwischen meinen Fingern fühlen sich einigermaßen glatt an. „Ich habe mir heute Morgen also das Hörbuch heruntergeladen und jetzt fehlt nur noch das dazu passende Hardcover zu meinem absoluten Glück.“ „Oh wow, gleich absolutes Glück? Da muss ich natürlich sofort nachsehen, ob ich dazu beitragen kann.“ Ich höre das Lächeln aus Uruhas Stimme und spüre, wie meine Augenwinkel verräterisch zu brennen beginnen. Nein, Aoi, du wirst jetzt keinen emotionalen Zusammenbruch erleiden, nur weil dein heimlicher Schwarm allem Anschein nach immer die genau richtigen Worte findet. „Ist deine Sehbehinderung eigentlich das Resultat eines Unfalls oder einer Krankheit? Und sag mir bitte, wenn ich zu neugierig bin und die Klappe halten soll, ja?“ „Mache ich.“ Ich gluckse kurz, den Anflug von Sentimentalität weit von mir schiebend. „Ich leide unter einem angeborenen Gendefekt, eine seltene Netzhauterkrankung, die die Sinneszellen im Auge absterben lässt. Eigentlich sehe ich schon seit frühster Kindheit schlecht, aber wirklich festgestellt hat man das alles relativ spät. Ich hatte bislang Glück, dass ich einen langsamen Verlauf hatte, aber im letzten Jahr ging dann alles rasend schnell.“ „Ich stelle es mir sehr anstrengend vor, das eigene Leben und den Alltag immer wieder auf neue Umstände ausrichten zu müssen.“ „Es ist ätzend, um es mal höflich auszudrücken, aber hey, wenigstens lebe ich in einer Zeit mit Hörbüchern und netten Buchhändlern, die meine literarischen Wünsche erfüllen wollen.“ Ich klimpere übertrieben mit den Wimpern und grinse, alles, um mir nicht anmerken zu lassen, wie gerührt ich von seinem Verständnis bin. Meist schlägt mir übertriebenes Mitleid oder übergriffige Neugierde entgegen, manchmal auch Bevormundung, aber nicht bei ihm. „Das nenne ich einen Zaunpfahl“, stellt Uruha amüsiert fest und für den Bruchteil einer Sekunde fühlt es sich an, als würden kühle Finger flüchtig über meinen Handrücken streicheln. „Ich beeile mich.“ Hat er mich berührt oder war das nur Einbildung? Falls es lediglich Letzteres war, will ich es gar nicht wissen. Mein Magen kribbelt schon wieder, während ich den rhythmischen Anschlägen auf der Tastatur lausche. Uruha geht wohl gerade die Inventarliste des Buchladens durch. „Oje“, murmelt er und räuspert sich unbehaglich. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich.“ „Schieß los.“ „Das Buch müsste heute geliefert worden sein.“ „Aber?“ „Es versteckt sich irgendwo in den Kisten, die du als Sprungschanze verwenden wolltest.“ „Sprungschanze?“ Prustend schüttle ich den Kopf. Ich mag den neckenden Unterton in seiner Stimme, wenn er drauflos redet, ohne sich zurückzuhalten. Himmel, an diese Offenheit zwischen uns könnte ich mich gewöhnen und das, wo ich eben erst beginne, ihn kennenzulernen. „Wenn du möchtest, könntest du in unserer Leseecke warten, während ich suche? Ich könnte dir auch noch einen frisch gebrühten Cappuccino als Entschädigung für die Wartezeit anbieten. Wie hört sich das für dich an?“ „Was ist das bitte für eine Frage?“, entgegne ich lachend. „Ich kann mehr Zeit an meinem Lieblingsort verbringen und bekomme noch einen gratis Kaffee dazu? Da wäre ich ja schön blöd, dieses Angebot nicht anzunehmen.“ Uruha räuspert sich, allerdings kann ich nicht herausfinden, ob es ihm nur im Hals kratzt oder ob ich etwas Falsches gesagt habe. Zeit, um meine Worte Revue passieren zu lassen, bleibt mir allerdings nicht, denn genau in diesem Moment beginnt mein Handy, zu vibrieren. „Entschuldige bitte, da muss ich rangehen“, murmle ich, nachdem ich das Telefon aus der Innentasche meiner Jacke gezogen habe und mir eine leise, elektronische Stimme verkündet, dass Reita mich zu erreichen versucht. Kapitel 5: Akogare – Sehnsucht ------------------------------ Uruha:   Ich versuche, nicht zu lauschen, während ich die erste Kiste öffne und hineinsehe. Das Buch zu finden, könnte sich als Sisyphosaufgabe entpuppen, wenn ich mir die Lieferung so betrachte. Wo haben sich Ruki und Kai versteckt? Seit Aoi den Laden betreten hat, habe ich die beiden nicht mehr gesehen. So sehr ich diesen Anflug von Rücksichtnahme auf meine Privatsphäre bis eben geschätzt habe, jetzt könnte ich die beiden gut gebrauchen.   „Was, wie spät ist es? Mist, es tut mir leid“, sagt Aoi in diesem Moment und ich sehe auf, allerdings ist er noch immer am Handy. Sein Gesicht ist verkniffen und er hat begonnen, nervös mit den Fingern auf das Holz der Theke zu trommeln. „Ich bin im Kiseki und hab die zeit total vergessen. Ja, schon wieder, na und? Nein, ich hab kein Taxi genommen und ja, ich bin schon groß, Reita.“ Nun rollt er mit den Augen und ich bemerke, dass ich nicht nur gelauscht habe, sondern ihn auch die ganze Zeit wie eine Erscheinung anstarre. Nur, weil er mich nicht oder nicht richtig sehen kann, heißt das nicht, dass das ein Freifahrtschein zum Begaffen ist, verdammt! „Ja, ich mach mich auf den Weg. Nein, du musst mich sicher nicht abholen.“ Er knurrt, eindeutig ein Laut der Unzufriedenheit, also warum rinnt mir dann ein Schauer über den Rücken? Ob es auffällt, wenn ich mir die Ohren zuhalte? Vermutlich, aber wie sonst soll ich mich davon abhalten, wie ein Idiot an seinen Lippen zu hängen? Wer dieser Reita wohl ist? Er scheint sich Sorgen um Aoi zu machen. „Ich …“ Er atmet tief ein und im selben Moment verflüchtigt sich seine Anspannung. Dafür legt sich auf sein Gesicht ein so von Zuneigung geprägter Ausdruck, dass ich nicht weiß, was ich fühlen soll. „Du hast ja recht, Rei, ich weiß, wie wichtig das für mich ist.“ Er fährt sich durch die mittlerweile wieder trockenen Haare. „Ich bin vorsichtig, versprochen. Ja, mach ich. Dito.“ Noch bevor sich die Frage, ob Reita Aois Freund sein könnte, in mein Herz fressen kann, legt er auf und seufzt lang gezogen. „Uruha?“   „Ja.“ Ich muss mich räuspern, meine Kehle wie ausgetrocknet. „Ich knie ein paar Schritte vor dir auf dem Boden und wühle mich durch die Lieferung. Leider hab ich das Buch noch nicht gefunden.“   „Das macht nichts. Ich muss jetzt auch los. Tut mir leid, dir umsonst Arbeit gemacht zu haben. Vielleicht kann ich es die Tage abholen?“   „Aber dein Leseabend.“   „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, oder wie heißt es so schön?“   Er versucht sich an einem Lächeln, aber ich sehe genau, wie unzufrieden er ist. Will er nicht gehen? Oder will er nur nicht zurück in seine Wohnung? Eben hörte es sich danach an, als hätte er einen Termin vergessen. Ob es ein Date mit diesem Reita war? Mh, eher nicht. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als wäre ihm etwas entfallen, dass für ihn von Wichtigkeit gewesen wäre. Ein Besuch beim Arzt vielleicht?   ‚Mann Uruha, schlimm genug, dass du gelauscht hast, jetzt spiel dich nicht noch als Detektiv auf.‘ Trotz der innerlichen Ermahnung an mich selbst surren die Fragen wie Wespen in meinem Kopf und lassen mich schwindeln. Kann er nicht einfach bleiben? Von mir aus auch die ganze Nacht. Ich mag es, mich mit ihm zu unterhalten, fühle mich in seiner Gegenwart für einmal nicht gehemmt und so, als müsste ich mich vor ihm verstecken. Ist es unfair von mir, so zu empfinden? Vermutlich, aber ich kann nicht aus meiner Haut.   „Damit hast du natürlich recht.“ Auch ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen, befürchte jedoch, dass Aoi meine Enttäuschung aus meiner Stimme heraushören kann. Schnell rapple ich mich vom Boden auf und gehe zu ihm, bleibe circa eine Armeslänge vor ihm stehen. „Kann ich dich zur Tür begleiten?“   „Sehr gern.“ Er nimmt den Blindenstock in die linke Hand und streckt die Rechte in meine Richtung, bis seine Fingerspitzen kaum spürbar gegen den Stoff meines Hemdes stoßen. Automatisch positioniere ich mich so, dass er meinen Ellenbogen ertasten und sich einhängen kann, was er auch sogleich tut. „Wow“, murmelt er und schenkt mir ein feines Lächeln.   „Was denn?“   „“Hast du schon öfter jemanden geführt, der schlecht oder nichts sieht?“   „Ehm … nicht dass ich wüste?“   „Dann musst du ein Naturtalent sein.“ Sein Lächeln weitet sich zu einem Grinsen und wir setzen uns in Bewegung. „Du glaubst gar nicht, wie viele Worte oft nötig sind, bis ich mich bei einem Sehenden so festhalten kann, dass ich mich sicher genug fühle. Die meisten denken, es wäre angebracht, mich irgendwohin zu schieben oder mich an der Hand zu nehmen, als wäre ich ein kleines Kind. Versteh mich nicht falsch, ich weiß, dass das nur einer allgemeinen Unwissenheit geschuldet ist, aber umso angenehmer ist es gerade mit dir.“   Meine Ohren werden heiß und meine Wangen müssen glühen wie Rudolfs berühmte Nase, als ich registriere, was genau er gesagt hat. Es ist angenehm mit mir. Um ein Haar will mir ein hysterisch-begeisterter Laut entkommen, den ich mit aller Macht zurückdränge. ‚Uruha, beruhig dich, er hat nicht von dir als Person gesprochen, sondern von der Art und Weise, wie du auf ihn eingehst. Himmel noch mal.‘   „Dann bin ich wirklich sehr froh, es gleich richtig gemacht zu haben, obwohl ich auch zu den eher Unwissenden gehöre“, gebe ich schlussendlich zu und bleibe stehen, als wir an der Tür des Ladens angekommen sind. „Falls du noch ein paar Minuten warten willst, könnte ich dich auch bis zur U-Bahn begleiten? Ruki hat mich ohnehin schon geschimpft, weil ich noch immer im Laden bin, obwohl ich seit um vier Feierabend habe.“ Ich lache leise, als ich mich an Rukis Worte zurückerinnere, die keineswegs so zivilisiert ausgefallen waren, wie ich sie klingen lasse.   „Das ist ein unglaublich liebes Angebot von dir, danke Uruha, aber ich muss es ausschlagen.“   „Oh, warum? Also nicht, dass du verpflichtet wärest, es anzunehmen, aber was spricht dagegen? Ich bin öffentlich hier und würde sowieso mit der U-Bahn fahren.“   „Das ist es nicht. Ich … Vermutlich ist das schwer nachzuvollziehen, aber ich habe recht viel Zeit und Energie investiert, um den Weg hierher wieder zu erlernen, ich sehe das als mein Training an. Wäre doch eine Schande, das alles zu verlernen, weil ich nicht regelmäßig übe, nicht wahr?“ Wieder fährt er sich durch die Haare und nach einem kurzen Zögern, in dem ich den Eindruck gewinne, dass er intensiv lauscht, zieht er sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. „Außerdem hat mein Stolz bei meiner Beinahe-Kollision mit den Kisten vorhin einen ziemlichen Dämpfer einstecken müssen. Es wird höchste Zeit, die Beulen wieder auszubügeln.“   Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, ohne, dass mir ein Laut über die Lippen gekommen wäre. Aoi ist ein äußerst komplexer Mann, stelle ich fest und fühle, wie das wilde Kribbeln in meinem Magen zu einer wohligen Wärme wird, die sich in meinem Körper auszubreiten beginnt. Komplex und so interessant, dass ich ihn nur zu gern besser kennenlernen möchte.   „Das verstehe ich. Vermutlich kannst nicht mal du einen verbeulten Stolz rocken.“ Für eine Sekunde reagiert er nicht und ich befürchte, übers Ziel hinausgeschossen zu sein, dann beglückt er mich ein weiteres Mal mit dem wunderschönen Klang seines Lachens.   „Ich sehe schon, wir verstehen uns.“ Kurz drückt er meinen Oberarm, dann lässt er von mir ab und tastet nach der Türklinke. „Es war wirklich schön, sich mit dir zu unterhalten, Uruha. Ich würde mich freuen, wenn wir das wiederholen könnten.“   „Ich bin die ganze Woche über abends hier …“ Ich lasse den Satz unvollendet, aber das Lächeln, das an seinem rechten Mundwinkel zupft, zeigt mir, dass er mich verstanden hat.   „Schönen Abend, Uruha.“   „Dir auch und komm gut nach Hause.“   Das Glöckchen klingelt munter, als Aoi die Tür aufzieht und nach draußen in den Regen tritt. Der unangenehme Lärm der Straße schneidet wie ein Messer durch die harmonische Atmosphäre, die in den letzten Momenten zwischen uns geherrscht hat. Als wäre ich es, der hinaus in die feuchte Kälte des Abends tritt, erschauere ich und hätte Aoi am liebsten davon abgehalten, zu gehen. Aber wer bin ich schon, mich einzumischen, ich kenne ihn ja kaum. Dennoch kann ich nicht anders, als ihm noch einige Momente hinterherzusehen, bis seine Form von den Menschen und der nächtlichen Stadt verschluckt wird. Unwillkürlich entkommt mir ein Seufzen und ich lasse die Tür ins Schloss fallen. Plötzlich ist die Stille ohrenbetäubend laut. Ob er morgen wiederkommt? Oder habe ich gerade meine einzige Chance ziehen lassen? Verflucht. Wie kann ich ihn jetzt schon vermissen? Ich bin doch sonst nicht so emotional, vor allem nicht, wenn es um meine lieben Mitmenschen geht.   Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter und ich zucke zusammen, bevor ich erkenne, dass es nur Kai ist, der sich neben mich gestellt hat. Sein Lächeln ist warm wie immer und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass ihm ein Wissen innewohnt, das mir selbst noch verborgen ist.   „Seit ich hier arbeite, habe ich dich noch nie so gelöst mit einem Kunden reden hören.“   „Das glaub ich dir sofort“, schnaube ich und drehe mich weg, bevor meinem Freund einfällt, mein Verhalten Aoi gegenüber weiter zu kommentieren. „Kannst du mir morgen früh mit der Lieferung helfen? Ich hab jetzt keinen Nerv mehr dafür.“   „Aber klar, Uruha.“   Kais Seufzen klingt in meinen Ohren nach und verfolgt mich bis ins Büro, wo ich mir Mantel und Schal überziehe. Morgen werde ich mich bei ihm für mein abweisendes Verhalten entschuldigen, aber jetzt ist mein Kopf dafür zu voll. Aoi, immer nur Aoi, an mehr kann und will ich heute nicht mehr denken. Kapitel 6: Sainan – Unglück --------------------------- Aoi:   Ein langes und, würde man Reita fragen, theatralisches Ächzen kommt mir über die Lippen, während ich meine Liegeposition auf dem Sofa minimal verändere. Die monotone Stimme des Sprechers meines aktuellen Hörbuchs schwadroniert weiter über Investmentfonds und Staatsanleihen – wieso nur habe ich mich für ein Hörbuch über Finanzanlagen entschieden? Ich habe das Gefühl, mein Hirn läuft mir jeden Moment aus den Ohren. Natürlich nur, würde ich den Elan besitzen, mir die Ohrhörer aus besagten Lauschern zu ziehen. Angenehmer Nebeneffekt dieser Tätigkeit wäre, dass ich mich wieder selbst denken hören oder mich wenigstens mit etwas Amüsanterem ablenken könnte. Beides ist jedoch keine Option. Im Moment kann ich mir nichts vorstellen, dass mich auf irgend eine Weise aufheitern würde, und meine Gedanken sind das Letzte, dem ich freien Lauf lassen will. Nicht, nachdem ich heute Nacht von Uruha geträumt habe und ohnehin gefühlt jede Minute jedes Tages an ihn denken muss. Da! Ich tue es schon wieder!   Krampfhaft kneife ich die Augen zusammen – nicht, dass es viel an der Wahrnehmung meiner Umgebung ändern würde. Ich liege im dunklen Wohnzimmer und meine Sehkraft reicht gerade so weit, dass ich hier und da das Leuchten einer Diode der Elektrogeräte erahnen kann, die mich umgeben. Schließe ich die Augen, flackern geisterhafte Lichtpunkte und abstrakte Formen hinter meinen Lidern– ein Nachhall meiner sterbenden Sehzellen, wie mir ein Augenarzt einmal erklärt hat. Nichts Neues also auch an dieser Front.   Himmel, wie sehr ich die Tage hasse, an denen mich derart depressive Gedanken in ihrem Griff haben. Wieder seufze ich, diesmal wandelt sich der Laut jedoch in ein erschrockenes Einatmen, als Finger, die definitiv nicht meine sind, mir die Kopfhörer aus den Ohren ziehen.   „Mensch Aoi, willst du den ganzen Abend wie ein gammliger Käse auf der Couch herumliegen?“   „Deine Vergleiche waren auch schon mal spannender. Wie kommst du darauf, mich mit einem Käse gleichzusetzen?“   „Keine Ahnung, ist mir so eingefallen und hey, ich hab mein Ziel erreicht. Du hast gerade mehr gesprochen, als den ganzen Tag über.“   „Reita, was willst du, nerv mich nicht“, maule ich und fuchtle mit der Rechten in der Luft herum, im zwecklosen Versuch, die Ohrhörer wieder in meinen Besitz zu bringen. „Gib schon her und lass mich in Ruhe.“   „Ich treffe mich gleich mit Tora, willst du mitkommen?“   „Nein, will ich nicht. Ich bin nicht gern das fünfte Rad am Wagen.“ Reita seufzt und mir bleibt nicht verborgen, dass ihm mein abweisendes Verhalten auf die Nieren schlägt. Er war schon immer der Sensiblere von uns beiden, auch wenn er das nie zugeben würde. Ich richte mich auf, Zeige und Mittelfinger gegen meine Nasenwurzel gepresst, um die aufziehenden Kopfschmerzen ein wenig länger in Schach zu halten. „Tut mir leid, Rei, ich weiß, dass ich unerträglich bin.“   „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“, murrt er und ich spüre, wie das Polster des Sofas neben mir nachgibt. Eine warme Hand legt sich auf meinen Rücken, fährt langsam, beruhigend auf und ab. „Warum nimmst du dir nicht ein Taxi und fährst zu ihm? Das Kiseki hat noch zwei Stunden geöffnet. Vielleicht arbeitet er noch und wenn nicht, kannst du dir wenigstens dieses Buch holen, das dich so interessiert.“   „Ich will nicht mit dem Taxi fahren“, entgegne ich bockig und verschränke die Arme vor der Brust, als hätte Reita ohne diese Geste nicht bemerkt, dass ich mich aufführe wie ein Kleinkind. „Solange ich diese dumme Schiene tragen muss, werde ich nirgendwohin gehen.“ Um meine Worte zu verdeutlichen, hebe ich den linken Fuß, an dem sich eine aufblasbare Stützschiene befindet. „Wer zu dumm zum Laufen ist, muss auch nicht nach draußen gehen.“   „Sei nicht so streng mit dir, Blue.“ Reitas Worte sind sanft, genau wie seine Finger, die begonnen haben, meinen Nacken zu massieren. „Das hätte jedem passieren können.“   „Ach ja? Ich bin mir sicher, du hättest das Schlagloch gesehen, in das ich so professionell meinen Fuß gesteckt habe.“   „Ja, vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Come on.“   „Das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass das nicht passiert wäre, wenn ich auf dich gehört hätte.“ Ich lasse den Kopf hängen und ziehe die Nase hoch, die gefährlich zu kribbeln begonnen hat. Es ist ein Zeichen, wie lange und gut Reita mich kennt, denn er sagt nichts darauf und drückt mir nur einen langen Kuss auf die Schläfe. „Ich hätte mich von dir abholen lassen sollen oder wenigstens ein Taxi nehmen. Aber ich war so glücklich, Uruha endlich dazu gebracht zu haben, mehr als nur Höflichkeiten mit mir zu wechseln, dass ich dieses Gefühl noch länger nur für mich behalten wollte, verstehst du das?“ Ich spüre sein Nicken, denn sein Kopf lehnt gegen den meinen, sein Atem ein ruhiger Hauch an meinem Hals, der mich wie nichts anderes zu beruhigen weiß. Als ich weiterrede, muss ich mich zusammenreißen, um nicht weinerlich zu klingen.  „Ich wollte doch nur allein nach Hause kommen, ohne Hilfe. Aber nein, das war mal wieder zu viel verlangt, und jetzt schäme ich mich zu sehr, um zu ihm zu fahren.“   „Dein Uruha würde niemals schlecht über dich denken, weil du einen Unfall hattest. Versuch gar nicht erst, dir etwas in diese Richtung einzureden.“   „Ich weiß, aber ich schaffe es nicht, über meinen Schatten zu springen. Ich bin so wütend auf mich, dass mir das passiert ist … Außerdem ist er nicht mein Uruha.“ Jetzt klinge ich weinerlich und kann rein gar nichts dagegen tun.   „Noch nicht, wenn du mich fragst.“   Ich höre das Grinsen aus seiner Stimme. Reitas Zuversicht, sein unerschütterlicher Glaube in mich sind es, die die abweisende Mauer aus Wut und Selbsthass niederreißen, die ich in den letzten Tagen um mich errichtet habe. Meine Augenwinkel brennen verräterisch und endlich kann ich es zulassen, schwach zu sein. Ich lehne mich zur Seite, bis sich Reitas Arme um mich schlingen und mich fest gegen seinen warmen Körper ziehen.   „Verdammt, Rei, es nervt mich so. Alles ist noch anstrengender geworden. Kann das nicht endlich aufhören? Ich hab keinen Bock mehr auf die Scheiße!“   „Ich weiß.“ Jeden anderen hätte ich angekeift, dass er gar nicht wissen könne, wie es mir geht, aber nicht ihn. Wenn jemand meine Situation versteht und sich in mich hineinfühlen kann, dann ist es Reita. Ich spüre, wie ich mich in seiner Umarmung zu entspannen beginne, sich die Feuchtigkeit in meinen Augen zurückzieht, ohne Tränen Platz gemacht zu haben.   „Es tut mir wirklich leid“, murmle ich jämmerlich und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge. „Ich weiß, dass immer du es bist, der meine schlechte Laune abbekommt.“   „Schon gut, ich bin schon groß, ich kann mich wehren“, scherzt er und entlockt mir damit tatsächlich ein kurzes Auflachen. „Also, wie sieht es aus, bekomme ich den gammligen Käse vom Sofa und in etwas Anständiges zum Anziehen?“   „Sei mir nicht böse, aber es bahnen sich Kopfschmerzen an, ich will heute wirklich nicht mehr weggehen.“   „Sicher?“   „Ja.“   „Aber nur, wenn du mir versprichst, dir was Gutes zu tun. Nimm ein Bad, bestell dir ‘ne Pizza oder hör dir wenigstens etwas Spannenderes an, als diesen Finanzquatsch. Wenn du so drauf bist, werde ich das Gefühl nicht los, dass du dich für deine Behinderung bestrafen willst.“   „Mmmh. Ich weiß gerade nicht, was ich darauf sagen soll. Reitas Worte schneiden tief, vermutlich, weil sie der Wahrheit unangenehm nahekommen. Es sind Gedanken an Unzulänglichkeit, Angst vor Hilflosigkeit und der Sorge, irgendwann nicht mehr gebraucht zu werden, eine Last für alle zu sein, die mir etwas bedeuten, die mich an Tagen wie diesen regelrecht lähmen. „Ich werde mir ein Bad einlassen, das ist eine gute Idee“, verspreche ich und hebe den Kopf, um in Reitas Richtung sehen zu können. Es spricht für ihn, dass er das Licht nicht angeknipst hat, sich dadurch mehr oder weniger auf meine Wahrnehmung der Welt einlässt. Ich streiche seine Brust hinauf, bis ich seine Wange finde. Erst dann lehne ich mich vor und drücke ihm einen dankbaren Kuss auf den Mundwinkel. „Und du sagst Tora ganz liebe Grüße von mir, okay? Beim nächsten Mal komme ich wieder mit, versprochen.“   „Mach ich.“ Reita steht auf, streckt sich, aber bevor er den Raum verlässt, beugt er sich noch einmal zu mir nach unten. Kurz berühren seine Lippen meine Stirn und wie automatisch schließe ich die Augen.   „Danke, Rei“, wispere ich und höre, wie er mit leisen Schritten den Raum durchquert.   „Nicht dafür, Love.“   Mit ruhigen Schritten verlässt er das Wohnzimmer und nimmt die Stufen ins Erdgeschoss. Als wäre ich eine Marionette, deren Fäden gekappt wurden, lasse ich mich zurück aufs Sofa sinken und starre an die Zimmerdecke, ohne mehr als die Phantomlichter zu sehen. Ich weiß nicht, was ich ohne Reita tun würde und dieser Gedanke ist es, der mir den Elan gibt, mein Versprechen an ihn in die Tat umzusetzen. Humpelnd lege ich den Weg ins Bad zurück, drehe den Hahn auf und lasse mir ein Bad ein. Mein Freund hat recht, das warme Wasser wird meinen verspannten Muskeln guttun und wenn ich Glück habe, wird es auch meine Psyche wieder versöhnlicher stimmen. Kapitel 7: Yuuki – Mut ---------------------- Uruha: „Willst du mir nicht sagen, was dich beschäftigt?“ Kais Stimme in meinem Rücken reißt mich aus der spannenden Betrachtung des Bestellprogramms, in dem unser Auftrag für nächste Woche nur noch darauf wartet, dass ich ihn absende. Keine Ahnung, wie lange ich schon in meinen Gedanken gefangen war, ohne auch nur eine Spur Produktivität an den Tag zu legen. Himmel, so kann das nicht mehr weitergehen. „Was meinst du?“, frage ich scheinheilig, obwohl ich ahne, worauf Kai hinaus will. „Würden wir uns nicht schon so lange kennen, wäre ich jetzt ernsthaft gekränkt.“ Ich drehe mich zu meinem Mitarbeiter und Freund herum und schaffe es, einen ehrlich zerknirschten Ausdruck auf mein Gesicht zu zaubern. „Ich …“ Wie automatisch sucht mein Gehirn nach einer Ausrede für mein Verhalten, aber Kais väterlich strenger Blick lässt mich den Gedanken so schnell verwerfen, wie er aufgekommen ist. „Ich mache mir Sorgen um Aoi“, gebe ich geschlagen zu und verkneife mir ein Seufzen. „Sag nichts, ich weiß selbst, wie idiotisch sich das anhört, schließlich kennen wir uns kaum, aber … Er wollte schon vor Tagen sein Buch abholen und ich dachte, das wäre nicht nur so dahergeredet. Ich hatte mich ehrlich darauf gefreut, ihn wiederzusehen und jetzt …“ Ich atme lange aus und lasse für einen Moment den Kopf hängen. „Ich höre mich an, wie ein theatralischer Teenager, oder?“ „Nur ein bisschen.“ Kais Grinsen ist strahlend wie immer, als er mir einen Zettel unter die Nase hält. „Was ist das?“ Ich ziehe das weiße Stück Papier aus seinen Fingern und betrachte die Zeichen, die darauf geschrieben stehen. Eine Telefonnummer und eine Adresse im Nordosten der Stadt. „Ich wollte dir den schon heute Morgen geben, aber dann war so viel los, dass ich es vergessen habe.“ „Eh ja, das sagt mir jetzt auch nicht mehr.“ „Stimmt, okay, hör zu.“ Kai wirkt plötzlich aufgekratzt, als wäre er kurz davor, mir das Geheimnis des ewigen Lebens oder etwas ähnlich Spektakuläres anzuvertrauen. „Gestern, als du schon weg warst, hatten Ruki und ich das Vergnügen mit einem sehr interessanten Kunden. Er kennt Aoi und wollte sein Buch abholen. Etwa meine Größe, blond, gut gebaut und hört auf den Namen Reita.“ „Reita“, murmle ich und schlucke um den Kloß herum, der sich in meiner Kehle breitgemacht hat. Das muss der gleiche Reita gewesen sein, mit dem Aoi telefoniert hat, kurz bevor er so überstürzt gegangen ist. „Er kennt Aoi also?“, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. „Genau das sagte ich doch, hörst du mir nicht zu?“ „Doch, doch, ich hör dir zu. Hat er gesagt, warum Aoi nicht selbst gekommen ist? Ist ihm etwa was passiert?“ Mit einem Mal ist mein Blutdruck in die Höhe geschnellt und ich male mir die schlimmsten Schreckensszenarien aus. „Das hat er leider nicht gesagt und ich hab nicht schnell genug reagiert, um ihn danach fragen zu können. Ich durfte mir bereits mehrmals von Ruki anhören, wie ungeschickt das von mir war.“ Kai murrt irgendetwas in seinen nicht vorhandenen Bart, das sich stark nach: „Als hätte er es besser gemacht“, anhört und schenkt mir dann eines seiner breiten Lächeln, als wäre nichts gewesen. „Wie dem auch sei, das dort …“, Kai tippt auf die Nummernfolge auf dem Zettel, „ist Reitas Rufnummer aber das hier …“, wieder ein Tippen, „ist Aois Anschrift. Ruki war so geistesgegenwärtig zu behaupten, dass wir das Buch gerade nicht vorrätig hätten und entweder anrufen oder es Aoi gleich liefern könnten, sobald es da ist. Was sagst du nun?“ Ja, was habe ich dazu zu sagen? Keine Ahnung. Ich blinzle Kai nur verdattert an und versuche herauszufinden, was genau er mir gerade eröffnet hat. „Ehm …“ Nein, meine Hirnleistung ist heute nicht die Beste. „Warte mal“, plappere ich kopfschüttelnd weiter und hebe die Hände, als könnte ich das Gesagte so leichter von mir wegschieben. „Dieser Reita war gestern hier und wollte Aois Buch abholen, hab ich das richtig verstanden?“ „Ganz genau.“ „Und statt es ihm zu geben, habt ihr ihn angelogen und behauptet, wir hätten es nicht vorrätig, obwohl es hinter euch im Abholfach gelegen haben muss?“ „Mh, wenn du das so sagst, hört sich das nicht sehr zufrieden an.“ „Zufrieden? Wieso soll ich zufrieden sein, wenn ihr unsere Kunden anlügt?“ „Na weil wir so für dich Aois Adresse herausfinden konnten.“ „Und was soll ich deiner Meinung nach damit anstellen?“ „Uruha, ernsthaft, stell dich nicht dümmer, als du bist.“ „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Abwehrend verschränke ich die Arme vor der Brust und versuche, mein wild schlagendes Herz wieder unter Kontrolle zu bringen. „Natürlich nicht. Du starrst ja auch nicht seit Tagen Löcher in die Luft und zuckst bei jedem Klingeln des Türglöckchens zusammen, weil du hoffst, dass Aoi hereinspaziert.“ „Ich …“, beginne ich, aber mir will keine plausible Erwiderung einfallen. Kais Blick, der nichts seiner liebevollen Strenge verloren hat, kratzt mit Nachdruck an meinen Barrieren, bis ich schließlich aufgebe. „Okay ist ja gut, ich gebe es zu. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich wie ein Idiot durch die halbe Stadt fahren werde, um Aoi das Buch vorbeizubringen, nur weil, weil …“ „Wenn du mich fragst, hat sich Reita nicht so angehört, als würde Aoi nicht kommen wollen. Für mich hat er eher den Eindruck gemacht, als würde er sich um ihn sorgen. Er war enttäuscht, als er das Buch nicht sofort kaufen konnte, und meinte etwas davon, dass er Aoi damit hatte aufmuntern wollen.“ „Aufmuntern?“ Das wiederum wirft ein gänzlich anderes Licht auf die Sache,. Weshalb wollte Reita Aoi aufmuntern und welchen Grund gab es für seine Besorgnis? Meine Zähne graben sich in meine Unterlippe und ich fahre mir in einer nervösen Geste durchs Haar. Ob Aoi krank ist? Ist das der Grund, weswegen er nicht vorbeigekommen ist? Lag es am Ende gar nicht an mir? Ein Fünkchen Hoffnung schwelt in meiner Brust – habe ich meinen Zweifeln womöglich zu früh Glauben geschenkt? „Ich kann nicht zu ihm gehen.“ „Aber warum nicht.“ „Wir liefern unsere Wahre nicht und außerdem … Es wäre unhöflich und unprofessionell, unangekündigt bei ihm vorbeizuschauen. Was, wenn er mich fragt, woher ich seine Adresse kenne?“ „Du lieferst auch Frau Yamadas Bestellungen und das sogar regelmäßig.“ „Weil sie sich noch schonen muss.“ „Außerdem kommst du nicht unangekündigt vorbei. Reita meinte, falls wir ihn anrufen, kann er das Buch erst Ende der Woche holen, aber Aoi würde sich freuen, es schon früher zu bekommen. Darum hat er uns doch seine Adresse dagelassen. Also wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl war, weiß ich auch nicht.“ „Du spinnst“, murre ich und drehe mich zurück zum Bildschirm, im festen Vorhaben, Kais und Rukis dummen Plan zu verwerfen und mich wieder um Wichtigeres zu kümmern. Die Bestellung zum Beispiel, die noch immer nicht ausgelöst ist. Ich klicke auf die blau hinterlegte Schaltfläche und lausche dem leisen Zischen, das mir verrät, dass die Daten soeben übertragen wurden. „Sei für einmal in deinem Leben nicht so stur, Uruha. Das ist die Gelegenheit, Aoi wiederzusehen und ihn besser kennenzulernen.“ Kais warme Hand legt sich auf meine Schulter und drückt zu. „Du magst dir selbst was vormachen können, aber sowohl Ruki als auch ich haben dieses gewisse Etwas zwischen euch gesehen. Du bist aufgeblüht, während du mit Aoi gesprochen hast und er … Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber sein ganzes Gesicht hat gestrahlt, als er dich endlich zum Reden gebracht hat. Er ist dir verfallen, glaub mir.“ „Hör auf so einen Unsinn zu reden“, zische ich und stehe ruckartig vom Bürostuhl auf. „Woher willst du wissen, dass dieser Reita nicht sein Freund ist, mh? Was gibt dir die Sicherheit, dass ich mich nicht lächerlich mache, wenn ich einfach so zu ihm fahre? Warum sollte er mich überhaupt sehen wollen?“ „Die Antwort auf diese Fragen wirst du nie erfahren, wenn du nicht endlich etwas riskierst.“ Mit diesen Worten und einem letzten, aufmunternden Lächeln verlässt Kai das Büro und lässt mich mit meinen wirbelnden Gedanken allein. „Argh.“ Aufgewühlt lasse ich mich zurück auf den Stuhl fallen und vergrabe beide Hände in meinen Haaren. Der Zettel zerknittert zwischen meinen Fingern, aber los lasse ich ihn nicht. ~*~ „Ich muss verrückt geworden sein. Das ist alles Kais und Rukis Schuld“, murmle ich in den weichen Stoff meines Schals und ziehe mir die kunstfellbesetzte Kapuze meines Mantels tiefer ins Gesicht, um dem beißenden Wind weniger Angriffsfläche zu geben. Der Dauerregen der letzten Tage hat nachgelassen, dafür bedeckt nun eine feine Eisschicht die Gehwege, die mich schon mehrmals beinahe auf den Hosenboden befördert hat. Langsam rutsche ich weiter und habe nur einen flüchtigen Blick für die mondäne Wohngegend übrig, in die es mich verschlagen hat. Wer hätte gedacht, dass Aoi in einem derart schicken Viertel lebt? Die Wohnungen hier müssen unbezahlbar sein, zumindest für jemanden wie mich. Das ungute Gefühl in mir erklimmt neue Höhen, als ich in die Straße einbiege, die auf dem mittlerweile vollkommen zerknitterten Stückchen Papier steht. Keine fünf Minuten später bleibe ich vor einem Gebäude stehen, das ich rein vom Aussehen her als kleine Villa bezeichnen würde. Das Haus ist nicht größer als das meiner Eltern auf dem Land, aber anders als die traditionelle Rustikalität, die mir seit frühster Kindheit vertraut ist, schlägt mir hier ein europäisch anmutendes Flair entgegen. Bin ich wirklich richtig? Himmel, ich will gar nicht wissen, wie oft mein winziges Einzimmerappartement allein in das Erdgeschoss dieses Hauses passen würde. Zögerlich nähere ich mich dem Zaun und dem Tor darin, das einen hübsch angelegten Garten vom Rest der Straße trennt. Es gibt ohne Widerstand und ohne ein Quietschen nach, als ich es nach innen aufdrücke und mit knirschenden Schritten den Kiesweg betrete. Nein, ich kann hier definitiv nicht richtig sein. Ich rechne damit, jeden Moment von Sicherheitspersonal aufgehalten zu werden oder das verräterische Kläffen eines Wachhundes zu hören, aber alles bleibt ruhig. Selbst als ich die drei Stufen zur Eingangstür hinaufsteige und unter dem säulengetragenen Vordach stehen bleibe, rührt sich nichts. Shiroyama Y. ist oben auf ein Schild aus Messing graviert, Suzuki A. steht darunter, daneben befindet sich je ein Klingelknopf. Keiner der Namen verrät mir, ob es Aoi sein wird, der mich hinter der Tür erwartet. Ich bin kurz davor, mich umzudrehen und unverrichteter Dinge zu verschwinden, als mir Kais Worte wieder in den Sinn kommen. ‚Die Antwort auf diese Fragen wirst du nie erfahren, wenn du nicht endlich etwas riskierst.‘ „Ach, scheiß drauf!“ Bevor ich mich selbst und alle Entscheidungen, die mich bis zu diesem Punkt in meinem Leben geführt haben, infrage stellen kann, presse ich den Zeigefinger ohne hinzusehen auf einen der Klingelknöpfe und warte mit angehaltenem Atem auf eine Reaktion aus dem Inneren des Hauses. Kapitel 8: Odorokasu – Überraschung ----------------------------------- Aoi:   Es ist eigenartig befriedigend, die Finger in das Mehl zu graben, und es mit Wasser und den anderen Zutaten zu einem geschmeidigen Teig zu verarbeiten. Dinge, die erst nicht zusammenpassen wollen und sich abstoßen, werden langsam zu einer Einheit und das nur durch mich. Derart philosophische Gedanken wandern durch meine Gehirnwindungen, als mich das Surren der Türglocke aus eben diesen reißt.   „Kannst du an die Tür gehen, Rei? Ich hab die Hände voller Mehl.“   „Schrei nicht so, ich steh im Türrahmen“, erklingt Reitas Stimme rechts von mir und ich fahre zusammen, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass er auch in der Küche ist. Verdammt, ich hasse es, wenn er das tut, auch wenn ich weiß, dass das keine böse Absicht von ihm ist. Reita muss sich, genau wie ich, noch immer an unsere geänderte gemeinsame Realität gewöhnen, auch wenn ich es bin, der den Löwenanteil trägt.   „Irgendwann kaufe ich dir doch ein Halsband mit Glöckchen“, murre ich und knete den Teig fester, als es notwendig wäre. Eine Reaktion bleibt diesmal aus und ich kann Reitas Schritte auf der Treppe hören. Ich schnaube, kippe den Hefeteig und die letzten Mehlkrümel auf die Arbeitsplatte und forme alles zu einer Kugel, die ich ein letztes Mal durchknete. Es war Reitas Idee, heute Pizza zum Abendbrot zu machen, nur dass der werte Herr immer dann zwei linke Hände bekommt, wenn irgendetwas in der Küche zu tun ist. Die Gelegenheiten, zu denen Reita sein nicht unwesentliches Kochtalent auspackt, kann ich im Laufe eines Jahres an einer Hand abzählen. Ich muss schmunzeln, gut, dass Weihnachten vor der Tür steht.   Ich weiß, dass ich seine Faulheit diesbezüglich nicht unterstützen sollte, aber ich bin ja ein netter Mensch. Außerdem bin ich ihm einiges schuldig, wenn ich an meine schlechte Laune der letzten Tage zurückdenke. Daher fällt die ehrenvolle Aufgabe des Teigmachens und der weiteren Vorbereitungen heute wieder einmal mir zu. Komischerweise ist es genau diese Tatsache, die den Anflug von Missmut vertreibt, als wäre er nie da gewesen. Manchmal sind Routinen etwas Gutes und wenn ich ehrlich bin, haben wir seit Jahren eine gerechte Arbeitsteilung, was anfallende Tätigkeiten im und rund um das Haus betrifft. Was nicht heißen soll, dass es nicht Spaß macht, mich ab und an zu beschweren.   Ich lächle still vor mich hin, als ich die Teigkugel zurück in die Schüssel lege, etwas Mehl darüber verteile und alles mit einem Küchentuch abdecke, bevor ich sie in den nur lauwarm beheizten Backofen stelle. Erneut höre ich Reitas Schritte, die den alten Holzboden zum Knarren und ihn zu mir zurückbringen, während ich mir gerade die Hände wasche.   „Wer war es denn?“, frage ich, bekomme jedoch keine Erwiderung. „He, wenn du Faulpelz denkst, mir einfach nicht zu antworten, liefert dir einen Freifahrtschein, um gleich wieder im Wohnzimmer verschwinden zu können, dann hast du dich aber gehörig getäuscht. Der Salat muss noch geschnitten werden und die Beläge auch.“ Ich höre ihn glucksen und auf etwas klopfen, das sich wie etwas … Stoffbedecktes anhört? Jetzt erst sehe ich in seine Richtung, kneife ein wenig die Augen zusammen, und glaube mehr, als nur Reitas groben Umriss zu erkennen.   „Du hast Besuch“, sagt er, bevor einer der beiden Schatten verschwindet. Manchmal frage ich mich, ob ich in einer Fremdsprache rede. Wie sonst wäre es zu erklären, dass Reita nur jeden zweiten oder dritten Satz aus meinem Mund beachtet?   „Reita!“, knurre ich, bevor mir klar wird, was genau er gesagt hat. Besuch? „Ehm ... Hallo?“   „Hallo Aoi“, sagt eine leise Stimme derart zaghaft, dass ich sie auf Anhieb nicht erkenne. Ich runzle die Stirn, was mein Gegenüber dazu veranlasst, für Klarheit zu sorgen. „Ich bin es … Uruha.“ Noch nie in meinem Leben haben sich wenige Sekunden der absoluten Stille so lange angefühlt, wie in diesem Augenblick. Uruha? Hier? „Ich hab dein Buch mitgebracht.“   „Du bist … ich meine, du hast … mein Buch? Oh.“ Endlich stelle ich das Wasser ab, das in den letzten Momenten ungenutzt aus dem Hahn geflossen ist, und greife nach dem Geschirrtuch, welches im Bund meiner Hose steckt. Meiner Jogginghose, die ich seit Jahren besitze, die an manchen Stellen schon gefährlich dünn geworden ist und deren ursprünglich schwarze Farbe nur noch einem müden Grau gleicht. Oh nein, was muss ich für einen Anblick bieten? Meine Haare hängen mir glatt und nicht gestylt ins Gesicht und neben eben beschriebener Jogginghose trage ich nichts weiter, als ein ebenso verwaschenes Tanktop. Bitte, darf ich im Boden versinken? Jetzt? „Das …“ Ich räuspere mich, als sich mein Entsetzen über Uruhas unerwarteten Besuch und mein unpassendes Aussehen wie Rost auf meine Stimmbänder legt. „Das ist aber nett von dir, ehm, ja, kann ich dir etwas anbieten? Wasser? Rotwein? Ich hab auch Bier im Kühlschrank.“ Oh bitte, kann nicht irgendeine Gottheit dafür sorgen, dass ich nicht noch mehr Mist daherrede?   „N… nein, danke, ich … Oh Mann, es … Ich wollte dich echt nicht stören. Es ist nur … Reita war im Laden und wollte dein Buch mitnehmen, aber Kai und Ruki haben … nun ja … auf jeden Fall hatte ich deine Adresse und dachte mir, ich könnte es dir auch persönlich vorbeibringen, aber …“ Uruhas stotternde Erklärung stoppt abrupt und ich erahne anhand seiner Bewegungen, dass er sich durch die Haare fährt. Reita war also im Kiseki, soso. Damit erübrigt sich auch die Frage, woher Uruha meine Adresse hat. Ich schüttele den Kopf – so wie ich mich in den letzten Tagen habe gehen lassen, hätte mir klar sein müssen, dass Reita irgendwann interveniert. Uruha muss meine stumme Reaktion auf sich bezogen haben, denn ein leiser Laut kommt ihm über die Lippen, den ich nicht einzuschätzen weiß. Doch bevor ich fragen oder mich erklären kann, redet er weiter. „Ich wusste, dass es eine dumme Idee war, unangekündigt vorbeizukommen. Es tut mir so leid. Ich verschwinde besser wieder. Das Buch lege ich dir auf den Küchentisch. Du kannst es bezahlen, wenn du mal wieder im Kiseki vorbeischaust, in Ordnung?“   „Nein, nein, Uruha, bitte warte, mir tut es leid. Ich …“ Ich atme tief durch und schiebe den dummen Anflug von Schamgefühl beiseite. Verdammt, Uruha ist hier, ich werde den Teufel tun und Schuld daran sein, dass er gleich wieder verschwindet. „Ich … hab nur nicht mit deinem Besuch gerechnet, bitte bleib.“   „Bist du dir sicher? Ich wollte dich wirklich nicht überrumpeln oder bei irgendetwas stören.“   „Zugegeben, dich gerade in meiner Küche stehen zu haben, ist eine echte Überraschung, aber keine, über die ich mich nicht freuen würde.“ Ich schenke ihm ein warmes Lächeln und vermeide, die Arme vor der Brust zu verschränken. „Ich hoffe, mein etwas unpassender Aufzug stört dich nicht? Ich kann mir schnell etwas anderes anziehen.“   „Mach dir wegen mir bitte keine Umstände.“ Wie gerne würde ich nun seinen Gesichtsausdruck erkennen können. Seine Worte klingen ehrlich, aber meint er sie wirklich so? „Oje“, macht er plötzlich und bevor ich mich fragen kann, was seine Aufmerksamkeit erregt hat, spricht er weiter. „Hast du dich verletzt?“   „Ich? Was meinst du?“   „Die Schiene an deinem Bein.“   „Ach, die.“ Ehrlich gesagt, habe ich das dumme Ding die letzten Tage über so gut es geht nicht beachtet. Der Fuß schmerzt kaum noch und in meiner Bewegungsfreiheit schränkt die Schiene mich weniger ein, als ich anfänglich geglaubt habe. „Ja, das …“, murmle ich zögernd und fahre mir durch die Haare. „Mich hat ein Schlagloch angegriffen und leider gewonnen.“ Für einen Moment bleibt es still, dann erklingt ein herrlich tiefes Lachen, das mir eine prickelnde Gänsehaut beschert.   „Entschuldige“, gluckst er, „Ich lache nicht wegen deines Missgeschicks, aber wie du es gerade beschrieben hast, ist bares Gold wert.“ Auch auf meine Lippen hat sich längst ein breites Grinsen geschlichen und ich stelle fest, wie sehr es mir gefällt, Uruha zum Lachen zu bringen. „Dir ist aber hoffentlich nichts Schlimmeres passiert?“ Plötzlich ist jede Belustigung aus seiner Stimme verschwunden und ich höre deutliche Besorgnis in seinen Worten.   „Nein, nein. Ich hab mir nur den Knöchel ordentlich verstaucht. In ein paar Tagen kann die Schiene schon wieder weg.“   „Zum Glück.“ Er atmet hörbar aus, dann legt sich Stille über uns. „War …“ Er räuspert sich. Ist er nervös? „Das war der Grund, warum du in der letzten Woche nicht im Laden vorbeigeschaut hast, oder?“   Mein Herzschlag beschleunigt sich und für einen Moment rauscht mein Blut so laut in meinen Ohren, dass ich mich selbst nicht mehr denken hören kann. Spricht da Hoffnung aus seinen Worten? Wollte er mich so dringend wiedersehen wie ich ihn? ‚Durchatmen, Aoi alter Junge, sei einfach ehrlich, so schwer ist das nicht.‘   „Ich habe mich für mein Missgeschick, wie du es so taktvoll genannt hast, tierisch geschämt und ja, das ist mit ein Grund, warum ich mein Versprechen gebrochen habe.“   „Dein Versprechen“, haucht er so leise, dass ich vermute, seine verbale Reaktion war eher nicht für meine Ohren bestimmt. Ich drehe mich kurz zur Arbeitsfläche um und lege das Geschirrtuch beiseite – die beste Tarnung, um ihn das feine Lächeln auf meinen Lippen nicht sehen zu lassen. „Das kann ich verstehen“, sagt er schließlich in verständlicher Lautstärke, „auch wenn ich dich wirklich gern wiedergesehen hätte.“ Oh mein Gott, meine Ohren müssen in Flammen stehen.   „Ehm ja … ich wäre auch gern vorbeigekommen.“ Meine Finger zucken an meinen Seiten, weil ich mir wahlweise selbst eine runterhauen möchte oder mein Gesicht hinter den Händen verstecken. Was ist denn nur los mit mir? Ich bin sonst nie auf den Mund gefallen, aber gerade hätten meine Worte nicht ungeschickter ausfallen können, hätte ich es darauf angelegt. Eine kleine Stimme in meinem Kopf, die sich verdächtig nach Reita anhört, erliegt röchelnd dem Erstickungstod durch zu viel Gelächter. Zu verübeln ist es ihr nicht; ich stelle mich an wie der letzte Verlierer. „Würdest du mir das Buch mal in die Hand geben, bitte?“, versuche ich es mit Schadensbegrenzung via Themenwechsel und scheine sogar Erfolg damit zu haben. Ich höre, wie Uruha näherkommt und endlich schält sich auch sein Gesicht aus dem Körper meiner Wahrnehmung, wird zu mehr als nur vagen Umrissen. „Hi“, sage ich, als ich sein Gesicht erahnen kann, und umfasse das Buch, das er mir in die Hand drückt.   „Hi.“ Ich kann das Lächeln auf seinen Lippen nicht mehr nur hören … und es ist so verflucht schön. Meine erste Reaktion ist, wegzusehen, aber ich schaffe es ganze drei harte Herzschläge lang, diesem Drang zu widerstehen. Schlussendlich fällt mein Blick auf den dicken Wälzer, den Uruha mir in die Hand gedrückt hat und ich staune nicht schlecht.    „Wow, ich hab ja schon davon gehört, dass sich Iwakami mit der Länge des neuen Bandes mal wieder selbst übertroffen hat, aber damit, dass er gleich so dick ist, hab ich nicht gerechnet.“ Uruha lacht leise und lehnt sich neben mir gegen die Arbeitsplatte.   „So hab ich auch reagiert.“   „Hast du schon reingelesen?“   „Nein, ich bin noch nicht dazugekommen.“   „Sehr gut, dann hast du also keinen Vorteil mir gegenüber.“   „Nein, sieht nicht so aus. Wobei habe ich dich eigentlich gerade gestört?“   „Gestört? Bei nichts, aber wenn du wissen willst, womit ich beschäftigt war, lautet die Antwort Pizzateig.“   „Was, ehrlich? Selbstgemacht?“   „Ja, ist nicht viel dabei, nur alle Zutaten zu einem Teig verkneten und warten, bis er aufgegangen ist.“   „Das sagst du so einfach, ich hab zwei linke Hände, wenn es ums Kochen geht.“   „Wo habe ich das nur schon mal gehört?“   „Was meinst du?“   „Der liebe Herr Reita nutzt diese Ausrede auch regelmäßig, um sich vor der Küchenarbeit zu drücken, obwohl ein kleiner Chefkoch in ihm schlummert.“   „Ich würde das nie als Ausrede verwenden. Ich kann es wirklich nicht.“   „Dann würde ich sagen, es wird Zeit, dich weiterzubilden.“ Ich lege das Buch über mir in ein Regal, damit es nicht schmutzig wird, und reibe mir vorfreudig die Hände. Grinsend drehe ich mich wieder Uruha zu und deute in Richtung des Kühlschranks. „Sei so lieb und hol mal alles, was sich für einen Salat und als Belag für die Pizza eignet aus dem Kühlschrank und leg es auf den Tisch dort, ja?“   „Ich … ehm … okay?“   Mein Grinsen wird noch breiter, als Uruha pflichtschuldig und ohne Widerworte meiner Aufforderung folgt, und ich beschließe spontan, dass Reita und ich heute nicht allein zu Abend essen werden. Kapitel 9: Shitashimi – Vertrautheit ------------------------------------ Uruha:   Ich fühle mich eigenartig, wie in einem Traum, obwohl mir klar ist, dass ich hellwach bin. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ich es gewagt habe, tatsächlich unangekündigt bei Aoi vorbeizuschauen und noch viel weniger, dass ich nun mit ihm und seinem … nun ja, was auch immer Reita für ihn ist, an einem Tisch sitze. Krampfhaft versuche ich, das ungute Gefühl in der Magengegend, das beim Gedanken an den Blonden links von mir erneut in mir hochsteigen will, beiseitezuschieben. Aoi macht es mir einfach, denn genau in diesem Moment schenkt er mir ein strahlendes Lächeln, das meine komplette Aufmerksamkeit auf ihn zieht.   „Schmeckt es dir?“   Ja, gute Frage, schmeckt es mir denn? Um dies zu beantworten, sollte ich die Pizza probieren, die bereits seit einer geraumen Zeit unangetastet auf meinem Teller liegt. Reita hält sich die Hand vor den Mund und ich werde das Gefühl nicht los, dass er ein breites Grinsen dahinter verbirgt. Macht er sich über mich lustig? Ich beiße heftiger, als der dünne Hefeteig es rechtfertigt, in das Stück Pizza und kaue ausgiebig. Der Geschmack ist anders, als ich es gewöhnt bin, aber wirklich lecker.   „Mmmh, echt gut“, gebe ich begeistert zu und beiße gleich noch einmal ab. „Ich hab noch nie selbst gemachte Pizza gegessen.“   „Nicht?“ Plötzlich sehe ich mich zwei ungläubigen Gesichtern gegenüber, wobei mir Reitas prüfender Blick schnell unangenehm wird. Automatisch senke ich den Kopf, sodass mir die Haare ins Gesicht fallen. Ich hasse es, gemustert zu werden. Die dicke Schicht Make-up, die ich heute aufgetragen habe, sollte zwar das Schlimmste verbergen, aber ich fühle mich dennoch unwohl.   „Die gibt es bei uns mindestens einmal im Monat, zumindest wenn ich Aoi dazubekomme, sie zu machen.“   „Wenn du dich nicht immer so anstellen und nicht nur alle Heiligzeiten kochen würdest, könnte es viel öfter Pizza geben“, mault Aoi, kann jedoch nicht verhindern, dass sich ein Schmunzeln auf seine Lippen legt.   „Nee, sie schmeckt nur, wenn du sie machst.“ Reita lacht, als Aoi nach ihm schlägt und weicht der Attacke geschickt aus. Ich würde das einen unfairen Vorteil nennen, aber wer bin ich, die Dynamik der beiden zu beurteilen?   Während Aoi und Reita sich weiter necken, dezimiere ich mein Pizzastück und sinniere über Reita nach. Er ist ein eigenartiger Charakter oder bin ich im Umgang mit meinen Mitmenschen derart aus der Übung? Möglich, allerdings glaube ich kaum, dass „Hi, Gorgeous“ die passende Begrüßung ist, wenn man jemandem zum ersten Mal die Tür öffnet. Ich war vorhin so überrumpelt, dass ich nicht wusste, was ich darauf sagen, geschweige denn, wie ich reagieren sollte. Ich muss den Anschein einer Eisskulptur erweckt haben, aber Reita hat sich davon nicht beirren lassen. Ich bin noch immer erstaunt davon, wie ein Mensch spontan so viele Worte aneinanderreihen kann, wie er es getan hat. Gefühlt hat er mir jede Frage dieser Welt gestellt, bis ich es geschafft habe, ihm den Grund meines Besuchs zu erklären. Kaum hatte ich den ersten Schock verdaut, hat er mir den nächsten in Form von Aoi präsentiert. Also nicht, das Aoi in der Küche seines Hauses stehen zu sehen ein Schock gewesen wäre, schließlich war ich nur hierhergekommen, um ihn zu sehen, aber … nun ja. Innerlich seufze ich hingerissen – absolut gemütlich angezogen und ungestylt, als wäre er frisch aus der Dusche gekommen, gefällt er mir ziemlich gut.   Reita lacht über irgendetwas, das Aoi gerade gesagt hat, und lenkt meine Grübeleien wieder gezielt auf sich. Ich kann den Geist des leichten Schlages auf meiner Schulter noch immer spüren, bevor er mir ein „Now it’s your turn“, ins Ohr geflüstert und mich im Türrahmen der Küche stehend alleingelassen hat. Einfach so, ohne Vorwarnung! Und außerdem, was soll dieses ständige Englisch? Ist das ein Tick von ihm? Nicht, dass ich ihn nicht verstanden hätte, spätestens das Grinsen auf seinen Lippen wäre Hinweis genug gewesen, aber es ist irritierend. Reita als Ganzes ist irritierend, vor allem, weil ich absolut nicht einschätzen kann, in welchem Verhältnis er zu Aoi steht. Die beiden scheinen zusammenzuwohnen, schon eine lange Zeit, wenn ich ihren vertrauten Umgang miteinander richtig deute. Sind sie ein Paar? Nur sehr gute Freunde? Ich fühle, wie sich die Ungewissheit tief in mein Nervenkostüm frisst und meinen Unsicherheiten neuen Nährboden bietet.   „Sag mal, Uruha“, reißt die lebendige Irritation namens Reita mich nun komplett aus meinen Gedanken und prompt sehe ich mich im Blick dunkler Augen gefangen, aus denen mir der Schalk entgegenblitzt. „Was treibst du so, wenn du nicht gerade in deinem Buchladen bist?“   Eine nicht ungewöhnliche Frage und eine, mit der ich hätte rechnen müssen. Der rationelle Teil meines Gehirns nickt befürwortend, während der Rest meines Verstandes in den Fluchtmodus schaltet. Warum stellt er mir diese Frage? Hat er Hintergedanken? Will er mich vor Aoi bloßstellen? Ich spüre ein feines Zittern durch meinen Körper fahren und wünsche mir Ruki an meine Seite. Der kleine Mann ist immer so herrlich schlagfertig und verschafft mir in diesen, für mich unangenehmen Situationen, spielend leicht die paar Minuten, die ich brauche, um mich wieder zu beruhigen. Ruki ist jedoch nicht hier und ich spüre, wie die Panik mir die Luft abzudrücken beginnt.   „Ich schraube leidenschaftlich gern an meinem Motorrad herum“, redet Reita betont nonchalant weiter und senkt den Blick auf seinen Teller, wo ein neues Stück der Pizza auf seinen Verzehr wartet. „Eine Kawasaki Ninja 650.“ Ich spitze die Ohren und selbst durch den Schleier meiner Überforderung hindurch kann ich mein erwachtes Interesse nicht leugnen. Reita fährt Motorrad? Warum wundert mich das nicht?   „Natürlich sagt mir das was.“ Ich lache, auch wenn es nichts gibt, was in diesem Augenblick komisch ist, aber es hilft mir, die lähmende Panik nach und nach abzuschütteln. Ob Reita gespürt hat, dass mit mir etwas nicht stimmt? Hat er mir deswegen etwas über sich erzählt, statt auf eine Antwort meinerseits zu pochen, oder redet er nur gern und viel? Himmel, ich brauche ein neues Wort, um ihn zu beschreiben, irritierend wird ihm nicht gerecht. „Um ehrlich zu sein, wollte ich immer eine Ninja besitzen, aber es hat sich nie ergeben.“   „Ist nicht wahr.“ Reita lacht und diesmal habe ich das Gefühl, dass er aus vollem Herzen erfreut ist. „Zufälle gibt es. Du bist sicher schon gefahren, oder? Hast du einen Führerschein fürs Bike?“   „Ja, mein Bruder hatte früher eine alte Enduro, ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr das Modell, und meinen Führerschein hab ich mit zwanzig auf einer BMW R1200C gemacht.“ Ich fühle, wie die Anspannung immer weiter von mir abfällt, als Reita wohlwollend nickt und von seiner Begeisterung für Zweiräder zu erzählen beginnt, die ihn schon seit frühster Kindheit begleitet. So sehr bin ich ins Gespräch mit ihm vertieft, dass mir erst auffällt, wie still Aoi die letzten Minuten über war, als er sich zu Wort meldet.   „Oh nein“, murmelt er und hält sich in theatralischer Geste die Hand vor die Stirn. „Und wieder hast du jemanden gefunden, der Stunden mit dir über Bikes philosophieren kann. Reicht dir Tora nicht?“ Aoi sieht erst in Reitas Richtung, der ihm jedoch nur geräuschvoll die Zunge herausstreckt, bevor ich mich im Blick seiner Augen gefangen sehe. Hilfe, was soll ich jetzt tun? Ich bin ein Motorradenthusiast und wenn man mich lässt, rede ich viel und gern über die netten Maschinen, aber wenn das so gar nicht Aois Thema ist …   „Hör auf, unseren Gast zu manipulieren, Aoi, das gehört sich nicht“, tadelt Reita in einem derart präzisen Gouvernanten-Tonfall, dass mir ungeplant ein prustendes Lachen entkommt. „Der liebe Aoi hier weiß nämlich mehr über Motorräder, als du und ich zusammen, das garantiere ich dir.“   „Mein Wissen nützt mir ja ganz besonders viel.“ Für einen Sekundenbruchteil huscht ein Schatten über Aois Gesicht und nimmt die gute Laune mit sich, die bis eben noch vorgeherrscht hat. Auch Reita bemerkt den Stimmungsumschwung und rempelt ihn kurz an.   „Unnützes Wissen ist nie verkehrt. Wie glaubst du, bin ich zu dem Partymagneten geworden, der neben dir sitzt? Unnützes Wissen, mein Guter.“   „Wer’s glaubt.“ Aoi verschränkt die Arme vor der Brust, wirkt jedoch wieder etwas fröhlicher. Erstaunlich, welchen Einfluss Reitas flapsige Art auf ihn hat.   „Ich geh mal eine rauchen“, verkündet der selbstdeklarierte Partymagnet im selben Moment, in dem er quietschend seinen Stuhl nach hinten schiebt und aufsteht.   „Ernsthaft? Den guten Geschmack der Pizza mit Nikotin versauen?“   „Meine Verdauung braucht das.“   „Verdauung, dass ich nicht lache. Ich koche nie wieder für dich.“   „Love you too“, trällert Reita im Hinausgehen und plötzlich bin ich mit Aoi allein. Auf seinen Lippen liegt ein kaum erkennbares Lächeln und ich werde das Gefühl nicht los, dass Reita genau dies mit seinem abrupten Abgang erzielen wollte.   „Tut mir leid“, murmelt er plötzlich und reißt mich aus meinen Überlegungen, die erneut um Reita und sein Verhältnis zu Aoi kreisen.   „Wofür entschuldigst du dich denn?“ Ich bin etwas irritiert, es ist doch gar nichts vorgefallen?   „Ich hätte eure Fachsimpelei über Motorräder nicht unterbrechen sollen. Es ist nur … Ich bin früher selbst gefahren, kannst du dir das vorstellen? Es fehlt mir.“ Aoi unterdrückt ein Seufzen, ich erkenne das angestrengte Beben seiner Schultern, und fährt sich durchs Haar.   „Du bist selbstgefahren?“ Entkommt es mir wenig taktvoll, aber noch bevor ich nach einer Entschuldigung für meine Neugierde suchen kann, nickt er.   „Nicht auf der Straße, das wäre für alle Beteiligten viel zu gefährlich gewesen.“ Er lacht. „Es gibt diverse Rennstrecken oder private Testgelände von Fahrzeugherstellern, die man für den richtigen Preis mieten kann. Auf freiem Gelände und mit einem Sehenden im Ohr, der weiß, welche Anweisungen er geben muss, klappt das erstaunlich gut. Ich bin zum ersten Mal gefahren, als ich achtzehn geworden bin, war ein Geburtstagsgeschenk, und hab Blut geleckt. Im letzten Jahr hat sich jedoch wieder so viel geändert …“ Er hebt die Hand und macht eine vage Geste in Richtung seiner Augen, „… dass ich es seither nicht mehr versucht habe.“   „Hast du Angst davor?“ Wieder kommen nur plumpe Worte aus meinem Mund, aber Aoi scheint sie mir nicht übel zu nehmen.   „Ja. Ich habe mich noch nicht an meine neue Realität gewöhnt, denke ich.“   „Ein Jahr ist genau genommen auch keine lange Zeit, um eine so einschneidende Veränderung zu verarbeiten.“   „Es sollte kein großes Ding mehr sein, so oft, wie ich das schon durchexerziert habe. Ist ja nicht so, als wäre das zum ersten Mal passiert, aber es wird von Mal zu Mal schwerer.“ Diesmal höre ich sein Seufzen und ohne über mein Handeln nachzudenken, lehne ich mich über den Tisch, um seine Hand in die meine zu nehmen.   „Du bist sehr streng mit dir“, flüstere ich und erschauere, als er seine Hand dreht und beginnt, mit dem Daumen über meinen Handrücken zu streicheln.   „Bin ich das?“   „Ja.“ Nur ein Hauchen entkommt meiner plötzlich trocken gewordenen Kehle und ich starre ihn aus weit geöffneten Augen wie eine Erscheinung an. Das Lächeln ist auf seine Lippen zurückgekehrt, neckend und rätselhaft zugleich, als würden sich dahinter alle Geheimnisse des Universums verbergen. Ich könnte versinken in seinen dunkelbraunen Augen, die auch jetzt nur minimal unfokussiert auf mich wirken. Was sieht er? Sieht er mich?   „Wollen wir rüber ins Wohnzimmer gehen? Dort ist es gemütlicher.“   „Gerne.“ Ich bin erstaunt, wie kräftig meine Stimme klingt, hätte ich eher damit gerechnet, wieder nur ein Fiepen herauszubekommen. Aois warme Hand verschwindet, als er aufsteht und nach seinem Teller greift.   „Hilfst du mir mit dem Abräumen?“   „Natürlich.“ Ich stehe ebenfalls auf, nehme meinen und Reitas Teller in die Hand. Aoi hat bereits die Spülmaschine geöffnet und wir räumen alles ein, bis nur noch unsere beiden Weingläser auf dem Tisch zurückbleiben. „Ich würde uns nachschenken, ist das in Ordnung?“, frage ich und halte die Weinflasche hoch, als könnte Aoi sie sehen. Himmel, ich bin so dumm. Zerknirscht senke ich die Flasche wieder und gieße uns ein, nachdem er meine Frage bejaht hat.   „Nimm beide Gläser gleich mit, bitte.“   „Mach ich.“   „Dann folge mir unauffällig“, sagt Aoi mit einem Lächeln in der Stimme und geht voran aus der Küche.   Die alt wirkenden Holzdielen im Flur knarren leise unter meinen Schritten – ein Laut, den ich augenblicklich als anheimelnd empfinde. Es klingt wie in meinem Buchladen, schafft eine Vertrautheit, mit der ich heute nicht gerechnet habe. Die Beleuchtung ist ausgeschaltet, nur das Licht aus der Küche und der Schein der Straßenlaternen, der durch ein kleines Fenster hereinfällt, spenden ein wenig Licht, während wir an zwei geschlossenen Türen vorbeigehen. Aois Schritte sind sicher, selbst in diesem Zwielicht, und zeugen davon, dass er dieses Haus wie seine Westentasche kennt. Ob er schon immer hier lebt? Ich wage es nicht, die eingetretene Stille zu durchbrechen und ihn zu fragen, also sehe ich mich stattdessen neugierig um.   Die Treppe, die ich früher am Abend in Reitas Begleitung hinaufgestiegen bin, führt Aoi und mich nun weiter nach oben. Auch hier ist die Beleuchtung auf ein Minimum reduziert, nur eine kleine Lampe auf einer antik anmutenden Kommode aus dunklem Holz beleuchtet das Obergeschoss. Ich folge ihm weiterhin schweigend, lasse meine Blicke über zahllose gerahmte Fotos gleiten, die die Wände zieren. Ich erkenne Reita und Aoi, mal jünger, mal älter, mal allein fotografiert, mal zusammen, aber auch andere Personen, die meine Fantasie anregen. Ist die ältere Dame dort Aois Großmutter? Und das Paar in dem blauen Bilderrahmen? Sie könnten seine Eltern sein. Die beiden Jungs, die Arm in Arm auf einem der Fotos in die Kamera lachen und Aoi so ähnlich sehen, sind das seine Brüder? Cousins? Himmel, es gibt so vieles, das ich noch nicht von ihm weiß und ein immer lauter werdender Teil in mir hofft, die Chance zu bekommen, ihn besser kennenzulernen.   „Uruha? Kommst du?“   Erst jetzt bemerke ich, dass ich stehen geblieben bin, und beeile mich, hinter Aoi das Wohnzimmer zu betreten. Kapitel 10: Omoide - Erinnerungen ---------------------------------- Aoi:   „Das ist ja … wow.“   Ich drehe mich um und kann nicht verhindern, dass sich ein zufriedenes Grinsen auf meinen Lippen ausbreitet. Oh ja, ich hatte gehofft, Uruha würde genau so reagieren. Zu verübeln ist ihm sein Staunen nicht und es macht mich unglaublich glücklich, dass mein Lieblingsraum im ganzen Haus diese Wirkung auf ihn hat. Seine bedächtigen Schritte werden durch eine Vielzahl nicht zusammenpassender Teppiche gedämpft, die mit ihrem orientalisch anmutenden Muster schon seit frühster Kindheit eine gewisse mystische Faszination auf mich ausüben. Sie sind auch das Einzige, was ich von der ursprünglichen Einrichtung übernommen habe. Meine Persönlichkeit und mein Geschmack zeigen sich in jeder Kleinigkeit in diesem Raum.   Besonders stolz bin ich auf das Meer aus Pflanzen, das den Platz vor den bodentiefen Fenstern für sich einnimmt und das Zimmer an sonnigen Tagen in angenehm grünliches Licht taucht. Mein eigener, kleiner Urwald. Dazwischen, etwas versteckt hinter den Blättern meines Benjamins, steht die Chaiselongue, die ein Geschenk von Reita zum Dreißigsten war. Gerade wird das Wohnzimmer nur von der Stehlampe neben besagtem Möbel und vom Feuer erhellt, das in einem Schwedenofen in der linken Zimmerecke munter vor sich hin prasselt. Ich werde mich nachher bedanken müssen, dass Reita die Weitsicht besessen und eingeheizt hat. Die Temperatur ist angenehm, etwas wärmer als in der Küche und dem Flur, und fühlt sich viel heimeliger an, als würde die Fußbodenheizung laufen.   Ich setze mich und lausche. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass Uruha noch nicht viel seiner Umgebung wahrgenommen hat, denn der vage Schemen, der sein Körper im vorherrschenden Zwielicht für mich ist, hat sich seit seinem Eintreten kaum bewegt. Ehrfürchtig steht er vor meiner kleinen Bibliothek, die die linke Zimmerwand für sich einnimmt. Bücher in allen Größen und Farben stehen dort und widersetzen sich standhaft meinen Versuchen, eine erkennbare Ordnung in das Sammelsurium zu bringen. Die meisten Bände sind zwar nach Themen, Serien oder Autoren sortiert, aber diverse Sonderauflagen machen es unmöglich, eine ästhetische Einheit zu schaffen. Ich mag es, dass nicht alle Bücher zusammenpassen, nur Reita hat schon das ein oder andere Mal versucht, mich mit dem vorherrschenden Chaos aufzuziehen. So sehr kann es ihn jedoch nicht stören, zumindest wenn ich von der Regelmäßigkeit ausgehe, mit der plötzlich hier und da ein Buch in meinem angeblichen Chaos fehlt. Ich bin mir sehr sicher, ich würde besagte Bände in Reitas Räumen finden, wäre ich geneigt, ernsthaft nach ihnen zu suchen.   „Gefallen sie dir?“ Geduld war noch nie meine Stärke und meine Neugierde zu unterdrücken auch nicht. Uruha macht ein Geräusch, ein kurzes, harsches Einatmen, als hätte ihn meine Frage erschreckt. Das habe ich nicht gewollt, aber noch bevor ich mich entschuldigen kann, dreht er sich mir zu und kommt näher.   „Es ist … sie sind … einfach wow.“ Er lacht etwas peinlich berührt auf und ich höre das leise Klirren der Weingläser, als er sie auf den niedrigen Tisch vor der Sitzecke stellt. „Ich wusste ja schon, dass du ein Faible für Bücher hast, aber das hier stellt das, was sich bei mir über die Jahre angesammelt hat, weit in den Schatten. Ich muss allerdings auch gestehen, dass meine Kollektion deutlich eindrucksvoller wäre, hätte ich eine größere Wohnung und wäre ich nicht der Besitzer des Kiseki.“   „Das glaube ich dir aufs Wort.“ Ich überschlage die Beine und lächle Uruha an, der links von mir auf dem Sessel Platz nimmt. Kurz kehrt Stille zwischen uns ein und ich vermute, dass er sich weiter umsieht. Hat er die Vitrine neben dem Fernseher und der Musikanlage bemerkt? Mitbringsel aus zahllosen Urlauben tummeln sich darin und die Erinnerung an eine Zeit, als ich meine Umgebung noch besser gesehen habe.   Ich unterdrücke ein Seufzen und lasse die Stille über mich waschen. Sie ist nicht unangenehm und trotzdem steigt mit einem Mal die Angst in mir hoch, Uruha zu vergraulen, weil mir gerade absolut kein Gesprächsthema einfallen will. In Momenten wie diesen verfluche ich meine Behinderung. Ich hasse es, nicht sehen zu können, was er gerade tut. Ist er beschäftigt? Ist er ebenso nervös wie ich? Fühlt er sich wohl oder unwohl?   „Fühlst du dich wohl?“ Kaum habe ich genau den Gedanken zu Ende gedacht, bricht er aus mir hervor wie eine Sturmflut, die sich über aufgeweichte Deiche ergießt. „Ich meine …“ Ich atme tief durch und versuche es noch einmal. „Ist es okay für dich, hier zu sein?“   „Ehm, ja?“ Er klingt verunsichert – kein Wunder, bei meinem Stammeln würde es mir an seiner Stelle nicht anders gehen. Ich will etwas sagen, irgendetwas, um diese eigenartige Situation, in die ich uns gebracht habe, wieder zu verlassen, aber da spricht er weiter.  „Ich meine, ich sitze hier in guter Gesellschaft, mit einem Gläschen Wein, umgeben von Büchern und einem prasselnden Feuer. Ich glaube, eine angenehmere Umgebung könnte sich ein Bücherwurm wie ich nicht wünschen.“ Ich lache und er stimmt mit ein, vertreibt damit einen Teil meiner Unsicherheiten. „Aoi?“   „Ja.“   „Darf ich dich etwas fragen?“   „Natürlich.“   „Es verunsichert dich, meinen Gesichtsausdruck nicht zu erkennen, oder? Deswegen auch gerade die Frage?“ Ich nicke, der Kloß in meinem Hals zu groß, als dass ich ihm verbal hätte antworten können. Wie kann er so genau wissen, was in mir vorgeht? „Ich kann die Deckenbeleuchtung einschalten, wenn das angenehmer für dich ist? Mich würde es nicht stören.“   „N… nein, aber danke für das Angebot.“ Ich lächle, vielleicht etwas wacklig, denn ich bilde mir ein, eine hauchfeine Berührung an meinem Handrücken gespürt zu haben. So schnell diese gekommen ist, ist sie wieder verschwunden, bevor ich hätte reagieren können. Schade.   „Ich bewundere gerade die vielen Souvenirs in der Vitrine“, erklärt er und ich höre, wie er aufsteht. „Erzählst du mir ein wenig davon? Wo ist zum Beispiel dieser gehäkelte Fes her? Ägypten?“   „Ja, Reita und ich waren 2013 dort. Zwei Wochen lang. Ein unglaublich schöner und interessanter Urlaub …“ Je mehr ich ihm erzähle, je länger ich in den Erinnerungen vergangener Reisen schwelge, desto gelöster werde ich. Irgendwann stehe ich auf, gehe zu ihm und bleibe nah an seiner Seite stehen. Ich weiß haargenau, wo in der Vitrine sich jedes Stück befindet, obwohl ich die meisten Gegenstände nur noch erkennen kann, wenn es sehr hell im Raum ist.   „Du fährst meist mit Reita in den Urlaub, was?“   „Ja, mit ihm ist es immer ein Erlebnis und zum Glück haben wir relativ ähnliche Geschmäcker, was die Länder und Kulturen angeht, die uns interessieren. Gesucht und gefunden, passt in dem Zusammenhang ziemlich gut zu uns.“ Uruha murmelt etwas, was ich nicht verstehe, wiegelt jedoch ab, als ich frage, was er gemeint hat. Generell scheint sich seine anhaltend gute Laune etwas eingetrübt zu haben. „Müde?“, erkundige ich mich mangels anderer Ideen, was diesen Umschwung herbeigeführt haben könnte.   „Ein wenig“, bestätigt er und ich rechne damit, dass der Abend hier und jetzt zu Ende geht. Doch wieder überrascht er mich, als er mit einem Mal verschwindet und ich das leise Klirren der Weingläser höre. „Lass uns anstoßen.“   Zugegeben bin ich etwas überrumpelt von seiner Aufforderung, komme dieser aber nach. Seine ruhige, präzise Aussage, dass er mein Glas direkt vor meiner rechten Hand hält, wirft in mir erneut die Frage auf, ob ich nicht der erste sehbehinderte Mensch bin, mit dem er Umgang hat. Ich lächle. Vielleicht hat er sich dieses Wissen aber auch angelesen? Zuzutrauen wäre es meinem Bücherwurm. Meine Ohren werden heiß und ich senke den Kopf. Mein Bücherwurm – klingt das nur in meinen Gedanken extrem schön?   „Wir könnten anfangen, Iwakami-sans neues Buch zu lesen, wenn du magst?“ Um ehrlich zu sein, frage ich das nur, um von meinen roten Ohren abzulenken, finde die Idee aber auch gar nicht so übel. Ich will Uruha noch nicht gehen lassen und gleichzeitig bin ich so gespannt auf die Fortsetzung des Romans.   „Klar, warum nicht. Willst du das Hörbuch einschalten oder soll ich lesen?“ Oh mein Gott, hat er das wirklich vorgeschlagen? Allein die Vorstellung, meine derzeitige Lieblingsgeschichte nicht mehr nur von einem guten, aber unpersönlichen Sprecher vorgelesen zu bekommen, sondern seine Stimme dabei im Ohr zu haben, lässt meinen Magen wilde Purzelbäume schlagen. Hilfe, ich muss mich beruhigen, bevor ich wie ein verrückter Wackeldackel nicke und nicht mehr als tausendmal ja hintereinander sagen kann. „Aoi? Tut mir leid, wenn das keine gute Idee war.“   „Ach Quatsch.“ Ich winke ab und zaubere ein breites Grinsen auf meine Lippen. „Das ist sogar eine richtig gute Idee, aber nur, wenn ich mich dir nicht irgendwie aufdränge oder so. Wenn du sowieso schon müde bist? Ich meine, so früh am Abend ist es auch nicht mehr, ich wäre dir echt nicht böse, wenn …“   Nun spüre ich seinen Finger ganz deutlich. Keine flüchtige Berührung meines Handrückens, nein, ein solider Finger direkt auf meinen Lippen. Mein Herz stolpert, setzt aus, nur um im nächsten Moment in doppeltem Tempo das Blut durch meine Adern zu pumpen. Himmel, ich könnte diesen Finger küssen, jetzt, es wäre so einfach.    „Ich bin so dermaßen gespannt auf die Fortsetzung und ärgere mich seit Tagen, dass ich nicht zum Lesen komme. Eine bessere Gelegenheit, endlich damit anzufangen, fällt zumindest mir nicht ein.“ Der Finger verschwindet und ich muss mir ein Seufzen verkneifen. „Also, wenn du keine weiteren Einwände hast … Wo ist das Buch?“   „In der Küche auf dem Regal über der Spüle.“   „Bin gleich zurück; tu nichts, was ich nicht auch tun würde“, trällert Uruha, plötzlich fröhlicher und gelöster, als ich ihn den ganzen Abend erlebt habe. Ich muss irgendetwas richtig gemacht haben, wenn ich auch nicht sagen kann, was genau. Ein breites Grinsen stiehlt sich auf meine Lippen und unwillkürlich jage ich dem Geschmack seines Fingers hinterher, den ich mir vermutlich nur einbilde.   „Ich werde mich hüten“, wispere ich in den leeren Raum und lasse das überdrehte Kichern frei, das so hartnäckig in meiner Kehle kratzt.   „Mann, dich hat es echt erwischt.“   „Reita!“ Ich keuche und presse mir die Hand auf die Brust. Ich bin mir sicher, mein Herz ist gerade aus meinem Brustkorb gesprungen und pocht nun irgendwo in einer der Zimmerecken herum. „Wie kannst du mich so erschrecken?“   „Sorry, Blue“, murmelt er mit einem Anflug, aber nur einem Anflug, ehrlichen Bedauerns in der Stimme und ich höre seine leisen Schritte auf mich zukommen. Ein starker Arm legt sich um meine Mitte, zieht mich an ihn. „Ich wollte nur Gute Nacht sagen.“ Er brummt für einen Moment, als müsste er überlegen, wie oder ob er seine nächsten Worte laut aussprechen will. „Du hast nicht übertrieben.“   „Womit?“   „Damit, dass er unglaublich interessant ist.“ Ich Lächle und streichle über seinen Unterarm, lehne mich für einige Atemzüge fester gegen ihn.   „Wie schön, dass du das genauso siehst. Willst du nicht bleiben?“  Er lacht, drückt mir einen Kuss auf den Schopf und lässt mich los.   „Nee, lass mal, das schaffst du ganz gut ohne mich. Aber ich hab euch Tee mitgebracht.“   „Das ist lieb von dir.“ Mit einem dumpfen Laut stellt Reita das Tablett ab. Ich höre, wie er die Kanne auf dem Tisch platziert, Tassen und Löffel folgen, woraus ich schließe, dass er sogar an meinen geliebten Honig gedacht hat. Manchmal ist er ein Engel. „Danke dir.“   „Das war doch nichts“, murmelt er und kommt wieder auf mich zu.   „Aber, dass du im Kiseki warst, das war etwas“, erwidere ich auf gleiche Weise, strecke eine Hand aus und lächle, als seine Finger die meinen umschließen. „Darum, danke.“   „Sehr gerne.“ Er drückt zu, bevor er mich wieder loslässt und sich von mir entfernt.   „Schlaf schön, Rei.“   „Du auch.“ Ich höre ihn Lachen, ein angenehm tiefer Laut, bevor er ein „Nighty-night, Handsome“ murmelt und mir damit zu verstehen gibt, dass Uruha von seinem Ausflug in die Küche zurückgekehrt ist. Uruha stammelt ein überrumpeltes „Gute Nacht“, was Reita nur noch vergnügter glucksen lässt und mir wiederum ein Schmunzeln in den Mundwinkel zaubert. Ja, diese Wirkung hatte Reita schon immer auf seine lieben Mitmenschen.   „Wollte er nicht bleiben?“   „Nein. Er hat sich sicher mit Tora zum Zocken verabredet, der ist beschäftigt.“   „Solange ich ihn nicht vergrault habe, ist alles gut.“   „Keine Sorge, so schnell lässt er sich nicht vergraulen.“ Ich grinse und danke Reita in Gedanken erneut, dass er es mir nicht übel nimmt, dass ich Zeit allein mit Uruha verbringen will, obwohl wir geplant hatten, gemeinsam einen Film anzusehen. So gern Reita mich aufzieht und sich den kleinen Seitenhieb eben nicht hat verkneifen können, so groß ist auch seine Unterstützung – immer. „Stört es dich, wenn ich es mir auf dem Sofa gemütlich mache? Willst du auch eine Decke?“   „Nein und ja.“ Ich höre das breite Lächeln aus Uruhas Stimme und beeile mich, zwei Wolldecken zu organisieren. Eine reiche ich ihm, unter die andere kuschle ich mich und warte darauf, dass er zu lesen beginnt. Ein wenig peinlich ist mir meine Vorfreude schon, denn muss ich nicht wie ein kleines Kind auf ihn wirken? Aber Uruha kommentiert mein Tun nicht und macht es sich stattdessen auf dem Sessel gemütlich. Ich taste nach der Kanne Tee, die Reita mitgebracht hat und gieße uns beiden je eine Tasse ein, während Uruha das Buch aufschlägt.   „Uh, Iwakami hat diesmal eine Widmung geschrieben, soll ich die auch vorlesen?“   „Unbedingt.“ Ich nicke heftig, gespannt darauf, was der Autor zu sagen hat.   „Für Y. Ohne dich hätten meine Leser noch viel länger auf die versprochene Fortsetzung warten müssen. Danke, dass du mir immer mit Rat und Tat zur Seite stehst und die richtigen Worte findest, um mich zu motivieren. Du bist meine Muse und wirst sie für immer bleiben. Awww, ist das niedlich.“ Uruha summt schwärmerisch und ich kann nicht anders, als leise in mich hinein zu lachen. „Was denn?“   „Nichts, nichts. Ich frage mich, wer diese oder dieser Y. ist. Klingt ja ganz danach, als wäre der gute Iwakami schwer verliebt, oder interpretiere ich zu viel in sein Vorwort?“   „Ich interpretiere mindestens genauso viel hinein wie du.“ Uruha lacht und blättert um. „Bereit?“   „Bereit!“ Kapitel 11: Lucin – Routine --------------------------- Uruha: Ich bemerke erst, dass ich wieder einmal in einem Tagtraum feststecke, als Ruki unsanft in meine Seite kneift. „Autsch!“, beschwere ich mich und sehe den kleineren Mann strafend an. „Musste das sein?“ „Offensichtlich. Ich versuche seit über fünf Minuten, deine Aufmerksamkeit zu erregen.“ „Ach? So lange schon?“ Meine rechte Augenbraue wandert gen Haaransatz, während mir Rukis verschmitztes Schmunzeln zeigt, dass der Herr mal wieder maßlos übertreibt. „Was ist denn so wichtig?“ „Ich brauch deine Unterschrift auf der Reklamation.“ „Okay, was war mit der Bestellung nicht in Ordnung?“, frage ich, während ich bereits meinen Namensstempel gezückt habe und ihn auf die Empfangsbestätigung drücke. Ich überfliege kurz, was Ruki darauf geschrieben hat, während er mir das Problem näher erklärt. „Eine Handvoll Bücher sind beim Versand beschädigt worden – eingedrückte Einbände, Eselsohren und dergleichen – sodass wir diese nicht mehr zum vollen Preis verkaufen können.“ „Super, dass dir das gleich aufgefallen ist“, lobe ich und gebe den Bestellschein zurück. „Leg die beschädigten Bücher am besten zu den anderen auf den Tisch mit den Sonderangeboten, ich ruf die Firma an und kläre unsere Rückerstattung.“ „Wird gemacht, Boss.“ Ich gehe davon aus, dass Ruki zurück in den Verkaufsraum gegangen ist, um dem Lieferanten die Quittung mit seinen Anmerkungen mitzugeben, und bin dementsprechend überrascht, als ich mich umdrehe und er noch immer in der Tür zum Büro steht. „Brauchst du noch etwas?“, frage ich japsend und hoffe, mir ist der kleine Schock nicht quer übers Gesicht geschrieben. Der Kurze hat aber auch ein Talent, sich unsichtbar zu machen. „Nicht wirklich. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es mit Aoi so läuft? Wenn ich von deinem verklärten Blick gerade eben ausgehe, sollte alles in Butter sein.“ Müsste ich sein Grinsen in einem Wort beschreiben, würde mir nur unverschämt einfallen. Die vielsagend wackelnden Augenbrauen und sein durchdringender Blick machen die Sache auch nicht besser. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ Klinge ich schnippisch? Vielleicht, aber Ruki macht es mir leicht, auf Abwehr zu gehen. Nun ja, so lange zumindest, wie ihm seine Neugierde deutlich anzusehen ist. Aber Ruki wäre nicht Ruki, wüsste er nicht genau, welche Knöpfe er drücken muss, um das zu bekommen, was er will. „Komm schon, Uruha“, quengelt er und sieht mich mit einem Mal aus kugelrunden Knopfaugen an. Ein Chiba-Inu-Welpe hätte in diesem Augenblick nicht niedlicher aussehen können. Ich bilde mir ein, das Eis im Gefrierfach des Kühlschranks hinter mir knacken und schmelzen zu hören, genau wie sich meine Widerstandskraft ihm gegenüber in Wohlgefallen auflöst. Ob Ruki auch am Schmelzen der Polkappen schuld ist? Zuzutrauen wäre es ihm. „Wir sind doch Freunde, oder? Freunde erzählen sich solche Dinge.“ Oh nein, nun fängt er auch noch an, mein schlechtes Gewissen anzusprechen. Bin ich ein mieser Freund, wenn ich mein Privatleben lieber für mich behalten möchte? Ich weiß, dass Ruki mich nicht aus böser Absicht zu manipulieren versucht, er ist einfach neugieriger als für ihn oder seine Mitmenschen gut ist. Und ja, zugegeben, im tiefsten Inneren bin ich noch immer ein Einsiedlerkrebs, für den das Teilen von Erfahrungen und Emotionen mit anderen ein kaum verständliches Konzept ist. „Ich will mich doch nur wirklich für dich freuen können und nicht nur Theorien anhand deines Gesichtsausdrucks aufstellen.“ Nein, nun klimpert er auch noch mit den Wimpern. An jedem, wirklich jedem, selbst an Aoi, hätte mich diese Geste zum Lachen gebracht, weil sie einfach zu übertrieben gewesen wäre … nicht an Ruki. „Hör auf“, murmle ich und drehe mich von ihm weg, um die Nummer unseres Lieferanten aus dem Speicher des Telefons herauszusuchen. „Lass den armen Boten nicht noch länger auf seine Quittung warten, ja? Danach … reden wir.“ Die letzten beiden Worte kommen mir nur stockend über die Lippen und mir wird für einen kurzen Moment übel, als Ruki mit einem fröhlichen Laut zurück in den Verkaufsraum eilt. Will ich ihm wirklich erzählen, wie es mit Aoi und mir läuft? Wie läuft es eigentlich mit uns? Es ist ja nicht so, als wäre ich selbst schon zu einer zufriedenstellenden Antwort auf diese Frage gekommen. Ich drücke auf den grünen Hörer und lausche nur zweimal dem Verbindungssignal, bevor sich eine höfliche Frauenstimme meldet. Ich schildere ihr kurz mein Anliegen und habe alles binnen weniger Minuten zu meiner vollsten Zufriedenheit geregelt. Zeit, die Ruki genutzt hat, um sich ein weiteres Mal anzuschleichen. „Schieß los!“ „Himmel, Ruki.“ Früher oder später bringt er mich ins Grab, ich weiß es. Ganz davon abgesehen, dass ich mir noch immer nicht darüber klar geworden bin, ob ich über meinen Schatten springen und mit ihm reden oder lieber die Flucht ergreifen will. „Es gibt nicht viel zu erzählen“, versuche ich abzuwiegeln und lehne mich im Bürostuhl zurück, während Ruki seinen Hintern auf dem Schreibtisch parkt. „Das ist eine glatte Untertreibung“, behauptet er und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ihr müsst euch fast jeden Abend getroffen haben, wenn ich das richtig mitverfolgt habe.“ „Nun ja.“ Ich knete nervös meine Finger und spüre, wie meine Handflächen feucht werden. So muss sich ein Verbrecher während eines Verhörs fühlen, nur dass ich nichts verbrochen habe. Wie ich meine soziale Inkompetenz in Momenten wie diesen verfluche. „Ich war noch zweimal bei ihm.“ „Ehrlich? Zweimal nur?“ Ruki zieht überrascht beide Augenbrauen nach oben. Seine offenkundige Verblüffung nimmt etwas die Spannung aus der Situation und zaubert mir ein kleines Schmunzeln auf die Lippen. Seine Neugierde ist sein Kryptonit – eindeutig. „Er wohnt nicht gerade ums Eck und da Kai für die Klausuren lernen muss und du momentan die Abendschicht in der Boutique übernimmst, bin ich meist zu spät aus dem Laden gekommen, um noch zu ihm zu fahren.“ „Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte sicher mit Miyuki tauschen können.“ „Wir sind auf Videochats ausgewichen, das passt schon.“ „Jeden Abend?“ Wieder diese wackelnden Augenbrauen – ich sterbe. „Jeden Abend.“ Nickend bete ich, dass Rukis Neugierde nun befriedigt ist und er das Verhör beendet, aber Pustekuchen. „Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Wie ist Aoi so? Worüber redet ihr? Gib mir Futter, Uruha.“ „Wir …“ Ich schließe kurz die Augen und unverzüglich sehe ich Aois schönes Gesicht vor mir. Sein Lächeln, die leicht zusammengekniffenen Augen, wenn ich etwas sage, was ihn ganz besonders interessiert. Er ist immer so aufmerksam. „Wir lesen Iwakamis neues Buch zusammen. Also ich lese, er hört zu. Es ist … ich weiß auch nicht.“ Plötzlich sprudeln die Worte nur so aus mir heraus, als wäre ein Damm gebrochen, und es tut eigenartig gut, über ihn zu reden. Beinahe, als würde es mich Aoi näher bringen. „Er ist ein unglaublich interessanter Mensch. Sein Haus, ach was sag ich, seine Villa ist der Wahnsinn, aber nicht protzig, wie man vermuten würde, sondern irgendwie gemütlich. Er ist früher Motorrad gefahren, kannst du dir das vorstellen? Ich bin aus allen Wolken gefallen, als er mir davon erzählt hat. Er reist unheimlich gern und viel und verdient seinen Lebensunterhalt als Programmierer bei einem großen Softwareentwickler. Gitarre spielt er auch; Zufälle gibt es, was? Im Moment muss er diesbezüglich aber etwas kürzer treten, damit sich nicht zu viel Hornhaut auf seinen Fingerkuppen bildet.“ „Mh? Wieso das denn?“ „Er lernt die Blindenschrift.“ „Ach so.“ Bis eben hat mich Ruki interessiert angesehen und mich reden lassen, nun senkt er jedoch den Blick. „Muss heftig sein, was?“ „Ich denke schon.“ Ich nicke, nun selbst etwas meiner Euphorie beraubt. „Wir reden nicht sehr oft über seine Sehbehinderung. Ich will ihn nicht löchern und vermutlich kennen wir uns noch nicht gut und lange genug, dass er sich mir von sich aus anvertraut. Im Moment sind wir sowieso viel zu sehr mit dem Roman beschäftigt. Hast du den ersten Teil jetzt endlich gelesen?“ Ruki schüttelt den Kopf. „Das solltest du wirklich, Iwakami schreibt wundervoll. Wir haben sogar Reita damit angesteckt.“ „Reita? Der blonde Adonis, der den Roman für Aoi abholen wollte? Da fällt mir ein, warum ist Aoi damals nicht selbst vorbeigekommen?“ „Ja, genau der. Aoi hatte sich den Fuß böse verstaucht und …“ Ich zucke mit den Schultern. „Er wollte wohl das Haus nicht verlassen.“ Ich belasse es bei dieser Erklärung, ohne ins Detail zu gehen, und erstaunlicherweise scheint Ruki damit zufriedengestellt zu sein. „Und wie habt ihr Reita nun mit dem Buch angesteckt?“ „Er war einmal mit im Zimmer, als wir gelesen haben, und seither muss Aoi ihm immer Bescheid geben, sobald wir mit dem Roman anfangen.“ Ich lache kurz auf. „Er behauptet steif und fest, dass ihn die Story nicht interessiert und sich meine Stimme nur gut zum Entspannen eignet. Komisch nur, dass der erste Band der Reihe aus Aois Buchsammlung verschwunden ist, nachdem Reita uns zum ersten Mal zugehört hat. Er ist so ein eigenartiger Charakter, sag ich dir.“ Zur Untermalung meiner Worte schüttle ich den Kopf. „Anfangs fand ich ihn nur irritierend, aber seit ich ihn besser kennengelernt habe …“ ich zucke mit den Schultern, weil ich mir unsicher bin, wie ich die Empfindungen beschreiben soll, die sich einstellen, sobald ich an ihn denke. „Er ist unheimlich nett und aufmerksam und wenn man ihn und Aoi sieht, wie sie miteinander umgehen … ich weiß auch nicht … Man muss die beiden einfach lieb haben.“ „Lieb haben also? Soso“, nuschelt Ruki in seinen nicht vorhandenen Bart und ich spüre, wie meine Ohren heiß werden. Habe ich das tatsächlich so gesagt? Eine nicht genauer zu definierende Unruhe macht sich in meinem Magen breit, als wäre meinem Unterbewusstsein etwas klar geworden, woran es mich nicht teilhaben lassen will. Schnell versuche ich, Ruki und vor allem mich selbst von diesem Thema abzulenken, und rücke mit der erstbesten Information heraus, die mir in den Sinn kommt. „Wir gehen heute Abend übrigens zusammen ins Kino. Also Aoi, Reita, Reitas Kumpel Tora und ich. Frag nicht, wie die beiden es geschafft haben, mich zu überzeugen, dass das eine gute Idee ist. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr im Kino. All die Menschen …“ Bevor ich anfangen kann, näher über besagte Menschenmassen nachzudenken und mich dafür zu verfluchen, dass ich so einem unvernünftigen Vorhaben zugestimmt habe, schneidet Rukis Stimme in meine Überlegungen. „Warte mal …“ Die Stirn des kleineren Mannes hat sich in tiefe Falten gelegt und sein Blick ist nachdenklich, als er mich ansieht. „Wie kann Aoi Reita eigentlich immer Bescheid sagen, sobald ihr mit dem Romanlesen anfangt? Leben die beiden etwa zusammen?“ „Ja. Reita scheint im Erdgeschoss der Villa zu wohnen, Aois Räume befinden sich im zweiten Stock und den Ersten teilen sie sich. Zumindest glaube ich, dass es so ist.“ „Klingt für mich wie eine Wohngemeinschaft.“ „Keine Ahnung, möglich?“ „Tut mir leid, wenn ich jetzt vielleicht unsensibel klinge, aber was sind die beiden? Brüder? Freunde? Mehr?“ „Ich … ich weiß es nicht.“ Niedergeschlagen lasse ich die Schultern sinken. Es hätte mir klar sein müssen, dass wir früher oder später an diesem Punkt ankommen. Die letzten Wochen hätten so erfüllend sein können, würde nicht Reita und sein Status in Aois Leben wie ein Damoklesschwert über allem schweben. „Wie, du weißt es nicht? So etwas fragt man doch.“ „Du vielleicht.“ „Ja aber … was ist, wenn Aoi und er ein Paar sind?“ Ruki spricht aus, was mir seit Tagen schlaflose Nächte bereitet. Mein Herz krampft. Ich drehe mich zum PC, über dessen Monitor ein altmodischer Bildschirmschoner seine Kreise zieht. „Ich hab die Ladenglocke gehört“, schwindle ich und schließe für einen Moment die Augen. „Gehst du bitte nachsehen, ob jemand Beratung braucht?“ Ich höre, wie Ruki von der Tischplatte rutscht und mit leisen Schritten aus dem Büro geht. Allerdings hätte mir klar sein müssen, dass er sich mit meinem Schweigen nicht zufriedengibt. „Ich helfe dir dabei, herauszufinden, wie Aoi und Reita zueinanderstehen.“ Ich lache humorlos auf und schnaube: „Ach ja?“ Ich werde meine nächsten Worte bereuen, das weiß ich, und spreche sie dennoch aus. „Und wie willst du das anstellen?“ „Überlass das nur mir. Ich schau gleich nach, ob ich für Kai und mich noch Tickets fürs Kino bekomme.“ „Fürs Kino?“ Stirnrunzelnd drehe ich mich zu Ruki, doch der kleinere Mann ist bereits verschwunden. Nur langsam begreife ich, was er vorhat und mir schwant Übles. Das kann er nicht ernst meinen, oder? Oder? Kapitel 12: Yakusoku- Verabredung --------------------------------- Aoi:   „Ich geh noch schnell eine rauchen“, sagt Reita neben mir und bevor ich ihm nur halb bei der Sache antworten kann, spüre ich eine Berührung an meinem Oberarm. „Begleitest du mich?“ Ich nicke und sträube mich nicht, als er mich an den Gruppen von Vergnügungssuchenden vorbei aus dem Foyer des Kinos hinaus in die Kälte der Nacht dirigiert. Eigentlich wäre ich lieber bei Tora, Uruha und dessen amüsanten Freunden geblieben, die uns die Wartezeit mit Anekdoten aus dem Leben als Buchverkäufer verkürzt haben, aber mir ist dieser gewisse Unterton in Reitas Stimme aufgefallen. Ich ahne, was ihm missfällt, will es aber aus seinem Mund hören.   „Was liegt dir quer im Magen?“, frage ich und drehe mich etwas seitlich zu ihm, um den Rauch seiner Zigarette nicht abzubekommen, als wir vor dem Kino angekommen sind. Die kühle Nachtluft lässt mich frösteln und ich schließe meine Winterjacke, um mich tiefer in den wärmenden Stoff kuscheln zu können.   „Warum hat Uruha seine beiden Arbeitskollegen mitgebracht?“ Dachte ich es mir doch. Ich hebe die Schultern in einer unwissenden Geste.   „Keine Ahnung, das hättest du ihn und nicht mich fragen müssen.“   „Du hast doch mit ihm telefoniert, bevor wir uns getroffen haben.“   „Ja.“   „Also?“   „Er hatte mich nur gefragt, ob er sie mitbringen könnte, und ich habe ja gesagt.“   „Oh Mann, Aoi.“ Ich kann sein Augenrollen förmlich sehen, auch wenn ihn das wenige Licht der Straßenbeleuchtung in für mich undurchdringliche Schatten hüllt.   „Was denn? Es war von vornherein geplant, dass Tora und du mitkommen, warum sollte ich also etwas dagegen haben, wenn Uruha auch jemanden mitbringen will?“   „Weil …“ Reita knurrt frustriert und ich vermute, dass er sich in einer eben solchen Geste durchs Haar fährt. Ich lächle. Manche Dinge ändern sich nie. Ich habe es schon immer verstanden, ihn aus der Fassung zu bringen.   „Uruha war nicht gerade Feuer und Flamme, als ich den Kinobesuch vorgeschlagen habe. Wenn er sich in Begleitung seiner Freunde wohler fühlt, ist das doch eine tolle Sache.“ Wieder muss ich daran denken, wie zwiegespalten Uruha auf mich gewirkt hat, als ich ihn vorgestern gefragt habe, ob er mitkommen will. Einerseits hatte ich den Eindruck, dass er gern Zeit mit mir verbringt, andererseits wirkte er beinahe ängstlich auf mich. Warum? Wovor fürchtet er sich?   „Ja, schon klar“, unterbricht Reita meinen Gedankengang. Ich meine ja nur, dass du so bei ihm nie weiterkommst.“   „Ehrlich, Rei, hätte ich geplant, dass das hier mehr als ein legerer Kinobesuch wird, hätte ich Tora und dich zu Hause gelassen. Ich wollte mal wieder raus, etwas erleben, und das ganz ohne Hintergedanken.“   „Du bist unverbesserlich.“   „Ich bin nur nicht so ungeduldig wie du.“ Mein Lächeln weitet sich zu einem Grinsen aus, als ich Reita schnauben höre. „Erzählst du mir jetzt, was dich wirklich stört?“   „Seine Arbeitskollegen, Freunde, was auch immer sie sind, sind mir suspekt, vor allem dieser kleine Blonde.“   „Ruki?“ Ich lache. „Du erträgst es doch nur nicht, dass dir mal jemand Kontra bietet.“   „Jemand anderes als du, meinst du wohl.“   „Genau das.“ Ich lehne mich in seine Richtung, bis ich den Druck seiner Schulter an der meinen spüre. Augenblicklich löst sich ein Teil meiner Anspannung; Reita ist mein Anker im Meer der Dunkelheit, die mich umgibt.   „Er versucht, mich auszuhorchen.“   „Na, wenn dir das auffällt, scheint er seine Sache nicht sonderlich gut zu machen. Seien wir froh, dass du nicht auf den Mund gefallen bist, nicht wahr?“   „Ich wollte nur, dass du im Bilde bist.“   „Das bin ich, keine Sorge.“   „Du solltest mit Uruha reden, bevor es zu Missverständnissen kommt.“   „Und das werde ich … es hat sich nur noch nicht ergeben.“   „Warte nicht zu lange.“ Ich nicke und Reita seufzt. Es ist kein unzufriedener Laut, eher einer, der mir zeigt, wie gut und lange wir uns kennen. Er rückt näher, legt seinen Arm um mich. „Bist du glücklich?“   „Jetzt gerade?“ Er brummt. „Ja, das bin ich.“   „Er tut dir gut.“ Seine Aussage zaubert ein Lächeln auf meine Lippen und wieder kann ich nur nicken. Die Gespräche der anderen Kinobesucher rauschen um uns herum, als stünden wir am Meer, Reita die Sonne, die mich wärmt.   „Ich denke, damit bin ich nicht allein, oder?“ Seine Brust bebt unter einem stummen Lachen, bevor er tief den Rauch seiner Zigarette einatmet und ihn zischend wieder entlässt. Ich weiß, dass ich keine verbale Antwort auf meine Frage erhalten werde, aber das ist okay.   „Hi ihr zwei, kommt ihr rein? Der Kinosaal ist gerade aufgemacht worden.“ Unwillkürlich breitet sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus, als Uruhas schöne Stimme das Rauschen der fremden Unterhaltungen durchschneidet. Nur warum klingt sie so zaghaft? Verunsichern ihn die vielen Menschen um uns herum oder liegt es an meiner Nähe zu Reita? Innerlich nicke ich mir zu. Mein Freund hat recht; es wird höchste Zeit, mit Uruha zu sprechen. Lächelnd löse ich mich, im Wissen, dass Reita mir diese Geste nicht übel nehmen wird. Langsam gehe ich in die Richtung, aus der Uruhas Stimme gekommen war, Reita und die Gewissheit in meinem Rücken, dass er für mich sieht und aufpasst, dass ich nicht gegen etwas oder jemanden stoße.   „Darf ich mich bei dir unterhaken?“, frage ich, als ich bei Uruha angekommen bin, und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, als er mir ohne Zögern seinen Arm anbietet. Normalerweise fühle ich mich sicherer, meinen Blindenstock in der Hand zu haben, selbst wenn ich in Begleitung eines Sehenden unterwegs bin. Aber in Reitas Gegenwart und ganz offensichtlich nun auch in Uruhas gönne ich mir den Luxus, mich darauf zu verlassen, dass sie für mich sehen. In diesen Augenblicken kann ich im Meer der Anonymität untergehen, steche für einmal nicht aus der Masse hervor. Hier und jetzt bin ich nur Aoi, nicht der bedauernswerte Kerl, der immer schlechter sieht, nicht der Blinde.   „Wir haben ein Problem“, höre ich Kai sagen, als wir bei den anderen vor dem nun geöffneten Kinosaal ankommen.   „Ja?“, erkundige ich mich, „Sagt nicht, dass das Popcorn ausverkauft ist. Ich hab mich schon so darauf gefreut.“ Meine Sorge zieht allgemeine Erheiterung nach sich, was ich ehrlich gesagt nicht nachvollziehen kann. Wissen die eigentlich, wie lange ich kein echtes Kino-Popcorn mehr gegessen habe?   „Irgendwas ist mit der Reservierung schief gelaufen“, erklärt Tora. „Statt Karten für sechs Plätze nebeneinander haben wir nun welche für zwei in den vorderen Reihen und vier hinten. Ändern lässt sich da auch nichts mehr, weil der Film ausverkauft ist.“   „Oh, das ist schade.“ Reitas Stimme neben mir klingt so süßlich und übertrieben bedauernd, dass ich mein letztes Hemd darauf verwetten würde, dass er an diesem angeblichen Missverständnis schuld ist. Wie auch immer er das angestellt hat.   „Schade, aber nicht schlimm, oder Uruha?“ Ich drehe mich zu ihm und muss unwillkürlich schmunzeln. Hat er nicht damit gerechnet, dass ich ihn anspreche, oder warum sieht er mich an, als hätte er einen Geist gesehen?   „Ehm, wie meinst du das?“   „Wenn es dich nicht stört, könnten wir beide die vorderen Plätze nehmen. Ich erkenne zwar keine Details auf der Leinwand, aber je weiter vorn wir sitzen, desto mehr Bewegungen sehe ich. Ist interessanter für mich, wenn du verstehst.“   „Na klar.“ Er nickt heftig. „Das können wir sehr gern so machen, mich stört das nicht.“ Er sieht zu den anderen auf. „Oder wollt ihr beiden lieber vorne sitzen, Tora? Reita? Oder ihr?“ Alle Angesprochenen geben synchron verneinende Laute von sich, als hätten sie es einstudiert. Gerade so kann ich mir ein Kichern verkneifen. Kann es sein, dass nicht nur Reita es sich zur Mission gemacht hat, Uruha und mich zusammenzubringen? Diese Vorstellung ist nicht nur sehr interessant, sondern wärmt auch mein Herz. Ruki und Kai sind definitiv nicht nur Arbeitskollegen und ich bin froh, dass Uruha Freunde wie sie gefunden hat. Einem Impuls folgend drücke ich seinen Oberarm und lehne mich kurz gegen seine Schulter. Er verspannt sich nicht, wie ich es beinahe befürchtet habe, sondern spiegelt für einen Moment meine Geste. Innerlich seufze ich hingerissen auf, äußerlich sehe ich erfreut in die Runde.   „Dann ist das geklärt, würde ich sagen. Genießt den Film und tut nichts, was ich nicht auch tun würde.“ Reita schnaubt und mein Lächeln vertieft sich, bevor sich Uruha etwas zögerlich in Bewegung setzt und ich ihm folge. „Hast du wirklich nichts dagegen, mit mir vorn zu sitzen? Schließlich hast du deine Freunde extra mitgebracht.“   „Mitgebracht würde ich das nicht nennen.“ Uruha spricht so leise, dass ich Probleme habe, ihn zu verstehen.   „Entschuldige, was meintest du?“   „Ach gar nichts. Es stört mich auf jeden Fall absolut nicht, nicht bei den anderen zu sitzen.“   „Okay.“ Ich rücke erneut etwas näher an ihn heran, als er mir die Treppen ansagt, die erst nach oben führen, um uns dann im Abstand von je zwei Stufen und vier Schritten geradeaus nach unten in die korrekte Reihe zu bringen. „Du machst das wirklich großartig“, lobe ich, als ich sitze und auch der Rest meiner Anspannung von mir abfällt. Geschafft. Etwas Angst habe ich immer, zu stürzen oder mich anderweitig zu verletzen, besonders wenn Stufen mit im Spiel sind, aber wie ich schon sagte, Uruha hat seine Sache richtig gut gemacht.   „Danke“, murmelt er verlegen. Himmel, er ist so niedlich. „Du musst mir aber bitte sagen, wenn ich zu viel rede oder auch zu wenig. Ich will, dass du dich sicher fühlen kannst.“   „Das kann ich, dank dir.“ Ich traue es mich und greife nach seiner Hand. „Danke.“   „Nicht dafür.“ Ist es ein gutes Zeichen, dass er seine Hand nicht zurückzieht und stattdessen unsere Finger miteinander verschränkt? Ich will daran glauben. „Willst du dein Popcorn haben?“   „Muss ich dich dafür loslassen?“   „Mmmh, ich glaube, das bekommen wir auch so hin.“   „Dann gerne.“ Kapitel 13: Kanjou – Gefühle ---------------------------- Uruha:   Nur widerwillig setze ich mich gerader hin, nachdem sich Aoi aufgerichtet hat und die Wärme von meiner Schulter verschwunden ist. Ich spüre seine Präsenz weiterhin und kann kaum fassen, dass wir den ganzen Film aneinander gelehnt verbracht haben. Als Vorwand dienten uns Aois Kopfhörer, obwohl eine kleine Stimme in mir sagt, dass wir diese Ausrede gar nicht gebraucht hätten. War ich es nicht gewesen, der zu Beginn des Films Aois Hand gar nicht mehr loslassen wollte? Ich senke den Kopf, sodass mir meine Haare ins Gesicht fallen und die leichte Röte verbergen, die in meine Wangen gestiegen ist.   „Hier.“ Ich befreie mein rechtes Ohr von dem Kopfhörer und reiche ihn Aoi, der das Kabel zusammenwickelt und in seinem Rucksack verstaut. „Es war unglaublich interessant, den Film mit Audiodeskription anzusehen“, gebe ich zu und freue mich über das Strahlen, das meine Worte auf sein Gesicht zaubern. Es freut mich, dass ich seine Bedenken, die zusätzliche Erzählstimme im Ohr würde mich ablenken oder nerven, zerstreuen konnte.   „Ehrlich? Das freut mich.“   „Ganz ehrlich. Das Konzept ist mir ja nicht neu, aber mich mal bewusst drauf einzulassen schon.“   „Ach, du kennst dich mit Audiodeskription aus? Ich hab eher die Erfahrung gemacht, dass die meisten nicht wissen, wovon ich rede, wenn ich davon erzähle.“   „Auskennen ist zu viel gesagt.“ Ich lächle etwas peinlich berührt und winke ab. „Ich bin das ein oder andere Mal darüber gestolpert, wenn ich versehentlich den Tonkanal am Fernseher gewechselt habe.“   „Ach so.“ Aois Lachen ist ansteckend und wunderschön zugleich.   „Ich musste mich die ersten fünf Minuten an die Stimme im Ohr gewöhnen, aber dann war es stellenweise richtig witzig. Der Sprecher hat den Humor des Films echt verstanden und manche Details hätte ich vermutlich ohne die zusätzliche Beschreibung erst bemerkt, wenn ich den Film öfter gesehen hätte.“   „Heißt das, du würdest noch mal mit mir ins Kino gehen?“   „Absolut.“ Ich erwidere Aois Grinsen, stehe auf und strecke ihm meinen Arm entgegen. ER hängt sich ein und wir schlendern gemütlich aus dem Kinosaal. Es ist schön, dass es die Möglichkeit einer Bildbeschreibung mittlerweile auch für die große Leinwand gibt. Zwar wird diese noch nicht für jeden Film produziert, der in den Kinos gezeigt wird, aber der erste Schritt ist getan – die Technik ist vorhanden. Irgendwann werden hoffentlich die meisten Kinofilme über diese Art der Barrierefreiheit verfügen, so wie es auf Streaming-Plattformen über die Jahre beinahe selbstverständlich geworden ist. Ich stimme Aoi allerdings voll und ganz zu; generell ist hier noch deutlich Luft nach oben.   „Na, wie hat euch der Film gefallen?“, fragt Tora neugierig, als wir im Foyer zu den anderen stoßen. Eine lebhafte Diskussion entbrennt, bei der ich mich etwas zurückhalte. Ich will nicht zugeben, dass Teile der Handlung komplett an mir vorbeigegangen sind, weil ich mich auf Aois Atmung, seinen Duft oder schlicht auf die angenehme Wärme konzentriert habe, die von ihm ausgegangen war. Wie sehr wünsche ich mir, die Zeit zurückdrehen zu können, um die letzten hundertfünfunddreißig Minuten noch einmal zu erleben.   „Du bist so still“, flüstert eine weiche Stimme in mein Ohr und sorgt dafür, dass sich gefühlt jedes noch so kleine Härchen an meinem Körper aufrichtet. „Ist alles in Ordnung?“ Ich nicke, weil ich meiner Stimme nicht traue, und sehe zur Seite, direkt in Aois schöne Augen. „Willst du auch noch etwas trinken gehen?“   „Trinken?“ Ich blinzle, wie aus einem Traum erwacht, und fühle mich etwas dümmlich, wie ich hier stehe und nur einsilbige Fragen über die Lippen bekomme.   „Ja, trinken“, trällert Ruki und knufft mir in die Seite. „Du weißt schon, die Tätigkeit, den Organismus mit lebensnotwendiger Flüssigkeit zu versorgen.“   „Ich bezweifle, dass Bier und Sake zu den lebensnotwendigen Flüssigkeiten gehören.“   „Ach Kai, sei kein Spielverderber.“   „Also ich würde mich rausnehmen“, schaltet sich Aoi ein und unterbricht damit die spielerische Zankerei meiner beiden Kollegen. Ich für meinen Teil habe es noch immer nicht geschafft, meine Absichten kundzutun, aber das ist nichts Neues. Ich bin so unfähig. „Bei mir bahnen sich Kopfschmerzen an. War wohl ein bisschen viel Flackern auf der Leinwand.“   „Wie schlimm ist es?“ Reita, der sich bis eben noch köstlich über Kais Versuche amüsiert hat, Ruki davon zu überzeugen, dass Alkohol für keinen Organismus als lebensnotwendige Flüssigkeit durchgeht, ist von einer auf die andere Sekunde ernst geworden.   „Nicht so schlimm, dass eine Schmerztablette und Ruhe das nicht wieder richten könnten.“   „Gut, dann sollten wir zusehen, dass wir nach Hause kommen.“   „Och, schade“, kommt von Kai und Ruki fast zeitgleich und auch Tora sieht so aus, als hätte ihm Reita sein Lieblingsspielzeug weggenommen.   „Ich …“ Mir versagt die Stimme und mit einem Mal schlägt mir mein Herz bis zum Hals. Ich bin kurz davor, den Kopf zu schütteln, nur damit die neugierigen Blicke der anderen von mir ablassen, reiße mich aber zusammen. „Ich hab keine gesteigerte Lust darauf, noch etwas trinken zu gehen. Ich könnte mit Aoi fahren; der Umweg stört mich nicht.“ Aoi an meiner Seite bewegt sich leicht und ich spüre seine Finger, die ganz kurz die meinen umschließen. Ich widerstehe dem Drang, ihn anzusehen, oder debil vor mich hin zu grinsen, und bin nur froh, dass ich seinen Wink mit dem Zaunpfahl nicht fehlgedeutet habe.   „Bist du dir sicher, dass es dich nicht stört?“, versichert sich Aoi und ich kann nicht sagen, ob er seinetwillen fragt oder um unsere kleine Scharade für die anderen glaubhafter zu machen. Nonchalant zucke ich mit den Schultern und sehe erst ihn, dann Reita und den Rest unserer Gruppe an.   „Ich bin mir sogar sehr sicher. So schön der Kinobesuch mit euch war, so froh bin ich, schnellstmöglich weg von all den Leuten zu kommen.“   „Mensch Uruha, du bist und bleibst ein Einsiedlerkrebs.“   „Motz nicht rum“, kontere ich und schaffe es gerade so, Ruki nicht die Zunge herauszustrecken. „Ich bin erst letzte Woche mit Kai und dir in dieser dubiosen Bar versauert. Mein Pensum an zwischenmenschlicher Interaktion ist für diesen Monat definitiv erfüllt.“   „Dass er sich aber auch immer wie eine Diva zieren muss“, flüstert der zu kurz geratene Kerl für alle hörbar in Kais Richtung, der uns daraufhin nur mit seinem strahlenden Grinsen beglückt. Ist es nicht immer wieder schön, wie leicht ich meine Mitmenschen fröhlich stimmen kann? Ein Augenrollen zu unterdrücken, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, aber ich schaffe es.   „Ich weiß nicht, was du hast.“ Aoi verwundert mich, indem er in diese unsinnige Unterhaltung einsteigt. „Als ich Uruha gefragt habe, ob er heute mitkommen will, hat er sich überhaupt nicht gesträubt.“   Was zum …? Mein Mund hat sich selbstständig gemacht und steht ein kleines Stück offen. Aoi hat Ruki eiskalt angelogen! Ich habe mich geziert und er musste mich sehr wohl überreden. Zugegeben, Ruki und Kai hätten sich wahrscheinlich die Zähne an meiner Abneigung ausgebissen, abends in die Innenstadt zu fahren, aber hey, so genau wollen wir das nicht nehmen.   „Genauso war es.“ Ich nicke, noch bevor mir richtig klar wird, was ich tue. „Es kommt eben nur darauf an, wie man mich fragt.“ Schmunzelnd strecke ich meinen Ellenbogen zur Seite aus und seufze innerlich erleichtert auf, als Aoi ohne zu zögern meine angebotene Hilfe annimmt. „Schönen Abend euch noch und übertreibt es nicht, ihr müsst morgen den Laden aufsperren“, sage ich an Ruki und Kai gerichtet und nicke Tora und Reita zum Abschied zu. Rukis Gesichtsausdruck ist köstlich – eine Mischung aus Unglaube, Empörung und … Amüsement? Der Kurze überrascht mich immer wieder.   „Take care, the both of you“, schickt uns Reita noch hinterher und ich nicke ihm über die Schulter hinweg zu.   „Er macht sich immer Sorgen.“   „Das ist so lieb von ihm“, murmle ich und muss unwillkürlich lächeln. Die Frage, warum mir Reitas Fürsorge schmeichelt, schiebe ich allerdings schnell weit von mir.   „Ja, das ist es.“ Aoi seufzt und seine bis eben noch ausgelassene Stimmung scheint sich eintrüben zu wollen. Das kann ich nicht zulassen.   „Sag mal …“, wispere ich verschwörerisch und als er fragend die rechte Braue hebt, setze ich erklärend nach: „Bei Ruki weiß man nie, ob er nicht gerade sein Raubtiergehör ausgepackt hat. Der Kerl ist neugieriger als eine Katze.“   „Raubtiergehör, soso.“ Aoi lacht und ich hätte in diesem Moment nicht beschreiben können, wie sehr mich dieser kleine Laut freut. „Aber was willst du mich denn Geheimnisvolles fragen, was er nicht hören soll?“   „Geheimnisvoll ist es nicht, aber vielleicht etwas privat.“ Ich zucke mit den Schultern. „Außerdem muss Ruki nicht alles wissen.“   „Verstehe, also?“   „Was hat es mit Reita und seinem sporadischen Englisch auf sich?“   „Es erstaunt mich, wie lange du es ausgehalten hast, nicht danach zu fragen. Ich hätte schon viel früher damit gerechnet.“ Ein leises Lachen kommt ihm über die Lippen, bevor er den Kopf dreht, um mich ansehen zu können. Plötzlich liegt in seinem Blick so viel Zuneigung, dass mein Herz nicht weiß, was es fühlen soll. Gilt sie mir? Reita? Uns beiden? „Reita ist in Michigan aufgewachsen. Als er dreizehn war, musste die Firma seines Vaters Konkurs anmelden und die Familie ist zurück nach Japan gegangen. Er ist zwar zweisprachig aufgewachsen, hatte mit Japanisch also nie Probleme, trotzdem schleicht sich auch heute noch hier und da ein englischer Satz ein.“ Aois Blick geht in die Ferne und ich frage mich, ob er in Erinnerungen an längst vergangene Tage schwelgt. Meine Neugierde ist geweckt, ich will mehr über diesen jungen Reita erfahren, will wissen, wie Aoi und er sich kennengelernt haben. Haben sie dieselbe Schule besucht? Haben sie sich über ihre Eltern kennengelernt? Aber da spricht Aoi weiter und ich bin froh, mir meine Fragen verkniffen zu haben. Ich werde sie Reita selbst stellen … wenn ich den Mut dazu finde. „Ich glaube ja, es erinnert ihn an seine Kindheit, auch wenn er behauptet, dass er das nur tut, weil ihn das Englisch interessanter macht.“ Ich kann nicht anders, ich muss mir die Hand vor den Mund schlagen, um mein Lachen dahinter zu verbergen. Reita ist wirklich so ein entzückend verschrobener Kerl. „Was denn?“ Aoi grinst offen. „Findest du etwa nicht, dass es ihn interessanter macht?“   „Um ehrlich zu sein, hat es mich anfangs nur irritiert.“   „Mh, nur anfangs?“   „Ja, ich hab mich schnell daran gewöhnt. Mittlerweile finde ich es …“ Niedlich ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommen will, aber ich werde mich hüten, das laut auszusprechen.   „Ja~?“, fragt Aoi lauernd.   „Ehm … charmant. Es passt irgendwie zu ihm.“   „Das sag ich ihm, er wird sich freuen, dass du ihn charmant findest.“   „Aoi!“   „Was denn?“ Ich schnaube und spare mir einen Kommentar, bevor ich mir mein kleines Grab noch tiefer schaufele. Aoi legt für einen Moment den Kopf an meine Schulter und augenblicklich durchflutet Wärme jeden Winkel meines Körpers. „Nimm mir mein Necken bitte nicht übel, Uruha.“   „Keine Sorge, das tue ich nicht. Ich bin nur weitaus weniger schlagfertig als du.“   „Und das ist gut so, würde ich sagen.“   Ich summe verstehend; Schlagfertigkeit ist in unserer Gesellschaft kein Charakterzug, der erstrebenswert ist. Ich finde das schade, denn ich mag Aois offene, spontane Art unglaublich gern. Vorsichtig lotse ich uns um eine Gruppe junger Frauen herum, die sich genau vor dem Ausgang platziert haben und sich für meinen Geschmack mit etwas zu viel Körpereinsatz über den soeben gesehenen Film unterhalten. Erst als wir heil draußen angekommen sind, kommt mir wieder unser Gespräch mit den anderen in den Sinn. Auch hier hat Aoi bewiesen, wie schlagfertig er ist.   „Danke übrigens, dass du vorhin mitgespielt hast.“   „Was meinst du?“   „Na ja, wir wissen beide, dass ich nicht gerade Feuer und Flamme war, als du mich gefragt hast, ob ich mit ins Kino will.“   „Ach das, immer gern. Außerdem war das nicht ganz uneigennützig.“   „Mh? Das musst du mir jetzt erklären.“   „Der Reaktion deiner Freunde nach zu urteilen, kann ich mir etwas darauf einbilden, dir den Kinobesuch schmackhaft gemacht zu haben. So ein bisschen Bewunderung für mein angebliches Überzeugungstalent einzuheimsen, tat echt gut. Außerdem haben wir vorhin quasi schon unser nächstes Kino-Date verabredet.“ Ich höre nur Date und meine Ohren stehen gefühlt in Flammen. Irgendetwas, was ich nur als Stottern beschreiben kann, verlässt meinen Mund und ich würde am liebsten hier und jetzt im Erdboden versinken. „Du bist süß, wenn du verlegen bist.“   „Und du weißt hoffentlich, dass du es mit solchen Aussagen nicht besser machst?“   „Dessen bin ich mir mehr als bewusst.“ Aoi drückt meinen Oberarm, während wir den nicht allzu langen Weg zur U-Bahnhaltestelle antreten. Es ist kalt geworden, der Gehweg ist rutschig und bietet mir die perfekte Ausrede, ihn noch näher an mich zu ziehen. Ich wünschte, wir hätten nicht so viele Lagen Stoff zwischen uns, so wie im Kinosaal eben, aber ich finde mich damit ab, dass ich nicht alles haben kann. Aoi seufzt leise, als uns die warme Luft des Untergrunds entgegenschlägt.   „War dir kalt?“   „Ein wenig.“   „Die nächste Bahn müsste unsere sein.“   „Mhmh.“   Ich wende mich ihm zu, als wir am Bahnsteig angekommen sind, und mustere ihn. Er ist in den letzten Minuten eigenartig still geworden, sieht aber nicht so aus, als missfiele ihm irgendetwas. Ein feines Lächeln ziert seine Lippen und wieder lehnt er gegen meine Seite, wirkt gelöst. Mein Herz macht einen Hüpfer – bin ich dafür verantwortlich? Fühlt er sich in meiner Gegenwart wohl? Sicher genug, um sich entspannen zu können? Ich setze zum Reden an, noch bevor ich wirklich weiß, was ich sagen will. Genau in diesem Augenblick fährt unsere Bahn ein und sowohl das Quietschen der Bremsen als auch der Fahrtwind verschlucken meine Worte. Wir steigen ein und ich bin nicht sicher, ob ich froh über die verpasste Gelegenheit bin oder nicht.   „Glück muss man haben, wir können uns setzen.“ Ich gehe auf die eben erspähten freien Plätze zu und lasse mich nieder, Aoi neben mir.   „Tut mir leid, dass ich so mundfaul bin, aber irgendwie war der Abend anstrengender, als ich bis eben gedacht habe.“   „Das macht doch nichts, alles gut. Wenn du willst, kannst du etwas dösen, ich passe auf, dass wir unsere Haltestelle nicht verpassen.“   „Lieb von dir, dass du mich nach Hause bringst.“   „Das versteht sich von selbst.“   Aois Mundwinkel sinken leicht herab und ich beeile mich zu sagen, dass ich gern noch mehr Zeit mit ihm verbringen will. Ich denke, ich habe die richtigen Worte gefunden, denn mit einem leisen, zufriedenen Seufzen lehnt er sich wieder gegen mich und schließt die Augen. Seine Hand schleicht sich auf meinen Oberschenkel, wo ich sie einfange und unsere Finger miteinander verschränke. Oh ja, so ist es perfekt.   Uns gegenüber sitzt eine junge Frau, die uns verstohlen über den Rand ihres Buches beobachtet. Als sie meinen Blick bemerkt, senkt sie eilends den Kopf und wirkt angestrengt in ihre Lektüre vertieft. Der ältere Herr neben ihr hingegen grinst mich offen an, was seine Falten um Mund und Augen zu tiefen Furchen werden lässt. Ich lächle zurück, glücklich darüber, dass mir soeben wieder einmal bewiesen wurde, dass in unserer Gesellschaft langsam aber sicher ein Umdenken stattfindet. Mein Blick bleibt an der Dunkelheit vor den Fenstern hängen und insgeheim wünsche ich mir, in hohem Alter auch so runzlig zu sein, wie dieser Opa, und Aoi noch immer an meiner Seite zu wissen. Kapitel 14: Kinmitsu - Nähe --------------------------- Aoi:   Ich bin tatsächlich eingeschlafen, ist das zu fassen? Gähnend laufe ich neben Uruha her und versuche, wieder etwas Wacher zu werden. Die kalte Nachtluft hilft mir dabei leider nur wenig und sorgt vielmehr dafür, dass ich zu zittern beginne. Ob Uruha weiß, wie sehr ich ihm vertraue, um mich so in seiner Gegenwart entspannt zu haben? Ich bin grundsätzlich nervös, wenn ich unterwegs bin, und Bahnfahren ist da keine Ausnahme. Immer hängt mir die Angst im Nacken, die Durchsagen nicht richtig zu verstehen und zu weit zu fahren oder an einem Bahnhof zu stranden, an dem ich mich nicht auskenne. Früher, als ich noch mehr gesehen habe, konnte ich besser mit unvorhergesehenen Ereignissen umgehen, aber nun? Nun bin ich zu einem wahren Kontrollfreak mutiert, der jede Eventualität mindestens einmal im Kopf durchspielen muss, bevor er sich überhaupt traut, das Haus zu verlassen. Einschlafen in der Bahn? Horrorszenario Nummer eins, selbst wenn Reita mich begleitet.   Reita. Ich verziehe kurz die Lippen, als mir seine Besorgnis wieder in den Sinn kommt. Ich weiß, dass er es nur gut meint, und wäre ich an seiner Stelle, würde ich mir ebenso Sorgen um ihn machen. Dennoch … Ich fürchte mich davor, irgendwann zu einer Belastung für ihn zu werden, darum bin ich froh, dass er mit den anderen noch etwas trinken gegangen ist. Trotz seiner anfänglichen Skepsis Ruki gegenüber hatte ich vorhin den Eindruck gewonnen, er fände Uruhas Arbeitskollegen mittlerweile doch nicht mehr so übel. Was einhundertfünfunddreißig Minuten Film nicht alles bewirken können. Ich muss ihn morgen fragen, wie Kai und Ruki das angestellt haben. Kurz huscht ein Lächeln über meine Lippen. Reita soll Spaß haben und sich nicht ständig um mich kümmern müssen. Die Zweifel kann ich aber trotzdem nicht abstellen. War es in Ordnung, allein mit Uruha nach Hause zu fahren? Reita meinte zwar, es wäre an mir, ihm alles zu sagen, aber sollte er nicht auch dabei sein? Immerhin geht es nicht nur um mich. Ich unterdrücke ein Seufzen und lehne mich ein wenig stärker gegen Uruha. Ich kann seine Körperwärme selbst durch unsere Winterjacken hindurch spüren und sie vertreibt ein wenig das Frösteln, das von mir besitzergriffen hat. Als wir unter dem Schein einer Straßenlaterne hindurchgehen, hebe ich den Kopf, versuche, sein Profil zu erkennen. Aber er sieht konzentriert nach vorne und seine Haare verbergen sein schönes Gesicht vor mir. In meinem Inneren breitet sich unangenehme Unruhe aus, als ich den Kopf wieder senke. Ich fühle mich zwiegespalten, eine Emotion, die ich bislang in seiner Gegenwart noch nicht gespürt habe und auf die ich gut und gern hätte verzichten können.   „Da sind wir“, murmelt Uruha. Im selben Moment springt die automatische Beleuchtung über der Eingangstür an und hüllt uns in gelbliches Licht. Ich blinzele, so in meinen Gedanken versunken, dass ich kaum etwas von unserem Weg mitbekommen habe. Oh Mann, er muss mich für einen ausgewachsenen Griesgram halten.   „Tut mir leid“, sage ich zerknirscht und krame in meinem Rucksack nach dem Hausschlüssel. „Ich wollte dich nicht die ganze Zeit über anschweigen, keine Ahnung, was gerade mit mir los ist.“   „Du bist müde, das ist dir nicht zu verübeln. Mir geht es, um ehrlich zu sein, nicht anders.“   „Du …“ Ich räuspere mich und nehme allen Mut zusammen. „Wenn du magst, kannst du sehr gern über Nacht bleiben.“ Das Angebot kommt mir nur stockend über die Lippen und nun hängt es wie etwas Lebendiges zwischen uns. War das zu vorschnell? Schließlich kennen wir uns noch nicht lange und Uruha sagte vorhin noch, dass er froh sei, wenn er wieder allein und weg von all den Leuten wäre. Vielleicht hat er damit auch mich gemeint?   „Das ist … wirklich nett von dir, aber … Ich will dir keine Umstände machen und außerdem …“ Er senkt den Kopf, als wäre ihm das Thema unangenehm und ich befürchte, dass es das auch ist. „So weit ist es nicht zurück zum Bahnhof.“   „Mh, stimmt aber …“ Ich beiße mir auf die Unterlippe, schaffe es jedoch nicht, den Mund zu halten. „Du musst noch bis nach Hause fahren, das dauert auch seine Zeit. Ich will dir nichts aufschwatzen, aber schlauer wäre es, du würdest hierbleiben.“   „Ich … ehm …“ Ich seufze innerlich und gebe auf. Das Thema ist ihm definitiv unangenehm und es ist nicht fair von mir, länger darauf herumzureiten. Ich hätte erst gar nicht damit anfangen sollen, aber … aber … Etwas in mir will ihn einfach nicht gehen lassen.   „Du schläfst nicht gern in fremden Betten, was?“ Uruha entkommt ein peinlich berührtes Auflachen und erst da bemerke ich, wie zweideutig meine Frage klingen muss. „Oh verdammt“, hauche ich und reibe mir nun ebenfalls beschämt über den Nacken. „Tut mir leid, so war das wirklich nicht gemeint.“ Ich spüre meine Wangen brennen. Himmel Aoi, erst denken, dann reden.   „Es ist …“ Uruhas Lachen wird deutlicher, gelöster und entlockt mir damit ein kleines Schmunzeln. „Ich habe dich schon richtig verstanden, es klang nur im ersten Moment …“   „Wie eine plumpe Anmache.“   „Nein.“ Er schüttelt den Kopf und berührt meinen Handrücken. Reflexartig ergreife ich seine Finger, verschränke sie mit den meinen und drücke leicht zu. „Es klang einfach eigenartig.“ Er schnaubt amüsiert. „Aber du hast recht, ich übernachte tatsächlich nicht gerne wo anders.“ Er schenkt mir ein verschämtes Schmunzeln und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie ein Mann so niedlich sein kann? Mein Magen kribbelt und es fällt mir unendlich schwer, meinen Blick von seinen vollen Lippen zu nehmen. Wie gern würde ich … Ich schüttele den Kopf, um diesen Gedanken wieder loszuwerden, und erwidere stattdessen sein Lächeln.    „Ich versteh das, mir geht es ähnlich. In den eigenen vier Wänden fühle ich mich noch immer am wohlsten.“   „Sagst du das jetzt nicht nur, um mein schlechtes Gewissen zu besänftigen?“   „Ach Uruha.“ Ich drücke die Haustür nach innen auf und schiebe gleichzeitig meine freie Hand durch den breiter werdenden Spalt, um das Licht im Foyer anzuschalten. „Du brauchst deswegen sicher kein schlechtes Gewissen zu haben.“   „Aber … ich …“ Er seufzt und fährt sich durchs Haar, bevor er beinahe hektisch wieder einige Strähnen zurück in sein Gesicht kämmt. Mir wäre das nicht aufgefallen, hätte ich ihn in diesem Moment nicht so intensiv gemustert. Eigenartig.   „Uruha? Alles in Ordnung?“   „J- ja. Es ist nur …“ Er beißt sich auf die Unterlippe und ich muss dem Drang widerstehen, seinen Mund zu berühren, um ihn davon abzuhalten. Seine schönen Lippen. Wieder drücke ich seine Finger, will, dass er weiterspricht. Was beschäftigt ihn? „Ist es anmaßend von mir, wenn ich dich jetzt trotzdem frage, ob ich noch kurz mit reinkommen kann?“ Wie bitte? Ist das der Grund, weshalb er so herumgedrückt hat? Wärme steigt in mir auf und ich werfe jede Art von Etikette oder vielleicht sogar meinen gesunden Menschenverstand über Bord, als ich seine Finger loslasse, um stattdessen näher an ihn heranzutreten und meine Arme um seine Mitte zu legen. Mein Kopf findet wie automatisch seinen Platz an seiner Schulter und ich atme tief seinen angenehmen Duft ein. „A- Aoi?“   „Mein Angebot, hier zu übernachten, war sicher anmaßender, als deine Frage, ob du noch mit reinkommen kannst. Ich hätte dir auch einfach sagen können, dass ich dich noch nicht gehen lassen will, nicht wahr? Das hätte uns die Peinlichkeit gerade eben erspart.“ Ich lache leise gegen den Stoff seines Mantels und seufze, als ich spüre, wie sich seine Arme auch um mich legen. „Also wenn du noch nicht die Nase voll von meiner Gegenwart hast, würde ich mich freuen, wenn unser gemeinsamer Abend hier und jetzt noch nicht vorbei ist.“ Nun höre ich auch aus seinem Mund ein leises und deutlich erleichtertes Ausatmen, während er den bis eben lockeren Druck seiner Arme verstärkt.   „Wir sind zwei wirklich seltsame Köpfe, was?“   „Das kannst du laut sagen.“ Ich löse mich nur unwillig und mache eine einladende Handbewegung in Richtung des Hausinneren. „Aber dann lass uns wenigstens nicht noch seltsamer sein und drinnen weiterreden.“   „Gerne. Langsam wird mir doch kalt.“   „Dagegen weiß ich das beste Mittel.“   „Ja? Welches denn?“   „Meine hausgemachte heiße Schokolade. Warte es nur ab, wenn dir danach noch immer nicht warm ist, stimmt irgendetwas nicht.“   „Das klingt großartig.“   Wir entledigen uns unserer Jacken und Schuhe und schlüpfen in die Hauspantoffeln, bevor wir die Treppe nach oben nehmen. Ich knipse im Vorbeigehen sämtliche Lichter an und erinnere mich wieder daran, dass ich endlich einen Termin mit dem Elektriker vereinbaren muss. Reita meint zwar, wir könnten uns das Geld sparen und die Bewegungsmelder im Haus selbst einbauen, aber darauf warte ich bereits Monate. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das in diesem Leben nichts mehr wird, wenn ich die Sache nicht selbst in die Hand nehme.   „Mach es dir gemütlich“, sage ich und deute zum Küchentisch, während ich Milch aus dem Kühlschrank und die Schokolade aus einem der Küchenschränke nehme. „Magst du auch einen Schuss Rum hinein?“   „Mhmh, das schadet zum Aufwärmen sicher nicht.“   Ich grinse und nicke vor mich hin, hole einen Topf hervor und beginne damit, die Milch aufzuwärmen. Zwischendurch rühre ich in regelmäßigen Abständen um, damit nichts anbrennt, aber der größte Teil meiner Aufmerksamkeit liegt weiterhin auf Uruha. Meine bis gerade gelöste Stimmung trübt sich ein, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Wieder muss ich an Reitas Worte denken, dass ich für klare Verhältnisse sorgen muss. Ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen oder zerstöre ich mit der Wahrheit dieses noch so fragile Band, das ich immer spüren kann, wenn Uruha in meiner Nähe ist?   „Ich bin froh, dass du hier bist“, beginne ich etwas einfallslos, weil ich nicht weiß, wie ich sonst anfangen soll. Uruha hebt den Kopf und ich kann mir gut vorstellen, dass seine Augen nun fragend auf mir ruhen. „Ich wollte mit dir reden.“   „Ja? Worüber denn?“ Bilde ich es mir nur ein, oder liegt ein feines Zittern in seiner Stimme? So ein Mist, ich wollte ihn nicht verunsichern. Ich bin so ein Trampel.   „Über Reita … und mich.“   „Oh … ach so.“ Ich drehe mich zu ihm, versuche ihn zu erkennen, aber seine Augen verschwinden hinter seinen Haaren, als er den Kopf senkt, und seine Hände bewegen sich nervös in seinem Schoß. „Wa- was willst du mir denn über euch erzählen?“ Nun klingt seine Stimme definitiv verunsichert und so, als würde er nicht hören wollen, was ich ihm zu sagen habe. Himmel, am liebsten würde ich nichts sagen und die Sache auf sich beruhen lassen, aber das wäre unfair. Ihm und auch Reita gegenüber.   „Mir … uns ist aufgefallen, dass du …“ Ich schüttele sacht den Kopf im verzweifelten Versuch, meine wirbelnden Gedanken zu sortieren. Noch nie ist es mir so schwergefallen, die richtigen Worte zu finden, und ich begreife nicht, warum das bei Uruha so anders ist. „Du fragst dich sicher, wie Reita und ich zueinanderstehen, stimmt‘s?“ Wieder suche ich seinen Blick, aber er sieht unverwandt auf die Tischplatte und rührt sich nicht. Ich seufze leise.  „Nun ja, zumindest ging das noch jedem so, der uns kennengelernt hat. Selbst Tora. Und, na ja, nachdem ich das weiß, wollte ich das klarstellen.“   „Mhmh“, macht Uruha, sieht mich jedoch noch immer nicht an.   Ich drehe mich kurz zum Kochtopf, ziehe ihn von der Hitze, bevor ich die duftende Schokolade in die mittlerweile heiße Milch bröckle und umrühre. Prokrastiniere ich? Definitiv. Mein Blick verliert sich in dem hellbraunen Strudel und ich hätte die Zeit vergessen, hätte Uruha nicht zaghaft meinen Namen gesagt.   „Entschuldige.“ Ich unterdrücke den Drang, einen Rückzieher zu machen oder wahlweise fluchtartig den Raum zu verlassen. Verdammt, was ist denn nur los? Schließlich hat es mich noch nie gestört, was andere von Reita und mir denken. Wenn sie mit unserer Art zu leben nicht zurechtkommen, ist das ihr Verlust nicht unserer. Aber Uruha. Mit ihm ist das etwas anderes. Er ist viel wertvoller und ihn will ich um nichts in der Welt vergraulen. „Du musst bemerkt haben, dass du mir wichtig bist“, sage ich und überwinde die wenigen Schritte, die uns trennen. Direkt vor seinem Stuhl gehe ich in die Hocke, halte an seinem Oberschenkel die Balance, während ich mit meiner freien Hand langsam und vorsichtig über seine Haare streichle. Er zuckt kaum merklich zusammen und wieder frage ich mich, was los ist, warum er sich heute bereits mehrmals fast schon vor mir versteckt hat. War das schon immer so? Warum?   Bevor ich ihn fragen kann, hebt er den Kopf und mit einem Mal finde ich mich gefangen in seinem Blick wieder. Er hat schöne Augen, ist das erste, was mir nach gefühlten Minuten des Nichts wieder in den Sinn kommt. Noch nie bin ich ihm so nah gewesen, dass ich seine Iris sehen konnte. Ihr Braun ist warm und erinnert mich an dunklen Waldhonig. In diesem Moment bin ich mir sicher, dass ich diese Farbe nie vergessen werde, selbst wenn irgendwann alles in der Schwärze meines Sehverlustes versunken sein wird.   „Du …“ Er räuspert sich leise, blinzelt einmal ganz langsam, bevor er mich wieder ansieht. Ich fühle seinen Atem auf meinem Gesicht, so nahe sind wir uns. „Du bist mir auch wichtig, sehr sogar“, wispert er und ich kann nicht anders, als mich noch etwas weiter vorzulehnen. Es ist der falsche Moment, wir sollten reden, aber seine Körperwärme ist mit einem Mal wie ein Sirenenruf, der mich näher, immer näher lockt. Die Gedanken fliegen aus meinem Kopf, wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel, und lassen nur einen einzigen zurück.   ‚Ich will ihn küssen.‘ Kapitel 15: Kisou – Kuss ------------------------ Uruha:   Sein Atem wispert über meine Lippen, als er ganz leise sagt: „Ich würde dich gerade unheimlich gern küssen.“   ‚Dann tu es doch!‘, schreit alles in mir, aber ich bekomme kein Wort heraus. Nur meine Hände machen sich selbstständig, eine krallt sich in Aois Shirt, die andere spiegelt sein Streicheln. Doch wo seine Finger durch mein Haar kämmen, lasse ich sie über seinen Hals und die Wange gleiten. Seine Haut ist so warm und die feinen Bartstoppeln, die einen bläulichen Schatten auf sein Kinn und die Kieferlinie werfen, kitzeln meine Handfläche. Noch nie habe ich etwas Schöneres gesehen als Aoi in diesem Augenblick. Seine Augen flackern leicht hin und her, scheinen mich zu studieren, und wieder frage ich mich, was er sieht. Was er in mir sieht. Meine Lider flattern, schließen sich, als er den letzten Abstand zwischen unseren Mündern überbrückt und seine Lippen auf die meinen legt. Unser Kuss ist sanft, fast nur ein Windhauch, und bereits vorbei, bevor ich überhaupt begreife, dass wir uns wahrhaftig geküsst haben.   „Ich … tut mir leid … ich bin dir noch eine Erklärung schuldig.“   Jetzt? Ernsthaft? Das hat er nicht gesagt, oder? Gerade waren meine wirbelnden Gedanken so herrlich still gewesen, hatte es nichts gegeben, als den Mann vor mir und seine Lippen auf den meinen. Nun ist wieder alles da, die Angst vor der Ungewissheit und die Sorge, ihn zu verlieren, noch bevor ich ihn richtig kennengelernt habe.   „Reita ist … der wichtigste Mensch in meinem Leben“, beginnt Aoi erst stockend, wird jedoch mit jedem verstreichenden Moment sicherer. Mein Magen verkrampft sich, weil es so klingt, als würde er mir nun das sagen, was ich schon die ganze Zeit befürchte. Dass ich keinen Platz in seinem Leben habe, dass wir niemals mehr als nur gute Freunde sein können. Aber warum dann der Kuss? Warum das Geständnis, dass auch ich ihm viel bedeute? „Wir kennen uns schon ewig, sind quasi miteinander aufgewachsen. Wir sind eine Einheit – er und ich.“ Er seufzt, scheint nach den richtigen Worten zu suchen und ich frage mich, ob es diese überhaupt geben kann. Mein Herz weiß nicht, was es fühlen soll, und mein Verstand hat keine Gedanken, die ihm dabei behilflich sein könnten. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Außenstehende Reitas und mein Zusammenleben oft nicht verstehen, weil es nicht den üblichen Normen einer Beziehung folgt.“   Das Wort ‚Beziehung‘ bohrt sich durch meine Gehörgänge direkt in meinen Kopf, hallt dort von den Wänden meines Schädels wider. Es wird lauter und lauter und in meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Ich verstehe Aoi nicht mehr, kann nicht mehr hören, was er mir sagt. Würde er nicht vor mir knien und Gefahr laufen, umzufallen, wenn ich zu schnell aufstehe, würde ich genau das tun. So bleibe ich sitzen und versuche, irgendwie Luft in meine Lungen zu bekommen. Meine Brust ist wie zugeschnürt und ich merke, wie meine Hände zu zittern beginnen.   „Uruha?“ Wie aus weiter Ferne höre ich meinen Namen, spüre einen Druck um meine zitternden Finger. Aois Gesicht schwimmt zurück in mein Blickfeld und jetzt erst fühle ich die Tränen, die haltlos über mein Gesicht rinnen. Seine Hände halten die meinen umschlossen, seine Lippen küssen meine Fingerknöchel; jeden Einzelnen. Himmel, mein Herz hält das nicht aus, es zerspringt jeden Augenblick, da bin ich mir sicher. „Atme, bitte, ganz ruhig.“ Ich höre die Besorgnis in seiner Stimme, sehe sie an seinen fest zusammengepressten Lippen. Ich konzentriere mich auf ihn, nehme jedes Detail seines Gesichts wahr. Ich spüre seinen Atem, passe mich seinem Rhythmus an, bis die Panik sich zurückzieht, den eisernen Griff um meine Brust lockert.   „Ich dachte …“ Meine Stimme bricht und ich hasse mich für diese Schwäche. „Warum hast du …“ Ich schüttele den Kopf, aber bringe nur Satzfetzen hervor. „Warum behauptest du, dass ich dir wichtig bin, wenn du jetzt …“ Ich kann es nicht aussprechen. Oh bitte, ich will davon laufen, weit weg, bis mich diese fürchterliche Ungewissheit nicht mehr so schmerzt. Gleichzeitig hält er mich hier, seine schiere Präsenz, nach der ich mich jeden Augenblick sehne, in dem ich sie nicht spüren kann. Ich will ihn nicht verlieren.   „Verflucht“, schnappt er und ich sehe, wie stark er sich auf die Unterlippe beißt. Für eine irrwitzige Sekunde überkommt mich das Verlangen, seine arme Lippe zu befreien, dann hätte ich mir am liebsten vor die Stirn geschlagen. Was stimmt denn nicht mit mir? „Ich bin das alles vollkommen falsch angegangen, es tut mir so leid. Du bedeutest mir viel, sehr viel und ich würde dir unglaublich gern näher kommen, wenn du das auch willst. Es ist nur, Reita und ich sind speziell, er war immer für mich da und ich für ihn. Ich kann und werde das nicht aufgeben, kannst du das verstehen?“ Ich blinzele, plötzlich so verwirrt, dass mein Herz für einen Moment vergisst, wehzutun.   „Ehm …“, mache ich dümmlich und sehe Aoi aus verheulten Augen an. „Ich glaube, ich begreife gerade gar nichts.“   „Kein Wunder.“ Er seufzt und streckt die freie Hand aus, um auf dem Küchentisch nach der Taschentuchbox zu angeln. „Verzeih mir, Uruha, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Ich weiß auch nicht, warum es mir so schwerfällt, die richtigen Worte zu finden.   Wortlos nehme ich ein Tuch entgegen, tupfe mir vorsichtig die Tränenspuren vom Gesicht und hoffe, dass mein Make-up tatsächlich wasserfest ist. Erst jetzt wird mir klar, wie nah mir Aoi ist; ob er etwas bemerkt hat? Mein Puls beschleunigt sich, als er auf die Beine kommt. Seine Körperhaltung ist unleserlich und als er sich zu allem Überfluss von mir wegdreht, gesellt sich zu dem anhaltenden Gefühlschaos die irrationale Angst, dass er verschwindet, weil er sich von mir abgestoßen fühlt. Aber er geht nur zum Herd, nimmt zwei Tassen aus dem Schränkchen darüber und gießt die heiße Schokolade ein. Ein mehr als großzügiger Schuss Rum folgt, dann steht er erwartungsvoll wieder vor mir. Erleichterung schwappt über mich wie eine Flutwelle und hätte mich mit sich gerissen, wären es nicht Aois Augen, die im selben Moment meinen Blick suchen. Ein Rettungsanker, nach dem ich greife, bevor es mir richtig bewusst ist.   „Darf ich dich darum bitten, mir noch eine Chance zu geben, es besser zu machen?“   Ohne, dass ich es verhindern kann, zuckt mein rechter Mundwinkel in der Andeutung eines Lächelns nach oben. Aoi sieht so herzzerreißend jung aus, wie er mit zerknirschter Miene und den dampfenden Tassen in beiden Händen vor mir steht. Gott, ich bin ein hoffnungsloser Fall.   „In Ordnung“, wispere ich und fühle, wie ein Teil meiner Anspannung von mir abfällt. Ich bin ihm wichtig, das hat er selbst gesagt. Er will mir näher kommen … mein Herzschlag beschleunigt sich. Nicht einmal mein überforderter Verstand kann diese Worte fehlinterpretieren. Aoi hat es verdient, dass ich ihm richtig zuhöre, und versuche, mich nicht erneut von meinen Selbstzweifeln übermannen zu lassen.   „Danke“, haucht er so leise, dass ich es überhört hätte, würden meine Augen nicht noch immer wie magisch von seinen Lippen angezogen werden. „Lass uns nach oben gehen, im Wohnzimmer redet es sich besser.“   Ich nicke, stehe auf und greife wie selbstverständlich nach den Tassen, damit Aoi die Hände frei hat, um sich zu orientieren. Ich weiß, dass er dieses Haus wie seine Westentasche kennt, aber ich habe bemerkt, dass er sich so deutlich wohler fühlt und sicherer unterwegs ist.   Erst, als wir im Obergeschoss angekommen sind, ich die Tassen abgestellt habe und mich unschlüssig vor das Sofa stelle, schwappt erneut eine Welle der Unsicherheit über mich. Dennoch nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und halte Aoi auf, der die Fernbedienung für die Multimediaanlage in die Hand nehmen will. Mein Griff ist fest und als ich es bemerke, lockere ich ihn, beginne mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streicheln.   „Reita und du seid also mehr als nur Freunde?“   „Ja.“   „Und trotzdem willst du … ja, was eigentlich?“ Ich schaue ihn noch immer verwirrt an, obwohl mir langsam dämmert, worauf er hinaus will. Aber ich schweige, die Angst zu groß, ihn doch falsch verstanden zu haben, und gleichzeitig fährt mir eine heftige Nervosität durch die Eingeweide, die ich mir nicht ganz erklären kann.   „Ich will mit dir zusammen sein.“ Aois Hand befreit sich aus meiner Umklammerung, nur um sogleich mit meinen Fingern zu spielen. Sein Blick ist offen, seine Haltung stolz und gerade. „Aber ich brauche auch Reita, seine Nähe und den Halt, den er mir gibt. Den wir uns gegenseitig geben, verstehst du?“   „Eine Partnerschaft zu dritt also?“   „Partnerschaft“, flüstert Aoi und ich verstehe ihn nur, weil ich die Bewegung seiner Lippen lesen kann, die sich nun zu einem versonnenen Lächeln verziehen. In diesem Augenblick wirkt er so glücklich, dass ich versucht bin, mich auf alles einzulassen, nur um diesen Ausdruck noch länger auf seinem Gesicht sehen zu können. Aber kann ich das wirklich? Kann ich Aoi mit jemandem teilen, der ihn schon umso vieles länger kennt?   Ich muss an Reita denken, an den Mann, der mich bei unserer ersten Begegnung so irritiert hat und der mir in den letzten Wochen auf unerklärliche Art ans Herz gewachsen ist. Würde er mich überhaupt wollen? Er ist nicht wie Aoi, ihm ist die dicke Schicht Make-up in meinem Gesicht sicher aufgefallen. Wie könnte ich mich ihm jemals so zeigen, wie ich wirklich bin? Ihn sehen lassen, was sich hinter meiner Maske verbirgt. Er wird meine Hässlichkeit sehen … wird mich nie wieder Gorgeous oder Handsome nennen. Ich spüre, wie meine Augen erneut feucht werden. Solange ich ihm nicht zu nahe komme, kann ich genau diese Reaktion verhindern … so wie bei Aoi. Das schlechte Gewissen sticht in meiner Brust und ich verziehe die Lippen. Ich bin froh, als Aoi weiterredet, mir einen Grund gibt, nicht länger über meine Schuld nachdenken zu müssen.   „Wie gesagt, Reita und ich sind zusammen, aber weder exklusiv, noch schlafen wir miteinander, wenn einer von uns einen Partner oder eine Partnerin hat. Wir haben es versucht, mit einer klassischen Beziehung meine ich, aber sind immer wieder zu dem Schluss gekommen, dass wir beide auf diese Weise nicht funktionieren.“   „Ach so?“, murmle ich, weil mir keine bessere Erwiderung einfallen will. Nun bin ich noch verwirrter als zuvor und mein Gemütszustand muss mir anzumerken sein, denn Aoi redet weiter:   „Ich wollte nicht, dass du unser Verhalten missverstehst. Wir sind sehr körperbetont, was dir sicher aufgefallen ist. Ich hatte Angst, dass du dich betrogen fühlst, wenn Reita mir ohne nachzudenken einen kleinen Kuss gibt, mich umarmt oder streichelt. Das ist … unsere Normalität, verstehst du?“ Seufzend fährt Aoi sich durchs Haar und sieht mir drängend ins Gesicht. „Bitte sag mir, dass ich mich gerade nicht um Kopf und Kragen rede.“   „Tust du nicht“, nuschle ich gedankenversunken, weil ich mir noch immer nicht sicher bin, was ich von Aois Offenbarung halten soll. Sie sind also kein Paar, aber mehr als Freunde, und er hat mir das alles nur erzählt, um Missverständnissen vorzubeugen. Eigentlich löblich, aber mein dummes Herz kann sich nicht entscheiden, was es fühlen soll. Für einen kurzen Moment hat sich der Gedanke, auch Reita näher zu kommen, mit beiden Männern eine Beziehung zu führen, irgendwie … richtig angefühlt. Und jetzt? Bin ich etwa enttäuscht, dass es nur Aoi ist, der sein Herz für mich öffnet? Himmel, was stimmt denn nicht mit mir? Bin ich nicht gerade selbst zu dem Schluss gekommen, dass einen gewissen Abstand zu Reita zu wahren, der einzig gangbare Weg für mich ist? Ich schüttele den Kopf, um die wirren Gedanken noch mehr durcheinanderzubringen, in der Hoffnung, sie lassen mich so endlich in Ruhe. Ich will nicht mehr denken, nicht mehr über Dinge nachgrübeln, die sein könnten oder eben nicht.   Entschlossen nehme ich die Fernbedienung an mich und schalte die Anlage ein, wie Aoi es eben tun wollte. Leise Musik erfüllt den Raum und es dauert einen Moment, bis ich den Song erkenne. Bei der nächsten Strophe flüstere ich die Worte halb singend mit, ohne vermeiden zu können, dass sich eine feine Schamesröte auf meine Wangen schleicht. „I want you to know I still love you, even though we've been dancing on broken glass.“ Aois Mund steht leicht offen und erst da bemerke ich, was genau ich gesagt habe. Es passt nicht ganz auf unsere Situation und gleichzeitig hätten die Worte nicht wahrer sein können. In diesem Moment weiß ich so unumstößlich wie ich weiß, dass der Himmel blau und das Gras grün ist, dass ich mich verliebt habe. Die Erkenntnis legt sich wie Blei in meinen Magen, hallt wie ein Donnerschlag durch meinen Körper und lässt mich ebenso erstarren wie Aoi. Die Zeit verrinnt schmerzhaft langsam, der Song verstummt und macht einer R’n‘B Nummer Platz, die ich nicht kenne. Ich blinzele und auch Aoi taucht aus seiner Erstarrung auf, nur um mir den nächsten Schock zu versetzen. Plötzlich liegt seine Hand am Übergang zwischen meinem Hals und dem Kinn, und seine Lippen sind den meinen so nah, dass ich jeden seiner beschleunigten Atemzüge spüren kann. Atme ich genauso schnell? Schlägt sein Herz auch so heftig gegen seinen Brustkorb, wie es das meine tut?   „Darf ich dich noch einmal küssen?“, fragt er und ich nicke. Jeder weitere Gedanke flieht aus meinem Kopf, macht wohltuender Leere Platz, als er mich endlich, endlich in den Kuss zieht, den ich mir schon vor Minuten erhofft habe. Wieder spüre ich, wie weich seine Lippen sind, und ein wohliger Schauer rinnt über meinen Rücken, als seine Zunge forschend über die meinen leckt.   Haben wir geklärt, ob wir es mit einer Beziehung versuchen wollen? Nein. Bin ich mir schon im Klaren darüber geworden, wie ich mit der besonderen Freundschaft zwischen Reita und ihm umgehen soll? Schön wäre es. Verstehe ich, wie es sein kann, dass ich mich nicht nur zu Aoi hingezogen fühle? Mein Herz schreit ja; was weiß dieses dumme Ding schon. Aber die wichtigste Frage überhaupt: Ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, um mir über diese Dinge Gedanken zu machen? Definitiv nicht.   Ein kleiner Laut stiehlt sich aus meiner Kehle, als ich den Mund einen Spalt öffne und Aois Zunge Einlass gewähre. Gänsehaut bedeckt mit einem Mal jeden Zentimeter meines Körpers und ich lege die Arme um seine Mitte, bringe ihn ganz nah gegen mich. Unser Kuss wird intensiver, vertreibt die letzten Reste meiner Unsicherheit. Hier und jetzt ist nichts wichtig, nur der Mann in meinen Armen zählt und dieser unfassbare Kuss, der mir gleichermaßen den Atem und den Verstand raubt.   Ich weiß nicht, wann wir beschlossen haben, uns aufs Sofa zu setzen oder wie Aoi es geschafft hat, so perfekt auf meinen Schoß zu passen. Meine Hände haben ein Eigenleben entwickelt, streicheln durch sein weiches Haar, über den wohlgeformten Rücken und verharren an dem kleinen Spalt nackter Haut, den sein verrutschtes Shirt offenbart hat. Er keucht, als ich mit einem Finger darunter fahre, die Linie seiner Wirbelsäule nachzeichne. Noch immer küssen wir uns, als würden wir ersticken, wenn wir auch nur eine Sekunde voneinander abließen.   „Uruha.“ Okay, doch kein Erstickungstod, stellt ein kichernder Teil in meinem Kopf fest, als sich Aoi genau in diesem Augenblick von mir löst, um meinen Hals mit versengenden Küssen zu bedecken. Ich fühle mich willenlos, hilflos dem Genuss und Verlangen ausgeliefert, die jede seiner Berührungen in mir auslöst. Ich keuche, als er sich an meiner Haut festsaugt – er macht mir gerade nicht wirklich einen Knutschfleck, oder? – und gleich noch lauter, als er seine Zähne über dieselbe Stelle schaben lässt. Wir sollten reden, unseren Status klären, bevor wir etwas tun, was wir später bereuen könnten. Aber will ich das wirklich? Ein weiterer Kuss. Nein, nein, um nichts in der Welt. Kapitel 16: Nigeru – Flucht --------------------------- Aoi:   Uruhas Hand streichelt immer weiter meine Wirbelsäule hinauf, seine zweite schiebt sich ebenfalls unter mein dünnes Shirt und die Gänsehaut, die seinen Berührungen folgt, lässt mich wohlig erschauern. Ich seufze in unseren Kuss, dränge mich näher gegen seinen herrlich warmen Oberkörper. Alles ist neu und aufregend und gleichzeitig fühlt es sich so an, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen; als hätte ich jede Sekunde in seiner Gegenwart auf diesen Moment hingearbeitet. Vielleicht habe ich das ja? Vielleicht wusste mein Unterbewusstsein viel früher als ich, dass ich ihm verfallen bin. Und das bin ich. Ich bin wie Wachs in seinen Händen, habe jeden rationalen Gedanken aus meinem Kopf verbannt.   Nur er zählt; er und dieser Wahnsinnskuss. Hat ein simples Aufeinandertreffen zweier Lippen jemals solch starke Gefühle in mir ausgelöst? Nein, sicher nicht. In den zweiunddreißig Jahren meiner Existenz auf diesem Erdball habe ich mich noch nie so aufgewühlt und zufrieden zugleich gefühlt. Selbst der erste Kuss, den Reita und ich vor so vielen Jahren geteilt haben, hat meine Welt nicht derart aus den Angeln gehoben. Reita zu küssen, fühlt sich immer an wie nach langer Abwesenheit nach Hause zu kommen. Unaufgeregt, liebevoll und schlichtweg richtig. Genaugenommen der perfekte Kontrast zu dem, was ich gerade empfinde.   Ich keuche, weil Uruha dazu übergegangen ist, seine Fingernägel sanft über meine Haut kratzen zu lassen. Ob er spürt, dass ich doch wieder in meinen Gedanken versunken bin? Vielleicht. Entschuldigend küsse ich ihn tiefer, inniger, bis sich auch aus seiner Kehle ein unterdrückter Laut stielt. Oh ja, genau das will ich hören und nur das unwillige Murren, das folgt, als ich mich von ihm löse, klingt noch süßer in meinen Ohren. Aber er muss sich nicht sorgen, ich werde mich hüten und ihm einen wahren Grund zur Unzufriedenheit geben. Zielsicher finde ich die Stelle an seinem Hals, die meinen Zähnen zuvor bereits zum Opfer gefallen ist. Ich will ihn zeichnen, ihn für alle Welt sichtbar mein machen. Ist das eine typisch männliche, ziemlich antiquierte Denkweise? Ich glaube schon, aber gegen meine Instinkte kann und will ich nicht ankämpfen. Falls Uruha etwas dagegen hat, verstehe ich seine Proteste nicht, denn nur ein lang gezogenes Stöhnen dringt an meine Ohren. Seine Hand stiehlt sich unter meinem Shirt hervor, um sich in mein Haar zu krallen. Der Griff seiner Finger grenzt an schmerzhaft, aber er zieht mich nicht fort, sondern hält mich an Ort und Stelle.   Ich lächle gegen die erhitzte Haut, lecke über die noch wärmere Stelle und bedecke diese mit kleinen Küssen. Wie gern würde ich den leuchtend roten Fleck mit Stolz begutachten, den Kontrast zu Uruhas heller Haut bewundern, aber es ist zu dunkel im Wohnzimmer und dieser Luxus bleibt mir verwehrt. Den Schwall Bedauern, der über mich kommen will, schiebe ich schnell beiseite. Uruha macht es mir leicht, indem er mich von seinem Hals weg und wieder hin zu seinen Lippen dirigiert.   „Uruha“, wispere ich seinen Namen wie ein Mantra und lächle, als er ungeduldig nach meiner Unterlippe hascht. Ich lasse mich nicht bitten, erobere seinen Mund erneut und frage mich gleichzeitig, wie ich bislang leben konnte, ohne diesen wundervollen Mann küssen zu dürfen. Wie ignorant von mir. Hitze steigt in mir auf, sammelt sich in meinem Magen, eine Mischung aus unendlichem Glück und beginnender Lust. Bislang habe ich Uruha eher zurückhaltend erlebt, aber von dieser Scheu ist nun nichts mehr zu spüren. Ich stöhne gegen seine Lippen, als seine Rechte den Weg auf meinen Bauch findet, sich freche Finger unter den Bund meiner Hose mogeln. Nur ein kleines Stück, neckend, reizend, dann verschwinden sie wieder und kommen erneut. Es macht mich wild, er macht mich wild und obwohl wir uns Zeit lassen sollten, noch so vieles zu klären hätten, kann ich für den Moment nicht vernünftig sein.   Noch bevor ich genauer darüber nachdenken kann, liegen meine beiden Hände an Uruhas Wangen, dränge ich ihn gegen die Rückenlehne des Sofas und küsse ihn so heftig, dass nicht nur mir der Atem wegbleibt. In meiner Fantasie verlieren wir uns beide im Strudel der Lust, werfen die verbleibende Zurückhaltung über Bord und geben uns einander hin. Die Realität wartet jedoch mit schweren Geschützen auf, die mich wie ein Schwall kaltes Wasser aus meinem Delirium reißen.   „Nicht!“ Uruhas Stimme ist rau und schrill gleichermaßen, als er meine Hände von sich drückt und mich gleich mit. Ich lande ungelenk auf dem Sofa, als er aufsteht und sich bereits einige Schritte von mir entfernt hat, bevor ich überhaupt begreifen kann, was gerade geschehen ist.   „Uruha?“ Sein Name kommt mir deutlich verunsichert über die Lippen und ich versuche, seine Umrisse im vorherrschenden Halbdunkel auszumachen. „Was ist? Habe ich etwas falschgemacht?“   „N… Nein“, stottert er und ich höre das Rascheln von Stoff, seinen hektischen Atem, den er zu beruhigen versucht. Was ist passiert? Ich versuche, mich an die vergangenen Sekunden zu erinnern, daran, ob ich ihm aus Versehen wehgetan haben könnte, aber da ist nichts. Nichts außer unser Kuss, seine neckenden Berührungen …   „Bitte, rede mit mir, was ist denn?“ Ich stehe auf, glätte unsinnigerweise mein Shirt, als sähe Uruha nicht, wie desolat mein Zustand ist. Ein deutlicher Vorteil mir gegenüber, stelle ich verbittert fest und verziehe den Mund.   „Es … es ist nichts, Aoi, alles gut. Ich will nur … ich brauche einfach …“ Er schnaubt und ich bin mir sicher, all seine Frustration aus diesem kleinen Laut heraushören zu können. Ärgert er sich, weil er mir nicht sagen kann, was ihn stört oder bin ich es, der ihn frustriert? Meine Unterlippe schmerzt, so fest grabe ich die Zähne ins Fleisch, um mich davon abzuhalten, zu ihm zu gehen. Ich ahne, dass meine Nähe gerade das Letzte ist, was er braucht, und ein schmerzhafter Stich jagt mir durchs Herz. Wenn er mir nur sagen würde, was los ist. „Ich brauche etwas Zeit, okay? Das alles ging … ziemlich schnell.“ Er lacht, aber es klingt nicht ehrlich. Seine Umrisse, die alles sind, was ich erkennen kann, wirken eingesunken, als würde er sich kleiner machen. Versteckt er sich vor mir? Warum?   „Natürlich“, höre ich mich sagen, obwohl ich verwundert bin, überhaupt einen Ton herauszubringen. Mein Hals fühlt sich wie zugeschnürt an und meine Brust schmerzt, als würden unsichtbare Hände meine Rippen zusammendrücken.   „Dann … mache ich mich mal auf den Heimweg. Gute Nacht, Aoi.“   Diesmal kann ich tatsächlich nicht antworten, nicht einmal reagieren, nur angestrengt nach Luft japsen. Ich höre seine Schritte auf der Treppe und noch immer kann ich mich nicht bewegen. Was ist da gerade nur passiert?   „Warte“, krächze ich und der raue Klang meiner Stimme reißt mich aus meiner Erstarrung. Mit einem Satz bin ich an der Tür, jage die Stufen nach unten und danke dem Umstand, in diesem Haus aufgewachsen zu sein. Ohne diesen Heimvorteil hätte meine kopflose Jagd böse enden können. Gerade noch erreiche ich ihn, bevor er die Haustür hinter sich schließen kann. „Es tut mir leid“, keuche ich, die Hand an das Türblatt gelegt. Uruha dreht sich nicht um. „Ich bin alles falsch angegangen, oder? Die Sache mit Reita und mir, dann der Kuss. Ich hab dich mit allem überfahren.“   „Nein.“ Uruha seufzt leise und ich höre seine Haare gegen den Stoff seiner Winterjacke reiben, als er den Kopf schüttelt. Zumindest vermute ich, dass er das tut, erkennen kann ich es nicht. Ich muss versehentlich den Schalter der Außenbeleuchtung erwischt haben, als ich die Lichter beim Heimkommen eingeschaltet habe, denn der Bewegungsmelder reagiert nicht. Warum mir in diesem Moment ausgerechnet dieser Gedanke durch den Kopf geht, kann ich nur meinem aufgewühlten Gemüt zuschreiben. Noch immer hat Uruha sich nicht zu mir umgedreht, mich für keinen Augenblick angesehen. Ich verziehe den Mund, als sich mein Magen schmerzhaft verkrampft. „Es liegt nicht daran, was du gesagt hast, und auch nicht an unserem Kuss. Es liegt an mir. Ich … ich muss nachdenken, okay?“   „O- okay.“ Jämmerlich. Ich klinge jämmerlich und so, als würde ich jeden Moment in Tränen ausbrechen. Um ehrlich zu sein, ist mir auch nach Heulen zu Mute, weil ich nicht verstehe, was passiert ist. „Kann … darf … wäre es okay, wenn ich dich morgen anrufe?“   „Ich melde mich bei dir.“ Seine Worte sind kalt wie Eis und schneiden tief in mein Fleisch, aber ich nicke nur, zu mehr bin ich nicht fähig.   „Komm gut nach Hause.“ Mein Wispern verklingt ungehört– er hat sich bereits zu weit von mir entfernt. Ich warte, bis ich seine Schritte nicht mehr vernehme, dann ziehe ich leise die Tür ins Schloss. Wie betäubt gehe ich wieder nach oben, schalte die Anlage und die Lichter im Wohnzimmer aus und schlurfe mit den Tassen in den Händen die Treppe hinunter in die Küche. Zäh fließt die heiße Schokolade, die mittlerweile kalt geworden ist, den Ausguss im Spülbecken hinunter und ich beobachte den kleinen Strudel, der sich bildet. Der unsinnige Gedanke, dass Uruha nicht einmal einen Schluck gekostet hat und das, wo ich die heiße Schokolade nur seinetwegen gemacht habe, ist der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.   Eine Träne stielt sich aus meinem Auge, dann noch eine und noch eine. Ich muss ein bemitleidenswertes Bild abgeben, wie ich hier stehe und in das Spülbecken heule, denn als Reita – ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seit Uruhas Fortgehen vergangen ist – in die Küche kommt, nimmt er mich wortlos in den Arm. Wie er aus meinem zusammenhanglosen Stammeln und Schniefen schlau werden kann, wird mir für immer ein Rätsel bleiben, aber er begreift schneller, als mir das in seiner Situation möglich gewesen wäre.   „Uruha braucht bestimmt nur Zeit, so wie er es gesagt hat“, murmelt er, die Wange gegen meinen Kopf geschmiegt und beginnt, beruhigend über meinen Nacken zu streicheln. „Lass uns ins Bett gehen. Er wird sich morgen bei dir melden und dann könnt ihr über alles reden.“   Ich nicke, nicht in der Lage, ihm verbal zu antworten, und lasse mich ins Schlafzimmer dirigieren. Minuten später liege ich im Bett, erneut hat Reita die Arme um mich geschlungen. Die Dunkelheit umhüllt mich, genau wie seine Nähe, und lässt mich langsam wieder zur Ruhe kommen.   „Danke Rei“, flüstere ich gegen den Stoff seines Shirts und erschauere wohlig, als er mit beiden Händen über meinen Rücken reibt.   „Wofür denn?“   „Dass du immer für mich da bist.“ Er schnaubt ein unterdrücktes Lachen und küsst meinen Schopf.   „Ich kann gar nicht anders, du bist mein Leben.“   „Und du das meine.“ Ich hebe den Kopf, versuche sein Gesicht im vorherrschenden Dunkel des Schlafzimmers auszumachen, aber es gelingt mir nicht. Einen irrationalen Augenblick lang fühle ich mich allein, treibend in der unendlichen Schwärze, die mich umgibt. Reitas Hand an meiner Wange hält meinen Fall auf, erdet mich, lässt mein Herz hart gegen meinen Brustkorb hämmern.   „Es ist alles gut, Blue. Gib ihm und dir die Zeit, die ihr braucht.“   „Ja.“ Langsam senke ich den Kopf, bis mich der warme Atem meines Freundes zu seinen Lippen dirigiert. Er küsst mich gemächlich, unendlich liebevoll, als wäre ich das Kostbarste auf der Welt für ihn. Wieder stielt sich eine Träne aus meinem Augenwinkel, rinnt meine Nase hinab und mischt ihren salzigen Geschmack mit dem Reitas, der mir so vertraut ist. Obwohl der Abend desaströser nicht hätte enden können, nistet sich in mir die Gewissheit ein, das Uruha verstanden hat, was ich ihm sagen wollte. „Ich hoffe so sehr, dass er mir … uns eine Chance gibt.“   „Das wird er.“   Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Reita recht behält. Es muss einen anderen Grund gegeben haben, warum Uruha so reagiert hat, warum er ohne eine Erklärung fortgegangen ist. Wenn ich nur wüsste, welchen. Die Ereignisse des Tages fordern ihren Tribut, lassen meine Gedanken immer langsamer werden. Ich fühle, wie mir die Augen zufallen, kuschle mich zurück an Reitas warmen Oberkörper. Während sanfte Finger stetig durch mein Haar streicheln, sinke ich immer tiefer in die wartenden Arme des Schlafes. Uruha wird sich morgen melden, ganz sicher, und dann können wir alles klären.   Doch er meldet sich nicht. Nicht am nächsten Tag, nicht am darauffolgenden und als beinahe eine Woche vergeht, ohne dass ich ein Wort von ihm höre, bin ich bereit, aufzugeben. Kapitel 17: Tasukete – Hilfe ---------------------------- Uruha:   In meinem Bauch rumort und zwickt es, wie seit Tagen. Meine Unterlippe zuckt in Unbehagen, aber weiter lasse ich mir nichts anmerken, als ich der jungen Frau vor mir mit einer Handbewegung zeige, wo sich die Selbsthilfebücher befinden. Selbsthilfe, die könnte ich auch gut gebrauchen. Ein Buch mit dem Titel »Wie sage ich es ihm?« oder »Beichten für Anfänger« würde es fürs Erste tun. Kai kommt hinter den Tresen, gut gelaunt wie immer, und als er fragt, wie es mir geht, muss ich mich zusammenreißen, ihn nicht anzublaffen oder wahlweise in Tränen auszubrechen.   „Bescheiden“, nuschle ich als Antwort und hätte es besser wissen müssen, als ehrlich zu sein. Denn natürlich ruhen nun seine mitfühlenden Augen auf mir und sein beinahe väterlich anmutender Gesichtsausdruck macht es mir schwer, ihm nicht sofort alles zu beichten, was so bleiern auf meiner Seele lastet. Wie schafft er das nur immer? Er ist jünger als ich. Und warum habe ich nicht den Mund gehalten, wie ich es die letzten Tage über getan habe? Ich seufze abgrundtief und lasse die Schultern hängen. Vermutlich, weil ich nicht mehr kann. Weil ich mich bereits mehrmals dabei ertappt habe, Aois Nummer zu wählen, nur um kurz vor dem Verbindungsaufbau wieder aufzulegen. Ich bin so ein verfluchter Feigling.   „Was ist denn los?“, fragt Kai nun und ich ergebe mich meinem Schicksal, ohne überhaupt den Kampf gegen seine Fürsorglichkeit begonnen zu haben. „Hast du schlecht geschlafen? Deine Augenringe sieht man sogar durch den Concealer hindurch.“   „Mit so einer Aussage gewinnst du keinen Blumentopf, das ist dir hoffentlich bewusst.“   „Ich bin nur ehrlich.“ Kai lacht leise, dreht sich zur Kaffeemaschine um und lässt unter Dampfen und Zischen eine Portion Cappuccino in eine Tasse laufen. Das kräftige Aroma des Kaffees bestätigt mich darin, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, als ich vor einigen Monaten in diesen sündhaft teuren Vollautomaten investiert habe. Vor allem, als Kai mir die Tasse unter die Nase hält – mein Held.   „Danke.“   „Gerne, aber jetzt sag mir, was dich bedrückt. Du bist schon seit Tagen so niedergeschlagen und wortkarg. Nicht, dass du jemals viel reden würdest oder wie das blühende Leben durch den Laden tanzt, wie Ruki, aber … nun ja, es fällt auf, dass etwas mit dir nicht stimmt.“   Während Kais Redeschwall sind meine Augenbrauen immer höher gewandert, bis sie nun unter meinem überlangen Pony verschwunden sein müssen. Mein Freund ringt die Hände, als wäre es nun mein fragender Blick, der ihn verunsichert. Seine Besorgnis muss schon länger in ihm gebrodelt haben, anders kann ich mir seinen Ausbruch nicht erklären.   „Ich glaube …“, beginne ich und unterbreche mich sogleich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich ihm erklären soll, was mich beschäftigt. Sollte ich nicht lieber mit Aoi über diese Sache sprechen? Ja, natürlich sollte ich das, aber genau das ist das Problem. „Ich habe Mist gebaut und weiß nun nicht, wie ich alles wieder geraderücken kann.“   „Oh.“ Kai sieht mich mitfühlend an und wäre ich Ruki, hätte er mich in die Arme genommen. So verschränkt er nur die Hände hinter dem Rücken ineinander und wippt nachdenklich von den Zehenballen auf die Fersen und wieder zurück. „Meistens ist es das Beste, wenn man über seinen Schatten springt und sich erklärt. Entweder es geht gut oder nicht, aber wenigstens nagt dann die Unsicherheit nicht mehr an einem.“ Das … ist ein erstaunlich sinnvoller Rat, das muss ich ihm lassen, auch wenn ich mich nun kein Stück besser fühle.   „Aber ich hab Angst“, flüstere ich und habe keine Ahnung, warum ich nicht endlich die Klappe halte. „Was ist, wenn ich schon zu lange gewartet habe, wenn er mich gar nicht mehr sehen will?“   „Nun ja, wenn dem so ist, hast du nach einem Gespräch wenigstens Gewissheit.“ Kais Lächeln ist weitaus weniger atomar, wie ich es sonst von ihm gewöhnt bin, und in seinen Augen schimmert das Mitgefühl noch deutlicher. „Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber wir sprechen von Aoi, oder?“   „Woher weißt du das?“   „Seit unserem Kinobesuch bist du so verschlossen und er war seitdem nicht mehr hier. Ich hab nur eins und eins zusammengezählt.“ Ich nicke geschlagen und spüre, wie sich meine Schultern runden, als könnte ich mich so vor Kai und der gesamten Welt verstecken. „Komm schon, Uruha, Kopf hoch. Ich bin mir sicher, egal was zwischen euch vorgefallen ist, es wird dir besser gehen, wenn du mit ihm geredet hast. Aoi kommt mir nicht wie der nachtragende Typ vor. Sicher wartet er darauf, dass du dich bei ihm meldest.“   „Wenn dem so ist, warum hat er dann nicht schon längst angerufen?“   „Wollte er das denn tun?“   „Ja …“ Ich hole Luft, um weiterzusprechen, als mir meine eigenen Worte von vor ein paar Tagen wieder in den Sinn kommen. „Nein, ich meine, er wollte, aber …“   „Aber?“   „Ich habe gesagt, ich würde mich melden.“   „Siehst du, dann tu das auch. Spring über deinen Schatten und sei mutig.“   Bevor ich noch etwas auf Kais ermunternde Worte sagen kann, kommt eine Gruppe Schulmädchen in den Laden und wir sind die nächste halbe Stunde damit beschäftigt, Lehrbücher herauszusuchen und abzukassieren. Kai verabschiedet sich um die Mittagszeit, weil er am frühen Nachmittag eine Vorlesung hat, und lässt mich allein. Allein mit meinen Gedanken, die ich träge in meinem Gehirn hin und her wälze.   ‚Sei mutig.‘ ‚Spring über deinen Schatten.‘   Seine Worte kreisen und kreisen in meinem Schädel, bis mir schwindlig wird. Mein Puls beschleunigt sich, als ich nach meinem Smartphone greife und eine mittlerweile viel zu vertraute Nummer wähle. Es klingelt, der Verbindungston schrillt in meinen Ohren, wieder und wieder … aber Aoi hebt nicht ab. Niedergeschlagen lasse ich das Telefon sinken und mich gleich mit auf den Stuhl, der vor dem PC im Büro steht. Und jetzt? Warum hat mir Kai nicht gesagt, was ich tun soll, wenn mich mutig sein und über meinen Schatten springen nicht weiterbringen? Ich sehe auf die Uhr; noch sechs Stunden, bis ich den Laden schließen kann, noch ein paar Minuten, bis Rukis Schicht beginnt.   „Ich sollte einfach zu ihm fahren“, murmle ich und streiche mir durchs Haar. „Schließlich muss er mit mir reden, wenn ich vor seiner Tür stehe, oder?“ Meine Unterlippe schmerzt, als ich meine Zähne zu fest in sie grabe und das Stechen lässt mich zusammenfahren. Meine Güte, nun rede ich schon mit mir selbst.   „Also ich für meinen Teil bin sehr dafür, dass du zu ihm fährst. Das Zusammenzucken eben ist nichts gegen den Schock, der mir in dem Moment durch die Glieder jagt, als jemand unerlaubterweise das Büro betritt.   „Reita! Was machst du hier?“, fauche ich heiser und so außer Atem, als hätte ich einen Marathon absolviert. Ich funkle ihn an, was jedoch keinerlei Wirkung auf ihn hat. Lässig lehnt er im Türrahmen, eine Hand in der Tasche seiner Lederjacke vergraben und lächelt mich schief an.   „Ich will ein Buch kaufen“, sagt er und sein Gesichtsausdruck ist so unverschämt, dass mein Blut, welches eben noch in meinen Adern gefroren ist, sogleich zu kochen beginnt. Was bildet der sich überhaupt ein? „Oder stehen die Bücher hier nicht zum Verkauf?“ Demonstrativ hält er einen dicken Wälzer hoch, der sich bei genauerer Betrachtung als J. R. R. Tolkiens »Der Hobbit« entpuppt. Ich bin so perplex von seinem Auftreten, seiner Präsenz und schlicht von seiner Person, dass mir jede Entgegnung im Hals stecken bleibt. Wie schafft er das nur immer? „Cat got your tongue?“   „Ehm, was?“   „Ob es dir die Sprache verschlagen hat.“   „N- nein.“ Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen steigt, und beeile mich, meine Haare unauffällig über meine linke Gesichtsseite zu streichen. „Außerdem habe ich dich zuerst etwas gefragt. Kunden ist es nicht gestattet, einfach so ins Büro zu spazieren. Hast du das Schild an der Tür nicht gelesen?“ Betont langsam dreht Reita den Kopf, bis er die deutlich sichtbare Beschriftung auf dem Holz gar nicht übersehen kann.   „Ach, sieh einer an.“, sagt er übertrieben erstaunt und zuckt so nonchalant mit den Schultern, dass mir ein heißer Blitz direkt in den Magen fährt. Ungläubig blinzle ich ob seiner – und meiner eigenen – recht unpassenden Reaktion und stehe auf. Mit Schritten, die zielstrebiger sind, als ich mich fühle, gehe ich auf ihn zu.   „Würdest du mich bitte durchlassen?“, murre ich, all meiner professionellen Höflichkeit beraubt, und lege meine Hand an seine Schulter, um ihn aus dem Türrahmen zu schieben. Ein Felsbrocken ließe sich leichter bewegen, stelle ich im selben Moment fest, als mir ein unglaublich angenehmer, warm-würziger Duft in die Nase steigt. Ist das Reitas Parfum? Seine Finger umschließen die meinen, ziehen sie von seiner Schulter weg und mich willenlos hinter sich her, als er zurück in den Verkaufsraum geht. Irgendetwas stimmt mit meiner Wahrnehmung nicht, alles zieht in Zeitlupe vor meinen Augen dahin, während ich in einer Wolke aus Verwirrung treibe.   „Und? Was hältst du von meinem Vorschlag?“   Seine Stimme reißt mich aus dem entrückten Zustand, in den mich seine unerwartete Anwesenheit und die damit verbundene Überforderung getrieben haben. Blinzelnd versuche ich, mich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Ich stehe hinter der Kasse, Reita brav davor und eine Hand liegt auf dem Buch, das er nun über die Theke schiebt. Wann hat er meine Hand losgelassen? Und, viel wichtiger, wie bin ich hinter die Kassen gekommen? Hilfe.   „Entschuldige, ich … ehm.“ Unangenehm berührt reibe ich mir über den Nacken, greife nach dem Buch und scanne es ein. „Ich hab nicht ganz mitbekommen, was du gesagt hast. Das macht elftausendfünfhundert Yen.“ Reita zückt sein Portemonnaie, ohne seinen leicht spöttisch gewordenen Blick von mir zu nehmen.   „Hier. Der Rest ist für die Kaffeekasse.“ Dieses süffisante Grinsen gehört verboten oder ihm wahlweise aus dem Gesicht gewischt, stelle ich zähneknirschend fest, während ich den korrekten Betrag in die Kasse sortiere und die fünfhundert Yen Trinkgeld in unserer Spardose verstaue. „Ich wollte wissen, ob ich dich gleich mitnehmen soll?“   „Mitnehmen?“   „Ja, mit nach Hause zu Aoi.“   „Ich …“ Mein Magen fühlt sich an, als hätte ich einen riesigen Stein verschluckt, obwohl mir noch vor meiner Frage bewusst gewesen ist, was Reita gemeint hat. Warum ich dennoch so dumm nachgefragt habe? Keine Ahnung, vermutlich ein Reflex. Genauso ein Reflex, wie der, dass mir der Mund leicht offen steht und mir keine Erwiderung einfällt. Die Fähigkeit, anständige Konversation zu betreiben, hat mich verlassen und blanke Panik schnürt mir die Kehle zu.   „Uruha.“ Reitas Stimme ist leise und ganz sanft, genau wie seine Hand, die mit einem Mal wieder auf der meinen ruht. „Glaub mir, normalerweise würde ich mich nie einmischen, aber ich halte es nicht mehr aus, Aoi so zu sehen.“ Er seufzt und sein Daumen streicht so vorsichtig, als wäre ich aus fragilem Glas gemacht, über meine Haut. Fragil, ja genauso fühle ich mich und vollkommen überfordert obendrein. „Und wenn ich mir dich so ansehe, geht es dir auch nicht gut, mh?“   Ich senke den Blick, betrachte Reitas gebräunte Hand, die auf meiner Blassen liegt und einen sonderbar passenden Kontrast bildet. Eben noch hat mich dieser Kerl schier auf die Palme gebracht und nun muss ich den Drang unterdrücken, meine Hand zu drehen, um die seine umschließen zu können. Dieser Impuls ist neu und ist es doch nicht. Aoi und Reita dominieren meine Gedanken, seit ich von ihrer speziellen Freundschaft zueinander weiß. Dass ich Reita attraktiv finde, musste ich mir bereits nach unserem ersten aufeinandertreffen eingestehen und je öfter ich ihn sehe, desto deutlicher kann ich dieses andere, leisere Gefühl in mir wahrnehmen – Zuneigung.. Ich kann nicht mehr leugnen, dass ich mich zu beiden Männern auf ähnliche Weise hingezogen fühle, so sehr ich es auch versuche. Meine Gefühle machen mir Angst. Die Entscheidung, die ich zu treffen habe, macht mir Angst. Ich fühle mich gierig, weil ich sie beide will, fühle mich zerrissen, weil ich fürchte, dass diese Empfindung nicht auf Gegenseitigkeit beruhen wird. Nicht bei Reita und womöglich auch nicht mehr bei Aoi, wenn er erst begreift, was ich getan habe. Wieder meldet sich mein schlechtes Gewissen. Reita ist hier, weil es Aoi nicht gut geht, und ich weiß, dass das meine Schuld ist. Wie sehr wünsche ich mir, ihn vor Tagen nicht unwissend zurückgelassen zu haben, oder wenigstens mutig genug gewesen zu sein, um mich längst bei ihm gemeldet zu haben. Ich schnaube innerlich und entziehe mich Reitas viel zu angenehmer Berührung. Jegliche Überlegungen in diese oder eine andere Richtung sind müßig, solange ich mich nicht wieder einkriege und herumstehe wie eine Salzsäule.   „Was hat mich verraten? Die sexy Augenringe oder das attraktive Zittern meiner Finger.“ Holla die Waldfee, seit wann bin ich so schlagfertig? Ich lehne mich mit der Hüfte seitlich gegen die Kante der Theke, zaubere ein kokettes Lächeln auf meine Lippen und hoffe, er merkt nicht, wie überrascht ich von mir selbst bin.   „Mh, ich für meinen Teil finde deine fahle Gesichtsfarbe überaus anziehend“, entgegnet er, ein Lachen in der Stimme, und ich fühle, wie sich mein Inneres in zähes Karamell verwandelt. Nun ist es amtlich, ich bin ein hoffnungsloser Fall und mit Reita zu flirten, sollte sich nicht so gut und richtig anfühlen. Nicht, wenn da noch Aoi ist, dem ich unrechtgetan habe und bei dem ich mich dringend entschuldigen muss. Wenn ich nur nicht so große Angst vor einer Zurückweisung hätte. Ich schüttle den Kopf, vertreibe diese Gedanken, die das Potenzial in sich tragen, mich in eine Abwärtsspirale aus Panik und Selbstvorwürfen zu stürzen. Allen Mut zusammenkratzend sehe ich auf und Reita in die Augen.   „Mir ist schmerzlich bewusst, dass ich Aoi verletzt habe. Zum einen mit meinem abrupten Abgang und zum anderen, weil ich mich seither nicht mehr bei ihm gemeldet habe.“   „Und was hindert dich daran, die Sache nun wieder geradezurücken?“   „Ich hab Angst. Was ist, wenn ich ehrlich zu ihm bin und damit alles nur noch schlimmer mache?“   „“Ich weiß nicht, worum es dir geht, was dich dazu gebracht hat, überhaupt erst die Flucht zu ergreifen …“ Beim Wort Flucht zucke ich zusammen. So ein harscher Ausdruck und doch beschreibt er genau das, was ich getan habe. „Aber Aoi war ehrlich zu dir, nicht wahr? Er hat dir von uns beiden erzählt, damit du weißt, worauf du dich einlässt, obwohl er ebenso gefürchtet hat, dass du das nicht verstehen und ihn deswegen fallenlassen würdest. Stimmt doch, oder?“ Reita sieht mich fragend an und ich beeile mich, zu nicken. „Dann hat er es verdient, dass auch du ehrlich zu ihm bist, egal, was du denkst, dass zwischen euch steht.“   „Ich verstehe dich nicht“, platzt es aus mir heraus, aber ich kann die Frage nicht mehr länger in mir verborgen halten. Ich muss es wissen, muss mehr über Reita und seine Beweggründe erfahren, bevor ich mich Aoi und meinem Geständnis stellen kann.   „Was meinst du?“ Reitas Blick ist verwirrt, was ich ihm nicht verübeln kann, und ich zwinge mir ein schmales Lächeln auf die Lippen.   „Warum ermunterst du mich, mit Aoi zu reden? Müsste es nicht vielmehr in deinem Interesse sein, dass er mich so schnell wie möglich wieder vergisst?“ Ohne, dass ich es will, werden meine Augen feucht, allein bei dem Gedanken, Aoi nie wieder nahe sein zu können, weil ich zu feige war, ehrlich zu ihm zu sein. Habe ich meine Chance bei ihm verspielt? Und wie soll ich es erst ertragen, auch Reita nicht mehr zu sehen? Wenn die beiden Männer aus meinem Leben verschwinden, dann … dann …   „Ach Uruha.“ Reita schüttelt den Kopf und sein Lächeln ist so herzlich, dass ich für einen Moment Probleme habe, den oft so irritierenden Kerl, der eben erst unerlaubt in mein Büro spaziert ist, mit dem Mann in Einklang zu bringen, der nun vor mir steht. „Es ist unübersehbar, wie gut du Aoi tust, wie gut ihr euch beide tut. Ihn an dem Abend unseres Kinobesuchs so glücklich und gelöst zu sehen, hat auch mir unheimlich viel gegeben, glaub mir. Ich würde seinem Glück nie im Weg stehen und dasselbe gilt für ihn. Darum musst du keine Angst haben, dass du dich zwischen Aoi und mich drängst, oder was auch immer gerade in deinem hübschen Köpfchen vor sich geht.“ Bei der Bezeichnung hübsch laufe ich knallrot an, was den verständnisvollen Ausdruck von Reitas Gesicht fegt und einem selbstzufrieden überheblichen Grinsen Platz macht. „Ich weiß, was ich an ihm habe und ich weiß auch, dass nie jemand meinen Platz in seinem Herzen einnehmen wird.“ Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder, ohne dass mir ein Laut entkommt. Was könnte ich auch sagen, das deutlich macht, wie nah mir seine Worte gehen, wie sehr ich mir in diesem Augenblick wünsche, ein Teil dieser innigen Zuneigung zu sein, die in seinen Augen steht, sobald er über Aoi spricht. „Sein Herz ist groß genug für uns beide“, setzt Reita bedeutungsschwanger hinterher und nimmt für keine Sekunde den Blick von mir. „Und, wenn du mir diese saloppe Ausdrucksweise verzeihst, ich hätte hier auch noch ein Plätzchen frei.“   Er deutet mit dem Daumen auf seine Brust, genau über seinem Herzen, und in meinen Ohren beginnt es zu Rauschen. Ich habe vergessen, wie man atmet, wie man blinzelt oder generell, wie man sich bewegt. Bedeutet das wirklich das, was ich denke? Meint Reita seine Worte so, wie ich sie verstehe, oder interpretiere ich zu viel in sie hinein? Meine Handflächen schwitzen und ein feines Zittern fährt mir durch die Glieder. Den Großteil meines erwachsenen Lebens habe ich versucht, meine Mitmenschen auf Abstand zu halten, aus Angst, sie würden mich verletzen. Zu viele schlechte Erfahrungen habe ich in der Vergangenheit machen müssen, zu schmerzhaft waren die Zurückweisungen, die ich ertragen musste. Meine Narbe beginnt zu kribbeln und ich muss den Drang unterdrücken, über sie zu kratzen. Er hat noch nicht gesehen, welche Hässlichkeit ich vor ihm, vor der Welt verberge. Wären seine Worte ebenso selbstsicher, wüsste er Bescheid? Ein großer Teil in mir will hoffen, will glauben, dass Reita anders ist, meine Furcht hält dagegen, will sich zurückziehen, auf Abstand gehen. Ich suche seine Augen, finde sie, halte mich an ihnen fest. Sein Blick ist offen, birgt eine Wärme, die mich einhüllt, meinen rasenden Herzschlag beruhigt. Da steht er also, mit sprichwörtlich geöffneten Armen, und präsentiert mir eine Chance auf dem Silbertablett, von der ich nie zu träumen gewagt habe. Dennoch bringe ich es nicht über mich, weiter nachzuhaken, obwohl alles in mir danach schreit, Gewissheit zu brauchen.   „You look so beautiful, when you’re smiling.“ Unwillkürlich fasse ich mir an die Lippen und fühle ein Lächeln dort. Nicht zu fassen. Reita sieht aus, wie die Katze, die den sprichwörtlichen Kanarienvogel gefressen hat. Argh! Ein kleiner Teil in mir will sich empören. Was fällt ihm ein, mich so anzusehen, mir so schöne Worte zu sagen, nachdem er eine solche Bombe hat platzen lassen? Der weitaus größere Teil will ihm am liebsten um den Hals fallen. Reita mag irritierend sein, überheblich und im Besitz eines viel zu großen Egos, aber er weiß mit schlafwandlerischer Sicherheit, was er sagen muss, um den Sturm der widersprüchlichen Emotionen in meinem Inneren langsam abebben zu lassen.   Das muntere Klingeln des Glöckchens über der Eingangstür reißt mich aus meiner Erstarrung und schiebt die Entscheidung auf, wie ich nun auf sein Geständnis reagieren soll. Ruki kommt in den Laden gefegt, wie der zu kurz geratene Wirbelwind, der er ist, und spricht Worte aus, die mir nur allzu bekannt sind.   „Sorry, bin zu spät, kommt nicht wieder vor.“   Reita lacht und winkt ihm zu, ich schüttele den Kopf, um Selbigen wieder freizubekommen. Dieses Verhalten ist so typisch für Ruki und ich weiß jetzt schon, dass er auch morgen einige Minuten zu spät kommen wird. Das ist und bleibt seine Art, egal wie oft er mir versichert, sich bessern zu wollen. Ich schmunzele. Wenn ich ehrlich bin, will ich ihn gar nicht anders haben.   „Kein Problem“, versichere ich ihm, nicht ohne Hintergedanken, wie er keine Sekunde später feststellen muss. „Dir macht es sicher nichts aus, für ein paar Stunden allein im Laden zu sein, oder? Nachmittags ist ohnehin nie viel los und ich bin spätestens um fünf wieder zurück.“   „Ach wieso denn? Wo musst du denn hin?“ Tja, das wüsste er wohl gerne. Ich spüre, wie sich das Schmunzeln auf meinen Lippen zu einem ausgewachsenen Grinsen ausweiten will, verkneife es mir jedoch.   „Reita und ich haben etwas zu erledigen.“ Ich schenke Reita einen vielsagenden Blick, den er wiederum mit genau dem wissenden Grinsen erwidert, das ich eben so erfolgreich unterdrückt habe.   „U~und das wäre?“ Die Augen des kleinen Mannes sind kugelrund und die Neugierde steht ihm quer übers Gesicht geschrieben.   „Du musst nicht alles wissen, Ruki“, sage ich streng, gehe ins Büro, um mir meinen Mantel anzuziehen und die Tasche umzuhängen, und kehre in den Verkaufsraum zurück. Das Bild, welches sich mir bietet, ist göttlich. Ruki starrt Reita an, als könnte er dem offensichtlichen Rätsel unseres Vorhabens durch seine Schädeldecke hindurch auf den Grund gehen, wohingegen so Angestarrter nur lässig durch sein neu erworbenes Buch blättert. „Fertig“, verkünde ich und schenke Ruki noch ein ehrlich dankbares Lächeln. „Auf dem Rückweg bringe ich Muffins mit, okay?“   „Die mit dreifach Schokolade von der neuen Bäckerei am Bahnhof?“   „Genau die.“   Ruki strahlt und scheint für den Moment selbst seine Neugierde vergessen zu haben. Erstaunlich, was die Aussicht auf eine süße Leckerei für eine Wirkung auf ihn hat. Ich beeile mich, hinter Reita den Laden zu verlassen, bevor ich mich doch noch der Inquisition gegenübersehe. Wie automatisch laufe ich dem blonden Mann hinterher. Er ist nur geringfügig kleiner als ich, stelle ich gerade zum ersten Mal fest, und ein warmes Gefühl überkommt mich, über das ich im Moment nicht so genau nachdenken kann. In mir stapeln sich die Emotionen und purzeln die Gedanken so wild durcheinander, dass mir schwindlig wird, wenn ich mich zu lange auf einen von ihnen konzentriere.   Anders, als vermutet, schlägt Reita nicht den Weg zum Bahnhof ein, sondern führt mich eine Seitenstraße entlang, in der er wenige Schritte später vor einem schicken roten Flitzer zum Stehen kommt. Mir hätte klar sein müssen, dass ein Bike-Enthusiast, wie Reita einer ist, selbst im Winter nicht auf ein angemessen stilvolles Beförderungsmittel verzichtet. Öffentliche Verkehrsmittel sind etwas für Büroangestellte, Schüler und Leute wie mich, die von einem Auto wie diesem nur träumen können. Reita hat die Geschwindigkeit im Blut, das konnte ich schon bei unserer ersten Fachsimpelei über Motorräder spüren.   „Schönes Auto“, murmle ich und widerstehe dem Drang, über den glänzenden und blitzsauberen Lack zu streichen. „Ein Honda NSX, oder?“   „Jepp, ein Original aus den 90ern. Die Lady hat schon einige Jahre auf dem Buckel, aber nichts von ihrem Feuer verloren, wenn du verstehst, was ich meine.“   Reitas Worte bescheren mir ein heißes Ziehen in der Magengegend. Verflucht. Ich sollte die Art, wie er über diese Schönheit eines Autos spricht, nicht so anziehend finden. Mit einem anzüglichen Lächeln auf den Lippen, als hätte er haargenau mitbekommen, wie ich auf ihn reagiere, schließt er den Wagen auf und bedeutet mir mit einer Handbewegung, einzusteigen.   „Reita, ich …“, beginne ich, ohne genau zu wissen, was ich sagen will. Sein Geständnis kreist in meinem Kopf, wie ein Karussell, schneller und schneller. ‚Ich hätte hier auch noch ein Plätzchen frei.‘ „Bitte entschuldige, dass ich noch nicht darauf reagiert habe, was du vorhin zu mir gesagt hast, aber ich … Das mit Aoi … Ich weiß einfach nicht …“ Mit einem Mal liegt seine Hand auf meiner Schulter, warm, erdend und das Verständnis in seinem Blick gibt mir den Halt, den ich zu verlieren drohe.   „I’m a patient man, Uruha.“   Ich weiß nicht, ob es seine anhaltende Nähe ist oder die englischen Worte, die in einem tiefen Brummen über seine Lippen gekommen sind, aber plötzlich bedeckt eine Gänsehaut meinen gesamten Körper. Gerade so schaffe ich es, nicht zu erschauern, wohlig die Augen zu schließen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich längst entschieden und es würde mich nicht wundern, wenn Reita dies bereits vor mir wusste. Einen langen Moment sehe ich ihm in die Augen, will so viel sagen, so viel tun, aber schlussendlich nicke ich nur und trete einen Schritt zurück.   „Danke“, wispere ich, umrunde den Wagen und greife nach dem Türöffner, ohne seiner Aufforderung sofort nachzukommen. Ich atme ein und wieder aus, ein und wieder aus. Aois Gesicht schiebt sich vor mein inneres Auge, erst lächelnd, mit einem liebevollen Glanz im Blick, dann verunsichert, ein verletzter Ausdruck auf den schönen Zügen. Mit Macht holen mich meine Unsicherheiten ein, als mir bewusst wird, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn ich erst in dieses Auto eingestiegen bin. Kann ich das wirklich? Will ich es überhaupt? Was, wenn ich ihm nun gegenübertrete, obwohl ich ihn längst verloren habe? Noch kann ich mich der Illusion hingeben, dass er mir meine Flucht nicht übel nimmt, mir meine Feigheit nicht vorhält. Noch kann ich von einem Happy End träumen, in dem mich Reitas starke Arme halten und Aoi mich ansieht, als wäre ich das Wertvollste auf der Welt. Ich kämpfe gegen den Kloß an, der sich in meiner Kehle breitmachen will.   „Alles okay?“ Reita hat es mir abgenommen, die Beifahrertür zu öffnen, und sieht mich vom Fahrersitz aus fragend an. Ich nicke und beiße mir auf die Innenseite meiner Unterlippe, um dem Ansturm meiner Ängste keinen Raum zu geben. Entschlossen schwinge ich mich ins Fahrzeug, ziehe die Tür mit einem Finalen Laut zu. Das Leder des Sitzes ist unverschämt weich und schmiegt sich an mich, als würde es mich umarmen wollen. Innerlich schnaube ich ob meiner Gedanken, äußerlich schließe ich lediglich für einen kurzen Moment die Augen, bevor ich mich soweit wieder gefasst habe, dass ich Reita auffordernd ansehen kann.   „Dann zeig mal, was das Baby so unter der Haube hat.“ Meine Worte klingen deutlich selbstbewusster, als ich mich fühle, aber was soll es schon? Reita grinst mich an, startet den röhrenden Motor und fädelt sich souverän in den Großstadtverkehr ein. Ich kann mutig sein, will mutig sein, weil Aoi es verdient hat, dass ich endlich ehrlich zu ihm bin. Kapitel 18: Shinjitsu – Wahrheit -------------------------------- Aoi:   Ich nehme die Hände von der Tastatur, lege den Kopf schief und lausche. Das ist Reitas Auto, das gerade in unsere Einfahrt einbiegt, oder? Ich kenne keinen Wagen, dessen Auspuff so grenzwertig laut ist, wie der meines liebsten Freundes. Unsere gediegenen Nachbarn würden es nie wagen, auf eine solche Art und Weise auffällig zu sein, aber Reita kümmert sich nicht darum, was andere denken, das hat er noch nie. Ich stehe auf, verlasse mein Arbeitszimmer und gehe die Stufen hinunter ins Erdgeschoss. Wollte er sich nicht mit Tora in der Stadt treffen? Eigenartig. Ich öffne die Haustür und lehne mich abwartend gegen den Rahmen. Vielleicht hat er nur etwas vergessen; wundern würde es mich nicht. Wie erwartet höre ich keinen Moment später das Zuschlagen der Wagentüren und Schritte auf dem Kies, die sich dem Haus nähern. Reita scheint Tora mitgebracht zu haben, denn ich kann zwei Umrisse erkennen. Dann hat er also doch nichts vergessen. Ich lächle und öffne den Mund, um die beiden zu begrüßen. Derart durch meine Annahme getäuscht, bemerke ich zu spät, dass es nicht Tora ist, der nun vor mir steht.   „Hallo, Aoi“, murmelt eine vertraute Stimme, die ich in den letzten Tagen schmerzlich vermisst habe. Mein Mund klappt unverrichteter Dinge wieder zu. Nun erkenne ich auch seine schmale, hochgewachsene Gestalt und die dunklen Haare, die das blasse Oval seines Gesichts stets halb verbergen.   „Uruha“, hauche ich, zu keiner weiteren Reaktion fähig. Ich spüre Reitas Hand auf meiner Schulter, wie er diese kurz drückt, bevor er sich an mir vorbei ins Haus schiebt. Wir haben in den letzten Tagen so oft über das gesprochen, was geschehen war. Mindestens genauso oft wollte mein Freund mich davon überzeugen, dass ich mich über Uruhas eindeutigen Wunsch hinwegsetzen und mich bei ihm melden soll. Er hatte mich beinahe soweit, aber ich habe widerstanden und ihn gebeten, sich nicht einzumischen. Ganz offensichtlich vergebens – Verräter. Mein Mund fühlt sich wie ausgetrocknet an und der Schwindel in meinem Kopf erinnert mich daran, dass ich in den letzten Sekunden das Atmen eingestellt habe. Gierig schnappe ich nach Luft, während Uruha stumm und scheinbar abwartend vor mir steht. Warum hat Reita das getan? Uruha räuspert sich unbehaglich, aber noch immer schaffe ich es nicht, meine Erstarrung abzuschütteln.   „Können wir reden?“   Jetzt? Dieses Wort hätte ich ihm am liebsten entgegengeschrien. Nach beinahe einer Woche steht er hier und will reden. Eine Woche, die mir wie eine Unendlichkeit vorgekommen ist. Ausgerechnet jetzt, wo ich nicht mehr alle zehn Minuten auf mein Handy sehe, weil ich befürchte, seinen versprochenen Anruf verpasst zu haben. Bis eben war ich stolz auf mich, das Mobiltelefon heute noch nicht in den Fingern gehabt zu haben, aber was nutzt mir diese selbstauferlegte Beherrschung nun? Absolut nichts. Jetzt, da Uruha vor mir steht, ist sie wieder da – die Sehnsucht, die mir in den letzten Nächten den Schlaf und tagsüber den Verstand geraubt hat.   „Natürlich, komm rein“, höre ich mich gefasster sagen, als ich mich fühle, und drehe mich herum, darauf vertrauend, dass er mir folgt. Ich überlege, ob wir ins Wohnzimmer gehen sollen, entscheide mich dann aber für die Küche. Neutraler Grund erscheint mir für unser Gespräch am sinnvollsten. „Möchtest du etwas trinken?“   „Ein Wasser, bitte.“   Ich nicke, hole ein Glas und eine Flasche Mineralwasser, stelle beides auf den Küchentisch, bevor ich mich zur Arbeitsplatte umdrehe und den Wasserkocher einschalte. Etwas Stärkeres wäre mir zwar lieber, aber irgendetwas sagt mir, dass ich bei klarem Verstand sein sollte, egal, was mir Uruha offenbaren will. Während ich mir also einen Tee aufbrühe, hoffe ich, er würde zu reden anfangen, solange meine Hände noch beschäftigt sind, aber er schweigt. Erst, als ich mich mit meiner dampfenden Tasse ihm gegenübersetze und auffordernd in seine Richtung sehe, räuspert er sich erneut.   „Ich habe vorhin versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen.“   „Ach?“ Ehrlich verblüfft hebe ich eine Augenbraue und erkenne seine Worte als das, was sie sind, ein Einstieg in das, worum es ihm wirklich geht. „Ich war beschäftigt. Mein Handy hängt im Wohnzimmer am Strom, da habe ich es wohl nicht gehört.“   „Ja~“, zögert er das, was er sagen will, noch länger hinaus, und wäre ich nicht so enttäuscht und verletzt, hätte ich Mitleid mit ihm. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie ich es ihm leichter machen soll, denn ich weiß noch immer nicht, was schiefgelaufen ist. Welchen Fehler habe ich gemacht, dass er Hals über Kopf die Flucht ergriffen hat? So oft habe ich diesen einen Moment in Gedanken durchgespielt, aber mir will keine plausible Erklärung einfallen. Zu allem Überfluss hat die mir von ihm unfreiwillig auferlegte Funkstille nicht dazu beigetragen, mich weniger in Schuld und Zorn gleichermaßen gären zu lassen.   „Hör mal, Uruha“, beginne ich einige Minuten der unangenehmen Stille später, weil ich nicht mehr stumm hier sitzen kann. „Ich weiß zwar noch immer nicht, was ich falsch gemacht habe, aber egal, was es war, es tut mir aufrichtig leid.“   „Nein“, sagt er energisch und erhebt sich von seinem Stuhl. „Aoi, bitte, mir tut es leid. Ich hätte es dir schon viel früher sagen sollen.“   „Was denn? Was hättest du mir sagen sollen.“ Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Kommt nun alles ans Licht? Sagt er mir nun, dass er mit der unkonventionellen Art, wie Reita und ich unsere Freundschaft … Liebe leben, nicht klarkommt? Muss ich mich nun als beziehungsunfähig und egoistisch bezeichnen lassen, wie es in der Vergangenheit durchaus schon vorgekommen ist? Bislang sind derartige Vorwürfe an mir abgeprallt, aber ich kann nicht einschätzen, wie ich reagiere, sollte ich so etwas nun aus Uruhas Mund hören. Mit ihm ist alles anders. Noch nie habe ich, Reita ausgenommen, so für einen anderen Menschen empfunden.   Uruhas leises Seufzen, das fast wie ein Aufschluchzen klingt, reißt mich aus der Spirale meiner Befürchtungen. Was ist nur los mit ihm? Noch immer steht er halb aufgerichtet vor mir, den Tisch beinahe wie eine physikalische Barriere zwischen uns.   „So geht das nicht“, bestimme ich halblaut, stehe ebenfalls auf und trete an seine Seite. „Hey.“ Meine Stimme ist sanft, genau wie die Hand, die ich auf seine Schulter lege. Fast glaube ich, mich einem verletzten Tier zu nähern, das jeden Moment aufspringen und davonlaufen könnte. Ein Zittern erfasst seinen Körper, lässt mich wünschen, ihn in meine Arme nehmen zu können. „Ich weiß nicht, wovor du so eine Angst hast, aber ich muss nicht mal deinen Gesichtsausdruck sehen können, um zu spüren, dass es dir nicht gut geht. Rede mit mir.“ Beschwörend sehe ich ihn an, wünsche mir nicht zum ersten Mal, ihn wirklich erkennen zu können. Um wie vieles leichter wäre es, seine Regungen nicht nur zu erahnen, sondern Gewissheit zu haben.   „Ich wollte dich nicht verletzen und ich weiß, dass ich es damit, mich so lange nicht gemeldet zu haben, nur noch schlimmer gemacht habe. Es tut mir ehrlich leid.“   „Ich glaube dir“, sage ich und kaum, dass ich die Worte ausgesprochen habe, setzt sich die Gewissheit in meinem Herzen fest, dass sie der Wahrheit entsprechen. All die Wut, all das Unverständnis der letzten Tage ist verpufft und ein Gefühl der Ratlosigkeit macht sich in mir breit. „Bitte sag mir, was los ist. Ich muss verstehen, warum du weggelaufen bist. Hab ich etwas falsch gemacht? Ist es doch wegen Reita und mir?“ Nun habe ich meine größte Befürchtung laut ausgesprochen und für einen Moment legt sich bleischwere Stille über uns. Uruhas Hände umfassen die meinen, ziehen sie nach oben, bis er seine Stirn gegen die Knöchel legen kann. Eine eigenwillige Haltung, aber ich bin nur froh, dass er mich diesmal nicht unwissend zurücklassen will. Er braucht Zeit und ich versuche, meine Ungeduld im Zaum zu halten.   „Es … hat nichts mit Reita und dir zu tun“, beginnt er stockend und mit so brüchiger Stimme, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen. „Ganz im Gegenteil. Ich hatte in den letzten Tagen ausreichend Zeit, über alles nachzudenken.“   „Ja?“ Ich kann nicht anders, hatte sich meine Ungeduld gerade noch gelegt, ist sie nun mit voller Macht zurück. „Und wohin haben dich deine Überlegungen geführt?“ Uruha lacht leise, ein wässriger Laut, der meine Vermutung bestätigt, dass sein Zittern nicht ausschließlich von emotionalem Stress herrührt.   „Zurück zu dir … aber ich weiß nicht, ob du mich überhaupt willst, wenn du erst einmal die Wahrheit kennst.“ Das Glücksgefühl, welches sich bei Uruhas Worten in mir breitgemacht hat, schwächt sich ab, als erneut Zweifel in mir aufsteigen. Welche Wahrheit, wovon spricht er?   „Ich verstehe nicht …“ Sein Zittern wird stärker, als er den Klammergriff um meine Hände löst, um meine Rechte zu seiner linken Wange zu dirigieren. Die Gesichtsseite, die stets von seinen Haaren verborgen ist. Im ersten Moment verstehe ich nicht, spüre nur warme Haut unter meinen Fingerkuppen und Feuchtigkeit, die eindeutig von Tränen rührt, doch dann fühle ich es. Wulstige Narben, die sich über seine Wange ziehen, wie ein Wurzelgeflecht. Meine Augen weiten sich vor Entsetzen. Kein Wunder, dass er zurückgewichen ist, als ich ihn vor Tagen dort berührt habe. Es war mir nicht aufgefallen, zu sehr war ich in den wohligen Gefühlen versunken, die er und unser Kuss in mir ausgelöst hatten. Für ihn jedoch musste diese unbedachte Berührung wie ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.   „Oh Uruha“, entkommt mir, ohne, dass ich die Worte aufhalten kann. „Das habe ich nicht gewollt. Ich bin so ein Trampel.“   „Nicht“, wispert er und ich fühle kurz den Druck seines Fingers auf meinen Lippen. „Du hast es nicht gewusst, du hast keinen Fehler gemacht.“   „Ich hätte besser achtgeben müssen.“ Ich höre, was er sagt, verstehe, was er meint, dennoch nagen Schuldgefühle an mir. Mir war aufgefallen, dass er sich zeitweise eigenartig verhalten hat, als würde er sich vor mir verstecken wollen. Aber es war so viel passiert an diesem Abend, dass ich es als nicht so wichtig abgetan habe. Wie dumm von mir.   „Aoi bitte, gib dir nicht die Schuld an Dingen, für die du nichts kannst. Außerdem … das ist nicht der alleinige Grund, weshalb …“ Ich spüre seine Gesichtsmuskeln unter meinen Fingern arbeiten. Kneift er die Augen zusammen oder presst er die Kiefer aufeinander? Egal, was auch immer, es ist ein Ausdruck seiner Anspannung. „Ich bin nicht ehrlich zu dir gewesen“, flüstert er und seine Finger krallen sich schmerzhaft in mein Handgelenk, als ich ihn von meiner Berührung erlösen will. „Was auch immer du in mir gesehen …“ Er bricht ab und formuliert seinen Satz neu. „Welchen Eindruck du auch immer von mir hattest, er ist nichts als eine Maske gewesen.“   „Das …“ Ich schüttele den Kopf, um meine wild durcheinander rasenden Gedanken in eine klare Linie zu zwingen. „Mir tut es leid, dass es dir unangenehm war, von mir … dort berührt zu werden. Klar, ich habe es nicht gewusst, aber ich hätte besser aufpassen müssen.“   „Verstehst du denn nicht?“ Nun lässt Uruha mich los, geht einen Schritt zurück und ich erkenne seine plötzlich harschen Worte als das, was sie sind. Ein letzter verzweifelter Versuch, nicht erneut den Mut zu verlieren. „Unter anderen Umständen hätte ich nie mit dir gesprochen, wäre nie mit zu dir gefahren, hätte dich nie … nie … geküsst.“   „Unter welchen anderen Umständen denn?“ Beschwörend hebe ich beide Hände, nun selbst der Verzweiflung nahe, weil Uruhas Schmerz beinahe greifbar zwischen uns hängt, seine Worte jedoch keinen Sinn ergeben.   „Wärest du nicht fast blind und würdest mich sehen.“ Uruhas Stimme ist monoton und bar jeder Emotion, als er mir mit seinen Worten ein Messer direkt zwischen die Rippen sticht. Mir stockt der Atem, während sich der Schmerz in mir wie ein dunkler Nebel ausbreitet. Da ist sie also, die Wahrheit, die nun bleischwer zwischen uns hängt. Das Gesagte hallt in mir nach wie ein Paukenschlag, bringt jede Faser meines Körpers zum Erbeben. Ich spüre, wie meine Augenwinkel brennen, halte die Tränen jedoch zurück. Wie betäubt gehe ich zurück zu meinem Stuhl, lasse mich darauf sinken. „Es tut mir leid, ich …“ Stoff raschelt, vermutlich zuckt Uruha mit den Schultern, weil ihm die Worte fehlen. Was sollte er auch sagen? Nicht einmal ich weiß genau, was ich denken oder wie ich auf seine Wahrheit reagieren soll. „Ich sollte besser gehen.“   „Nein!“ Dass ich in dieser Situation noch so energisch sein kann, habe ich nicht für möglich gehalten, aber die Aussicht darauf, dass er gehen und mich erneut mehr oder weniger ahnungslos zurücklassen könnte, ist unerträglich. „Bitte bleib, lass uns reden.“   „Aber …“ Es dauert lange, aber irgendwann kommt er meiner Bitte nach und setzt sich wieder an den Tisch.   „Was bin ich für dich?“   „Ich verstehe nicht?“   „War ich nur eine ungefährliche Möglichkeit für dich, deine eingerosteten zwischenmenschlichen Fähigkeiten wieder zu trainieren? War ich so lange gut genug, bis … bis …“ ‚Bis wir uns zu nahe gekommen sind und ich an deinem Panzer gekratzt habe?‘   „Ich wollte dich nie ausnutzen …“   „Du meinst wohl meine Blindheit.“   „Ich … ja … Bitte glaub mir, dass mich das zwischen uns einfach überrollt hat. Ich hätte nie gedacht, dass mir jemals ein Mensch in so kurzer Zeit so wichtig werden könnte, wie du. Ich hatte Angst, an diesem Abend, Angst, dass du die Narben bemerkst, dass du dich vor mir ekeln könntest. Ich habe das schon zu oft erlebt …“   Nun fallen die Tränen, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Mein Herz ruft nach Uruha, verlangt danach, ihn in den Arm zu nehmen, den Schmerz aus seiner Stimme mit zarten Worten und Küssen zu vertreiben. Mein Verstand nennt mich einen Dummkopf, besteht darauf, gekränkt und verletzt zu sein. Wie soll ich ihm verzeihen? Wie kann ich es nicht tun? Ich reibe mir über die Augen, verbanne die Feuchtigkeit und straffe die Schultern.   „Du hättest mir das nicht sagen müssen, das war mutig von dir“, sage ich schlussendlich, kann jedoch die Kränkung nicht aus meiner Stimme tilgen. Ich kann ihm nichts vormachen, kann nicht so tun, als würde ich über den Dingen stehen. „Darum will ich jetzt auch ehrlich zu dir sein – ich weiß nicht, was ich denken, geschweige denn fühlen soll.“   „Es tut mir leid.“ Ein tonloses Hauchen, das sich so schwach anhört, wie die zusammengesunkene Gestalt mir gegenüber auf mich wirkt.   „Es tut weh, zu wissen, dass ausgerechnet meine Behinderung, die mir mein Leben so schwer macht, nun dafür verantwortlich sein soll, dass ich überhaupt den Hauch einer Chance bei dir hatte.“   „Hast.“   „Was?“   „Du HAST eine Chance bei mir, eine sehr Große sogar … wenn du sie haben willst.“   Ich kann nicht anders, meine Nerven liegen so blank und meine Emotionen sind so roh, dass mir ein heiseres Lachen über die Lippen kommt, noch bevor ich es aufhalten kann. Ich schüttele den Kopf, verberge für einen Moment mein Gesicht hinter beiden Händen.   „Ich wollte nie etwas anderes.“   Ich höre die Stuhlbeine über den Fliesenboden kratzen und spüre zwei Atemzüge später Uruhas Präsenz neben mir. Er kniet sich vor mich, spiegelt die Haltung, die ich vor einigen Tagen genau an diesem Ort eingenommen hatte. Ich hebe den Kopf und plötzlich sind sich unsere Gesichter ganz nah.   „Ich wollte dir nie wehtun, ich hab nur so große Angst.“   „Vor was?“   „Davor, dass du mich abstoßend findest, genau wie die anderen vor dir.“ Ich hebe die Hand, streichle erst über Uruhas weiche Haare, bevor ich es wage, ihm die Strähnen hinters Ohr zu schieben. Für meine schlechten Augen ist sein Gesicht makellos und obwohl ich weiß, dass die Narben da sind, kann ich sie nicht erkennen. Ich kann mir nicht vorstellen, ihn jemals abstoßend zu finden. Es waren seine Stimme, seine zurückgezogene Art, die ihn für mich interessant gemacht haben und es waren seine Herzlichkeit, seine Wärme, in die ich mich letzten Endes verliebt habe. Sein Aussehen war nie ausschlaggebend und ist es auch jetzt nicht. „Wärest du damals nicht über die Kisten gestolpert und hätte ich in dem Moment nicht ausschließlich daran gedacht, dich nicht fallen zu lassen, wären wir nie ins Gespräch gekommen, verstehst du?“ Ich nicke unwillkürlich und Uruhas Stimme wird kräftiger, als verlöre er sich in den Erinnerungen, die auch in mir wie ein Daumenkino vorbeiziehen. „Ich fand dich von Anfang an interessant, hatte mir immer ausgemalt, wie es wäre, mit dir zu sprechen, aber mich nie getraut. Und dann kamst du plötzlich nicht mehr, monatelang.“ Ich weiß genau, wovon er redet, spüre noch heute die langen Finger der Depression, die damals, nach der erneuten Verschlechterung meiner Sehbehinderung, jeden Aspekt meines Alltags kontrolliert hatte. Wäre Reita damals nicht an meiner Seite gewesen, hätte mich unterstützt und die Geduld eines Heiligen besessen, ich wüsste nicht, wo ich heute wäre. Es war mir so schwergefallen, wieder das Haus zu verlassen. Es waren Gedanken an das Kiseki, an den Buchhändler mit der Samtstimme, dessen unnahbare Art mich so faszinierte, die mich haben kämpfen lassen. Ich wollte meinen Weg zu Uruha wieder alleine finden, wollte mir die Chance, ihn irgendwann auf mich aufmerksam zu machen, nicht von meinen dummen Augen durchkreuzen lassen. Genaugenommen ist Uruha mit verantwortlich, dass ich nicht aufgegeben habe, und irgendwann werde ich ihm das auch sagen. Aber nun senkt er den Kopf, spricht leiser weiter: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich dich endlich wiedergesehen habe. Ich hatte mir geschworen, dich anzusprechen und es doch nie geschafft. Und dann …“ Er schnaubt ein kleines, wässriges Lachen, das mich wärmt und mich erneut wünschen lässt, ihn einfach in die Arme nehmen zu können. Allerdings ahne ich, dass es falsch wäre, ihn jetzt zu unterbrechen.  „Ich konnte es nicht fassen, als wir nach deinem kleinen Beinahe-Unfall tatsächlich ins Gespräch gekommen sind. Ich habe mich von der ersten Minute an so unendlich wohl in deiner Gegenwart gefühlt. Ich konnte so sein, wie ich bin, ohne befürchten zu müssen, eine kleine Bewegung, ein falscher Blick könnte mir alles nehmen …“ Nun verstummt er und erneut ruft mein Herz nach ihm. Ich versuche, mich in seine Situation hineinzuversetzen, überlege, wie ich an seiner Stelle gehandelt hätte, und komme zu dem Schluss, dass ich seine Beweggründe mehr als nachvollziehen kann. Ich öffne den Mund, aber Uruha kommt mir zuvor, als er kaum verständlich wispert: „Ich habe mich in dich verliebt.“ Ich höre das Zittern in seiner Stimme. Hat er noch immer Angst, ich würde ihn von mir stoßen? „Bitte verzeih mir.“   Er hebt den Blick, sucht und findet meine Augen. Ich kann nicht blinzeln, kann nicht atmen, während eine wohltuende Wärme jeden Winkel meines Körpers auszufüllen beginnt. Meine Kränkung wirft die Hände über den Kopf, schüttelt selbigen und trottet mit geschlagenen Schritten aus meinem Unterbewusstsein. Gut so, selbst sie scheint begriffen zu haben, dass ich Uruha nicht böse sein kann … will. Was muss er alles durchgemacht haben, um sich so von allem und jedem abzukapseln, dass es einen tollpatschigen Blinden braucht, um ihn ein Stück weit aus seinem Schneckenhaus zu locken? Dieser Gedanke lässt meinen rechten Mundwinkel zucken und ich werfe jede Vorbehalte Uruha gegenüber über Bord, als sich ein feines Lächeln auf meine Lippen schleicht.   „Du hast dich wirklich in mich verliebt?“ Er nickt und irgendetwas sagt mir, dass ich mir die feine Röte nicht nur einbilde, die sich über seinen Nasenrücken zieht. „Und es schreckt dich nicht ab, dass du mich nur mit Reita zusammen haben kannst?“ Ich habe meine Worte betont unverblümt gewählt, weil ich eine eben solche Reaktion aus Uruha herauskitzeln will. Und ich werde nicht enttäuscht, denn seine Gesichtsfarbe ist nun eindeutig dunkler, das erkenne sogar ich.   „Ganz im Gegenteil“, wispert er.   Wie interessant. Seine Worte schüren eine Ahnung in mir und ich frage mich, ob Reita die Chance beim Schopf gepackt und bereits selbst mit Uruha gesprochen hat. Wundern würde es mich nicht, mein Freund lässt nichts anbrennen. Innerlich entschuldige ich mich bei Reita, aber schiebe ihn für den Moment aus meinen Gedanken, um mich wieder voll und ganz auf den Mann vor mir konzentrieren zu können. Seine Finger finden die Meinen und für einen Moment schließe ich erleichtert die Augen, bevor ich mich vorbeuge und kurz vor seinen Lippen innehalte.   „Dann hast du jetzt sicher nichts dagegen, mich zu küssen oder?“ Sein Kopfschütteln sehe ich nicht, dafür spüre ich seinen Atem, der sich beschleunigt, bevor sich sein Mund auf den meinen legt. Sanft, zaghaft und seine Lippen schmecken salzig, sicher genau wie meine, als ich sie mit der Zungenspitze nachzeichne. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)