ZdM von RandomThoughts (Der Zirkel der Macht - Buch 1) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Der Garten Eden Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen. Ihre goldenen Strahlen fielen schräg durch die dunkelgrünen Blätter der Birken und Eichen. Dampf stieg langsam aus einigen halb ausgetrockneten Teichen auf. Die Luft war wie Sirup – zäh, klebrig, schwer. Das Gras beugte sich der schwülen Hitze. Die Halme hatten ihre Kraft verloren, hingen gedrückt zu Boden. Zwei zitronengelbe Farbkleckse tanzten über die Lichtung, scheinbar ohne die alles erdrückende Schwüle überhaupt zu bemerken. Sie tanzten, kreisten fröhlich umeinander, hierhin und dorthin, verweilten kurz auf einem Blatt, erhoben sich wieder leicht und behende in die Luft, zirkelten umeinander, nur um plötzlich wieder zwischen dem kraftvoll dunklem Grün zu verschwinden. Die Sonne sank derweilen weiter dem Horizont entgegen, ihre Strahlen immer flacher, ihr Licht immer goldener. Eine Wolkenfront zog von Norden her auf, mächtig aufragende Wolkentürme, wie die Türme eines verwunschenen Schlosses, unendlich groß, bis an den Horizont hin. Die beiden Zitronenkleckse kümmerte das nicht. Sie tanzen weiter, genossen jeden einzelnen Moment ihres kurzen Lebens, ohne überhaupt zu wissen, dass es irgendwann enden würde. Plötzlich kamen sie wieder zwischen den langen Halmen hervorgeschossen, hierhin fliegend, dann dorthin. Erneut ließen sie sich nieder, direkt in der höchsten Astgabel eines prächtigen, schwer behangenen wilden Apfelbaums. Das zunehmend ins Kupferne übergehende Sonnenlicht fiel nun direkt auf sie, und man konnte die beiden Schmetterlinge in aller Deutlichkeit erkennen. Sie saßen nebeneinander, zwei winzige, filigrane Körper, kaum auszumachen zwischen den leuchtenden Farben ihrer zarten Flügel. Ihre winzigen Fühler zuckten, während sie die schwülwarme, vom Boden her aufsteigende Luft spürten, und die feinen Gerüche der überreifen Früchte und Beeren rochen. Von dem bevorstehenden Sturm wussten sie nichts. Dieser gehörte nicht in ihre kleine Welt, war für sie in keinster Weise präsent, nicht bevor die ersten Tropfen fielen – genauso wenig wie die Straße, die in wenigen hundert Meter an der kleinen Lichtung vorbei durch den Wald führte. Sie war jenseits ihres Horizonts, jenseits der Grenzen ihrer kleinen Welt. Sie bemerkten sie nicht, nahmen sie einfach nicht wahr. Weder die Straße, noch das Auto, das sich vorsichtig die kurvige Strecke entlang tastete. Genauso wenig bemerkten sie den schwer beladenen Lastwagen, der aus der anderen Richtung kam. Sie sahen das übermüdete Gesicht des Fahrers nicht, sahen nicht, wie ihm die Augen immer wieder sekundenlang zufielen Und sie bemerkten auch nicht wie das Auto mit seinen zwei Insassen genau in dem Moment um die Kurve kam, als der Fahrer des schweren Lasters erneut von der Müdigkeit übermannt wurde. Und sie sahen auch nicht, wie das Auto erfasst und zwischen dem schweren Gefährt und zwei alten, dicken Eichen zerquetscht wurde. Und selbst wenn sie es bemerkt hätten, es hätte keine Bedeutung für sie gehabt, da ihnen das Wissen um den Tod fehlte. Sie lebten einfache Leben, in ihrer engen, kleinen Welt, in der es keine Entscheidungen zu treffen gab, keine Freunde zu verlieren und zu betrauern, keinen Schmerz und keine Freude, sondern immer nur den leichten, unbekümmerten Tanz im endlos andauernden Hier und Jetzt. Es war ein gutes Leben, ohne unerfüllte Träume, ohne Bedauern über begangene Fehler, ohne Erinnerung an Gestern oder Hoffnungen für Morgen. Die ersten Tropfen erreichten die Lichtung. Groß und schwer fielen sie nieder, brachten Blätter ins wanken, drückten Grashalme zu Boden. Einer von ihnen traf wenige Flügellängen von den beiden entfernt auf dem Ast auf, auf dem sie saßen, und geriet damit in den schmalen Radius ihrer kleinen, sorgenfreien Welt. Der größere der beiden reagierte gar nicht, aber der kleinere zuckte unruhig mit den Fühlern und schlug nervös mit seinen zitronengelben Flügeln. Da ging der erste Blitz hernieder, Donner hallte, Wind kam auf, und der Sturm brach mit voller Gewalt los. Kapitel 1 --------- 1 "Die Nacht des Brennens steht bevor! Der Tod kommt!" Bea saß kerzengerade in ihrem Bett. Kalter Schweiß lief ihr die Stirn herunter, an den Wangen vorbei, und den schlanken Hals entlang. Ihr Herz hämmerte schnell in ihrer Brust. "Es war nur ein Traum", sagte sie mit leiser Stimme in der annähernden Dunkelheit. "Nur ein Traum…" Ihre Kehle war trocken. Sie fuhr sich einmal mit der Hand über den Hals, als ob es davon besser würde, wischte dann die kalte, klebrige Flüssigkeit mit dem Handrücken von ihrer Stirn und tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter. In ihrem Kopf hallte die mächtige Stimme nach, tosend wie ein Wasserfall, gigantisch wie der Himmel selbst: Die Nacht des Brennens steht bevor. Der Tod kommt. Der Tod kommt. Der Tod kommt. Ihr Herzschlag beruhigte sich langsam wieder, als ihre Nachttischlampe schließlich brannte, und das Zimmer in schummriggelbes Licht tauchte. Ein Schauer lief durch ihren Körper, von den Zehen hoch bis zum roten Haaransatz und ließ sie zusammenzucken. Ihr Kopf ruckte heftig zur Seite, die Folge des plötzlichen Erwachens. Sie umschlang ihren Oberkörper kurz mit den Armen, vielleicht um die Kälte zu vertreiben, die im Januar nachts in ihre Wohnung kroch. Sie trug nicht mehr als einen seidenen Yûkata in kräftigem Rot und leuchtendem Weiß, ihrem üblichen Schlafgewand. Ihre Augen schlossen sich kurz, als lausche sie nach Innen, und dann löste sie sich wieder aus der engen Umklammerung. Ihr war nicht länger kalt. Ihre Magie wärmte sie nun. Ihr Blick – ihre Bewegungen noch immer fahrig – suchte den Radiowecker neben ihrem Bett. Die rötlichen Leuchtziffern zeigten 2:11, wurden zu 2:12, während sie ihn anstarrte. Sie drückte ihren Kopf gegen die linke Schulter und begann ihr Kinn dagegen zu reiben, während ihre linke Hand zugleich anfing ein wenig Leben in ihre rechte Schulter zu massieren. Dann schlüpfte sie ganz aus ihren Bettlaken heraus und tappste lautlos in der Stille der Nacht zu ihrem Ledersessel. Mit einer gedankenlosen Bewegung wischte sie die Schnittzeichnungen und Farbskizzen beiseite, die sie vor drei Stunden hatte unfertig liegen lassen. Ihre Hand fand im gelbmatten Zwielicht den Schalter ihrer Lavalampe, die daraufhin blutrot zu leuchten begann. Die Flüssigkeit in dem hohen Glaszylinder würde in den nächsten Minuten heller werden, bis sie in einem kräftigen Vulkanrot glimmten, und dann würden auch die Luftblasen, die für Lavalampen so typisch waren, beginnen innerhalb des Zylinders aufzusteigen und wieder abzusinken. Als nächstes schnippte sie mit ihrer kleinen, zierlichen Hand in Richtung der Fenster. Einmal in Richtung des rechten Fensters, einmal in Richtung des linken. Die zwei Dutzend Kerzen und Teelichter, teilweise einzeln, teilweise in mehrarmigen Kerzenhaltern postiert, entbrannten unvermittelt, und bald erfüllte ein angenehm warmes und wohliges Licht den Raum. Findracors Stimme klang noch immer in Beas Erinerung wieder: Die Nacht des Brennens steht bevor. Der Tod kommt. Sie lehnte sich in dem schwarzen Ledersessel zurück und schloss die Augen. Ein entspannter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht, der kaum ihren wahren Gefühlen gerecht wurde. Innerlich war sie noch immer so aufgewühlt wie zuvor. Aber dem konnte sie nicht nachgeben. Sie hatte Findracors Ruf vernommen, und in Anbetracht der bedrohlichen Worte, die er in ihren Traum gesandt hatte, galt es keine Zeit unnötig zu verschwenden. Sie versuchte die nötige Ruhe zu finden, die nötige Trance, um den Sprung auf die Halbebene zu schaffen, aber es fiel ihr schwer. Sie war kein Nachtmensch, war schon immer grantig und quengelig gewesen, wenn man sie um ihren Schlaf brachte, und daran hatte sich auch im vergangenen Jahr nur wenig geändert. Die nötige innere Ruhe für den Sprung wollte und wollte nicht kommen. Es brauchte einen Moment bis Bea erkannte, was los war: Sie empfand Furcht. Furcht vor Findracor. Sie konnte sich nicht daran erinnern, so schon einmal empfunden zu haben. Zunächst war es ein Gefühl der Aufregung gewesen, als sie Findracor vor einem Jahr aus seinem Schlaf erweckt hatte. Aufregung, die schon fast an Euphorie grenzte. Als sie sich langsam an seine Existenz gewöhnt wurde daraus Zuversicht und Hoffnung, gepaart mit Ehrfurcht, die allesamt mit der Zeit einer selbstverständlichen Vertrautheit gewichen waren. Und der Sicherheit, dass Findracor da war und über sie wachte. Bea fragte sich, warum sie überhaupt nie Angst empfunden hatte angesichts der Existenz des großen Drachen. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass sie schon seit Jahren vergeblich auf irgend etwas gehofft hatte, das ihrem durch und durch banalen und unzufriedenen Leben eine Wendung gab und sie aus allem herausholte. Und genau das hatte er getan, der Rote Drache aus ihren Träumen, dessen Lebensraum sie nun durch Meditation und Trance nach Belieben betreten konnte. Doch nun hallte seine donnernde Stimme in ihrer Erinnerung wieder – Die Nacht des Brennens steht bevor. Der Tod kommt. – und die vertraute Sicherheit war mit einem mal verschwunden. Sie hatte das Gefühl, ihn zum ersten Mal überhaupt so zu sehen wie er wirklich war: Eine Naturgewalt, älter als die Menschheit selbst, und weitaus mächtiger. Sie griff nach dem roten Drachen, der kleinen Statue aus rotem Stein, die an einem Lederband um ihren Hals hing, und umklammerste sie fest mit ihrer kleinen Hand, ganz so als suche sie dort Halt. Dann konzentrierte sich erneut erneut auf die Barriere zwischen den Welten und auf Findracors Heimstatt, die Halbebene des Elementaren Feuers. Ihre Seele dehnte sich, zog sich wieder zusammen, und sie wusste, dass sie nicht länger auf Erden war. Zumindest nicht ihr Geist, ihr Inneres. Sie öffnete ihre Augen, oder vielmehr das, was sie in dieser Welt anstelle von Augen besaß. Sie nannte es ihren Astralkörper, das idealisierte Bild ihres eigenen Selbst, das an diesem Ort als Gefäß ihres Bewusstseins fungierte. Der Anblick erfüllte sie mit der selben Ehrfurcht wie immer, wenn nicht gar mit noch mehr, angesichts der plötzlichen Erkenntnisse. Die Halbebene reichte in die Unendlichkeit, war in keine Richtung durch Wände oder Boden begrenzt. Das Dunkelrot der Flammen und das absolute Schwarz der Endlosigkeit vermischten sich irgendwo in weiter ferne zu einer dunkelrötlichen Farbe, die auf Erden nicht existierte, die jenseits des physikalischen Farbspektrums lag, wie ihr Freund Alex es ausgedrückt hätte. "Du hast mich gerufen", sprach sie. Die Stimme kam ihr klein vor, leise, und schien ungehört in der Endlosigkeit zu verklingen. Ein goldenes Licht begann sich aus den Flammen zu schälen, eine goldene Fläche, endlos wie die Nacht, wie der Tod, wie das Feuer selbst. Bea konnte Findracors Blick spüren. Er selbst war zu nahe, als dass sie ihn hätte in seiner Gesamtheit erkennen können. Die goldene Fläche war das einzige, das von ihm zu sehen war - und ihre eigene Reflektion darin, klein, zierlich, mit feuerrotem mittellangem Haar, in ein Abbild ihres seidenen Schlafgewandes gehüllt. "Das habe ich in der Tat", erklang die Stimme Findracors, sanft und doch zugleich stark genug, um den gesamten Halbraum des Elementaren Feuers auszufüllen. "Was wünscht du? Was soll ich tun?", fragte Bea, und bemerkte selbst eine demütige Unterwürfigkeit in ihrer Stimme, die sie sonst nicht an sich kannte, auch nicht ihm gegenüber, Findracor, dem Herr des Feuers. "Die Nacht des Brennens steht bevor", wiederholte er die Worte, die sie schon in ihrem Traum gehört hatte. "Der Tod kommt. Aber du kannst ihn aufhalten. Du besitzt die Macht und das Wissen, um das Steuer herumzureißen und die Leben der Menschen zu retten." "Was soll ich tun?", fragte Bea, "Was genau ist die Nacht des Brennens?" "Wisse, Tochter, was du zu wissen hast: Die Nacht des Brennens kommt. Sie ist fast über Euch Sterblichen. Die Kraft der Sterne und die Kraft der Steine ist es, die zusammenwirken und das auslösen, was nicht sein soll. Mehr habe ich dir nicht sagen." Bea schluckte. "Ich werde dann gehen", sagte sie entschlossen, in der Hoffnung, dass er sie zurückhalten und ihr noch mehr sagen würde. Aber er reagierte nicht darauf. "Tu das, meine Tochter", sagte er mit ruhiger, fast schon gleichgültiger Stimme. Bea schluckte erneut. Diesmal war es ihre echte Kehle, die sich zusammenzog. Sie war in ihrem eigenen Körper zurück, war wieder Teil der realen Welt. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie sich aus ihrer Meditationshaltung löste. Das Schwerste waren immer ihre Augen. Sie hatte besonders trockene Augen, schon als Kind. Sie hatte sich daran gewöhnt, es war ihr nie aufgefallen. Bis sie angefangen hatte, ihren eigenen Körper zu verlassen. Das raue Kratzen verschwand augenblicklich, sobald sie ihren Körper verließ, mit dem Herzschlag zusammen, und dem Gefühl des sich hebenden und senkenden Brustkorbes. Sobald sie zurückgekehrt war, dauerte es immer einige Minuten, bis diese Dinge wieder so selbstverständlich wurden, dass sie sie nicht länger wahrnahm. Schließlich erhob sie sich, schlich mit einem der Kerzenhalter in der Hand den dunklen Flur entlang – das Parkett fühlte sich kalt an unter ihren nackten Füßen – und erreichte die schmale Holztreppe, die sie nach oben stieg. Der Raum war niedrig, erlaubte es einem nur in der Mitte zu stehen. Der Boden war ebenfalls mit glattgeschliffenem Parkett ausgelegt, aber sie konnte sich noch an die rauen Holzbretter erinnern, die hier gelegen hatten, als sie in die Wohnung eingezogen war. Ihre Sohlen berührten das eisige Metall des Beschwörungskreises, den sie von Handwerkern in den Boden hatte einlegen lassen. Sie tadelte sich selbst, sollte man doch niemals einen magischen Kreis unnötig durchbrechen, selbst wenn er gerade außer Betrieb war. Sie stellte den eisernen Kerzenständen mit den fünf schwarzen Kerzen neben dem Regal ab, entzündete die anderen Kerzen im Raum mit einem weiteren Schnippen ihrer zierlichen Hand und begann Bücher aus dem Regal zu ziehen. Sie besaß nicht viel – noch viel zu wenig, wie ihr immer wieder schmerzlich bewusst wurde – und das was sie besaß war von zweifelhafter Qualität: Ein paar antike Stücke, eigenhändig in den Antiquariaten und auf den Flohmärkten der Stadt zusammengetragen, allesamt von zweifelhafter Herkunft; eine Handvoll moderner Bücher, eine Auswahl aus den Esoterik-Regalen der großen Buchhandlungen, der Inhalt stets ungesichert, der Großteil mit Sicherheit von den Autoren selbst erfunden. Ohne Findracor selbst stünde sie noch immer am Anfang, den ohne seine Rat hätte sie nie das was wirklich Bedeutung hatte von dem trennen können, was überberstender Phantasie und ahnungsloser Begeisterung entsprungen war. Sie begann zu blättern, sah die Indexe durch, überlegte fieberhaft, ob sie sich nicht erinnern konnte, schon einmal irgendetwas über Sterne, Steine, Feuer und Tod gelesen zu haben. Nach einer Stunde gab sie frustriert auf. Sie wusste nicht, wonach sie suchen sollte. Dann eben mit Magie, sagte sie sich, während sie in den Beschwörungskreis lief. Sie kniete sich nieder, vertrieb die erneut einsetzende Müdigkeit mit einem heftigen Kopfschütteln und überlegte, welche Zauber sie einsetzen könnte. Das einzige, das ihr einfiel war, mindere Geister zu rufen und zu befragen. Vielleicht konnten sie ihr sagen, was sie wissen musste. Mächtigere Geistwesen, die ein tiefes Verständnis über die kosmischen und magischen Zusammenhänge hatten, kannte sie außer Findracor nicht, und damit konnte sie auch keinen von ihnen rufen. Die nächste halbe Stunde wurde war von Frustrationen geprägt. Egal was für Geister sie rief – halb durchsichtige Luftgeister, ephärische Tiergeister, imaginäre Kobolde oder glitzernde Feenwesen in Gestalt goldener Funkenregen – die Nichtwesen konnten ihr nicht weiterhelfen. Das Gefühl der Dringlichkeit nahm derweilen weiter zu. Bea ließ sich dadurch jedoch nicht weiter beeindrucken. Nachdem sie alleine nicht weiterkam stieg sie die Treppe erneut hinab, runter aus dem Reich der Magie und hinab in den Bereich des Gewöhnlichen und griff zum Telefon. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es mittlerweile kurz vor Vier war. Aber das war ihr egal. Sie hatte nicht viel Zeit, das hatte Findracor ihr nachdrücklich vermittelt, und Alex war sowieso ein Nachtmensch. "Hi, was gibts?", meldete er sich schon nach dem zweiten Läuten. Beas Nummer wurde auf seinem Handy-Display angezeigt, das wusste sie. Sonst hätte er sich mit vollem Namen gemeldet. "Probleme", antwortete sie knapp. "Ich hab dich hoffentlich nicht geweckt?" "Ne", antwortete er. "Ich bin noch am Lesen." Sie zuckte mit den Schultern. Er war erwachsen und musste selbst wissen, wann er ins Bett ging. "Kannst du herkommen?", fragte sie. "Jetzt?" "Ja." "Okay", antwortete er gleichmütig, "Ich bin in ner halben Stunde da." Zum Glück wohnten sie nur zwei U-Bahn-Stationen voneinander entfernt. Das war ein überaus glücklicher Zufall gewesen. Sie verabschiedeten sich kurz, dann legten sie auf. Normalerweise war ihr Umgang miteinander etwas freundlicher und herzlicher, aber Bea hatte andere Sorgen, als mitten in der Nacht – und ausgrechnet dieser Nacht! – freundlich mit Alex zu plaudern. Sie setzte sich erneut in ihren Ledersessel, starrte geistesabwesend ihre Lavalampe an und begann nachzudenken. *** Das schrille Leuten der Türglocke riss Bea aus dem Schlaf. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie eingeschlafen war. Ihren verspannten Rücken dehnend ging sie zur Türe und drückte auf den Knopf, so dass Alex unten herein kam. Dann schlurfte sie zurück zu ihrem Sessel und setzte sich wieder hinein. Das Nächste, das sie mitbekam, war ein leichtes Rütteln an ihrer Schulter. Als sie aufsah, sah sie Alex schlankes, von kurzen dunkelbraunen Haaren eingerahmtes Gesicht vor sich. Die Lavalampe und die unzähligen Kerzen spiegelten sich in den dunklen Augen wie ein Abbild eines besonders klaren Sternenhimmels. Eine dampfende Tasse schob sich in ihr Blickfeld. "Hier, trink erst mal!", hörte sie ihn sagen. Der Geruch von grünem Tee stieg ihr in die Nase. Alex hatte sie mit grünem Tee vertraut gemacht, der richtig zubereitet annähernd genauso viel Koffein enthielt wie Kaffee. "Danke", sagte sie mit noch etwas heiserer Stimme und ergriff die Tasse mit beiden Händen. Ein leichtes Prickeln lief ihre Arme hoch. Magisch verstärkt, erkannte sie. Sie wusste, wie gerne Alex seine Magie in Gesten und Rituale packte. Gib mir ein Symbol, und ich gabe dir einen Zauber, pflegte er bisweilen im Scherz zu sagen. Tee wurde in vielen Kulturen als Mittel benutzt, um die Lebensgeister zu wecken und Müdigkeit und Schlappheit zu vertreiben. Von da war es für ihn nur noch ein kleiner Schritt zur Magie. Sie verstand es nicht, brauchte selbst Formeln und Zeichen – außer natürlich, wenn es um die Magie von Feuer und Flamme ging; diese floss frei durch sie hindurch, so natürlich wie das Atmen selbst – wohl unzweifelhaft die Folge ihrer besonderen Affinität zu Findracor, ihrem Lehrmeister. Alex Zauber wirkte. Bereits als sie die Tasse zur Hälfte geleert hatte, war jede Spur von Müdigkeit verflogen. Und nicht nur die Müdigkeit verflog, sondern auch das Gefühl, überhaupt Schlaf zu brauchen. Sie war mit einem mal so aktiv und voller Energie als sei es helllichter Tag. "Was ist jetzt eigentlich los?", fragte er da. "Die Nacht des Brennens kommt", wiederholte sie. "Der Tod kommt." "Klingt dramatisch", erwiderte er. "Was ist das? Ein Film? Und du kommst mit deinem Videorekorder nicht zurecht?" Sie konnte das Blitzen in seinen Augen sehen und wusste, dass er sich alle Mühe gab, seine Mundwinkel ruhig zu halten. Das war seine Art von Humor. Man lernte sie zu ertragen. "Im Gegensatz zu dir kann ich mir wenigstens einen Videorekorder leisten", erwiderte sie. Sie konnte sie es sich leider nicht verkneifen, dabei zu lächeln, und das für sie so typische schelmische Blitzen erschien in ihren Augen. "Und einen Breitbildfernsehen dazu", setzte sie nach, "und ein Wohnzimmer, in dem ich beides aufstellen kann…" "Reit nur auf mir armen Studenten rum...", erwiderte er mit gespielter Verletztheit. Und wieder mit ernstem Gesicht fragte er dann: "Also, was ist jetzt los." "Findracor hat mir heute nach im Traum ein Zeichen geschickt", erwiderte sie, und begann zu erzählen. "Übel", kommentierte er, als sie geendet hatte, und das kurze Anspannen seiner Kiefermuskulatur zeigte, dass die Sache ihn ernsthaft besorgte. "Was machen wir jetzt?" "Ich weiß es nicht", erwiderte Bea. "Darum hab ich dich schließlich angerufen. Du bist schließlich der, der immer weiß, was zu tun ist." "Sollen wir Dana anrufen?", fragte er. Sie schüttelte den Kopf. "Nicht mehr um die Uhrzeit", erwiderte sie. "Sie hat morgen Schule. Schon vergessen? Nicht so wie einige Studenten hier im Raum..." Er nickte. "Die Nacht des Brennens, sagst du? Dann sollten wir mindestens bis Morgen Abend Zeit haben. Denn diese Nacht hat ja schon angefangen, als die Botschaft kam." Bea nickte. Soweit war sie auch schon. "Dann leg du dich wieder schlafen", meinte er dann, "also, soweit das nach dem Tee noch geht, und ich überleg, was mir noch einfällt. Und wir sehen uns dann morgen früh." Sie schüttelte den Kopf. "Ich bin oben im Beschwörungsraum", sagte sie, "Mir ist noch was eingefallen." Und das war es tatsächlich, nachdem der Tee die letzten Reste Müdigkeit vertrieben hatte. "Und was?", fragte er. "Wait and see", erwiderte sie mit einem breiten Lächeln, und in ihre Augen funkelten. *** "Und, hast du schon irgendetwas?", fragte Bea, als sie in das kleine Zimmer kam, in dem ihr Gästebett und ihr Computer standen. "Nicht viel", antwortete Alex, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Seine Hand ruhte auf der Maus, seine Augen wanderten über Internetseiten mit okkulten und mystischen Inhalten. Bea stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Sie ließ sich nicht davon täuschen, dass er sie nicht ansah. Er spürte ihre Präsenz, ihre wie auch die aller anderer Menschen in seiner Umgebung. Er hatte sie mit Sicherheit bereits gespürt, noch ehe sie die Türe geöffnet hatte. "Wenn ich ehrlich bin, hab ich eigentlich noch gar nichts", fuhr er fort. "Aber ich hab eine Theorie, was die Kraft der Sterne und der Steine sein könnte. Ich denke, dass das eine ein Sternbild oder der Nachthimmel oder so sein soll, und das andere irgendetwas irdisches, möglicherweise irgend ein Hünengrab, oder ein Obelisk, oder ein magischer Steinkreis." "In München?", fragte Bea skeptisch. "Wir wissen nicht, wo die Nacht des Brennens stattfinden soll", erwiderte er, die Augen noch immer auf den Bildschirm fixiert, auf dem Text mit einer Geschwindigkeit herunterscrollte, in der kein gewöhnliches menschliches Auge zu lesen vermochte. "Nach allem, was wir bisher wissen, könnte es auch sein, dass wir eine großangelegte Hexenverbrennung irgendwo im Schwarzwald oder im Bayerischen Wald verhindern sollen… Du stellst dich dann am Besten hin und löscht alle Flammen, und ich lauf mit einem großen Schild rum: 'Lasst die Frauen in Ruhe! Hier ist eine echte Hexe.'" "Sehr witzig", erwiderte Bea sarkastisch, ehe sie mit einem zufrieden Grinsen offenbarte: "Aber wir wissen jetzt sehr genau, wo und wann die Nacht des Brennens stattfindet. Hier in München, auf keinen Fall weiter als zehn Kilometer von hier, würde ich sagen, und zwar morgen Nacht." "Was hast du gemacht?, fragte Alex, während er sich zu ihr umdrehte. Der Text auf dem Bildschirm kam im selben Moment zur Ruhe. "Ins Programm des Kulturparks geschaut und da stand drin: 'Hot! Hot! Hot! Die heißeste Nacht des Jahres!'" "Idiot", erwiderte sie ohne echten Nachdruck. "Ich hab mich in Trance versetzt und mich in den Fluss der magischen Strömungen versetzt." Er blickte sie skeptisch an, aber das lag daran, dass er die Magie an sich nicht sehen oder spüren konnte. Sie war die Einzige von ihnen Dreien, die dazu in der Lage war. Die Anderen besaßen dafür andere Sinne und andere Fähigkeiten. "Ich denke ich hab so eine Art Wirbel entdeckt, so eine Art magischer Kräfteballung, die noch nicht existiert, aber schon ihre Schatten vorauswirft." Er sah sie noch immer skeptisch an. Genauer konnte sie es ihm nicht erklären. Genauso gut hätte sie versuchen können, einem Blinden Farbschattierungen zu beschreiben. "Die Echos des Wirbels riechen nach Feuer und nach Zerstörung", versuchte sie ihre Eindrücke weiter darzulegen. "Ich bin mir sicher, dass das die Katastrophe ist, vor der Findracor mich gewarnt hat." "Und was machen wir, wenn wir dort sind?", fragte Alex. Bea zuckte mit den Schultern. "Wir retten Leben", sagte sie schließlich, Eingeständnis ihrer eigenen Ratlosigkeit. Sie blickten sich eine Weile lang schweigend an, er auf dem Bürostuhl sitzend, sie neben ihm über den Tisch gebeugt. Ein Gähnen stahl sich auf ihr Gesicht. Er nickte. "Geh schlafen", sagte er. "Ich werd schauen, was ich hier noch finde, und schick Dana dann eine SMS, dass sie morgen nach der Schule herkommen soll. Bea nickte. Die Meditation hatte sie einiges an Kraft gekostet, und die Wirkung des Tees war schon fast aufgebraucht. "Übernimm dich nicht", sagte sie, ehe sie nochmal gähnte. Im Umdrehen legte sie ihm die Hand kurz ermutigend auf die Schulter, drückte einmal zu und wankte dann zurück in ihr Schlafzimmer. "Geh schlafen", ermahnte sie ihn noch, ehe sie das Zimmer verließ. "Du brauchst deine Kraft morgen noch, und ich brauch dir ja wohl nicht zu sagen was passiert, wenn man es mit der Magie übertreibt." "'Die Magie fordert immer ihren Preis'", hörte sie ihn die Worte herunterbeten, als sie aus dem Zimmer schlurfte. "'Die Magie fordert immer ihren Preis.'" Viel mehr bekam sie nicht mehr mit. Ihr Körper fand seinen Weg zurück zum Bett von alleine. Sie zog ihre Decke um sich zusammen, bereits im Halbschlaf, und war weg. Kapitel 2 --------- 2 Komm bitte nach der schule zu bea. Dringend!! Die nacht des brennens steht bevor. Die kraft der sterne und der steine arbeiten zusammen. Und am ende kommt der tod! Dana schüttelte unwillkürlich den Kopf, als sie die SMS morgens im Bus las. Konnte Alex nicht einmal so reden – oder schreiben – wie normale Menschen auch? Aber er behauptete sicher nicht grundlos, dass es dringend sei. Sie überlegte, was sie heute Nachmittag vorhatte, aber Mittagessen zuhause und Hausaufgaben waren beide nicht so wichtig. Sie holte das Reli-Heft heraus, das sie eigentlich gesucht hatte, als ihr die SMS auf ihrem Handy aufgefallen war. Wahrscheinlich schrieb Herr Weber heute eine Ex. Genug Stoff hatten sie letztes Mal aufgeschrieben. Sie begann zu lesen, schweifte aber schon nach kurzer Zeit ab. Ihr Blick wanderte in die Ferne, während sie versuchte die Splitter zusammenzukehren, die durch ihren Geist wanderten: Unzusammenhängende Handbewegungen; eine ihr unbekannte Straße, die sie entlang ging; zwei ihr unbekannte Gesichter, der Kleidung zu Folge wahrscheinlich schon lange tot. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte die Vorerinnerungen aus dem Kopf zu kriegen. Sie hasste es, wenn sie in dieser Form kamen, unzusammenhängende Bilder, ohne Bedeutung, ohne Kontext. Schlussendlich kam ihr Blick wie so oft auf dem langhaarigen Jungen zur Ruhe, der morgens oft mit dem selben Bus fuhr wie sie. Sie kannte ihn nicht, hatte noch nie mit ihm geredet, aber er gefiehl ihr einfach. Es war schön, ihn anzusehen. *** "Hier bin ich", sagte Dana, als sie in Beas Wohnung kam. Sie war leicht außer Atem von den vier Stockwerken, die sie hoch laufen musste, was insgesamt aber durch den Ausblick über den Park und die Umgebung wieder wett gemacht wurde. Alex und Bea saßen in der Küche zusammen. Der Geruch verriet Dana sofort, dass er seine Gemüsepfanne gemacht hatte – nicht dass er nur dieses eine Rezept hatte, aber es ging schnell, und es ließ sich nach Belieben erweitern und verändern. Sie nahm sich ohne zu fragen eine Schüssel und einen Löffel – anders als Bea hatte sie sich von Alex noch nicht dazu missionieren lassen, Essstäbchen zu benutzen. Die Wohnung gehörte Bea, aber es war auch irgendwie ihre und Alex' Wohnung, in der sie sich so frei wie in ihren eigenen Wohnungen bewegten. Alex begann zu erzählen, während Dana sich Reis und Gemüse in die Schüssel schöpfte und anfing zu essen. "Und wir wissen bisher weder, was uns erwartet, noch wo wir überhaupt hin müssen", endete Alex schließlich. Dana nickte, wedelte dann mit dem erhobenem Zeigefinger. Sie hatte den Mund gerade voll und wollte ihm zu verstehen geben, dass sie einen Moment Ruhe brauchte. Bilder stiegen aus ihrem Gedächtnis hervor – nicht unbedingt ihre eigenen Erinnerungen; zumindest nicht in dieser Reinkarnation. Steinkreise vermischten sich zusammenhangslos mit Gesprächsfetzen und dem Geruch von handgeschnittenen Kräutern. "Konstellationen", sagte sie schließlich. "Eine Sternenkonstellation. Das ist die Kraft der Sterne. Himmel und Erde sind miteinander verbunden, sind Spiegelbild des jeweils Anderen – oder so ähnlich." Genauer konnte sie es nicht sagen. Sie war schon froh, das was sie in ihren Vorerinnerungen sah so genau formulieren zu können. "Ich kann mich an keltische Mond- und Sternenrituale erinnern", fuhr sie fort, "und an die Kraft, die durch die Verbindung von Himmel und Erde an Kultplätzen aufwallte. Ich hab sie bisweilen genutzt, um mächtige Magie zu wirken, zu der ich alleine nicht in der Lage war, für die ich nicht stark genug war." Das war lange her. Mindestens an die Tausend Jahre. Die Erinnerungen waren tief begraben, und waren erst in diesem Moment nach Jahrhunderten erstmals wieder an die Oberfläche gekommen. "Na, was hab ich gesagt?!", platze da plötzlich Alex heraus. "Sternenkonstellation und ritueller Kultplatz! Genau das hab ich gesagt, oder nicht?" "Ja, hast du", brachte ihn Bea mit leicht genervtem Tonfall zum schweigen. "Viel wichtiger ist, was wir jetzt machen." "Und warum es überhaupt zu einer Katastrophe kommt", erwiderte Alex wieder mit ernster Stimme, aber noch immer ein Hauch von kindlicher Freude im Gesicht. "Ich hab keine Ahnung", erwiderte Dana mit gesenktem Blick. "Schaut mich nicht an. Ich weiß es auch nicht." Der Nachmittag verging ohne weitere Erfolge. Dana verbrachte einen großen Teil damit, aus dem Fenster zu blicken. Sie starrte den grauen Winterhimmel und den verlassenen Park an. Schnee gab es dieses Jahr keinen – wie meistens – aber der Blick aus großer Höhe über freie Landschaft – soweit man einen kleinen Park inmitten Münchens grauer Winterstraßen eine freie Landschaft nennen konnte; nicht zu vergleichen mit den tiefen Wäldern und weiten Ebenen vergangener Leben – gab ihr immer ein Gefühl von spiritueller Sicherheit. Ihre Magie war irgendwie mit den Bergen, mit großen Höhen und mit dem Land an sich verbunden. Warum wusste sie selbst nicht. Draußen wurde es langsam dunkel. Ein Hauch von Abendrot begann durch die Wolkendecke hindurchzuschimmern. Die Straßenlaternen gingen an, und die Zahl der Fußgänger stieg vorübergehend. Rush Hour, dachte Dana. Es war kurz vor Fünf, an einem Freitag Nachmittag, und die Leute kamen von der Arbeit. Die meisten steuerten wahrscheinlich auf direktem Weg nach Hause. Das war keine Jahreszeit, in der man unnötig verweilte. Immer wieder trieben Vorerinnerungen in ihr Bewusstsein, geweckt von der Aussicht, wie sie zu wissen glaubte. Aber sie fand wenig Hinweise in den losen Gesprächsfetzen, Ausschnitten aus Beschwörungsritualen, den Gerüchen, Geräuschen und Bildern, die ihre eigenen Sinne immer wieder überlagerten. "Willst du noch Tee", fragte Alex irgendwann, und füllte dihre Tasse auf, die manchmal vor ihr auf dem Fensterbrett stand und manchmal in ihrer Hand ruhte. Bea saß hinter ihr auf dem Sofa und zeichnete. Dana konnte leise das Kratzen der Bleistifte hören. Sie hatte den Vormittag damit verbracht, alle ihre Bücher auf Hinweise zu durchsuchen, und arbeitete nun weiter an ihrer nächsten Kollektion. Wahrscheinlich der Frühlingskollektion, wie Dana vermutete. Die Straßenlaternen gingen an. Die Fenster in den umliegenden Häusern wurden zunehmend hell. Der Nachthimmel verfärbte sich zu einem matten Rot, das er bis zum Morgen beibehalten würde. In München wurde es bei bewölktem Himmel nachts niemals ganz dunkel. Sehnsüchtig erinnerte Dana sich des Sternenhimmels, der hier vor langer Zeit sichtbar gewesen war. Sie hatte ihn selbst nie gesehen, nicht in diesem Leben, aber sie hatte Erinnerungen daran aus früheren. "Ich könnte es mit dem Kristalldreieck versuchen", sagte sie. Es kam keine Antwort. Die Anderen hatten nicht damit gerechnet, dass sie jetzt etwas sagen würde. "Doch, ich versuche es mit dem Kristalldreieck", wiederholte sie mit Überzeugung, während sie sich zu ihnen umdrehte. Bea hatte ihren Stift noch immer in der Hand und sah sie mit offenem Mund an. Alex saß ein Stück neben ihr, in einem der beiden Sessel, nicht auf dem Sofa wie sie. Er hatte eines ihrer Bücher auf dem Schoß, in dem er wohl noch immer vergeblich nach Hinweisen suchte. "Mit dem Kristalldreieck?", fragte Alex. Dana nickte. "Ja, mit dem Kristalldreieck." "Welchem Kristalldreieck", fragte er. "Dem, das Bea extra für mich hat machen lassen, nach meinen Angaben", erwiderte sie, und begann dann zu erklären, wozu sie es überhaupt in Auftrag geben hatte lassen. Aus den Erinnerungen ihrer früheren Leben wusste sie, dass sie Macht über den Fluss der Zeit hatte. Und das zentrale Hilfsmittel für diese Art der Magie war ein gleichseitiges Dreieck aus durchsichtigem Kristall. In einer jüngeren Wiedergeburt hatte sie Theorien aufgestellt, die den Kristall mit einem Prisma verglichen, in dem nicht das Licht gebrochen wurde, sondern die Zeit. Anders als beim Licht brauchte es dazu natürlich mehr als gewöhnlicher Physik, und das war der Punkt an dem ihre Magie ins Spiel kam. Sie hatte keine Ahnung, was sie selbst von dieser These halten sollte. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie überhaupt keine Meinung dazu. Es reichte ihr zu wissen, wozu das Kristalldreieck da wurde. Sie versammelten sich im Beschwörungsraum auf dem ausgebauten Dachboden über Beas Wohnung. Bea zündete die Kerzen an, Dana begann getrocknete Kräuter in kleine Rauschschalen zu füllen. Sie hatten viel Zeit damit verbracht, die richtigen Kräuter zu finden, waren dazu oft mit des S-Bahn bis weit in die Außenbereiche des Netzes gefahren, wo mehr oder weniger naturbelassene Wäldchen in Laufreichweite der Bahnhöfe lagen. Solange man nur wusste wie, konnte man von dort aus in die Tiefen Wälder gelangen, jene Gegenden, die von der modernen Welt übersehen worden waren, und die noch nicht durch Landwirtschaft, Ackerbau, Strom- und Wasserleitungen gebändigt worden waren. Dana nahm in der Mitte des Beschwörungskreises Platz. Sie setzte sich dazu wie üblich mit verschränkten Beinen hin. Die anderen Beiden standen außerhalb des Kreises, auf die Rolle einfacher Zuschauer beschränkt. Dana nahm den Kristall, der vor ihr im Kreis lag mit beiden Händen und hob ihn an ihre Stirn. Er war aus Bernstein, sah aus wie geschliffenes Eis und war größer als ihre beiden gespreizten Hände zusammen. Als nächstes stimmte sie ihren Geist ein. Sie benutzte dazu verschiedene Konzentrationsübungen, deren Sinn ihr selbst nicht verständlich war. Sie hatte sie so in ihren Vorerinnerungen gesehen, und hoffte sie fehlerfrei wiederholen zu können. Und tatsächlich, das Unmögliche geschah: Die Schleier der Zeit wichen vor ihrem inneren Auge zurück, und sie begann die Zukunft zu sehen. Mit stockender Stimme und immer wieder mitten im Satz innehaltend beschrieb sie den anderen, was geschehen würde. Sie beschrieb den Bahnhof, in dem sie aus der S-Bahn stiegen. Den Namen der Station konnte sie nicht sehen, genauso wenig wie die Nummer der S-Bahn. Dafür beschrieb sie die Landschaft, die sich ihnen außerhalb des Bahnhofs auftat: Die Autobahnunterführung; die Parkbänke, an denen die braune Farbe abzusplittern begann; die Uhr, an der sie vorbei kamen. Die Uhr war auf einem Mast angebracht, einem altmodischen Laternenmast vergleichbar, mit verschnörkeltem Stiel und einem viereckigen Aufsatz, auf dessen Seiten die Zifferblätter lagen. Die Uhr zeigte genau 23:17. Sie beschrieb den Weg, den sie entlang gingen, und das Gebäude, bei dem sie schließlich ankamen. Es wirkte von außen wie ein halb verfallener Wehrturm, war aber eine Disco. Die beschrieb genau die Farbe der Neonreklame über dem Eingang. Den Namen selbst konnte sie in ihrer Vision derweilen nicht erkennen. Es folgten Bilder, wie sie zu dritt durch die Disco liefen, im Halbdunkel, zwischen roten und blauen Scheinwerferspots, laute Techno-Musik in den Ohren. Alex und Bea gingen voran, sie selbst einige Meter hinter ihnen. Sie beschrieb ein Mädchen, genauso klein und zierlich wie Bea, aber mit dunklen Haaren, das sich die Seele aus dem Leib zu tanzen schien. Sie sprang wie verrückt umher, ihre Arme und Beine wirbelten, ihr Gesicht von ihren wild fliegenden Haaren verborgen. Das Letzte, das sie beschrieb waren Bea und Alex, die auf das Mädchen zugingen. Das war aber nicht das Letzte, das sie sah. in ihrer Vision sah sie Flammen um das Mädchen herum entstehen, die zunächst ihren Bewegungen zu folgen schienen, aber sich binnen weniger Herzschläge auszudehnen begannen und drohten die gesamte Disco zu verschlingen. Und dann war da gar nichts mehr, nur noch ein abrupter Schnitt. Es war, als ob die Zeit einfach aufhörte zu laufen. Ein Fetzen aus einem Traum kam ihr unwillkürlich in den Sinn: Du wirst nicht alt werden. Der Tod holt dich in jungen Jahren. Sie konnte sich an nichts anderes aus diesem Traum mehr erinnern, aber sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass der Traum wahr gewesen war. Sie dachte nicht oft an diesen Traum, aber manchmal überfiel sie die Erinnerung daran einfach, stets begleitet von einem düsteren Gefühl der Vorahnung. So auch in diesem Moment. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte, und die panische Angst setzte sich in ihrem Herz fest, dass es ihr Tod war. Ihr eigener, der von ihren beiden Freunden, und der unzähliger unwissender Discobesucher. Ihr Körper begann zu zittern, und apathisch ließ sie sich von Alex und Bea zurück ins Wohnzimmer bringen. Sie hielten ihre Reaktion wohl für eine Nachwirkung des Zaubers, denn sie legten ihr eine Decke um, drückten ihr eine weitere Tasse dampfenden Tee in die Hand und ließen sie dann in Ruhe. Die Stunden vergingen. Die anderen Beiden diskutierten, was sie wohl erwarten mochte, was es mit der Tänzerin auf sich haben könnte, und was sie für Vorkehrungen treffen konnten. Dana hörte ihnen kaum zu. Die Bilder in ihrem Kopf ließen ihr keine Ruhe. Sie mochte die Wiedergeburt einer mächtigen Magierin sein, und ihre Seele mochte die Lebenserfahrung unzähliger Leben in sich tragen, aber sie selbst, Dana, war nicht mehr als ein gewöhnliches, fünfzehnjähriges Mädchen, das mühsam versuchte mit Dingen Schritt zu halten, die sie kaum verstand. Sie versuchte sich aus ihrem Schock zu lösen, wollte mit den anderen reden, aber es ging nicht. Sie konnte einfach nicht. Es ging einfach nicht! Und so blieb sie in ihre Decke gehüllt in ihrem Sessel sitzen, den Blick fest auf den Grund ihrer Tasse fixiert. Gelegentlich ergriff ein Zittern von ihrem Körper Besitz. Alex versuchte derweilen im Internet anhand ihrer Beschreibungen die Disco zu finden, in der die Konstellation stattfinden würde. Es dauerte, bis sie sich schließlich zusammengepackt hatten und sich auf den Weg machen konnten. Die Zukunft ist nicht festgeschrieben, versuchte Dana sich fieberhaft einzureden. Es war nur eine Möglichkeit, die keinesfalls eintreten muss! Irgendwann gegen halb neun kamen sie an der ersten Station an, die nach Danas Beschreibung in Frage käme. Dana erkannte nichts konkret wieder, konnte aber auch nicht ausschließen, dass es diese Station gewesen war. Die Zukunft steht nicht fest. Du hast eine Möglichkeit gesehen, die eintreten kann. Nicht mehr! Als sie die Disco schließlich fanden, die Alex im Netz entdeckt hatte, war Dana sich sicher, dass sie falsch waren. Die Suche ging weiter. Bei den nächsten beiden Stationen wusste sie bereits beim Aussteigen, dass sie falsch waren. Dann kam es zu einem unerwarteten Zugausfall, der sie vierzig Minuten lang aufhielt, gefolgt von einem weiteren Fehlversuch. Die Kälte begann sich langsam aber sicher in Danas Gliedern festzusetzen, als sie das nächste Mal aus der Bahn stiegen. Dana konnte nun sicher sagen, dass sie richtig waren. Innerlich kämpfte sie weiter mit der Angst vor einer unabwendbaren Katastrophe. Der Eindruck, wie die Flammen sich auszubreiten begannen und das Bild dann einfach abriss hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt. Danach hatte sie Zeit einfach aufgehört, als gäbe es kein Nachher mehr. Es ging bis zu diesem Punkt, und nicht weiter. Die Panik in ihrem Herzen bekam neuen Auftrieb, als sie die Uhr aus ihrer Vision passierten. Sie erkannte sie wieder, konnte sich an jede Verzierung und jeden Schnörkel erinnern. Und sie zeigte genau 23:17. Dana versuchte krampfhaft sich zu überwinden und die anderen anzubetteln, dass sie umkehren sollten. Aber es war als schneide eine unsichtbare Wand sie vom Rest der Welt ab. Sie liefen weiter, und erreichten das Gebäude aus ihrer Vision. Dana bemerkte kaum, wie Alex sie mit den Worten "Wir sind nicht die Droiden, die ihr sucht. Wir können passieren", an den Türstehern vorbeiführte, die sie einfach hindurchwinkten, ohne Passkontrolle, ja sogar ohne zu zahlen. Auch im Inneren des Gebäudes lief alles genauso ab, wie sie es gesehen hatte. Sie lief passiv hinter den anderen her, innerlich noch immer mit sich ringend, wie sie sie aufhalten sollte. Da entdeckte sie das Mädchen mit den braunen Haaren. Sie tanzte, und wirbelte. Flammen begannen wie eine Aura Borealis über ihren Körper zu tänzeln, wuchsen an, begannen sich auszudehnen. Die Panik in ihrem Herzen wurde stärker als der Kloß, der seit Stunden in ihrer Kehle zu stecken schien. Voller Verzweiflung brüllte sie: "Stop!" Ein silberner Faden schien mit einem lauten Schnappen zu reißen. Der Pulsschlag der Welt verstummte. Die Flammen rasten nicht länger auf Dana zu. Dunkelheit umfing sie. *** Bea konnte die Bündelung magischer Macht bereits spüren, als sie die Disco erreichten. Es war wie ein weißes Pulsieren, wie der Duft von Flieder und Wein, wie die Brandung des Meeres an einer Steinküste. Anders war es mit menschlichen Begriffen nicht zu beschreiben. Sie erlaubte es sich, einige Momente lang in den unerwarteten Sinneseindrücken zu baden, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder der bevorstehenden Krise zuwandte. Alex ging derweilen zielstrebig weiter und erreichte als erster den Eingang. Lichtpalast, hieß der Laden, wie Bea mittlerweile lesen konnte. Sie nahm es zur Kennnis, zuckten mit den Schultern, vergaß es wieder. Sie waren jetzt hier. Sie brauchten den Namen nicht länger. "Wir sind nicht die Droiden, die ihr sucht", hörte sie Alex zu den Türstehern sagen. "Wir können passieren." Der magische Kraftfluss war kaum zu bemerken vor dem Hintergrund der geballten Entladung im Inneren des Gebäudes, und sie verkniff sich ihn für den leichtfertigen Einsatz von Magie zu rügen. Es war wahrscheinlich der schnellste Weg, um hinein zu kommen, und die Nacht des Brennens hatte nun absoluten Vorrang. Das Echo von Findracors donnernde Stimme hallte noch immer in ihrem Kopf nach. Das Innere des Disco empfand Bea als unangenehm laut und gedrängt. Sie war kein Disco-Mensch, wie die anderen beiden auch, soweit sie wusste. Sie schloss im Gedränge zu Alex auf, kämpfte sich neben ihm zwischen den Leuten hindurch. Sie brauchte nun keiner Anweisungen mehr, konnte einfach den magischen Strömungen folgen. Weiter innen in der Disco liefen sie zusammen, und zwar genau im Zentrum einer silbern glitzernden Discokugel, die sich hoch über den Köpfen der Tanzenden langsam drehte. Rote und blaue und weiße Lichter spiegelten sich darin, und nur für Bea sichtbare Energieströme und Wirbel umflossen sie, kräuselten sich, bilden kleine Energieballungen, die sofort wieder im Chaos des Stroms zerstoben. Das Ziel der Entladung war das junge Mädchen, das Dana ihnen beschrieben hatte. Bea konnte sehen, wie die Energien sich um ihren Körper sammelten – nein, wie sie die Energien im ihren Körper herum sammelte. Denn sie konnte nun klar und deutlich die Aura des Mädchens herausschmecken, eine sanfte, tiefgründige Aura, die wie Seide glänzte. Eine andere Magierin, wurde Bea klar. Die junge Frau war eine Erwachte, so wie sie auch. Sie ging auf das Mädchen zu, unsicher, was sie tun oder sagen sollte. Da begann die gebündelte Kraft rund um das Mädchen herum plötzlich zu kreischen – zumindest empfand Bea es so. Es war, als wäre eine Grenze überschritten, eine kritische Masse erreicht. Die magischen Energien verwandelten sich in loderndes Feuer, das sich unaufhaltsam auszudehnen begann, einer flammenden Sintflut gleich. Bea war auf Feuer vorbereitet gewesen, war immer auf Feuer vorbereitet, aber noch während sie die Realität nach ihrem Willen umzuformen begann erkannte sie, dass sie dieser Urkraft nicht gewachsen war. Die Flammen dehnten sich schnell aus, kamen in ihre Richtung, und sie versuchte verzweifelt einen Schild zu errichten, der stark genug sein würde, um sie selbst zu beschützen.Voller Verzweiflung erkannte sie, dass sie für ihre Freunde nichte mehr tun konnte. Überhaupt nichts mehr. Und für die Discobesucher noch viel weniger. Verdammter Idiot!, warf sie sich selbst vor, noch unter Schock, noch gar nicht in der Lage das volle Ausmaß der Situation zu begreifen. Da geschah irgendetwas. Bea konnte den zusätzlichen Kraftfluss spüren. Ein weiterer Zauber war gewirkt worden. Woher der Zauber kam, konnte sie im generellen Chaos nicht erkennen. Und dann hörte ihr Verstand auf zu arbeiten. Ihr Geist erstarrte, ihr Bewusstsein versank in Dunkelheit. *** Bea verstand nicht, wo sie war. Der Raum war vage vertraut. Es war dunkel. Alles war in ein tief dunkelblauen Licht gehüllt, das mehr verbarg als dass es beleuchtete. Ihre übernatürlichen Sinne spielten verrückt, lieferten ihr widersprechende Eindrücke. Der ganze Raum schien von Magie erfüllt zu sein. Kein winziges Bisschen Magie schien mehr zu existieren. Die Konstellation war kurz vor dem Höhepunkt. Die Konstellation existierte nicht. Verwirrt versuchte sie sich mit ihren normalen Sinnen zu orientieren. Alex und Dana standen neben ihr. Dana redete in einem Fort auf sie beide ein, schnell, überstürzt, ohne Zusammenhang. Alex blickte sich derweilen so verwundert um, wie Bea selbst auch. Um sie herum waren grotesk verzerrte menschliche Körper, in sonderbar verdrehten Haltungen, die Gesichter starr und maskenhaft. Sie bewegten sich nicht, waren wie Statuen an ihren Plätzen festgefroren, die Körper teilweise noch in der Luft, in Drehungen und Sprüngen, aber ohne jegliche Bewegung. Dann sah Bea die Flammen. Es war wie eine Kugel, die sich um das tanzende Mädchen gebildet hatte, eine annähernd perfekte Oberfläche, bestehend aus dunkelblau festgefrorenen Flammenzungen. Endlich drangen die Worte Danas bis in ihr Bewusstsein vor, sonderbar tief und verzerrt, wie das Hallen des Meeres selbst. "Ich verstehs ja selbst nicht!", donnerte der Bass ihrer Stimme durch Beas Eingeweide. "Ich hatte einfach nur noch Panik, und dann hab ichs einfach gemacht." Aber schließlich vernahm Bea: "Ich hab die Zeit angehalten. Irgendwie. Ich hab sie einfach angehalten. Danach hab ich euch irgendwie in den Raum zwischen den Momenten, oder den Sekunden, ich weiß es doch selbst nicht, geholt. Und irgendwas müssen wir jetzt machen! Irgendwas müssen wir doch machen können!!" Sie war geradezu hysterisch. Alex nahm sie da in den Arm und begann leise auf sie einzureden, während er sie sanft an sich drückte. "Alles wird gut", tönte seine Stimme in tiefem Bass durch Beas Körper. "Wir finden einen Weg. Ich weiß schon, was wir machen können." "Und was", fragte Bea mit gereizterer Stimme, als sie beabsichtigt hatte. Sie wollte ihre Freunde nicht noch zusätzlich unter Druck setzen, aber die Situation verlange auch ihr viel ab. "Wir löschen die Flammen", erklärte Alex. "Wir benutzen unsere Magie und löschen damit die Flammen." Bea funkelte ihn an. "Und wie stellst du dir das vor?", fragte sie. "Das ist kein einfaches Feuer, das ist ein Inferno. Keiner von uns hat die Macht, DAS zu tilgen, nicht mal wenn wir zusammen helfen." "Was denkst du, wo wir sind?", erwiderte er darauf. "Im Zentrum einer magischen Entladung. Hier gibt es alle Kraft, die wir brauchen. Wir müssen sie uns nur nehmen!" Bea verstand. Sie begannen Energien in sich aufzunehmen. Bea war später nicht in der Lage, den Prozess zu beschreiben. Die magischen Energien waren zugleich in der Zeit verhaftet und festgefroren, und zeitlos und ungebunden. Sie schöpften reichhaltig, und mit dieser zusätzlichen Kraft war es nicht weiter schwer, die Flammen vollständig zu löschen. Dann zerstreuten sie die letzten magischen Energien, die um das Mädchen herum noch vorhanden waren. "Kannst du die Zeit wieder in Gang bringen?", fragte Alex Dana mit sanfter Stimme. Sie blickte ihn zuerst ratlos an. "Ich weiß es nicht", antwortete sie dann. "Versuch es einfach!", sagte er. Sie nickte. "Hat von Euch jemand das Kristalldreieck dabei?", fragte sie schließlich mit unsicherer Stimme. Bea schüttelte den Kopf. "Das liegt wieder bei mir zuhause, im Beschwörungsraum, an seinem Platz im Regal." Dana schluckte. "Versuch es ohne!", sagte Alex zu ihr. "Du hast es eben auch ohne geschafft!" Sie nickte, versuchte sich zu konzentrieren, und mit einem Mal war alles wieder wie zuvor. Die Flammen waren verschwunden. Die Tänzer tanzten. Die Beats der Musik hämmerten. Die bunten Scheinwerfer kreisten. Und das Mädchen unter der Discokugel erwachte aus einer Art Trance und sah sich irritiert um. Auf einmal begann Dana an Beas Seite zu lachen. "Ich habe die Zeit angehalten", brachte sie begeistert heraus. "Das war es also, was ich gesehen habe!" Ihr Lachen wirkte ansteckend, denn auch Bea konnte spüren, wie die Anspannung von ihr abfiel, als sie auf das sich verwirrt umsehende Mädchen zusteuerten. Kapitel 3 --------- 3 Die Sonne schien angenehm warm durch ein schräges Dachfenster, als Eva erwachte. Sie blinzelte, versuchte sich zu orientieren. Der Raum war ihr fremd. Sie lag in einem breiten Bett, das in einer Ecke stand. Ihr gegenüber war ein Schreibtisch mit einem Computer darauf. Davor war ein Bürostuhl – schwarzes Plastik mit dunkelroten Stoffbezügen – auf dem sie ihre Kleider liegen sah: Ihre Hose, ihren Pullover, beide sauber und ordentlich zusammengefaltet, so wie sie es jede Nacht vor dem zu Bett gehen zu tun pflegte. Sie hatte sich also zumindest selbst ausgezogen. Das war ein beruhigender Gedanke. Ich bin viel zu ruhig, ging Eva da auf einmal durch den Kopf. Sie hatte das Gefühl als ob sie in Panik geraten sollte ob der unvertrauten Umgebung, aber sie tat es nicht. Im Gegenteil: Die warme Morgensonne und das friedliche Zimmer bewirkten bei ihr eher ein Gefühl angenehmer Entspanntheit. Ihr Blick streifte kurz den großen Spiegel, der ihr gegenüber an der Wand des kleinen Zimmers hing, ehe sie die Wanduhr über der Türe aus hellem Holz entdeckte: Kurz nach halb Elf. Sie überlegte erneut, wo sie hier eigentlich war – oder was für ein Wochentag es war. Auf einmal kam ihr der Gedanke, weshalb sie nicht in der Schule war. Zusammen mit diesem Gedanken kam das erste Gefühl von Beklemmung oder Angst. Nein, weder Beklemmung noch Angst: Es war Schuld, ein schuldiges Gefühl, wie von einem schlechten Gewissen. Sie griff automatisch nach ihrem Handy, das neben ihr auf dem kleinen Tisch stand, der wohl zugleich als Nachttisch fungierte. Sie ignorierte die Anrufe in Abwesenheit – bestimmt zehn Stück, allesamt von ihren Eltern. Mit wenigen sicheren Bewegungen fand sie den Kalender, der in dem kleinen Gerät eingebaut war und sah, dass es ein Samstag Morgen war. Die plötzliche Anspannung wich wieder von ihr ab, zumindest zum Teil. Ganz wollte die Unruhe nicht mehr von ihr abfallen. Sie stand auf und fing an, sich leise anzuziehen. Es widerstrebte ihr, irgendjemanden auf sich aufmerksam zu machen, solange sie weder wusste wo sie war, noch wie sie hierher gekommen war. Als sie damit fertig war, betrachtete sie kurz ihr Ebenbild in dem Spiegel, der in dem kleinen Zimmer hing. Ein schlankes und für sein Alter ungewöhnlich kleines siebzehnjähriges Mädchen blickte ihr aus dunklen, etwas besorgten Augen entgegen. Auf einmal war die Erinnerung an ihren Traum wieder da. *** Der Raum war dunkel. Nicht schwarz, sondern einfach nur dunkel. Sie glaubte einen leichten Blauschimmer in der Ferne zu erkennen. Aber das war das Problem. Es gab keine Ferne. Es gab keine Grenzen. Es gab keinen Horizont. Der Raum erstreckte sich in die Unendlichkeit. Sie wusste, dass der Raum unendlich war. Vor ihr schwebte ein dunkles Oval im Nichts. Als sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtete erkannte sie, dass es ein Spiegel war. Ein ovaler Wandspiegel, vielleicht einen Meter breit und eineinhalb mal so hoch. Sie konnte im Detail den silbernen Rahmen erkennen, die Ranken und sonstigen Verzierungen, die ein enges Geflecht von silbernem Schmuck bildeten. Inmitten des glitzernden Rahmens war Finsternis. Keine einfache Dunkelheit, so wie die aus der der endlose Raum – oder vielleicht eher Nicht-Raum – bestand, sondern echte Schwärze. Der Spiegel schien das Licht geradezu anzusaugen, gab keinen einzigen Leichtstrahl wieder frei. Und doch wusste sie, dass es ein Spiegel war. Alleine was sich in ihm spiegelte, das vermochte sie nicht zu sagen. *** Eva empfand eine leichte Beklemmung, als die Bilder aus ihrem Traum zu ihr zurück kamen. Sie schüttelte sich kurz, versuchte so die Ehrfurcht zu verdrängen, die sie vor dem Dunklen Spiegel empfunden hatte – eine Ehrfurcht die es ihr unmöglich gemacht hatte, sich dem Spiegel zu nähern oder direkt hinein zu blicken. Da kehrte langsam die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Ganz langsam nur, in Bruchstücken, die keinen rechten Sinn machen wollten. Sie konnte sich an die Disco erinnern, die sie entgegen jeder Gewohnheit betreten hatte. Warum wusste sie nicht, und die Erinnerung daran war noch nicht wieder da. Sie konnte sich daran erinnern, wie sie angefangen hatte zu tanzen. Danach wurden ihre Erinnerungen zunehmend unreal. Sie erinnerte sich an sphärische Klänge und an leuchtende Farben, an bunte Flammen und an einen Tanz, nein, an den Tanz. Und dann waren da andere Erinnerungen. Erinnerungen an Leute. Ein paar junge Leute – ein junger Mann und zwei Mädchen, sofern ihre Erinnerung sie nicht ganz täuschte. Einzelne Bilder hatten sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben: Die ausholenden Bewegungen des jungen Mannes, wenn er sprach; das Herumwirbeln roter Haare, wenn das eine der beiden Mädchen sprach. Die stillen aber tiefen Augen des anderen Mädchens, in einer ganz sonderbaren Farbe, wie Sand, nicht gelb, aber auch nicht grau, sondern irgendwie beides zugleich. Eva rief sich selbst zur Ordnung. Sie konnte nicht irgendwelchen Phantasiegebilden nachhängen. Sie musste lieber sehen, dass sie nach Hause kam. Sie erwartete sowieso schon jede Menge Ärger, auch ohne dass sie ihren Eltern erzählte, dass ... was eigentlich? Was war geschehen? Hatte sie sich irgendwie dazu überreden lassen, Drogen zu nehmen? Es war die einzige Erklärung für das, was sie gesehen hatte. Sie öffnete die Türe lautlos und spähte hindurch. Vor ihr lag ein kurzer Korridor, von dem mehrere andere Türen wegführten. Eine offene Holztreppe führte nach oben, in einen dunklen Raum. Am Ende des Flurs entdeckte sie die Wohnungstüre. Sie beschloss, leise hinauszuschleichen und dann auf direktem Weg nach Hause zu fahren. Da erklang plötzlich eine Stimme: "Du hast bestimmt Hunger. Setz dich zu uns, wie sind gerade am frühstücken." Eva blickte sich erschrocken um. Die Stimme musste aus einem anderen Raum gekommen sein. Direkt zwischen ihr und der Wohnungstüre war eine Türe nur angelehnt. Daher war die Stimme wahrscheinlich gekommen. Und die Stimme kam ihr bekannt vor. Sie hatte sie gestern Nacht bereits gehört. Sie gehörte zu dem jungen Mann, den sie zusammen mit den beiden Frauen gesehen hatte. Du bist nun erwacht, erinnerte sie sich an Fetzen von dem, was er gesagt hatte. Du bist nun wie wir, eine Magierin. Du kannst die Urkraft lenken, die das Universum im Innersten zusammenhält. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte. Hatte er sie gemeint? Und woher sollte er überhaupt wissen, dass sie in eben diesem Moment auf den Gang gekommen war. Sie hatte kein Geräusch gemacht, da war sie sich sicher. Sollte sie ihren Plan weiter verfolgen und so leise wie möglich zur Türe schleichen? Oder sollte sie einfach loslaufen, ohne sich noch einmal umzusehen? Da öffnete die Türe vor ihr sich plötzlich ganz, und der junge Mann aus ihrer Erinnerung erschien. Er sah sie direkt an und wiederholte seine Frage: "Möchtest du etwas essen? Wir sind eben beim Frühstück." Eva musste schlucken. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Schließlich sagte sie kleinlaut: "Okay." Er führte sie daraufhin in das Zimmer, aus dem er eben gekommen war. Es handelte sich um ein geräumiges Wohnzimmer, in dem die beiden Mädchen oder Frauen von vergangener Nacht in bequemen Ledersesseln um einen niedrigen Tisch saßen und frühstückten. Der Anblick des Zimmers irritierte Eva aber doch sehr. Die Wände waren dicht mit kitschigen Postern, Fächern, bunten Stoffen, einem echten ausgespannten Kimono und einer Halterung mit asiatischen Schwertern darin bedeckt. Die Regale waren aus schwarzem Holz und in den offenen Fächern standen Bücher, Schalen mit Steinen und exotischen Pflanzen, asiatische Schmuckgegenstände und immer wieder Abbilder von Drachen, teils aus Metall, teils aus Stein. Dazu kamen noch drei große Topfpflanzen, die den Raum noch exotischer erscheinen ließen, als er sowieso schon war. "Setz dich doch bitte", sagte die Rothaarige, während sie sich erhob und mit einer ungewöhnlichen Geste auf einen der Sessel zeigte. Die Bewegung ließ Eva unwillkürlich an eine asiatische Geisha oder dergleichen denken – was sicherlich auch an dem Kleidungsstück liegen mochte, dass die Frau trug. Eva vermutete, dass es ein Kimono war. Tatsächlich war es ein seidener Yûkata, aber das konnte sie nicht wissen. Der junge Mann ging derweilen an ihr vorbei zurück zu dem leeren Platz auf dem Sofa, auf dem er wohl bis eben gesessen hatte. Eva blieb zunächst unschlüssig im Raum stehen. Die ganze Atmosphäre war ihr unheimlich, und sie wollte eigentlich nur weg von hier. Aber es war ihr unangenehm, eine derart freundliche Einladung auszuschlagen. Schließlich setzte sie sich hin und sah sich zögerlich auf dem Tisch um. Auch hier offenbarte sich ihr wieder eine merkwürdige Mischung kultureller Elemente. Auf dem Teller der rothaarigen jungen Frau, von der sie glaubte, dass sie Bea hieß, lagen ein Apfel, ein halb gegessenes Stück Wassermelone und ein Büschel Trauben. Der junge Mann – Alex? – hatte derweilen eine Schüssel Reis und eine Schüssel mit einer Art trüben Suppe vor sich stehen. Das Dunkelblonde Mädchen mit den sandfarbenen Augen – Dana? – hatte derweilen ein halb gegessenen Nutellebrot und ein ebenfalls schon angeknabbertes Marmeladenbrot vor sich liegen. "Eva, richtig?", fragte die Rothaarige da. Eva musterte sie dezent. Sie war ähnlich klein und zierlich gebaut wie sie selbst, schien aber schon ein paar Jahre älter zu sein. Es war nicht nur ihr Aussehen, sondern ihr gesamtes Auftreten, das diesen Eindruck vermittelte. Sie wirkte viel sicherer und weltgewandter, als Dana das von ihren Klassenkameraden und Klassenkameradinnen kannte. Nein, nicht reifer, erkannte sie, eleganter, würdevoller, und auch irgendwie exotischer. Sie fühlte sich von ihrer ganzen Art her ein wenig an eine Prinzessin aus irgend einem Film erinnert. "Ja", brachte sie nach einer Weile heraus. "An wie viel kannst du dich erinnern?", fragte da der junge Mann. "Von gestern Nacht, meine ich." Sie musterte nun auch ihn vorsichtig aus den Augenwinkeln heraus. Ihr erster Eindruck bestätigte sich. Er wirkte irgendwie unreal schön: Großgewachsen, schlank, mit nahezu perfekt geformten Gesicht, dazu kurze dunkelbraune Haare, die etwas rebellisch nach oben weg standen und große, tiefbraune Rehaugen. Nur dass sie nicht an ein scheues Rehe erinnerten, sondern eher an einen starken und selbstsicheren Löwen, der vor nichts zurück schreckte und jede Herausforderung annahm. Genau wie Bea auch, gab auch er ihr irgendwie das Gefühl, klein und unscheinbar zu sein. Aber sein aussehen löste noch andere Gefühle aus. Sie merkte, dass es ihr unmöglich war, seinen Blick zu erwidern und blickte etwas verlegen nach unten, als er sie direkt ansah. Dabei empfand sie eine gewisse innere Anspannung, die sich auch später nicht mehr ganz legte, als sie nicht mehr in seiner Gegenwart war. "Nicht viel", brachte sie mühsam heraus. "Dann kannst du dich auch nicht an die Konstellation erinnern?", fragte er da. Was zum Teufel war eine Konstellation? "An die Entladung, meine ich", korrigierte er sich da, "an die Flammen, die du beschworen hast, an unser Gespräch im Anschluss, bei dem wir versucht haben dir zu erklären, was passiert ist? ...An dein Erwachen?" Sie schüttelte nur immer wieder den Kopf, murmelte gelegentlich: "Nein." Er holte einmal tief Luft, holte ein weiteres Mal weit mit seinen Armen aus, genau wie sie es von gestern Nacht in Erinnerung hatte – wie viel war tatsächlich wahr? Wo hörten die echten Erinnerungen auf und wo fingen die Halluzinationen an? Und begann dann zu reden: "Also noch mal von vorne: Du – bist – erwacht" – er betonte jedes der drei Wörter einzeln – "Du bist erwacht und bist jetzt eine von uns: Eine Magierin. Wir haben dich gestern im Lichtpalast gefunden und gerade noch verhindern können, dass du alles einäscherst. Warum wissen wir nicht, aber aus irgendwelchen Gründen bist du dorthin, mitten eine magische Entladung rein, und hast versucht ein mittleres Inferno zu beschwören. Wir konnten dich gerade noch aufhalten, und nachdem du gestern Abend so gut wie unansprechbar warst, haben wir dich erst mal hierher gebracht und in Beas Gästebett gelegt." Mit einem etwas weniger formellen Tonfall fügte er dann noch etwas leiser hinzu: "Und hast du eigentlich eine Ahnung, wie unbequem das Sofa hier ist?" Eva verstand kein Wort, von dem was er sagte. Sie verstand natürlich, was er sagte, aber es machte für sie keinen Sinn. Das war ihr wohl auch anzusehen, denn Bea mischte sich nun ein. Sie legte Alex die Hand beschwichtigend auf die Schulter – Eva war wieder beeindruckt von der Würde und leichten Schwere, die all ihren Bewegungen inne zuliegen schien – und sagte zu Alex: "Lass gut sein!" Das Bild einer orientalischen Prinzessin schwebte noch immer vor Evas innerem Auge, und Alex erschien ihr auch zunehmend wie ein Prinz – oder zumindest so wie die Prinzen, die sie als kleines Mädchen im Fernsehen gesehen hatte: Kräftig, stolz, zielstrebig und furchtbar, sollte ihr Zorn einmal geweckt werden. Sie kam sich selbst albern vor, angesichts dieser Assoziationen, aber die ungewohnte Umgebung trug sicherlich genauso ihren Teil dazu bei wie die Erscheinung und das Auftreten der beiden selbst. An Eva gerichtet sagte Bea dann mit sanfter, fast schon ein wenig gütiger Stimme: "Iss doch erst mal was. Hier, trink was, und dann erzähl uns erst mal in ruhe, woran du dich noch erinnern kannst." Dabei schenkte sie Eva eine breite, henkellose Tasse grünen Tees ein. Eva kannte das Getränk zunächst nicht, Bea verriet ihr aber, was es war, vielleicht nur um sie etwas zu beruhigen und ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Nach einer Weile fing Eva an zu erzählen. Sie erzählte zunächst nur von ihrem ungeplanten Ausflug in die Disco, obwohl sie eigentlich hatte lernen wollen. Irgendwann hatte sie irgendetwas nach draußen gezogen. Zunächst hatte sie nur einen kurzen Spaziergang machen wollen, aber der Weg wurde immer länger, ohne dass sie je das Gefühl gehabt hätte, einem bestimmten Ziel entgegenzusteuern. Dann erzählte sie, wie sie am Lichtpalast ankam, wie sie entgegen jeder Gewohnheit hineingegangen war und schließlich angefangen hatte zu tanzen. Dabei versicherte sie sich durch vorsichtige Blicke schon immer wieder, ob die drei sie noch ernst nahmen, oder ob sie sie bereits für verrückt erklärt hatten. Aber sie nahmen die Geschichte einfach hin, empfanden sie offenbar weit weniger merkwürdig als Eva selbst, und so erzählte sie immer weiter, auch jene Teile, die ihr noch mehr denn zuvor als Teil eines Traums oder möglicherweise als der Effekt von Drogen vorkam. "... und dann bin ich hier aufgewacht", schloss Eva, sah die drei an, vor allem Alex und Bea, und als sie nicht reagierten platzte es plötzlich aus ihr heraus: "Das ist doch verrückt! Ihr könnt mir das doch nicht glauben! Ich glaube es doch selbst nicht!!!" Die drei warfen sich kurze Blicke zu, und dann beugte sich Bea plötzlich zu Eva vor. "Ich will dir was zeigen", sagte sie. "Hier." Dabei formte sie eine Art Korb mit ihren beiden Händen. Und begleitet von einem leichten Summen in ihrem Hinterkopf erschien eine leuchtende Kugel darin. Eva stockte der Atem. Sie konnte die Kugel nicht nur sehen, sie wusste, dass sie existierte. Denn sie konnte sie auch spüren, wie eine Art leuchtenden Fleck in ihrem eigenen Bewusstsein. "Nimm Sie!", forderte Bea sie auf. Und ohne dass sie selbst die Entscheidung dazu traf, griffen ihre Hände nach Vorne und berührten die Kugel. Die Kugel besaß keinerlei Substanz, fühlte sich aber merkwürdig warm an. Auch die rötliche Farbe ließ Eva unwillkürlich an die eines Feuers denken. Das Summen in ihrem Hinterkopf wurde lauter, begann zunächst wie das knacken eines Feuers zu klingen, ehe es eine Art Melodie annahm. Und in diesem Moment kam auch die Erinnerung zurück, wie es gewesen war, in der vergangenen Nacht die kosmischen Energien zu lenken und durch ihren Geist hindurch zu leiten. Und da, in diesem einen Moment, wurde Eva bewusst, dass das alles real war. Der Raum, in dem sie saß, die drei unwirklich fremdartigen Personen, die Bilder der vergangenen Nacht in ihrer ganzen phantastischen Irrealität, es war alles wahr. Es war Realität, auch wenn sie nicht verstehen konnte wie. "Aber...", schnappte sie nach Luft, "ich verstehe nicht..." "Du hast den ersten Schritt in eine größere Welt getan, kleine Schwester", sagte Bea liebevoll. "Du hast gestern Nacht deine Augen geöffnet und siehst nun Dinge, die dem Großteil der Menschheit für immer verborgen bleiben werden. Die siehst die Welt nun wie se wirklich ist, hinter der Fassade scheinbar banaler Alltäglichkeit. Dich erwarten Wunder ohne gleichen." Die Energiekugel hatte sich derweilen spurlos wieder aufgelöst. Eva schluckte. "Aber wie, aber wie..." "Lass dir Zeit", sprach Bea sanft weiter. "Du musst nichts überstürzen. Lass alles erst mal einsickern, und wenn du uns brauchst, dann sind wir für dich da." "Das ist das Wichtigste", erklang da wieder Alex' volle Stimme, "dass du jemanden hast, der genauso ist wie du. Ich hatte am Anfang niemanden, und ich dachte erst lange Zeit, ich wäre verrückt geworden. Erst als ich Bea und unsere kleine Dana hier getroffen habe, da habe ich richtig begriffen, was überhaupt los ist. Die beiden haben mir gezeigt, was passiert ist, und was ich jetzt bin. Du hast zumindest von Anfang an jemanden und stehst nicht alleine da. Das ist schon ne ganze Menge wert, mehr als dir wahrscheinlich jetzt überhaupt klar sein kann..." "Aber...", stotterte Eva weiter, "aber... Magie?" "Schon gut", sagte Alex beruhigend, während er über den Tisch griff und ihr einige Male sanft über den Kopf strich. "Das ist ganz normal. Das ist mir auch so gegangen: Du zweifelst bis zuletzt, bis du nicht mehr anders kannst." Eva sagte nun nichts mehr. Sie sah die drei nur noch mit großen Augen an, unsicher was sie noch sagen, ja was sie überhaupt noch denken sollte." "Was hältst du davon", fragte Bea nach einem kurzen Schweigen, "wenn wir dir erzählen, wie wir erwacht sind? Vielleicht hilft dir das ja ein wenig, dich selbst zurecht zu finden." Eva nickte. Sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. "Ich bin die Tochter eines Drachen", erklärte Bea da stolz. "Nicht wirklich seine Tochter, wenn ich ehrlich sein soll, aber er nennt mich bisweilen so." "Drache?", rutschte es Eva raus, ohne dass sie es verhindern konnte. "In der Tat", erwiderte Bea. "Findracor, der Feuerdrache, der große Rote Drache, der Herrscher über die Ebene des Elementaren Feuers. Er ruhte viele Jahrtausende in tiefem Schlummer, bis es mir gelang ihn in Trance zu berühren. Daraufhin erwachte er und nannte mich Freundin. Seitdem folge ich dem Pfad, den er mir aufgewiesen hat. Das allerwichtigste ist aber, dass er mich gelehrt hat, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Mein altes Leben war ehrlich gesagt einfach nur Scheiße." – Mit einem Mal fiel die erhabene, würdige Art on Bea ab und sie erschien Eva wie eine gewöhnliche junge Frau – "Ich hab damals im Supermarkt an der Kasse gesessen, hatte nen Freund, dem ich fast schon egal war, zumindest kommt's mir rückblickend so vor, und war in unserer Clique der Prügelknabe, auf dem alle rumgehackt haben. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie verlassen ich mich die ganze Zeit gefühlt hab – und habs nicht mal gewusst, weil ich nichts anderes gekannt hab. Aber dann ist Findracor erwacht. Ich hab ihn während einer Meditation erreicht, nachdem ich schon länger von ihm geträumt hatte." – Beas Finger fingen an, mit dem kleinen roten Steindrachen rumzuspielen, der an einem Lederband um ihren Hals hing; er war Eva schon gestern Abend aufgefallen, und vorhin wieder, aber inmitten der ganzen fremdartigen Eindrücke hatte sie ihm bisher keine weitere Beachtung geschenkt – "Während dieser einen Meditation erwachte er dann und nannte mich Freundin, und seitdem hat sich mein Leben vollständig verändert." – an diesem Punkt begann die Erhabenheit und Würde, die Eva bisher beobachtet hatte wieder in Beas Auftreten und Sprache zurück zu kehren – "Ich habe Steffen daraufhin zum Teufel gejagt, meinen alten Job hingeworfen und habe mittlerweile meine eigene kleine Modereihe. Lebe deinen Traum – DAS ist Magie." Und mit dieser theatralischen Formulierung schloss sie ihre Ausführungen. Ein kurzes Schweigen setzte ein. Eva wusste nicht, was sie sagen sollte. Da räusperte Alex sich und begann zu erzählen: "Ehrlich gesagt weiß ich bis heute nicht, wie oder warum ich erwacht bin. Es ist einfach passiert. Ich war auf dem Weg vom Kino nach Hause, als es einfach passierte. Ich hab nicht mal gemerkt, wie es passiert ist. Ich denke ich war in dem Moment zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Aber irgendwann hab ich es dann bemerkt, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie verblüfft ich war..." "Komm endlich zum Punkt", unterbrach ihn Dana da, nicht unbedingt unfreundlich. "Okay", erwiderte Alex. "Irgendwas hat sich an dem Abend an mir verändert, oder vielmehr an meiner Art, die Welt wahrzunehmen. Ich dachte erst, ich wäre übermüdet, oder so, oder irgendwas wäre mit meinen Augen. Obwohl, eigentlich hab ich im ersten Moment gar nicht darüber nachgedacht, sondern es einfach nur zur Kenntnis genommen." "Alex...", ermahnte Dana ihn da erneut, und Eva musste ihr innerlich Recht geben. Er kam wirklich nicht zum Punkt. "Denn was plötzlich anders war", fuhr er fort als sei nichts gewesen, "waren die Menschen um mich herum. Ich hab sie plötzlich viel deutlicher gesehen als vorher, jeder einzelne war plötzlich im Fokus, war viel größer und detaillierter und farbiger, und die Umgebung um die Menschen herum war irgendwie grau und versank im Hintergrund. Also nicht wörtlich, nicht so als ob die Proportionen oder die Farben sich wirklich verändert hätten, aber es war irgendwie so, als ob die Menschen schärfer eingestellt wären, du weißt schon, wie in einem Film oder so, wenn bestimmte Sachen einfach einen Fokus kriegen." Eva wusste nicht, was er meinte. Aber sie nickte, verstand sowieso kaum mehr etwas von dem, was hier vor sich ging. "Später im Bett hab ich mich dann gewundert, was eigentlich los war und gedacht, das wäre irgendwas komisches gewesen – vielleicht hab ich’s mir sogar nur eingebildet – und am nächsten Tag würde alles wieder sein wie immer. Aber das war's nicht. Die Veränderung hat angehalten, und tut es noch immer, nach fast einem halben Jahr. Ich bin in dem Moment erwacht, wie ich später von Bea erklärt bekommen habe." "Ah", war alles, was Eva als Antwort herausbekam. "Aber glaub nicht, dass es nur bei dieser veränderten Wahrnehmung geblieben wäre", fügte Alex da noch hinzu. "Das war nur der Anfang. Ich habe seitdem gelernt die Magie zu nutzen, und du kannst dir wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen, was ich schon alles gesehen und getan habe – und was du auch noch sehen und tun wirst." Das war allerdings wahr. Sie konnte sich wirklich nur schwer vorstellen, was er gesehen haben mochte, oder was sie noch erwarten mochte. Das war weit jenseits von allem, auf das sie in ihrem jungen Leben vorbereitet worden war. Aber so sehr es auch ihrem ganzen Weltbild widersprechen mochte, was sie hier sah und hörte, sie wusste einfach, dass es real war. Die kleine Energiekugel, die Bea beschworen hatte, hatte ihr jeden Rest an Zweifel genommen. "Und was ist mir dir?", fragte sie schließlich unsicher das junge Mädchen mit Namen Dana. Sie war vielleicht fünfzehn, hatte lange dunkelblonde Haare, die ihr bis über die Schultern hingen und war etwas größer und breiter als sie oder Bea. Aber das war nicht weiter ungewöhnlich, waren sie beide doch ungewöhnlich zierlich gebaut. Eva suchte ihr Aussehen dezent nach jener Art von exotischem Flair ab, das die anderen beiden umgab, aber sie fand nichts. Abgesehen von den Augen, deren Farbe tatsächlich ungewöhnlich war, schien sie ein ganz normales, junges Mädchen zu sein, das sich nicht von den jüngeren Schülerinnen an ihrer eigenen Schule unterschied. "Ich hab nicht viel zu erzählen", sagte Dana leise. Überhaupt wirkte sie auf Eva etwas still und schüchtern. "Ich bin offenbar die Wiedergeburt einer mächtigen keltischen Magierin", begann sie dann etwas monoton zu erzählen. "Frag mich nicht in der wievielten Generation schon. Ich hab Erinnerungsfetzen an die Zeiten der römischen Invasion in England und davor, hab scheinbar die Höhen und Tiefen des Mittelalters miterlebt, hab Dinge gesehen und gemacht, die in keinem Geschichtsbuch stehen, und wurde offenbar immer wieder wiedergeboren, bis zuletzt in diesem Körper. Ist alles ziemlich schwammig, zumeist nur vage Fetzen, ohne jeden Zusammenhang und ohne jede Erklärung, die mich plötzlich überkommen. Ich bin dann oft mehrere Minuten lang nicht ansprechbar. Meine Eltern sind schon mit mir zu zig Psychiatern gerannt, besonders als ich angefangen habe von den Vorerinnerungen zu erzählen. Die waren auch alle ratlos, und seitdem ich aufgehört habe darüber zu reden und mich wieder 'normal' verhalte, lassen sie mich in Ruhe. Ich hab seitdem auch weit mehr Freiheiten als früher, kann kommen und gehen wann ich will, kann tun und lassen was ich will, Hauptsache ich bin wieder 'normal'. Und ganz ehrlich, wenn ich’s mir aussuchen könnte, würde ich das hier am liebsten alles hinter mir lassen, so gern ich Alex und Bea hab, aber ich wär am liebsten eine ganz normale fünfzehnjährige Schülerin, die sich nicht mit Vorerinnerungen, Prophezeiungen und dergleichen rumzuschlagen braucht. Aber das geht einfach nicht. Ich bin was ich bin, und die beiden hier geben mir zumindest den nötigen Halt, den ich brauche, um dieses zweite Leben in den Griff zu kriegen." Dana hatte die ganze Zeit über aus dem Fenster geschaut, während sie gesprochen hatte, und Eva hatte deutlich das Gefühl gehabt, dass es ihr nicht leicht gefallen war. Aber jetzt sah sie sie direkt an und lächelte. Einen Moment lang glaubte Eva irgendwo in ihrem Hinterkopf etwas zu hören, wie ein erneutes Summen, aber etwas geordneter, schon fast wie eine Art Melodie. Da verschwand der letzte Rest von Zurückhaltung aus Danas Gesicht und sie sagte mit authentisch wirkender Herzlichkeit: "Und wenn mich nicht alles täuscht, dann werden wir beide auch noch sehr gute Freundinnen." *** Es war mittlerweile kurz vor zwölf. Dana saß mit ihren Schulheften am niedrigen Wohnzimmertisch, Bea saß friedlich schweigend neben ihr und skizzierte – Schnittmuster, wie Eva nun wusste. Alex wirbelte derweilen eines von Beas Samuraischwertern wild umher; bisweilen sah es kontrolliert und anmutig aus, bisweilen hatte Eva Angst um die Einrichtung und ihr Leben; die Anderen beiden achteten überhaupt nicht darauf, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Dazwischen hielt er immer wieder inne und sah sich nach ihr um, wechselte ein paar Worte mit ihr, fragte ob sie mit allem zurecht kam. Sie selbst stand schon die ganze Zeit an das Fenster gelehnt und blickte unschlüssig über den verlassenen Park und die graue Stadt. Eigentlich hätte sie schon längst nach Hause gehen sollen, aber irgend etwas hielt sie zurück. Und es war nicht die Angst vor ihren Eltern, die ihr heftigste Vorwürfe machen würden. Sie hatte keine Ahnung, was sie überhaupt sagen sollte, aber das kümmerte sie im Moment auch gar nicht. Ihr Leben hatte sich gerade verändert, und nicht nur das, die ganze Welt hatte sich verändert – zumindest für sie. Sie versuchte vergeblich, damit klar zu kommen, aber die hatte das Ausmaß all dessen noch gar nicht erfasst. Schrittweise und systematisch versuchte sie gerade alles aufzuarbeiten. "Ich kann das nicht!", platzte es plötzlich aus ihr heraus. "Ich kann das nicht! Das ist zuviel!" "Was ist denn los?", fragte Alex mit besorgter, fürsorglicher Stimme, das Schwert locker in einer Hand wiegend. Eva war zunächst selbst überrascht von ihrem plötzlichen Gefühlsausbruch. "Ich hätte gestern fast ich weiß nicht wie viele Menschen umgebracht!", eröffnete sie ihm dann. "Wie soll ich denn bitte schön mit so was leben?! Wie soll irgendjemand mit so was umgehen?" Alex sah sie einen Moment nachdenklich an, dann sagte er: "Das warst nicht du. Das war die Magie – Schicksal, wenn du so willst. Wenn du überhaupt was tun kannst, dann dich dem stellen wer du bist, Verantwortung übernehmen und die Magie meistern, damit du in Zukunft nicht noch mal die Kontrolle verlierst." "Aber... Aber", stotterte Eva, die Arme eng um den Körper geschlungen, den Blick von ihm abgewandt und auf den Boden fixiert. Da erhob sich Bea plötzlich vom Sofa, kam ein paar Schritte in ihre Richtung und sagte: "Lass dich nicht unterkriegen. Es kommt dir im Moment vielleicht wie eine schwere Bürde vor, aber du wirst bald Wunder sehen, die es mehr als wert machen." Es waren schöne Worte, aber sie kamen Eva hohl vor, bedeutungslos. "Könnt ihr beide und bitte für einen Moment alleine lassen?", wandte sich Alex da an die beiden Anderen. Sie nickten und ließen sie alleine. Eva hob den Blick und sah ihn abschätzend an. Sie empfand noch immer die selbe Anspannung in seiner Gegenwart, aber sie wurde im Moment von Unsicherheit und sogar einer kleinen Spur Angst überlagert, was er nun tun würde, da sie alleine waren. Er lehnte sich neben sie gegen das Fenster und blickte hinaus. Sein Blick schien über den Horizont zu wandern. Eva entspannte sich wieder etwas. "Ich kann dir einiges über Verantwortung erzählen, wenn du es wirklich hören willst", sagte er dann geistesabwesend. "Du musst noch eines über mich wissen: Ich bin nicht nur Magier, sondern auch Telepath. Bea und Dana haben beide große Macht, aber sie haben keine Ahnung davon was es heißt, Macht über den Geist zu besitzen – und das ist auch besser so, denke ich. Telepathie ist eine schreckliche Bürde. Ich kann nicht nur Gedanken lesen, wenn ich möchte, sondern ich kann die Gefühle anderer Menschen verändern, ihre Gedanken umschreiben, ihnen den freien Willen nehmen, wenn ich nur möchte. Manchmal bekomme ich selbst Angst vor dem, was ich tun könnte. Einmal habe ich es tatsächlich getan. Einmal habe ich es nicht bei der bloßen Vorstellung belassen, sondern tatsächlich Gott gespielt. Es war anfangs nur so eine Idee: Ein hübsches Mädchen, und ich war alleine und einsam. Ich hab damals gerade angefangen meine magischen Fähigkeiten auszuloten, hatte noch kaum Erfahrung, wollte meine Grenzen kennen lernen. Ich dachte mir es wäre bestimmt schön mit ihr zusammen zu sein. Ohne groß über die Folgen nachzudenken habe ich ihr Gefühle gegeben. Sie hat sich in mich verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick." Er hielt kurz inne, fuhr dann fort: "Glaub ja nicht, dass ich darauf stolz wäre, okay. Ich war einfach dumm, hatte keine Ahnung davon, wozu ich in der Lage bin, was ich anrichten kann. Ich sagte mir damals noch, dass es vielleicht von alleine hätte passieren können, dass ich dem Schicksal lediglich ein wenig auf die Sprünge geholfen hatte. Wir waren drei Wochen zusammen und wir waren glücklich – ich zumindest. Ich dachte damals, dass sie auch glücklich sei. Ich wusste noch nicht, was ich ihr angetan hatte. Denn Andrea – oder auch kurz Andi – hatte bereits einen Freund. Von ihren neuen Gefühlen für mich überwältigt sprach sie nicht über ihm. Erst nach drei Wochen erfuhr ich dann von Mark, als sie heulend in ihrem Zimmer saß und mir alles beichtete. Sie hatte ihn erst im Unklaren gelassen, dann mit ihm Schluss gemacht und es hatte ihr das Herz gebrochen. Sogar das hatte sie noch so lange versteckt gehalten, wie sie nur gekonnt hatte und jetzt war der Zeitpunkt erreicht, wo sie dem Druck nicht mehr länger gewachsen war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mies ich mich gefühlt habe. Ich hab ihr erst einmal einen Tee zur Beruhigung gegeben, leicht magisch verstärkt, wie ich vielleicht dazu sagen sollte. Ich musste einfach irgendetwas für sie tun. Ich habe daraufhin ihren Freund, oder besser gesagt ihren Ex-Freund gesucht und mich mit ihm unterhalten. Eigentlich ist er ein netter Kerl, aber als er erführ, wer ich war, hätte er mich am liebsten zusammengeschlagen. Ich habe den Zauber dann von Andrea genommen, der sie an mich gebunden hatte und die beiden irgendwie gemeinsam in einen Raum gebracht. Ich weiß gar nicht mehr, was ich an dem Abend alles gezaubert habe, angefangen bei einer Art Verschleierung, damit sie mich nicht mehr erkennen bis hin zu Gedächtniszaubern, die die letzten drei Wochen für sie ungeschehen gemacht haben und irgendwelchen Nachjustierungen, damit sie nicht sofort auf irgendwelche Widersprüche stoßen. Zum Schluss hab ich ihnen dann noch zwei kleine Halbedelsteine geschenkt, die als materieller Fokus fungieren und die Zauber auf Dauer aufrecht erhalten sollen. Ich hab später noch mal nach dem Rechten gesehen, und zwischen den beiden scheint alles soweit wieder im Lot zu sein, und sie haben mich auch beide nicht mehr erkannt, aber ich hab bis heute das Gefühl, dass irgendeine Art von Schatten damals über ihrer Beziehung lag. Ich fürchte, dass der Schaden, den ich angerichtet habe nie ganz verheilt ist. Wie dem auch sei, ich hatte an diesem Tag verdammt viel Magie eingesetzt und die Strafe lies nicht lang auf sich warten; die Magie fordert immer ihren Preis, musst du wissen. Das ist die wichtigste Regel, die jeder von uns lernen muss. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, als der Schmerz mich packte. Es war kein körperlicher Schmerz, sondern seelischer, wie wenn man ein gebrochenes Herz hat, nur viel stärker." Alex stocke nun immer öfter in seinem Redefluss, und Eva hatte zunehmend das Gefühl, dass die Erinnerungen noch immer schmerzhaft waren. "Ich weiß bis heute nicht, wie ich überhaupt nach Hause gekommen bin. Als der Schmerz nachließ waren zwei Tage vergangen. Damit wahr aber noch nicht alles ausgestanden. Ich litt noch Wochen an den Folgen dieses einen Tages. Mein Spiegelbild zeigte Andrea und nicht mehr mich, meine Gefühle liefen Amok, ich hatte Ohnmachtsanfälle, vergaß wer ich war, war desorientiert, total neben der Spur. Ich nenne diese Zeit den 'Monat der Buße'. Nach gut einem Monat war das Schlimmste ausgestanden. Jetzt begann die Zeit der stillen Buße. Ich liebte Andrea noch immer und vermisste sie. Gleichzeitig musste ich mit dem klar kommen, was ich ihr und ihrem Freund angetan hatte. Wie gesagt, ich glaube dass der Schaden, den ich angerichtet habe, nie ganz verheilt ist, und ich bekomme das Bild von einem unsichtbaren Riss unter der Oberfläche, der immer breiter und bereiter wird nicht mehr aus meinem Kopf. Seit diesem Zeitpunkt setzte ich Magie nur noch ein, wenn es nötig ist und ich denke immer darüber nach, ob ich irgendjemandem damit schade. Bea und Dana haben zwar grundsätzlich das selbe Problem, aber sie haben beide keine Ahnung davon, was es heißt, Macht über den Geist zu besitzen. Wenn ich will kann ich die Gefühle, sogar die Gedanken anderer Menschen fast nach Belieben umkrempeln. Manchmal kriege ich wirklich Angst vor dem, was ich machen könnte, wenn ich nur wollte." Alex' Blick war immer weiter in die Ferne geschweift. Jetzt sah er Eva plötzlich direkt an. "Ich bin mir auch manchmal nicht sicher, ob ich mit so viel Verantwortung leben kann, aber ich muss. Es gibt kein Zurück mehr. Das warst auch gestern nicht du, die die Disco fast eingeäschert hätte, es waren deine Fähigkeiten, die du nicht kontrollieren konntest. Du konntest nichts dafür, dass die Konstellation stattfand und du hattest keine Kontrolle mehr darüber, was du gemacht hast, als es soweit war. Genauso gut hättest du die Kontrolle über ein Auto verlieren können und in eine Menschenmenge brettern, es wäre das selbe gewesen. Unfälle passieren, daran kann man nichts ändern. Was du aber machen kannst ist die Verantwortung übernehmen und dich der Magie stellen." Ohne es selbst zu bemerken blickte Eva Alex nun das erste mal direkt in die Augen. "Alles klar?", fragte er mit einem zaghaften Lächeln. "Ja, schon, denke ich.", antwortete Eva. Dann begann auch sie zu lächeln. Kapitel 4 --------- 4 Eva war verwirrt. Es war alles so unglaublich, so phantastisch. Es gab keine Magie, keine Drachen und keine Wiedergeburten. Die Welt folgte einfachen Naturgesetzen. Das wusste jeder. Zauberei – das war doch alles nur Aberglaube! Erneut konzentrierte sie sich auf ihre Schulaufgaben. Der Vektor A bestand aus der Summe der Vektoren B und C. Wenn man also die beiden X-Achsen addierte... Genau so funktionierte das Universum, genau wie diese Vektoren. Man konnte sie addieren, subtrahieren, sie berechnen. Die Zeit kann nicht einfach stehen bleiben. Das kann einfach nicht sein! Entnervt presste sie ihre Fingerkuppen gegen ihre Schläfen, atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf ihre Vektoren. Ohne sich weiter ablenken zu lassen beendete sie die Aufgabe. Als sie gerade fertig war überkam es sie. Mit einem mal konnte sie die Urkraft wieder spüren, die sie durchströmt hatte. Schwachsinn!, dachte sie. Es gibt keine Urkraft. Das ist alles... ach keine Ahnung, irgendetwas halt. Du glaubst das doch nicht wirklich, oder? Ein Kampf tobte in ihrem Geist. Ihre Weltsicht, die sie über Jahre hinweg entwickelt hatte rang mit der Erfahrung, das Übersinnliche berührt zu haben. Einmal gewann die eine Seite die Oberhand, dann wieder die andere. Mühsam beendete sie den Rest ihrer Hausaufgabe. Sie wusste, dass das so nicht weitergehen konnte. Sie suchte Beas Nummer aus ihrem Adressbuch, holte das Telefon aus dem Wohnzimmer und rief an. Bea wusste natürlich noch, wer Eva war und als sie ihr sagte, dass sie jemanden brauchte, mit dem sie sprechen konnte lud Bea sie ein, doch einfach vorbeizukommen. Eva nahm dankbar an und sie vereinbarten, dass sie sich gleich auf den Weg machen würde. Sie räumte ihre Schulsachen weg, packte ihr Adressbuch zurück in sein Fach in ihrer Tasche und holte ihre Jacke aus dem Schrank. "Gehst du noch weg?", fragte ihre Mutter sie, als sie zur Tür ging. "Ja. Ich besuche noch eine Freundin." "Sind deine Hausaufgaben fertig?" "Ja, natürlich." "Na gut, aber komm nicht zu spät nach Hause!" "Mach ich, Mama." Mit diesen Worten war sie verschwunden. *** Bea war eben dabei, einen Schnitt für ein neues Kleid zu entwerfen, als es an der Türe klingelte. Den Bleistift in der Hand lief sie in den Flur und drückte auf den Türöffner. Sie öffnete die Wohnungstüre einen Spalt weit und ging zurück ins Wohnzimmer. Als sie sich gerade wieder auf den Schnitt der Ärmel konzentriert hatte, hörte sie ein zögerliches Rufen aus Richtung des Eingangs. "Komm rein und mach zu!", rief sie in die Richtung. Kurz darauf stand Eva in ihrem Wohnzimmer. Bewundernd sah sie den rotschwarzen Seidenkimono an, den Bea an hatte. Sie hatte es sich auf dem Sofa bequem gemacht, weshalb ein Bein unter dem Stoff hervorragte. "Setzt dich!", sagte sie ohne aufzublicken. Eva tat wie ihr geheißen. Schweigend sah sie sich um. Sie war schon einmal hier gewesen, aber das Zimmer faszinierte sie immer noch. Bei Nacht kamen die Dinge, die Bea hier angesammelt hatte bei weitem besser zur Geltung. Etliche Kerzen brannten in gusseisernen und silbernen Kerzenhaltern, die Lavalampe glühte vor sich hin und Dutzende exotischer Gegenstände verliehen dem Raum ein wenig das Flair, nicht von dieser Welt zu sein. "Schau mal! Wie findest du es?" Mit diesen Worten reichte Bea ihr ihren Block. Das Kleid darauf hatte wirklich Stil. Eva konnte es kaum glauben, dass Bea es gerade eben entworfen hatte. "Und, was führt dich her?", leitete Bea unmittelbar über. "Ich brauche jemanden zum reden." "Ja?" "Diese ganze Sache mit der Magie und allem macht mir zu schaffen", erklärte Eva. "Das ist ganz normal. Das geht wahrscheinlich den meisten so." "Dir auch? Als es bei dir angefangen hat?" Bea überlegte kurz, dann erwiderte sie: "Eigentlich nicht. Für mich war es vor allem eine Erleichterung. Auf einmal war da etwas, das mir Halt gegeben hat." "Du hattest überhaupt keine Probleme damit, plötzlich mit was umgehen zu müssen, das du vorher für Aberglauben gehalten hast?", fragte Eva ernsthaft erstaunt. "Nö!" Die Antwort war gleichermaßen kurz wie aussagekräftig. Als Eva sie fragend anschaute ergänzte Bea erläuternd: "Ich hab nie daran geglaubt, dass es nichts Übernatürliches geben kann. Ich hab mich schon vor meinem Erwachen mit Hexerei und Hinduismus beschäftigt." Eva war sprachlos. Bisher hatte sie Leute, die so etwas erzählten immer als Spinner abgetan und sie ignoriert. Das war gewesen, bevor sie die Kraft des Universums am eigenen Körper gespürt hatte. An ihren eigenen Überzeugungen zweifelnd lauschte Eva Beas weiteren Ausführungen. Bea erzählte ihr von ihrer Suche nach einem Sinn im Leben. Natürlich war sie sich dessen damals noch nicht bewusst, aber ihr fehlte der Halt. Ziellos trieb sie durchs Leben, ließ sich treiben. Sie hatte sich nie Gedanken über ihre Zukunft gemacht, hatte stets geträumt und sich niemals den Herausforderungen des Lebens gestellt. Sie ging nicht sehr ins Detail, aber es war offensichtlich, dass sie froh war, ihr altes Leben hinter sich gelassen zu haben. "Heute ist das alles anders. Ich brauche nicht mehr zu träumen. Jetzt tue ich das, wovon ich früher geträumt habe", schloss sie. "Ich wünschte, ich wäre mir so sicher. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll." "Glaube an die Magie! Das ist das Beste, das du tun kannst." "So einfach ist das nicht..." "Hör auf, dir Gedanken darüber zu machen! Die Magie musst du spüren. Komm mit, wir versuchen es einfach." Mit diesen Worten legte sie ihren Block und den Stift, den sie immer noch in der Hand hielt weg und zog Eva mit sich aus dem Zimmer, den Flur lang, die Treppe hoch. Bald darauf knieten sie beide im Zentrum des Pentagramms, das hier im Boden eingelassen war. Um sie herum brannten Ritualkerzen und eine weitere, kleine Kerze befand sich unmittelbar zwischen ihnen. "Versuche die Flamme zu spüren!", leitete Bea ihre neue Freundin an. "Ich versuche es ja, aber es geht nicht", kam die Antwort zurück. "Du musst ganz in die Flamme eintauschen, dich in sie versenken, mit ihr eins werden." Sekunden vergingen, in denen das einzige Geräusch das Knistern der Kerzen war. "Ich schaffe es nicht", ertönte schließlich wieder Evas Stimme. "Pass auf, ich zeige dir, wie es geht." Bea schloss ihre Augen und die Flamme begann zu tanzen. "Ich spüre etwas", erklang Evas überraschte Stimme. "Was?" "Ich höre ... eine Melodie." "Eine Melodie?", fragte Bea, mit einem merkwürdigen Unterton. "Ja eine Melodie. Ich bin mir ganz sicher." Die Kerze hörte auf zu tanzen. Bea öffnete ihre Augen. Und Eva konnte darin ein merkwürdiges Funkeln sehen, nicht wirklich feindselig, eher misstrauisch, und fast ein wenig begierig. Eva traute sich aber nicht, nachzufragen, und so wartete sie geduldig auf Beas nächste Frage: "Spürst du es immer noch?" "Ja, ganz schwach." Sie wiederholten die Übung und Eva gelang es, die Melodie immer deutlicher zu hören. Nach etwas mehr als eine Stunde hatten sie das Gefühl, dass es für heute genug war. Eva war gekommen in der Hoffnung, Antworten zu finden und sie hatte eine erste Antwort erhalten. Diese musste sie nun zunächst einmal verarbeiten, ehe sie sich neuen Antworten stellen konnte. "Hast du das bei den Anderen auch gemacht?", fragte sie Bea, als sie die Kerzen aufräumten. Bea war wieder so freundlich und nett wie zuvor, und Eva war zunehmend der Meinung, dass sie sich die plötzliche Anspannung, die sie bei Bea zu sehen geglaubt hatte, als sie die Melodie das erste Mal erwähnt hatte, nur eingebildet hatte. "Bei Alex schon. Er hatte ähnliche Probleme wie du, das Übersinnliche zu akzeptieren. Dana brauchte mich nicht, sie schaffte es alleine." "Und du? Woher kannst du zaubern?" "Ach, weißt du, ich habe einen guten Lehrer." "Den Drachen?" "Genau den." "Und wo ist er? Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier irgendwo ein Drache leben soll." "Das tut er auch nicht. Er lebt in seiner eigenen Dimension. Niemand kann ihn dort erreichen außer er erlaubt es ihnen." "So wie dir?" "Genau" "Aber warum?" Als Antwort schüttelte Bea nur ihren Kopf. "Es gibt kein Verstehen. So ist es halt. Du musst es einfach akzeptieren." Eva sah sie sprachlos an. Hundert mögliche Antworten gingen ihr durch den Kopf. Keine von ihnen war der Situation angemessen. "Wenn du wirklich Antworten suchst gibt es nur einen Ort, an dem du sie finden kannst", erklärte Bea ihr schließlich. "Gehe in dich. Erforsche deine Gefühle, ergründe deine Träume. Erkenntnis kann nur aus dir selbst kommen!" Minuten vergingen, in denen Eva über das nachdachte, was sie eben gehört hatte. Schließlich fragte sie: "Wenn Erkenntnis nur von Innen kommen kann, wozu hast du dann die ganzen Bücher?" "Wissen und Erkenntnis sind nicht das selbe. Wenn du wissen willst, wo dein Platz ist, lausche nach innen. Wenn du wissen willst, wo Rom liegt, schau in einen Atlas." Eva glaubte zu verstehen. Sie hatte genug gehört für heute. Banalere Dinge rückten in den Mittelpunkt ihrer Unterhaltung. Bea erzählte von ihrer Arbeit und Eva hörte aufmerksam zu. Sie ging noch immer zur Schule und hatte kein Bild davon, wie es im Arbeitsleben wirklich aussah. Dass Bea diese Wohnung selbst bezahlte, nur mit dem Geld, dass sie mit dem Entwerfen von Kleidern verdiente fand sie besonders interessant. "Du hättest einmal unsere alte Wohnung sehen sollen", erklärte Bea ihr. "Früher habe ich mit meinem Ex zusammengewohnt. Wir hatten zusammen nicht einmal halb so viel wie ich jetzt alleine verdiene." "Was ist aus ihm geworden?" "Wir haben uns getrennt." "Warum?" Bea erzählte ihr die Geschichte. "Wir haben uns gestritten. Steffen hat's einfach nicht verstanden, dass ich meinem Job aufgegeben habe. 'Du bist verrückt!', hat er mir an den Kopf geschmissen. 'Wir brauchen das Geld!' Ich habe versucht ihm zu erklären, dass ich meine wahre Bestimmung suche und er hat mich eine Spinnerin genannt. In dem Moment wurde mir klar, dass wir nicht mehr zusammenpassen. Zwei Wochen später bin ich wieder bei meinem Eltern eingezogen. Ich hatte es einfach leid. Ich fand's furchtbar, mit welcher Sturheit er versucht hat, mir meine Träume auszureden. Da ist er dann wirklich ausgerastet. Ich bin ihm danach aus dem Weg gegangen und nach ein paar Wochen hat er mich dann auch in Ruhe gelassen. Letzten Sommer sind wir uns noch mal zufällig über den Weg gefallen. Er war richtig nett und alles und wollte wissen, wie es mir geht. Ich hab damals bereits Mode designt und konnte ganz gut davon leben. Mein Leben hatte sich vollständig verändert. Seins überhaupt nicht. In dem Moment wurde mir klar, dass wir keine Zukunft mehr hatten. Ich konnte mit ihm einfach nicht mehr anfangen und er mit mir auch nicht mehr." Mehr wollte sie aber offenbar nicht mehr dazu sagen, denn jetzt fragte sie ihrerseits: "Und was ist mir dir? Hast du einen Freund?" Mit einem sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen schüttelte Eva den Kopf. "Na, dann hast du ja jetzt vielleicht deine Chance", erklärte ihr Bea lachend. "Wieso? Was meinst du?" "Hat Alex sich noch nicht an dich rangemacht?" "Wie kommst du darauf?" "Ach weißt du, er versucht es doch bei allen Mädchen..." Eva war sprachlos. Derartige Direktheit war sie nicht gewohnt. *** Viele Dinge gingen Eva durch den Kopf, als sie die Türe aufsperrte. "Weißt du eigentlich, wie spät es ist?!", riss die Stimme ihres Vaters sie aus ihren Gedanken. "Tut mir leid, wir haben uns verquatscht...", versuchte sie sich herauszureden. "Das ist keine Entschuldigung, junge Dame!", erklärte er streng. "Du hast morgen Schule und es ist schon nach 11. Hast du wenigstens deine Hausaufgaben alle fertig?" "Natürlich, Papa." Evas Hausaufgaben waren immer fertig. "Dann ab ins Bett mit dir!", sagte er, diesmal in etwas freundlicherem Tonfall. Sie verschwand in ihrem Zimmer, legte ihre Kleider wie immer ordentlich auf ihrem Stuhl zusammen und ging zu Bett. Sie versuchte zu schlafen, aber ihre Gedanken kamen einfach nicht zur Ruhe. All das, was Bea ihr heute erzählt hatte schwirrte wirr umher. Die Erinnerung an ihre Zauberübungen kam hinzu. Ganz leise konnte sie die Melodie in ihrem Kopf noch immer hören. Die Ereignisse des vergangenen Freitags kamen ihr erneut in den Sinn, so gut sie sich an sie erinnern konnte. Jetzt, da sie bewusst darauf achtete fiel ihr auf, dass sie auch damals bereits die Melodie hatte hören können. Oder bildete sie sich das nur ein? Erneut überkamen sie Zweifel. Stunden vergingen. Sie tauchte tiefer und tiefer in ihre Gedanken ab. Plötzlich klärte sich das Bild. Sie stand erneut vor dem schwarzen Spiegel. Sie befand sich im selben, dunkelblau erleuchteten Nichtraum und der Spiegel reflektierte die selbe Schwärze wie schon einmal zuvor. Sie wollte sich dem Spiegel nähern, doch irgendetwas hielt sie zurück. Sie wusste nicht, was es war. Vielleicht war es Angst. Beas Worte hallten in ihrem Bewusstsein wieder: Gehe in dich. Erforsche deine Gefühle, ergründe deine Träume. Erkenntnis kann nur aus dir selbst kommen! Langsam näherte sie sich dem Spiegel. Er blieb dunkel. Sie streckte die Hand nach ihm aus. Sie berührte ihn. Ihre Hand drang ein. Sie spürte keinen Widerstand. Langsam drang sie ganz in ihn ein. Dunkelheit umgab sie. Ein winziger Lichtpunkt erschien aus dem Nichts. Ein zweiter erschien, dann ein dritter. Sie konnte Strukturen erkennen, es waren keine Lichtpunkte, es waren Gedanken, Bedeutungen. Sie versuchte sie zusammenzusetzen. Weitere Lichtpunkte erschienen. Sie versuchte auch sie zusammenzusetzen. Sie wusste, dass das Bild unvollständig war. Um es zusammenzusetzen brauchte sie alle Teile, nicht nur ein paar. Wie auf ihren Wunsch hin erschienen mehr Teile, viele mehr. Sie begann Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht gelang es ihr tatsächlich, das Rätsel zu lösen. Sie begann die Teile zu sortieren, zu strukturieren und anzuordnen. Es gab noch immer Lücken. Sie wollte die fehlenden Teile haben. Ihrem Wunsch entsprechend erschienen sie. Es waren aber immer noch nicht alle. Sie rief sie zu sich. Zu Tausenden, bald zu Millionen strömten sie in den Raum um sie. Bald kamen sie schneller, als sie sie ordnen konnte. Ein wilder Tanz begann. Milliarden von Gedanken umkreisten sie, so viele, dass sie die Strukturen, die sie bereits geschaffen hatte aus den Augen verlor und es wurden mit jedem Moment immer noch mehr. Sie kämpfte gegen sie an. Ihr wurde bereits schwindlig, aber sie kämpfte noch immer. Sie versuchte, eine größere Struktur zu finden, aber auch das gelang ihr nicht. Plötzlich saß sie wieder im Pentagramm in Beas Beschwörungsraum. In Ihrer Hand hielt sie eine Kerze. Es war ihre Aufgabe, die Kerze in Schwingung zu versetzen. Sie konnte die Melodie in ihrem Kopf hören, ergriff sie und veränderte sie. Die Kerze begann ganz leicht zu flackern. Sie vergrößerte ihre Anstrengungen, die Flamme flackerte nicht länger. Je mehr sie sich bemühte, um so ruhiger wurde die Flamme. Schließlich erstarrte sie. Die Flamme erstarrte. Die Flamme. Erstarte. Die Disco. Die Stimme ihrer Mutter erklang: Du bist um Mitternacht zu Hause, verstanden? Die Flamme begann sich zu verändern. Du solltest um Mitternacht zu Hause sein! Wo warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht. Die Flamme gewann immer klarere Konturen. Du machst das gut, mein Schatz. Streng dich noch mehr an, dann schaffst du es! Sie strengte sich an. Sie konzentrierte sich, sammelte ihre Gedanken. Mit reiner Willenskraft kontrollierte sie die Flamme. Sie versuchte, sich ihr zu wiedersetzen, aber sie war stärker. Es war eine reine Frage der Disziplin. Langsam gewann Eva die Oberhand. Die Konturen der Flamme klärten sich immer mehr auf, ihre Form wurde immer symmetrischer und schließlich hatte sie es geschafft: Die Flamme hatte die Form eines absolut regelmäßigen Tropfens angenommen. Befriedigt trat sie einen Schritt zurück, um ihr Machwerk in seiner vollen Schönheit zu bewundern. In dem Moment entglitt sie ihrer Kontrolle. Sie wusste, was nun geschehen musste, noch ehe es begann. Sie hatte es schon einmal erlebt, am vergangenen Freitag, in der Disco. Die Flamme blähte sich auf, verlor jede klare Form, begann alles zu verschlingen. Dann blieb die Zeit stehen. Eva erstarrte, noch bei Bewusstsein, aber unfähig, sich zu bewegen sah sie sich der Flamme gegenüber, wusste, dass sie sie verschlingen würde, sollte die Zeit jemals weiterlaufen. Als Eva am nächsten Morgen erwachte konnte sie sich nur noch an Bruchstücke ihres Traumes erinnern. Sie wusste jedoch, dass sie versagt hatte. Kapitel 5 --------- 5 Eine weitere Woche war vergangen. Eva war erneut bei Bea, um mehr über die Geheimnisse der Magie zu lernen. Alexander und Bea waren Getränke kaufen gegangen. Eva saß mit Dana zusammen in der Küche und die beiden unterhielten sich. "Hat Alex dich eigentlich auch angemacht?", fragte Eva schüchtern. "Dich auch?", entgegnete Dana. "Nein, bislang nicht. Bea hatte aber irgendetwas gesagt von wegen, er hätte es bei euch beiden versucht." Leicht grinsend entgegnete Dana: "Ja, das hat er." "Und warum bist du nicht darauf eingegangen? Er ist doch nett und sieht gut aus und alles." "War eine ganz komisch Geschichte. Wir kannten uns gerade zwei Wochen. Eigentlich fand ich ihn ganz nett. Er beugte sich zu mir herunter, wollte mich küssen. In dem Moment hatte ich einen Flash. Ich sah sein Gesicht, sah ihn eine Pistole, so eine ganz altmodische, wie aus einem Piratenfilm auf mich richten, mir gegen die Stirn drücken und wie in Zeitlupe drückte er ab. Die ganze Vision war begleitet von Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Trauer. Ich hab ihn weggeschlagen und bin aus dem Zimmer gerannt. Ich glaube, das hat ihn getroffen. Wir haben später darüber gesprochen und inzwischen sind wir gute Freunde, aber mehr könnte da nicht mehr sein. Ich habe später noch mal darüber nachgedacht, ob nicht vielleicht doch noch was sein könnte, aber ich werde niemals den Anblick vergessen, wie er die Pistole abdrückt." Mit diesen Worten verstummte Dana. Eva wartete einige Augenblicke, ob noch etwas kommt. Es kam jedoch nichts mehr. Schließlich ergriff sie erneut das Wort: "Alex kommt mir irgendwie einsam vor. Ich weiß auch nicht warum, ist nur so ein Eindruck." "Ja, du hast recht. Er ist verdammt einsam. Er sucht jemanden, an den er sich klammern kann." "Er hat mir die Geschichte von Andrea erzählt." Dana nickte wissend. "Ich kenne sie. Irgendwie ist sie bezeichnend für ihn." Beide verstummten. Nachdenklich ging Eva ans Fenster. "Schau mal, den Mond!", rief sie Dana zu. "Er ist ganz rot!" Neugierig kam Dana ans Fenster. Der Mond war tatsächlich rot – blutrot. In dem Moment, in dem sie ihn sah erstarrte sie. Ihr Verstand wurde von Tausenden Erinnerungssplitter überflutet. Zuerst erstarrte sie, dann fing sie an zu schreien: "Neeeeeiiiiin!!!" Erschrocken fuhr Eva zusammen. "Was ist los? Geht's dir nicht gut?", fragte sie besorgt. "Wir müssen auf die anderen warten. Es ist furchtbar. Wir müssen sofort etwas tun!" Mehr war aus ihr nicht mehr herauszuholen. Zitternd ging sie ins Wohnzimmer, wo sie sich in einen der Ledersessel setzte und wortlos verharrte, bis Alex und Bea zurückkamen. Als alle anwesend waren begann sie zu erzählen: "Es ist furchtbar. In einem meiner früheren Leben musste ich miterleben, wie ein riesiger Dämon die Grenze der Sphären durchbrach und auf die Erde kam. Er brachte Legionen niederer Dämonen mit sich, die furchtbares Leid anrichteten. Krieg brach aus, Menschen töteten einander wie Tiere und der Dämon bereitete sich darauf vor, die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen." Als Dana das erzählte, brach ihr der Schweiß aus. "Ich stellte mich ihm entgegen. Ich wusste, dass er eine Konstellation benützen würde, um seine Macht noch weiter zu vergrößern. Während dieser Konstellation würde er jedoch geschwächt sein. Ich sammelte einige treue Anhänger um mich und wir stürmten die Kirche, in der er das Ritual vollzog. Meine letzte Erinnerung ist die, dass wir in die Sakristei stürmten und ihn stellten. Danach ist nur noch Finsternis – kalte Finsternis. Jetzt ist er zurück. Ich kann ihn spüren. Es ist der selbe rote Mond, der damals seinen Aufstieg angekündigt hatte und er wird wieder in der selben Kirche erscheinen. Ich weiß es. Wir müssen hin. Sofort!" Die anderen hatten die Geschichte aufmerksam verfolgt. Sie wussten, dass Dana es ernst meinte. Ohne zu zögern nickten sie und machten sich auf den Weg. Bea lief lediglich noch in das Beschwörungszimmer und holte einige Dinge, die ihnen vielleicht dabei helfen würden, den Dämon zu bekämpfen. Nach nicht ganz einer halben Stunde hatten sie die Kirche erreicht. Es war eine alte romanischen Kirche, aus schwarzem Stein gebaut und überaus bedrohlich anzusehen, selbst für einen gewöhnlichen Sterblichen, der die Aura der Bedrohung, die das Bauwerk umgab nicht spüren konnte. Die Kirche war abgesperrt, aber ohne zu zögern stießen sie das Tor mit ihrer Magie auf. Als sie die Kirche betraten wurde die Aura des Bösen so stark, dass sie sich zusammenreißen mussten, um überhaupt weitergehen zu können. In der Sakristei standen sie dem Dämon dann gegenüber. Er war fünf Meter groß, schien aus Fleisch gewordener Dunkelheit zu bestehen, riesige zerfletterte Flügel aus Schatten verschmolzen mit der Dunkelheit unter der Decke des Raumes. Sein purer Anblick reichte aus, um sie für einige Sekunden zu lähmen. Bea war die Erste, die wieder Kontrolle über sich gewann. "In Findracors Namen, stirb Ausgeburt der Hölle!", schrie sie ihm entgegen, als sie eine Strahl sengenden Feuers auf ihn schleuderte. Langsam fingen die anderen sich auch wieder. Uralte Formeln rezitierend, die Findracor Bea und die wiederum sie gelehrt hatte fielen Alex und Dana mit ein. Tatenlos sah Eva zu, wie ihre Freunde der Kreatur von drei Seiten Flammen entgegenschleuderten, sie darin geradezu einhüllten. Die Konstellation kam ihnen genau recht, sie erlaubte es ihnen, Energien freizusetzen, die sie ansonsten niemals hätten kontrollieren können. Es war jedoch sinnlos. Die Flammen berührten die Kreatur nicht einmal. "Kinder!", hallte eine fremdartige, seltsam vibrierende Stimme in den Köpfen der jungen Magier wieder, dann wurden sie von einem mentalen Schlag getroffen, der so stark war, dass sie benommen in die Knie gingen. Wieder war Bea es, die sich als erste wieder fing. Mit roher Gewalt kamen sie nicht weiter. Die Kräfte Solomons anrufend öffnete sie ihren Geist den magischen Strömungen dieses Ortes. Die Eindrücke überwältigten sie geradezu, zwangen sie zu Boden. Alex und Dana starteten derweilen einen erneuten Angriff. Dieses mal schleuderten sie dem Wesen Licht entgegen, so hell wie die Sonne und genauso reinigend. Eva konnte immer noch nichts tun. Die Melodie in ihrem Kopf tanzte wie wild, ließ sich überhaupt nicht mehr erfassen, so schnell und stark variierte sie, den magischen Entladungen folgend. Unfähig, irgendetwas gegen den Dämon zu tun kümmerte sie sich um Bea. "Ein starkes magisches Feld hüllt ihn ein ... unsere Energien werden in die Zeit abgelenkt ... wir müssen dieses Feld durchdringen ...", hörte sie Beas schwache Stimme. In der Hoffnung, dass es irgendetwas helfen würde riss sie Dana und Alex aus ihrer Konzentration und erzählte ihnen, was Bea eben gesagt hatte. Dana nickte, holte ihr Kristalldreieck hervor, machte ein entschlossenes Gesicht und begann neue, andere Formeln zu wirken. "Ich schaffe es!", rief sie. "Ich verstehe die Struktur des Zaubers, ich kann ihn durchbrechen!" Der Schweiß brach ihr aus. Sie spannte sich immer mehr an, tiefe Falten bildeten sich auf ihrer Stirn. "Fuck!", fluchte sie. Die Melodie in Evas Kopf änderte sich erneut. Ohne dass sie sagen könnte woher, wusste sie, dass die Struktur des magischen Feldes sich geändert hatte, dass es gegen Danas Zauber ankämpfte. Dana versuchte sich der Veränderung anzupassen, einige male gelang es ihr beinahe. Irgendjemand kämpfte gegen sie an, versuchte sie magisch auszumanövrieren. Der Dämon konnte es nicht sein, er stand im Inneren des Feldes, absolut passiv, als schone er seine Kräfte für irgendetwas. Langsam begann sie den Kampf zu verlieren. Die Melodie in Evas Kopf schlug erneut aus, als sie alle ihre verbleibenden Kräfte für einen letzten Schlag sammelte. In dem Moment erklang Alexanders Stimme in Danas Geist: "Du musst aufhören! Lass das Feld! Verdammt, ich komm nicht durch!" Gewohnt, ihm in solchen Situationen zu vertrauen brach sie ab, versuchte zu begreifen, was er meinte. Ich komme nicht durch!, hatte er gesagt. Sie sah ihn an. Verbissen blickte er in Richtung des Dämons. Wahrscheinlich versuchte er, den Dämon mental zu bezwingen. Sie begriff: er brauchte ein Tor, durch das er den Dämon direkt angreifen konnte. Neuer Mut erfasste sie: "Ich probiers!", rief sie ihm zu. Seine Antwort bestand jedoch lediglich aus einem besorgten: "Was? Was probierst du?" "Das Tor!", schrie Dana. "Welches Tor?" "Das Tor, dass du brauchst!" Mit diesen Worten fing sie erneut an, die Energien der Zeit zu formen. Dieses mal versucht sie erst gar nicht, die Barriere zu durchbrechen. Mit sehr viel Feingefühl begann sie die einzelnen Fäden so abzulenken, dass eine Lücke entstand, zunächst winzig, dann immer größer werdend. Erneut stellte sich ihr Widerstand entgegen, dieses mal aber nur einige Sekunden lang. Dann war es, als würde ihr geheimnisvoller Gegner ihr freie Hand lassen. Binnen Sekunden öffnete sich ein Durchgang zwischen Alex und dem Dämon. Alexander rätselte immer noch, was sie eigentlich meinte, als sie ihm zurief: "Ich habe es geschafft! Es ist genau vor dir. Du kannst jetzt durch!" Unsicherheit überkamen ihn, er wusste nicht, was das alles bedeutete. Dann hörte er Evas Stimme: "Sie kann es nicht mehr lange halten! Mach schnell!", schrie sie ihm ins Ohr. Er wischte die Zweifel beiseite, nahm allen seinen Mut zusammen und stürmte mit zugekniffenen Augen nach Vorne. Überrascht sahen Dana, Eva und Bea, wie Alex die Zeitbarriere durchbrach. Wenige Meter vor dem Dämon blieb er stehen. Der Dämon schein das erste mal auf einen von ihnen aufmerksam geworden zu sein. Rot aufleuchtenden Augen richteten sich auf Alex. Sie konnten spüren, wie der Dämon seine Kräfte sammelte. Alex begann zu zaubern. Sie konnten deutlich den Fluss der magischen Energien spüren. Keine von ihnen konnte erkennen, um was für einen Zauber es sich handelte. Offenbar benutzte Alex Telepathie oder irgendeine andere Form der Magie, die sie nicht beherrschten. Schließlich hörte der Dämon auf, noch weiter Energien zu sammeln. Offensichtlich hatte er genug für das, was er nun vorhatte. Alex veränderte seinen Zauber, wob neue Stränge ein. Fast gleichzeitig erfassten sie einander mit der Macht ihrer Zauber. Es gab einen Lichtblitz, die Konstellation endete schlagartig, das Gezeitenfeld brach zusammen und alles in seinem Inneren verschwand mit ihm. Fassungslos starrten sie auf die Stelle, an der ihr Freund eben noch gestanden hatte. Sie brauchten etliche Minuten, um ihre Kräfte wieder zu sammeln. Noch bevor sie wirklich dazu in der Lage dazu waren begannen sie, den Raum nach ihrem Freund abzusuchen. Über eine Stunde lang versuchten sie mit jeder Art von Zauber auch nur eine Spur von Alex zu finden. Es war vergeblich. Zutiefst erschüttert verließen sie die Kirche. Sie wollten einfach nur noch nach Hause und schlafen. Morgen würden sie weitersuchen, bis sie ihren Freund gefunden hatten. Körperlich wie geistig erschöpft verließen sie das Gebäude, liefen über den verlassenen Friedhof und hinaus auf die Straße. Sie waren keine zwanzig Meter weit gekommen, als sie von einem jungen Mann angesprochen wurden. "Entschuldigung, aber ist eine von Euch vielleicht Dana Finn?", fragte er. Verwundert sahen sie ihn an. "Ja, das bin ich", antwortete Dana schließlich. "Ich weiß, wie albern das klingt, aber ich habe einen Brief für dich. Ich arbeite bei der Post, hab da ganz neu angefangen. Bei uns im Lager habe ich das hier entdeckt." Mit diesen Worten reichte er ihr einen alten, vergilbten Briefumschlag mit der Aufschrift: Dana Finn Mathäuskirche, Schwabing 15. Februar 2002 21:00 "Ich hab 'Zurück in die Zukunft' auch gesehen und ... ach keine Ahnung, ich war einfach neugierig. Ich musste wissen, ob das vielleicht wirklich wahr sein könnte. Und jetzt stehst du tatsächlich hier. Ich fass es einfach nicht!" Der Mann wusste nicht mehr, was er noch sagen sollte. Sprachlos blieb er stehen, versuchte wiederholt, einen Satz zu beginnen. Ohne ihn weiter zu beachten öffnete Dana den Brief. Liebe Dana, ich kann nicht behaupten, dass es mir gut geht, aber ich lebe. Macht euch um mich also keine Sorgen. Der Dämon ist auch tot, ich habe ihn vernichtet. Jetzt brauche ich aber deine Hilfe. Du bist die Einzige, die mich wieder zurückholen kann. Ich stecke hier nämlich in der Vergangenheit fest. Der Brief hier ist die einzige Methode, die mir eingefallen ist, um euch zu erreichen. Der Kampf mit dem Dämon hat mich bereits einiges gekostet und ich werde noch mal so viel Energie in den Brief hier stecken, wie ich noch kann, damit er euch hoffentlich auch wirklich erreicht. Ich stehe jetzt vor einem Postamt. Wenn ich den Brief aufgegeben habe werde ich versuchen, zum Haupteingang der Marienkirche zu kommen. Ich weiß nicht, wann der Rückschlag kommt, aber ich hoffe, ich schaffe es vorher noch. Wenn ich es schaffe weißt du, wo du mich suchen musst. Vielleicht schaffst du es ja tatsächlich, mich zurückzuholen. Ich liebe euch! Alex *** "Das Tor!", schrie Dana. "Welches Tor?" "Das Tor, dass du brauchst!" Alexander hatte keine Ahnung, was sie meinte. Er hatte nichts von einem Tor gesagt. Verwirrt blickte er sich um. Dana schien ihn nicht weiter zu beachten. Offenbar konzentrierte sie sich erneut auf den Kampf gegen den Dämon. Plötzlich rief sie ihm zu: "Ich habe es geschafft! Es ist genau vor dir. Du kannst jetzt durch!" Unsicherheit überkamen ihn, er wusste nicht, was das alles bedeuten sollte. Dann hörte er Evas Stimme: "Sie kann es nicht mehr lange halten! Mach schnell!", schrie sie ihm ins Ohr. Dana hatte von einem Tor gesprochen. Die merkwürdige Barriere hielt alle Zauber ab. Er musste an ihr vorbei. Er wischte die Zweifel beiseite, nahm all seinen Mut zusammen und stürmte mit zugekniffenen Augen nach Vorne. Als er die Augen wieder öffnete fand er sich wenige Meter vor dem Dämon wieder. Hier war die Aura des Wesens ungleich stärker und bösartiger. Die Auren seiner Freunde konnte er nicht mehr spüren, sie waren durch die Barriere getrennt. Wertvolle Sekunden vergingen, bis er die Furcht, die der Dämons bei ihm hervorrief im Griff hatte. Er befand sich nun genau im Brennpunkt der Konstellation. Er konnte die Macht spüren, die ihn durchströmte. Der Dämon schien endlich auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Rot glühende Augen richteten sich auf ihn. Er wusste, dass es nun an ihm lag. Er musste den Dämon besiegen oder er war verloren. Kräftemäßig war er dem Dämon weit unterlegen. Wenn er ihn besiegen wollte, musste er eine Schwachstelle finden. Mit Hilfe einer uralten Technik aus dem japanischen Zen stählte er seinen Geist gegen das, was ihn erwartete – und öffnete sein Bewusstsein. Alexander hatte nie gelernt, die Schwingungen der reinen Magie zu spüren, so wie Bea das tat. Er hatte andere Möglichkeiten. Sein Versuch, in die Psyche des Dämons einzudringen und seine Gedanken zu lesen scheiterte. Der Dämon hatte einen zu starken Willen. Auch auf diesem Bereich konnte Alex ihm nichts entgegensetzen. Es gelang ihm jedoch, den Körper des Dämons erfassen – halb stofflich, halb aus Energie bestehend. Irgendetwas daran weckte seine Aufmerksamkeit. Er bohrte tiefer und dann begriff er. Der Dämon befand sich in einem Übergangszustand. Offenbar versuchte er, körperliche Gestalt anzunehmen. Er hatte eine Schwachstelle gefunden. Mit aller ihm im Zentrum der Konstellation zur Verfügung stehenden Kraft formte er einen Zauber, der den körperlichen Teil des Dämons vom energetischen Teil trennen und ihn so spalten sollte. Mit einem hinterhältigen Grinsen begann er das reinigende Licht in den Zauber zu integrieren. Die Essenz des Dämons bestand aus manifestierter Finsternis. Er wollte den Dämon nicht nur schwächen, er wollte ihn vernichten. Dann war es soweit. Der Zauber war vollendet, er konnte ihn auf den Dämon loslassen. Während er das tat bemerkte er, dass der Dämon nun seinerseits ihn angriff. Es handelte sich um einen gigantischen Schlag psychischer Energie. Hier in der Konstellation besaß Alexander gewaltige Energien, die er in seine mentale Abwehr pumpen konnte, aber auch so hielt er dem Angriff des Dämons nur Sekunden stand. Am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, wie sein Zauber den Dämon traf. Seine psychischen Wälle brachen, der Dämon drang ein und flutete Alexanders Geist mit Finsternis. Dann erfolgte ein greller Lichtblitz. Mit letzter Kraft spürte Alexander, wie der Geist des Dämons verging, dann fiel er in Ohnmacht. *** "Ihr müsst durchhalten!" Marias Stimme hallte durch die Kirche. Ihre Akolythen gaben ihr letztes. Ihre gesamte Kraft in sich aufnehmend schleuderte sie dem Dämon ihre geballte mystische Kraft entgegen. Den schien das überhaupt nicht zu interessieren. Der Druck, den er ganz nebenbei auf Marias Geist und den ihrer fünf Verbündeten ausübte war stark genug, sie in die Knie zu zwingen. Sie bemerkte überhaupt nicht, wie mitten im Raum eine leblose Gestalt aus dem Nichts erschien. Zwei Ihrer Verbündeten hatten bereits das Bewusstsein verloren. "Jetzt oder nie!", schrie sie, sammelte ihre letzte Kraft und stürzte sich in den Schattenleib des Dämons. In dem Moment, als sie den Dämon berührte begann ihr Körper zu brennen, ihre Seele zu brechen. Immerhin hatte sie jetzt zumindest einmal seine Aufmerksamkeit. Mit rot glühenden Augen sah er sie an. Dann erhöhte er den Druck. Geistig erschöpft, durch die Berührung des Wesens geschwächt, hatte sie dem nichts mehr entgegenzusetzen. "Zurück!", befahl sie. Sie hatten ihre Chance vertan. Die bewusstlosen Kameraden und den Fremden mit sich ziehend verließen sie die Sakristei, die Kirche. Der rote Mond hüllte den Friedhof, auf dem sie sich sammelten, in unheiliges Licht. Langsam kam Maria wieder zu sich. Ihre Gedanken wurden wieder klarer und ihr wurde bewusst, was sie soeben getan hatte. Die Berührung des Dämons hatte sie mehr gekostet, als ihr bewusst gewesen war. Ihr Körper war nun unrein, ihr Geist verflucht. Alle Lebensfreude, alle positiven Gefühle waren ihr abhanden gekommen. Schweigend nahm sie es zur Kenntnis. Sie wusste, das die Magie einen hohen Preis fordern konnte. Sie hatte den Kampf gegen den Dämon aufgenommen und es gab nun kein Zurück mehr. Sie stellte sich dem Schmerz. Sie wusste, dass sie nicht aufgeben durfte, noch nicht. Erst dann, wenn der Dämon besiegt war konnte sie ruhen. Ihr Blick fiel auf den Fremden. Er war etwa so alt wie sie, groß, schlank, hatte kurze schwarze Haare und trug fremdartige, schwarze Kleidung. Langsam kam er zu sich. "Wer bist du?", fragte sie. Er reagierte nicht. Sie wusste, dass er sie ansah, aber er antwortete nicht. "Sollen wir es wieder versuchen?", fragte einer ihrer Akolythen sie. "Ja! Wir müssen es schaffen!", antwortete sie bestimmt. "Wo bin ich?", erklang da die Stimme des Fremden. "Vor der Mathäuskirche", entgegnete sie ruhig. "Wer seid ihr?" "Ich bin Maria und das sind meine Schüler. Wir kämpfen gegen das Böse." Der Fremde sah sie einige Momente lang an, dann fragte er: "Welches Jahr haben wir?" "1732. Warum?" Der Fremde lies den Kopf nach hinten sinken und stöhnte: "Oh Gott!" "Was soll das heißen?", wollte Maria wissen. "Du bist die Wiedergeburt einer mächtigen Magierin, richtig?", legte er los. "Du bist heute nacht hier, weil du einen furchtbaren Dämon versuchst zu bannen. Habe ich nicht recht?" "Das hast du. Wer bist du und was weißt du?" Der Fremde stöhnte erneut, dann fuhr er fort: "Ich heiße Alex, Alexander Albrecht, und ich habe den Dämon eben besiegt. Ich komme aus der Zukunft und ich kenne dich. Du wirst als Dana Finn wiedergeboren werden. Der Dämon kehrte zurück, wir griffen ihn an. Ein Zeitfeld hielt uns zurück. Dana – also du – hast ein Tor geöffnet, durch das ich an den Dämon herangekommen bin. Ich habe ihn besiegt." "Das kann nicht sein! Er existiert!", entgegnete sie. "Natürlich! Ich werde ihn auch erst in 300 Jahren besiegen." Maria schien zu begreifen, was er meinte. "Aber wir können den Dämon nicht am Leben lassen! Zu viele Menschen werden leiden!" "Ich weiß." Mit diesen Worten richtete Alex sich auf, stützte seinen Kopf auf seine Hände. "Können wir ihn irgendwie einsperren?", fragte er dann. Sie sah ihn eine Weile schweigend an. "Ein Gefängnis jenseits von Zeit und Raum. Ich weiß nicht, ob ich das kann, aber wir könnten es versuchen..." Sie fassten neuen Mut. Gemeinsam entwickelten sie einen unglaublichen Plan. Es machte Sinn. Maria würde den Dämon in die Zukunft schicken, wo Alexander und seine Freunde ihn dann besiegen konnten, wo sie ihn bereits besiegt hatten. Er hätte keine Zeit mehr, Leid und Schmerzen anzurichten. Die Tatsache, dass sowohl der rote Mond als auch die Konstellation sich wiederholten war ein deutliches Indiz dafür, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Alexander würde den Körper des Dämons untersuchen. Wenn er sich im selben Übergangszustand befand wie im Jahre 2002 wussten sie, dass sie Recht hatten. Bevor sie sich dem Dämon erneut stellten stärkte Alexander die geistige Abwehr der kleinen Gruppe. Gemeinsam sprachen sie eine alte Beschwörungsformel, die Alexander aus der Zukunft mitgebracht hatte: "Wir sind grau. Wir stehen zwischen dem Licht und den Sternen." Es war keine traditionell überlieferte Beschwörungsformel, aber sie besaß eine ganz eigene Kraft. Mehr brauchte Alexander nicht, um sie zu stärken und zu einen. Er gab ihnen neuen Mut und verankerte eine telepathische Verbindung zwischen ihnen, die aktiv werden würde, sobald er der Konstellation Energie entziehen konnte. Zu allem entschlossen betraten sie die Kirche erneut, stellten sich dem Dämon. In dem Moment, in dem sie die Sakristei betraten entstand der telepatische Kontakt. Alexander spürte den psychischen Druck, der auf seinen Mitstreitern lastete, wusste aber, dass ihre Barrieren dem noch gewachsen waren. Erneut ertastete er im Geiste den Körper des Dämons. Er befand sich im Übergang. Er konnte spüren, dass noch ein größerer Teil des Dämons aus Energie bestand als bei seiner letzten Konfrontation mit ihm. Er konnte die langsame Umwandlung spüren und halb unbewusst berechnete er, dass die Umwandlung insgesamt keinen Tag mehr dauern konnte. Ihre Theorie stimmte. Er nickte Maria zu, die daraufhin das Ritual begann, mit dem sie den Dämon in die Zukunft schicken wollten. Es handelte sich um einen mächtigen Zauber, sogar jetzt, während einer Konstellation forderte er ihr alles ab. Dazu kam der Einfluss des Dämons, der sie alle psychisch stark unter Druck setzte. Etliche Akolythen brachen zusammen. Wann immer einer von ihnen nicht mehr so viel Energie liefern konnte, wie die Aufrechterhaltung seiner mentalen Abwehr erforderte zog Alexander sich aus seinem Geist zurück. Es war eine harte Entscheidung, sie einfach fallen zu lassen, aber die brauchten jedes Quäntchen Macht, das sie bekommen konnten. Sie hatten sich gemeinsam auf dieses Vorgehen geeinigt und es blieb Alexander nichts anderes übrig, als es durchzuziehen. Als bereits zwei Akolythen zusammengebrochen waren gelang es Maria endlich, einen ersten Riss in der Zeit zu erzeugen. Als der dritte Akolyth zusammenbrach entstand das Gezeitenfeld, dass den Dämon in die Zukunft bringen sollte. Irgendetwas stimmte jedoch nicht. Alex konnte es deutlich in ihrem Geist spüren. Jemand behinderte sie, versuchte das Feld aufzulösen. Sie begann die Frequenz zu verändern, die Muster zu wechseln. Sie war ihrem unsichtbaren Gegner überlegen, deutlich. Sie stabilisierte das Feld schneller, als er es destabilisieren konnte. Das war aber zu wenig. Sie musste das Feld in Ruhe halten, damit der Transport erfolgen konnte. Fieberhaft überlegte sie, wie sie den unsichtbaren Gegner aufhalten könnte. Plötzlich glaubte Alexander, zu begreifen. "Ich weiß, was los ist", rief er ihr telepatisch zu. "Ich kann das Problem vielleicht lösen, aber ich brauche dazu Kontakt in meine eigene Zeit!" Im Geiste sah sie ihn verwundert an, zuckte schließlich metaphorisch mit den Schultern und machte sich daran, einen Teil des Gezeitenfeldes so zu manipulieren, dass Alexander es als Brücke benutzen konnte. Ganz schwach spürte er die Echos seiner Freunde in der Zukunft. Er tastete nach Dana und als er glaubte, Kontakt zu haben sprach er in ihren Geist: "Du musst aufhören! Lass das Feld! Verdammt, ich komm nicht durch!" Der letzte Satz war an Maria gerichtet, weil er keinen vernünftigen Kontakt bekam. Sekundenbruchteile später hörten die Angriffe auf Marias Feld jedoch auf. Offenbar hatte es funktioniert. Alex zog sich zurück und Maria machte sich erneut daran, das Feld zu stabilisieren. Es dauerte aber nicht lange, da wurde erneut in die Matrix des Gezeitenfeldes eingegriffen. Automatisch hielt Maria gegen. Alexander bemerkte das und fragte telepatisch, was die erneute Veränderung bewirke. "Es entsteht eine Lücke", kam die Antwort. Das Tor!, ging es Alexander durch den Kopf. "Würde der Zauber trotzdem funktionieren?" "Ich weiß nicht!" "Ignorier es! Das Tor muss da sein! Vertrau mir!" Sie tat wie ihr geheißen und konzentrierte sich nunmehr vollends auf die Stabilisierung des Feldes. Bereits Sekunden später schloss sich die Lücke wieder. Neben ihnen brach der vierte Akolythe zusammen. Ein einziger war noch bei Bewusstsein und seine Kräfte näherten sich ebenfalls rasant dem Ende. Dann war es jedoch vollbracht. Das Zeitfeld wurde stabil, umschloss den Dämon und verbannte ihn. Im selben Moment kollabierte die Konstellation. Erschöpft brachen Maria, Alexander und der übriggebliebene Akolyth zusammen. Langsam erholten sie sich von der Belastung, der sie bis gerade eben ausgesetzt gewesen waren. Maria schickte ihre Schüler nach Hause und bat Alexander, sie zu begleiten. Sie bat ihn, ihr von Dana zu erzählen, dem Mädchen, als das sie angeblich wiedergeboren würde. Gebannt lauschte sie seinen Beschreibungen und Alexander hatte fast das Gefühl, dass sie erleichtert war. "Was ist los?", fragte er schließlich. "Ich bin einfach nur froh, dass es mir wieder besser gehen wird!", erwiderte sie. "Was meinst du damit? Der Dämon ist gebannt, das Leben geht weiter. Du musst doch nicht bis zu deiner nächsten Wiedergeburt warten, um glücklich zu sein!" "Doch" Dieses eine Wort schien den Himmel zu verdunkeln. "Was ist los?", fragte Alexander. Und dann begriff er. Er hatte es bereits in ihren Gedanken gesehen: Ihr Leben war verwirkt. Der Dämon hatte sie berührt und sie damit verdorben. Ihr Körper, ihr Geist, ihre Seele würden niemals wieder glücklich sein. Er sah sie an und bewunderte, wie stark sie eigentlich war. Sie wusste genau, wie es um sie stand und doch zeigte sie so viel Gleichmut, so viel Ruhe, so viel Kraft. Sie war eine besondere Frau. Ihr Aussehen war ihm bereits aufgefallen, aber es verblasste im Vergleich mit der Schönheit ihrer Seele. Er fühlte sich ihr auf besondere Weise verbunden, auf eine Weise, wie er es bisher noch bei keinem Menschen gespürt hatte. "Dieses Leben ist vorbei", sagte sie mit sanfter Stimme. "Ich werde niemals wieder Glück empfinden. Ich kann so nicht weiterleben. Dank dir weiß ich, dass ich wiedergeboren werde, so wie ich war, bevor ich den Dämon berührte. Mehr kann ich von diesem Leben nicht mehr erwarten." Sprachlos sah er sie an. Es gab tausend Dinge, die er ihr sagen wollte, doch nichts, was er ihr sagen konnte. Schweigend gingen sie zurück in die Stadt. Schwer bewaffnete Soldaten ließen sie durch das gut befestigte Stadttor ein. Maria brachte Alexander in ihre Wohnung, in der sie ihm mehrere Bücher in die Hand drückte. "Das sind meine gesamten Bücher über Magie", sagte sie. "Nimm sie mit. Ich will, dass du und deine Freunde sie bekommen. Meinen Schülern nutzen sie nichts, ihnen fehlt die Gabe." Dann reichte sie Alexander drei weitere Bücher. "Das sind meine Tagebücher", sagte sie. "Ich will, dass Dana sie bekommt. Vielleicht hilft es ihr." Als sie diese Worte sagte rollte ihr eine einzelne Träne über die Wange. Alexander drückte sie fest an sich, aber sie löste sich wieder von ihm. "Eine letzte Bitte habe ich noch." Sie reichte ihm eine Pistole. "Ich kann so nicht weiterleben. Die einzige Hoffnung, die ich noch habe ist die, möglichst schnell wiedergeboren zu werden. Bitte tu mir den Gefallen." Sie sah ihn mit großen, bittenden Augen an. Es brach ihm das Herz, aber er erfüllte ihre Bitte. Sie setzte sich in einen alten Schaukelstuhl, ihren Lieblingsstuhl, wie sie sagte und wartete darauf, dass er ihr Leben beendete. Das Herz voller Schmerzen hob er die Pistole, platzierte sie ganz sanft und vorsichtig an ihrer Stirn und drückte ab, millimeterweiße, bis der Schuss sich schließlich löste. Er sah die Pistole in seiner Hand an, Marias seltsam ruhiges Gesicht, soweit man es noch erkennen konnte und fing an zu weinen. Viel später verließ er die Wohnung. Schließlich entdeckte er die Marienkirche, die Poststation in der Nähe und ein alter Film fiel ihm wieder ein. Eigentlich war es unmöglich, aber er war Magier. Magier tun Dinge, die unmöglich sind. Darum sind sie Magier. Er schrieb einen kurzen Brief, legte so viel Magie, wie er konnte hinein und gab ihn auf. Die Tasche mit den Büchern und der Pistole fest an sich gedrückt ging er dann zur Marienkirche, lehnte sich erschöpft gegen das Tor, kaum zu unterscheiden von den Obdachlosen, die hier herumlungerten und auf die Gnade Gottes hofften, umklammerte seine Tasche, rollte sich zusammen und fing erneut an zu heulen. Irgendwann glitt sein Geist hinüber in einen dunklen, kalten Raum. Zeit schein hier keine Bedeutung zu haben. Er war alleine mit seinem Schmerz. *** Sie waren alle drei noch ziemlich fertig, aber sie konnten Alexander nicht einfach im Stich lassen. Sie dankten dem jungen Postangestellten und sagten ihm, dass er ihnen sehr geholfen habe. Dann fuhren sie so schnell wie möglich in die Innenstadt. Sie mussten eine Weile warten und zwei Kerle abwimmeln, bis sie endlich alleine vor dem Tor der Marienkirche standen. Möglichst unauffällig zeichneten sie den Beschwörungskreis und stellten sie die Kerzen auf. Als Dana sich im Zentrum des Kreises niederkniete nahm Bea plötzlich das Lederband mit ihrer kleinen Drachenstatue ab. Eva blickte fragend an, aber sie bemerkte es überhaupt nicht. Sie sprach eine kurze Formel, warf den Anhänger zu Boden und trat kräftig darauf. Der Drache zersprang in viele kleine Stücke, und Eve konnte plötzlich eine Melodie auflodern und dann in einem dramatischen Finale enden hören, die bisher ein kaum herauszuhörender Teil von Beas Thema gewesen, der Melodie, die sie wie alle ihre erwachten neuen Freunde beständig umgab. Und Danas erschöpft klingende Melodie brandete plötzlich in neuer Kraft an, und dann konnte Eva den unwirklichen Klang des Zaubers hören, den Dana mit einem leisen Beschwörungsgesang zu formen begann. Bea stimmte nach einer Weile in den Gesang ein, und Eva tat es ihr gleich, nicht so recht wissend, ob sie das überhaupt sollte. Aber die anderen widersprachen nicht, und so machte sie weiter. Mehrere Male mussten sie abbrechen, weil Passanten des Weges kamen. Kaum waren sie außer Sichtweite stimmten sie den Gesang wieder an, und schließlich schafften sie es. Dana griff mit ihren Sinnen hinaus, erfasste die Zeit, blickte hinter die Zeit und fand die vertraute Signatur ihres Freundes. Minuten waren bereits vergangen, in denen Dana verstummt war, und nur noch leblos zusammengesunken im Zentrum des Kreises gekauert hatte, während die anderen beiden unbeirrt weitersangen. Dann kam wieder ein wenig Leben in ihren Körper. Sie griff mit zitternder Hand vor sich. Ihre Hand verschwand im Nichts, zuerst nur die Hand, dann der ganze Arm. Sie tat das selbe mit ihrem zweiten Arm, und schließlich zog sie ihren verschollenen Freund durch das imaginäre Loch. Er sah erbärmlich aus, zusammengerollt, das Gesicht vor Erschöpfung, Kummer und Schmerz verzerrt, halb erfroren und eine Ledertasche an sich drückend, als hinge sein Leben davon ab, sie nicht zu verlieren. An mehreren Stellen schien ihm die Haut vom Körper zu laufen und das Fleisch hatte sich seltsam verformt. Seine Atmung ging unglaublich langsam, aber er atmete. Er lebte. Mit aller verbliebenen Kraft brachten sie ihn bis zum nächsten Taxistand und fuhren nach Hause. Kapitel 6 --------- 6 Mittlerweile war es lange nach Mitternacht. Mit Hilfe des Taxifahrers hatten sie Alex in Beas Wohnung geschafft und ihn in ihr Gästebett gebracht. Eva hatte ihren Eltern gesagt, dass sie über Nacht bleiben würde. "Weißt du eigentlich, wie spät es ist?", hatte ihre Mutter sie entgeistert gefragt. "Ja, das weiß ich, Mama." "Wo bist du? Wir hatten schon Angst, dir sei etwas zugestoßen!" "Nein Mama, mir geht es gut." Sie hatte eigentlich noch mehr sagen wollen, aber ihre Mutter fiel ihr sofort ins Wort: "Das will ich auch schwer hoffen! Du kommst jetzt sofort nach Hause!" "Hör zu Mama, einem Freund von mir geht’s nicht gut. Es hat ihn vorhin umgehaut und jetzt haben wir ihn ins Bett geschafft. Ich kann jetzt nicht heim, ich muss wissen, wie es ihm geht!" Sie hatten noch mindestens fünf Minuten telefoniert, aber schließlich durfte Eva über nacht bleiben – ausnahmsweise. Dana hatte solche Probleme zum Glück nicht mehr. Ihre Eltern ließen ihr eigentlich alles durchgehen, seit sie anscheinend wieder normal geworden war. Dabei war Eva zwei Jahre älter als sie. Dana nahm das ganze schulterzuckend zur Kenntnis und dachte nicht weiter darüber nach. Alex ging im Moment vor. Er war immer noch eiskalt. Sie hatten ihn in dicke Decken gepackt und ihm einen heißen Waschlappen auf die Stirn gelegt. Wogegen sie nichts machen konnten war die Tatsache, dass sein Körper zu zerfliesen schein. "Wir müssen ihm doch helfen können! Wozu sind wir Magier?", hatte Eva vehement gefordert. "In dem Fall nicht", hatte Bea ihr erklärt. "Er leidet an magischem Rückschlag. Wenn wir jetzt irgendetwas machen wird es nur noch schlimmer. Da muss er alleine durch." Eva war sichtlich aufgebracht, hatte dem aber nichts mehr entgegenzusetzen. Nach einer Weile erklärte Bea ihr dann aber, dass die Verformungen nicht so schlimm seien. Alexander würde das überstehen. "Ganz sicher. Ich weiß das", beruhigte sie Eva. Woher sie es gewusst haben wollte sagte sie aber nicht dazu. Dana hielt es für eine Lüge, um Eva zu beruhigen. Kopfschüttelnd ging sie aus dem Zimmer, um ein provisorisches Bett auf Beas Couch einzurichten. Da sie schon dabei war tat sie das selbe gleich für Eva. Sie würden einfach beide heute im Wohnzimmer schlafen. Sie war gerade dabei, die zweite Decke auszubreiten, als Bea ins Zimmer kam. Wortlos packte sie mit an, half Dana das Bett fertig zu machen. Als sie fast fertig waren begann sie zu sprechen. "Ich kann es spüren, ganz deutlich", sagte sie in ermahnendem Ton. "Was?", erkundigte Dana sich. "Die Strafe. Alex ist nicht der einzige, der es heute nacht übertrieben hat. Eine falsche Schwingung und du gehst hoch, genau wie er", versuchte sie Dana ins Gewissen zu reden. "Unsinn!", entgegnete die, aber man konnte deutlich erkennen, dass sie besorgt war. "Überhaupt nicht. Sogar Eva könnte es spüren, wenn sie nicht so sehr mit Alex beschäftigt wäre." Dana seufzte. "Und was soll ich jetzt tun?", fragte sie dann. "Das weißt du genau. Schone dich und vor allem: lass das Zaubern für ein paar Tage! Wenn du eine Woche lang wartest und nichts falsches mehr machst müsste das Schlimmste ausgestanden sein." "Ich werd mir Mühe geben." Es war offensichtlich, dass sie er ernst meinte. "Das hoffe ich, kleine Schwester", entgegnete Bea ebenso ernst. "Ich schaue wieder nach Alex und Eva." Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Dana blieb nachdenklich zurück. Sie wusste nur zu genau, dass ihre Freundin Recht hatte. Sie seufzte erneut, dann ging sie zurück zu den anderen. Der Samstag verlief ruhig. Eva musste nachmittags nach Hause. Dass sie bereits siebzehn war schien ihren Eltern egal zu sein. Alex kam den ganzen Tag nicht wieder zu Bewusstsein. Abends saßen Bea und Dana schweigend an seinem Bett. Inzwischen hatten sie auch in den Rucksack geschaut, den Alex umklammert hatte. Sie hatten darin etliche altertümliche Bücher und eine alte Pistole gefunden. Als Dana die Pistole sah, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Sie kannte die Pistole, es war die Pistole aus ihrer Vision. Etwas beunruhigt fragte sie sich, ob es sich möglicherweise doch um eine Vision gehandelt haben konnte. Sie hatte aber vor einigen Wochen gelernt, wie leicht man eine Vision fehl interpretieren konnte. Sie beschloss, für den Moment nicht weiter darüber nachzudenken. Nachdem sie keine Hinweise auf irgendeine Nachricht gefunden hatten legten sie die Bücher und die Pistole auf den Tisch neben Alexanders Bett. Spät abends verabschiedete Dana sich. Sie genoss viele Freiheiten, aber auch sie kannte ihre Grenzen. Am nächsten Tag wollten ihre Eltern ihre Großeltern besuchen. Es war ganz selbstverständlich, dass Dana und Silke mit mussten. Silke war Danas ältere Schwester. Sie waren vier Jahre auseinander und hatten sich erstaunlich wenig zu sagen. Silke gehörte zu den oberflächlichen Menschen, die das Leben all jenen zur Hölle machen konnten, die einen eigenen Kopf hatten und sich nicht kompromisslos anpassten. Ihre größten Sorgen zur Zeit waren ihr drei Jahre älterer Freund aus Nürnberg und die Frage, wer diese Woche ganz oben in den Charts sein würde. Es wurde ein richtig langweiliger Tag, genau wie zu erwarten gewesen war. Danas Sorge um Alex verschlimmerte alles noch. Wie sie Eva bereits gesagt hatte wollte sie absolut nichts von ihm, aber er war ein wertvoller Freund für sie. Drei mal schrieb sie Bea eine SMS und drei mal kam die Antwort zurück, dass sich nichts an seinem Zustand verändert habe. An diesem Abend ging sie ziemlich unzufrieden zu Bett. Der Unterricht am nächsten Tag glitt wie im Traum an ihr vorbei. Ihr fehlte einfach die Konzentration. Immerhin munterte Sarah sie etwas auf. Sarah war ihre beste Freundin. Sie kannten sich seit der fünften Klasse und waren seit zwei Jahren befreundet. Sarah war erfrischend anders als die meisten anderen in der Klasse. Sie lass gerne, hob sich mit ihrer Kleidung vom Mainstream ab und besaß auch sonst Klasse. Gerade hatte sie einen neuen Lieblingsmanga entdeckt und jetzt musste sie Dana natürlich alles darüber erzählen. Das Gesprächsthema änderte sich aber schnell, als die Kunststunde begann. Sie hatten mit der Parallelklasse zusammen und Sarah konnte plötzlich nur noch über Martin reden, ihren geheimen Schwarm, der drei Reihen vor ihnen saß und mit seinen Freunden rumalberte. Sarah war total in ihn verknallt, aber das konnte sie ihm niemals eingestehen. Dana konnte darüber nur den Kopf schütteln. Ihr hatte auch schon der eine oder andere Junge gefallen, aber so albern hatte sie sich noch nie aufgeführt. In der Pause ging sie darum kurzerhand mit Sarah im Schlepptau zu Martin und seiner Clique hin und setzte sich neben sie. Sie erzählten gerade von irgendeinem Spiel, zumindest klang es so. Offensichtlich spielte jeder darin einen Actionhelden und sie mussten gemeinsam Gefahren überwinden und Gegner besiegen. "... Und stell dir vor! Der Raum war voller Skelette. Ich dachte schon, das wär's gewesen, aber dann holte Max doch glatt noch einen Feuerball raus. Ich hab keine Ahnung, wo er den noch herhatte, ich dachte er wäre schon seit drei Räumen leer gewesen. Jedenfalls hat er damit alles weggeputzt. Drei standen noch, aber die waren auch stark angeschlagen und wir haben sie dann problemlos fertig gemacht..." Dana konnte nur den Kopf schütteln, sie wusste selbst nicht genau, warum eigentlich. Irgendwie kam ihr das einfach nur albern vor. Vielleicht sollten sie einfach mal mit ihr tauschen. Dieses Wochenende alleine hätten sie wahrscheinlich mehr geboten bekommen, als sie jemals gewollt hatten. Ohne weiter auf Sarah Rücksicht zu nehmen ging sie in die Cafeteria und holte sich etwas zu essen. Die Zeit bis zum Schulschluss zog sich immer mehr in die Länge. Irgendwann hatte sie es aber doch überstanden. Mit Sarah zusammen floh sie vor den Mädchen aus der Bank hinter ihnen, die sich detailliert über den Fotoroman in der aktuellen Bravo unterhielten. Sie hatte in diese Zeitschrift noch nie reingesehen und hatte nicht das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. Auf dem Weg aus dem Schulgebäude rief sie kurz Bea an. "Und, wie geht’s es ihm?", wollte sie wissen. Die Antwort war gleichermaßen knapp und unbefriedigend: "Unverändert" "Meld dich, wenn sich was tut, okay?", bat sie Bea, bevor sie wieder auflegte. Dana hatte Montag immer Nachhilfe. Mathematik war noch nie ihre große Stärke gewesen. Die Nachhilfe begann aber erst um fünf. Bis dahin zogen sie wie immer gemeinsam durch die Stadt. Sarah stand total auf Silberschmuck, besonders solchen mit ausgefallenen Fantasymotiven. Es war eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bevor sie sich ganz in einen Goth verwandeln würde. Sarah schleifte sie wieder einmal in einen von unzähligen Läden voller pseudookkulter Anstecker. Dana fand das eher langweilig, ging aber trotzdem mit. Der Enthusiasmus ihrer Freundin tat ihr im Moment mehr als gut. Sarah verschwand sofort zwischen den engen Regalen des Ladens. Dana blieb eher gelangweilt am Eingang stehen. Dann entdeckte sie jedoch etwas, das ihre Aufmerksamkeit weckte. Es handelte sich um eine Halskette, an der ein dreieckiger Kristall hing. Vorsichtig nahm sie die Kette in die Hand, betrachtete den Stein genauer. Es handelte sich tatsächlich um einen Kristall. Sie hielt ihn ganz nah vor ihr Auge und drehte ihn leicht, während sie hindurchsah. Sie konnte deutlich sehen, wie die Zeit sich in ihm brach. Der Anhänger gefiel ihr. Er war nicht billig, aber sie wollte ihn haben. Sich bei Sarah etwas Geld leihend kaufte sie ihn. Nach der Nachhilfestunde rief sie noch einmal Bea an, aber es gab immer noch nichts neues. Sie beschloss, am nächsten Tag persönlich vorbeizusehen. Das war aber alles andere als einfach. Sie hatte einen riesigen Haufen Hausaufgaben bekommen, die sie bis vier beschäftigt hielten. Dann machte sie sich aber sofort auf den Weg. Alexander lag noch immer reglos im Bett. Die Verformungen an seinem Körper waren noch schlimmer geworden. Fettringe waren aus dem Nichts aufgetaucht, seine Nase hatte an Kontur verloren uns auch sonst sah er nicht gut aus. Bea beschwichtigte sie jedoch, dass das okay sei. "Alexander wird schon wieder, wenn er seine Strafe erst einmal abgesessen hat", erklärte sie ihr zuversichtlich. "Trotzdem, er sieht furchtbar aus." "Ich weiß. Ich habe keine Ahnung, was er gerade durchmacht, aber wenn es nur halb so schlimm ist wie sein 'Monat der Busse' tut er mir echt leid." Dana nickte nur wissend. "Sag mal, sollten wir nicht vielleicht irgendjemandem Bescheid sagen, dass er hier ist?", fragte sie dann. "Da hab ich mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Bislang hat aber noch niemand versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen und ich wüsste auch gar nicht, wem wir Bescheid sagen sollten?" "Na ja, seinen Eltern am besten." "Weißt du denn, wie wir sie erreichen sollen?" Darauf wusste Dana keine Antwort. "Ich habe schon in seinem Adressbuch geschaut, aber da gibt’s keinen Eintrag 'Mama' oder so..." Sie schwiegen beide einige Momente lang, dann wechselte Bea das Thema: "Ich habe übrigens mal die Bücher durchgeschaut, die Alex mitgebracht hat. Das meiste sind arkane Aufzeichnungen. Wir könnten sie gut brauchen." Dana wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Vielleicht hätten sie doch lieber damit warten sollen, bis Alex wieder bei Bewusstsein war. "Über die Pistole kann ich gar nichts sagen. Ich weiß, dass sie eine mystische Bedeutung besitzt, aber ich denke nicht, dass es sich um magische Macht handelt." "Ich kenne die Pistole" Dieses einfach Statement brachte Bea deutlich aus dem Konzept. "Was? Woher?", konnte sie nur erwidern. Dana erzählte ihr die Geschichte, die sie erst einige Tage zuvor Eva erzählt hatte erneut. "Und die Pistole ist das?" "Ja, ganz sicher!" "Vielleicht sollten wir sie dann einfach zerstören, ehe irgendetwas passiert." Sie dachten eine Weile gemeinsam über den Vorschlag nach und verwarfen ihn schließlich. Irgendetwas in dieser Tasche musste einen großen Wert für Alexander besitzen, das hatte man deutlich erkennen können. Solange sie nicht wussten, was es war konnten sie die Pistole nicht beschädigen, das waren sie ihrem Freund schuldig. Sicherheitshalber sperrte Bea sie aber weg. Angesichts Danas Vision war das das Beste. Der nächste Tag war auch nicht besser. Sarah war furchtbar drauf, weil sie Martin mit irgendeinem Mädchen aus seiner Klasse hatte sprechen sehen. "Wenn du was von ihm willst, dann sag ihm das doch einfach!", hatte Dana ihr entnervt vorgehalten. Im Religionsunterricht hielt Lydia dann ein Referat über den Buddhismus. Dem Referat zu Folge war das oberste Ziel des Buddhismus, als besseres Wesen wiedergeboren zu werden, was man nur erreichen konnte, indem man gute Taten beging. Dana schüttelte ungläubig den Kopf. Sie war kein Experte auf dem Gebiet, hatte aber Alex gelegentlich etwas erzählen hören. Spontan kehrten ihre Gedanken zu ihrem bewusstlosen Freund zurück. Wie es ihm wohl ging? Sie machte sich ernsthafte Sorgen um ihn. Sie wussten immer noch nicht, was er alles erlebt hatte, aber wenn er den Dämon tatsächlich eigenhändig vernichtet hatte war der Rückschlag wahrscheinlich immens gewesen. Sie wusste nicht, ob die Möglichkeit bestand, dass ihr Freund überhaupt nicht mehr erwachen würde, aber die bloße Vorstellung machte ihr bereits zu schaffen. Ihre Gedanken kehrten in das hier und jetzt zurück. Lydia stritt sich gerade mit Herrn Weber, dem Religionslehrer. Sie hatte Gefallen an der Vorstellung gefunden, wiedergeboren zu werden und offenbar konnte sie es nicht verkraften, dass Herr Weber die Reinkarnation als nette Idee und nicht mehr abtat. Der Rest der Klasse hatte schon längst abgeschaltet. Nur Sarah zeigte Interesse an der Debatte und langsam begann sie sich einzumischen. "Und weshalb soll es keine Reinkarnation geben, Herr Weber?", fragte sie. Auch ohne in die Zukunft zu sehen wusste Dana, was nun folgen würde. Herr Weber würde die Bibel ins Feld führen, deren Autorität daraufhin wie üblich von Sarah in Frage gestellt werden würde. Und das alles nur wegen der Frage nach der möglichen Existenz von Reinkarnation. Die ganze Situation war so absurd, dass Dana eigentlich nur darüber lachen konnte. In Anbetracht der Tatsache, dass sie sich immer noch im Unterricht befand unterließ sie das jedoch lieber. Herr Weber war dafür bekannt, so etwas persönlich zu nehmen. Alexanders immer noch ungewisses Schicksal tat sein übriges, sie am Lachen zu hindern. "Ich gehöre nicht hierher!", sagte sie sich selbst, als sie das Trauerspiel weiter beobachtete. Am Nachmittag schaute sie erneut bei Bea vorbei. Eva war auch anwesend. Sie saß an Alexanders Bett und kümmerte sich darum, dass die Tücher auf seiner Stirn nicht zu kalt wurden. Sie machte einen wirklich verlorenen Eindruck, gerade so als werde sie mit der Situation nicht richtig fertig. Bea nahm derweilen Dana beiseite und erzählte ihr, was sie in den Büchern gefunden hatte. "Wir haben ein Problem", begann sie unverhohlen. "Es geht um den Dämon, den wir erledigt haben. Wenn ich das richtig verstanden habe hat er an verschiedenen Orten Hinterlassenschaften deponiert. Es kann sich um alles mögliche handeln, Waffen, Kreaturen, Kraftspeicher..." Als Dana das hörte stieg ihre Besorgnis unverkennbar. "Fuck!", war das einzige, dass sie von sich gab. "Genau", erwiderte Bea. "Wir sollten besser auf alles vorbereitet sein. Wer weiß, wann das Zeug auftauscht!" Sie einigten sich darauf, die Augen offen zu halten. Mehr konnten sie im Moment nicht tun. Viel mehr gab es im Moment nicht mehr zu sagen. Alex' Zustand war nach wie vor unverändert. Da Dana morgen eine Arbeit schreiben musste ging sie bald darauf nach Hause und lernte. Das brachte aber nicht wirklich viel. In der Klausur hatte sie die Hälfte des Stoffes schon wieder vergessen. Mit der deprimierenden Aussicht auf eine Vier ging sie niedergeschlagen nach Hause. Nicht einmal der langhaarige Kerl, der oft mit dem selben Bus fuhr und an dem sie sich sonst nicht sattsehen konnte mochte ihr Stimmung irgendwie verbessern. Da erreichte sie eine SMS: Alex ist wach Das war alles, was darin stand. Mehr war auch nicht nötig. Nach Hause zu fahren hatte plötzlich seine Bedeutung verloren. Ohne sich weiter aufhalten zu lassen fuhr sie zu Bea. Als sie ankam saß Alexander mit einer heißen Tasse Tee in der Hand und in Decken eingewickelt in Beas Gästebett. Sein Aussehen war so schlimm wie die letzten Tage. Als Dana das Zimmer betrat sah er sie traurig an. Sie merkte es zunächst überhaupt nicht. Überschwänglich begrüßte sie ihn und erklärte ihm immer wieder, wie viel Sorgen sie sich um ihn gemacht habe. Er blieb jedoch stumm und sah sie nur immer weiter an mit seinen großen braunen Augen. Irgendwann kam ihr das komisch vor. "Was ist?", verlangte sie zu wissen. Er griff nach drei Büchern, die neben ihm auf dem Tisch lagen, legte sie vor sich auf den Schoß und begann zu sprechen: "Ich will dir etwas erzählen. Es geht um die letzten Stunden eines ganz besonderen Menschen..." Aufmerksam hörte Dana ihm zu. Sie konnte kaum glauben, was er ihr erzählte, aber sie wusste, dass es stimmte. Als er fertiggesprochen hatte gab er ihr die drei Bücher. Wortlos verließ er den Raum, als sie zu lesen begann. Sie bemerkte überhaupt nicht, wie die Zeit verging. Über eine Stunde später kam sie hinüber ins Wohnzimmer, wo Bea, Alex und Eva zusammensaßen und zum ersten mal seit Tagen wieder lachten. Alex hatte sogar sein altes Aussehen zurück. Die ganze Episode schein endgültig ausgestanden. *** "Schläfst du, Dana?!", klang Herr Webers Stimme am nächsten Tag durch das Klassenzimmer. Dana bemerkte es aber überhaupt nicht. Sie war mit ihren Gedanken weit weg. Gestern Nacht hatte sie die drei Tagebücher komplett gelesen und nun weilte sie in der fernen Vergangenheit. Dana war nicht Maria, sie waren zwei komplett verschiedene Personen, aber in diesem einen Moment lebte Maria in Dana fort. Kapitel 7 --------- 7 Gelächter erklang, als Dana ins Wohnzimmer kam. "Dann dürfen wir dich ja in Zukunft Dämonentöter nennen", sagte Bea vergnügt. Nachdem Alexander ihr von Marias Ende erzählt hatte, war ihr nicht nach Lachen zu Mute, aber sie konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Es war schön zu wissen, dass es ihrem Freund wieder gut ging. "Und was war dann?", fragte Bea jetzt wieder ernst. Alexander antwortete nicht sogleich, Schmerz war in seinen Augen zu erkennen. Zögerlich griff Eva nach seiner Hand. Er nahm sie, ganz vorsichtig. Als sie etwas zudrückte konnte man ihm die Dankbarkeit vom Gesicht ablesen. "Es war furchtbar", begann er mit trockener Stimme. "Ich war ganz alleine an einem dunklen, kalten Ort. Ich hatte keinen Körper mehr, nichts mehr, nur noch meine Gedanken. Ich war einsam, verlassen, hatte das Gefühl, absoluter Verlorenheit. Ich dachte, ich würde das niemals durchstehen. Dann war da aber ein Licht." Alexander sprach nicht mehr ganz so gequält. "Ich weiß nicht, wo es herkam, es war einfach da. Ich konnte seine Präsenz spüren, es tröstete mich, schenkte mir Wärme. Auf einmal hatte ich die Kraft, durchzuhalten. Ich glaube fast, ich habe Gott gesehen." Obgleich er offenbar immer noch an dem litt, was er erlebt hatte war sein Blick seltsam verklärt. "Das ist doch Schwachsinn!", entgegnete Bea vehement. "Gott gibt es nicht!" "Und weshalb?", wollte Alexander wissen. "Schau mal in die Bibel. Da steht nur Müll drin!" "Habe ich irgendetwas von der Bibel gesagt?" "Was meinst du dann?" "Ein übergeordnetes Wesen, das uns Kraft gibt. Gott halt." Er zuckte mit den Schultern. "Zumindest kam es mir so vor. Muss ja nichts bedeuten." Sein Blick wurde wieder trauriger. "Woran denkst du?", fragte Eva besorgt "Maria, die Frau, der ich begegnet bin. Eine von Danas früheren Reinkarnationen. Sie ist gestorben, damit wir leben können, frei von der Herrschaft des Dämons." Sie schwiegen alle betreten. Eva wurde sich bewusst, dass sie noch immer Alexanders Hand hielt und ließ eilig los. Offenbar war es ihr peinlich. Alex bemerkte es aber überhaupt nicht. Sein Blick ruhte am Horizont, seine Gedanken waren weit weg. "Ich packs dann", erklärte Dana. Sie war froh, dass es Alexander wieder besser ging, aber sie hatte nun einiges, über das sie nachdenken musste. Bea verschwand ebenfalls, sie sagte sie wolle sich in die Bücher einlesen, die Alex mitgebracht hatte. Zurück blieben Eva und ein sehr abgelenkter Alexander. "Geht es dir gut?", versuchte sie ein Gespräch anzuknüpfen. "Ich denke schon", antwortete er abwesend und seufzte. Nach einer Weile richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. "Hast du jemals einen Menschen verloren, der dir etwas bedeutet hat?", wollte er wissen. "Nein, bisher noch nicht." "Dann beneide ich dich." "Redest du von Maria?" "Auch..." Mehr war aus ihm nicht mehr herauszuholen. In sich gekehrt saß er da, gelegentlich vor sich hin seufzend. *** Alex ging es wieder gut. Er würde noch eine Weile brauchen, bis er alles verarbeitet hatte, aber er würde sich fangen. Bea hatte daran keine Zweifel, sie kannte ihn inzwischen zu gut. Eva saß noch immer bei ihm. Es hatte ganz den Anschein, dass sie ihn mochte. Bea hätte nichts dagegen. Die beiden wären sicher ein tolles Paar. Es wunderte sie nur, dass er sich noch nicht an sie herangemacht hatte. Bei ihr und Dana hatte er sich doch auch nicht so viel Zeit gelassen. Sie zuckte mit den Schultern. Es war nicht ihr Problem. Die Bücher waren wirklich interessant. Es gab einen Almanach unerklärlicher Phänomene, ein Buch über Abschwörungen und andere Zauberrituale, eine Abhandlung über das Wesen der Magie und andere verwandte Themen und noch einiges mehr. Sie hatte Schwierigkeiten, alles zu verstehen, aber es machte ihr dennoch Spaß, es zu lesen. Die Magie war zu ihrem Lebensinhalt geworden. Etwas später gingen Alexander und Eva. Sie wollte ihn noch nach Hause bringen, sagte sie. Alexander würde bestimmt nichts dagegen haben, da war Bea sich sicher... Erneut konzentrierte sie sich auf ihre Lektüre. Gegen Abend stieß sie auf etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war die Rede von einem Ort, an dem stetig die Urkraft in unsere Welt ströme. Der Gedanke alleine machte sie ganz kribbelig. Eine dauerhafte Konstellation, etwas anderes konnte es gar nicht sein. Sofort lass sie den Abschnitt erneut. Sie lass ihn einmal, sie lass ihn zweimal und sie lass ihn noch ein drittes Mal. Die Rede war von einer kleinen Lichtung in einem Wäldchen außerhalb der Stadt. Es fand sich sogar eine Wegbeschreibung. Aktuelle und historische Stadtpläne wälzend fand sie schließlich heraus, dass der Ort seit über hundert Jahren bebaut war. Es gelang ihr, die Adresse halbwegs zu bestimmen und sie machte sich auf den Weg. Sie lief den Stadtteil den Rest des Abends ab und am nächsten Tag wieder. Gegen Mittag hatte sie endlich entdeckt, was sie gesucht hatte. Es handelte sich um ein schmutziges, heruntergekommenes Fabrikgelände, das aussah als sei es seit zwanzig Jahren nicht mehr betreten worden. Ein kleiner Fußweg führte hinter dem Gelände vorbei. Er war von beiden Seiten von Zäunen umgeben und Sträucher schränkten die Sicht noch weiter ein. Dieser Ort war ideal. Sich noch einmal umsehend, ob auch wirklich niemand da war kletterte sie über den Zaun. Mit etwas Mühe kam sie in das Gebäude hinein und in einer alten Werkshalle, deren Dach schon vor Jahren eingestürzt war wurde sie schließlich fündig. Eine kleine Oase hatte sich inmitten des Gerölls gebildet. Sträucher und einige junge Bäume hatten Fuß gefasst, blühten als sei es bereits Frühling. Sie konnte die Kraft und die Ruhe des Ortes fast spüren. Sie ließ es sich in mitten des kleinen Heins nieder und befreite ihren Geist von der irdischen Welt. In der Geisterwelt, jener Welt jenseits des Greifbaren, war dieser Ort noch beeindruckender. Riesige Weiden erdrückten die schattigen Abbilder der Betonruine beinahe, Sonnenlicht flutete die Lichtung im Zentrum der Halle und verwandelte den Ort in ein Paradies. Bunte Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte, Vogelstimmen erklangen leise in der Entfernung und das majestätische Rauschen des Windes zwischen den Ästen und Blättern vollendete das Bild. Im Zentrum der Oase lag in der Geisterwelt ein kleiner Teich, dessen Wasser unglaublich rein und klar war, so rein, dass es beinahe leuchtete. Bea nahm die Kraft des Ortes in sich auf und mit spielerischer Einfachheit beschwor sie einen großen Erdgeist, ein Unterfangen, dass sie normalerweise ein beachtliches Stück Kraft kostete. Auf ihre Bitte hin räumte er die eingestürzte Halle auf. Ein Teil des Gerölls durfte bleiben, es würde die Rolle natürlich gewachsener Felsen übernehmen, aber der Stahl, die Kabel, das Glas und der Staub mussten weg. Zufrieden sah sie sich um. Der Raum war nicht wiederzuerkennen. Sogar das Wetter schien hier etwas freundlicher zu sein als draußen. Es war immer noch bewölkt, aber sie hatte den Eindruck, dass es nicht ganz so grau war. Beatrice war zufrieden. *** Zu viert näherten sie sich dem verkommenen Fabrikgelände. Bea hatte sie nachmittags zusammengerufen, ohne ihnen jedoch mitzuteilen, worum es ging. Sie hatte ungewöhnlich vergnügt geklungen und sie hatten alle drei den Eindruck, dass sie ihnen etwas ganz besonderes zeigen wollte. "Hier sind wir", erklärte sie ihnen, als sie schließlich auf dem verlassenen Fußweg standen. "Hier ist was?", fragte Dana ungeduldig. Sie mochte es nicht, im Unklaren gelassen zu werden. "Es", antwortete Bea nur. Dana gefiel die Antwort offensichtlich ganz und gar nicht. "Ich kann etwas hören", gab da Eva mit leiser Stimme von sich. Bea grinste noch mehr als zuvor. "Es ist eine ganz ruhige Melodie, ruhig, aber kraftvoll. Harmonisch, aber sie hält sich zurück." Vergeblich versuchte sie die Eindrücke in ihrem Kopf zu beschreiben. "Es ist eine Quelle, eine dauerhafte Konstellation!", lies Bea die Bombe schließlich platzen. "Sie liegt in dem alten Fabrikgebäude. Kommt!" Sich noch einmal umsehend kletterte sie erneut über den Zaun. Alex folgte ihr neugierig, dann Dana. Nur Eva zögerte "Aber wir können doch nicht einfach...", hatte sie einwenden wollen, aber niemand hatte ihr zugehört. Mit einem mulmigen Gefühl folgte sie ihnen schließlich über den Zaun und in die alte Fabrikhalle. Bea führte sie durch ein Tor, dessen Schloss aussah, als sei es weggeschmolzen. Offensichtlich hatte sie sich hier mit Gewalt Zutritt verschafft. Sie marschierten durch einige düstere, staubige Korridore, dann sahen sie es. Es war wunderschön. Der Himmel schien fast aufzuklaren, junges Grün bedeckte den Beton, alte Geröllstücke sahen aus wie Felsen und in der Mitte schimmerte ein kleiner Teich. Eva konnte sie Melodie jetzt hundertmal deutlicher hören. Der ganze Raum klang wieder von der Schönheit der Natur, beschwor ihre Ausgeglichenheit, ermahnte an ihre Stärke. "Wow", war das einzige, das sie herausbrachte. *** Bea hatte Nachforschungen angestellt. Das ganze Gebiet war 1900 bebaut worden, als neue Fabriken nur so aus dem Boden schossen. Bald darauf war die Fabrik, die auf der Quelle errichtet worden war aber aufgegeben worden. Die Arbeiter fürchteten sich, behaupteten, es spuke dort. Wahrscheinlich hatten sie die Urkraft der Natur gespürt und waren dem nicht gewachsen gewesen. Das Gelände verfiel. 1933 wurde die alte Fabrik dann eingerissen und eine Lagerhalle an ihrer Stelle errichtet. Wieder gab es Arbeiter, die Angst bekamen und nicht mehr dort arbeiten wollten. Offensichtlich wurde Rücksicht auf sie genommen. Das Gebäude wurde daraufhin von der Regierung beschlagnahmt. Bea konnte keine Aufzeichnungen darüber, was während des Krieges dort weiter geschehen war finden können. 1944 wurde die Fabrik dann bei einem Bombenangriff eingeebnet. Lange Jahre lag das Grundstück danach brach, bis es 1957 von einem reichen Unternehmer gekauft wurde. Er ließ dort eine Fabrik für Leitungsrohre errichten. Wieder kam es jedoch zu Unruhen in der Arbeiterschaft. Schließlich wurde die Fabrik erneut geschlossen. 1968 gab es dann einen letzten Versuch, das Grundstück kommerziell zu nutzen. Ungeachtet der Ermahnungen, das Gebäude sei verflucht wurde die Anlage renoviert und erneut in Betrieb genommen. Erneut klagte die Belegschaft über unheimliche Gefühle und zwei Jahre später stürzte ein Teil des Gebäudes bei einem Sturm einfach ein. Seitdem wurde das Gelände nie wieder genutzt. Der heutige Besitzer war der sechsundfünfzigjährige Franz Tonmüller, der Eigentümer und Geschäftsführer von Tontech, einem kleinen Papierhersteller. Er hatte das verwunschene Grundstück vor fünfzehn Jahren von seinem Vater geerbt. Bea gelang es, einen Termin mit ihm auszumachen und mit Alexander als Begleitung erschien sie am folgenden Donnerstag in seinem Büro. Franz Tonmüller war ein kleiner, hagerer Mann, mit einem schlanken Gesicht und kurzen schwarzen Haaren, die bereits einen großen Teil seines Kopfes freigegeben hatten. Sein Auftreten war überaus professionell, aber er wirkte irgendwie auch traurig. Nach der Vorstellung kam Bea direkt auf ihr Anliegen zu sprechen: "Es geht um ihr Grundstück in der Hagengasse. Wir würden es gerne kaufen." Er holte eine Akte aus seinem Schreibtisch, sah sie durch und entgegnete schließlich: "Das wäre überhaupt kein Problem. Der derzeitige Wert des Grundstücks beläuft sich auf 1,2 Millionen Euro." Als sie diese Zahl hörte verschluckte Bea sich erst einmal. "Wie viel, sagen Sie?", fragte sie entgeistert. "1,2 Millionen", wiederholte er. "So viel ist ein entsprechendes Grundstück in dieser Lage wert." "Wir wissen aber, dass es seit Jahren leer steht. Es wurde bereits mehrfach geschlossen, weil es dort spuken soll. Jeder Versuch, es wieder in Betrieb zu nehmen scheiterte kläglich", setzte Alex an. "Wissen sie, ich glaube nicht an Hokuspokus", entgegnete der Unternehmer. "Sie glauben doch wohl nicht, dass ich ihnen wertvollen Baugrund zu einem Spottpreis überlassen, nur weil es dort einmal gespukt haben soll?" Er war nun offenbar ernsthaft erzürnt. Alexander versuchte, ihn zu beruhigen, es brachte aber nicht viel. Wenn er ihnen nicht entgegen kam war sowieso alles verloren, denn sie hatten keine 1,2 Millionen Euro. Alex unternahm einen erneuten Vorstoß, ob sie das Grundstück vielleicht zu einem günstigen Preis mieten könnten, da es doch sowieso leer stünde, aber darauf wollte Tonmüller erst gar nicht eingehen. Beas erneuter Versuch, ihm ihre Lage zu schildern und ihm vorzulügen, dass sie ihren Traum verwirklichen und ein Jugendzentrum einrichten wollten, brachte ebenso wenig wie Alexanders Appell an Tonmüllers Güte und Menschlichkeit. In einem letzten verzweifelten Versuch baten Bea ihn schließlich, doch zumindest noch einmal darüber nachzudenken und sie doch anzurufen, wenn er es sich noch einmal überlegen sollte. Sie waren kaum draußen, da fiel Bea über Alex her: "Wieso zum Teufel hast du nichts gemacht?!" "Was meinst du? Ich hab mich angestrengt so gut ich konnte!", antwortete er überrascht. "Einen Scheißdreck hast du! Wozu kannst du Arsch eigentlich zaubern, wenn du es dann nicht tust?!" Alex sah sie fassungslos an. "Wie bitte?!" Jetzt verlor auch er die Beherrschung. "Du verlangst von mir, dass ich die Leute einer Gehirnwäsche unterziehe, damit sie uns das geben, was wir wollen?!" "Es geht hier immerhin um eine Quelle. Hörst du, eine Quelle!", hielt sie ihm wütend entgegen. "Ich fass es nicht! Das ist ja toll. Sollen wir deshalb alle unsere Prinzipien über Bord schmeißen? Was machen wir dann, wenn wir feststellen, dass der ganze Marienplatz eine Quelle ist. Sollen wir ihn dann auch einfach an uns nehmen und den Leuten verbieten, ihn zu betreten?!" Beide vor Wut kochend sahen sie sich an. Jedes weitere Wort wäre jetzt sinnlos gewesen. Heftig den Kopf schüttelnd ging Alex davon zur S-Bahn. Bea blieb alleine zurück. Einige Kiesel wütend durch die Gegend tretend lief sie auf und ab, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Offensichtlich musste sie damit alleine fertig werden. Auf Alexander konnte sie im Moment nicht zählen. Nachdem sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, suchte sie sich ein abgeschiedenes Eck, in dem sie einen kleinen Feengeist rief. Sie gab ihm den Auftrag, Tonmüller zu beobachten und sie über alles zu informieren, was er herausbekommen konnte. *** "Er hat eine Frau im Krankenhaus besucht?", fragte Bea nach. "Jaja, eine Frau. Im Krankenhaus. Sie lag da einfach und er ist neben ihr gesessen und hat sie immer nur angeschaut, immer nur angeschaut. Dann ist er wieder gegangen", antwortete der Feengeist in seiner typisch verspielten Art. Das war interessant. Bea ließ sich zu besagtem Krankenhaus führen und erkundigte sich dort nach der besagten Frau. Es war nicht leicht, jemanden dazu zu bekommen, ihr alles zu erzählen, aber schließlich wusste sie, dass Tonmüllers Frau seit drei Jahren im Koma lag. Nach einem an sich harmlosen Unfall war sie nicht mehr aufgewacht. Beatrice hatte eine Idee. "Noch sauer?", schrieb sie Alexander. Die Antwort kam unverzüglich: "Nein, aber ich kann es nicht glauben, was du von mir verlangt hast!" "Denkst du, du könntest jemanden aus dem Koma zurückholen?", fragte sie als nächstes. "Vielleicht. Warum?" "Würdest du es machen?" "Ich würde es versuchen. Warum?" "Bereit dich vor so gut es geht, morgen musst du vielleicht ran. Einzelheiten dann morgen. Gruß, Bea" Alexanders weitere SMS ignorierte Bea. Sie hatte einen Plan und sie wusste, dass er ihm nicht gefallen würde. Sie fuhr nach Hause und bereitete alles vor. Dann fuhr sie noch einmal in die Hagengasse und tankte Energie. Sie würde heute nacht jede Menge davon brauchen. *** Endlich war es soweit. Die Sonne war schon seit Stunden untergegangen und es wurde ruhiger. Tonmüller saß noch an seinem Schreibtisch und ging Unterlagen durch. Es schien fast so, als würde er seinen Kummer unter seiner Arbeit begraben. Der Zeitpunkt war perfekt. Bea streckte sich noch einmal, dann begann sie zu zaubern. Als aller erstes holte sie die Spiegelscherbe aus ihrer Tasche, die sie heute Nachmittag vorbereitet hatte. Die Runen auf der Rückseite stimmten alle. Mit dem dünnen Lederband, dass sie durch gezogen hatte hing sie sie sich um den Hals. Im selben Moment wurde sie unsichtbar. Als nächstes holte sie die kleine Phiole hervor, in der sie den Trank des Ikarus transportiert hatte, öffnete sie und trank sie mit einem Schluck aus. Sie konnte fühlen, wie ihre Füße sich vom Boden lösten. Ihre sensiblen Sinne zeigten ihr an, wie viel Magie sie gerade kanalisierte. Sie war aber noch längst nicht fertig. Vor Tonmüllers Arbeitszimmer schwebend rief sie sich Galadriel die Lichtelfe vor Augen. Vor der Welt verborgen beschwor sie die Kraft der Elbenkönigin. Mit einer einfachen Handbewegung ließ sie den Griff des Fensters aufschnappen, öffnete das Fenster, stieß es mit einem Ruck auf. Tonmüller sah irritiert von seinen Büchern auf. Seine zusammengekniffenen Augenbrauen waren ein deutliches Indiz dafür, wie verwundert er war. Als nächstes begann Bea den Fluss des Lichtes innerhalb des nun offenstehenden Fensters umzuleiten. Kein einziger Lichtstrahl konnte mehr nach außen entkommen. Stark zerstreut, wie bei einem Milchglasfenster, durch das die Sonne scheint flutete alles Licht zurück ins Innere des Raumes. Eine gleißende Fläche entstand innerhalb des Fensterrahmens. Von außen war nur noch Schwärze zu sehen. Die Spiegelscherbe auf dem Fensterbrett ablegend schwebte Bea durch die Lichtbarriere hindurch. Innerhalb der Barriere wurde sie sichtbar und nun kam auch der Effekt ihrer letzten Anrufung zur Geltung. Wie Galadriel es im Buch der Bücher getan hatte, strahlte nun auch sie gleißendes, überirdisches, göttliches Licht aus. Ihr ganzer Körper war darin eingehüllt, strahlte, leuchtete. Es war kein einfaches Licht, die Urkraft des Universums durchdrang es. Diesem Licht ausgesetzt zu sein kam für einen gewöhnlichen Sterblichem einem spirituellen Erlebnis gleich. Alexander mochte vielleicht direkte Macht über den Geist besitzen, aber ganz ohne war sie auch nicht. "Wer bist du? Was willst du?", konnte Tonmüller nur stammeln. "Ich bin ein Bote." Auch Beas Stimme war von der Urkraft durchdrungen. "Was willst du von mir?" Angst vermischte sich mit Hoffnung und Erstaunen. "In der Bibel steht, das der Vater als einer von uns unter uns weilt. Heute kam Er zu dir in Gestalt zweier junger Menschen. Er bat um deine Großzügigkeit und unbarmherzig wiest du ihn ab. Wieder einmal habt ihr bewiesen, dass ihr Seiner nicht würdig seid. Betrübt ist Er nun, unglücklich und betrübt. Ich kann es nicht ertragen, den Großen Vater, den Schöpfer, unser aller Gott betrübt zu sehen. Gehe in dich und tue Buße. Noch ist es nicht zu spät. Noch kannst du beweisen, dass die Menschheit nicht verdorben ist." Mit diesen Worten verschwand die Erscheinung. Tonmüller war inzwischen auf die Knie gefallen, schluchzend rief er: "Ich habe verstanden! Ich habe verstanden, Herr. Ich werde das Richtige tun. Ich werde Gott beweisen, dass wir Menschen gütig und gerecht sein können!" Mit halben Ohr hörte Bea Tonmüller noch, als sie, erneut durch die Spiegelscherbe den Blicken neugieriger Zeitgenossen verborgen davonflog. Sie hatte es gerade noch geschafft, sich wieder unsichtbar zu machen, bevor ihr die Kraft ausgegangen ist. Diese Demonstration hatte sie alles gekostet, die gesamte Energie, die sie der Quelle entzogen hatte. Mit letzter Kraft schaffte sie es, hinter der Hecke von Tonmüllers Haus zu landen. Das Elexir des Ikarus verlor seine Wirkung einen Meter über dem Boden. Sie stürzte und landete in feuchtem Matsch. Mühsam kämpfte sie sich hoch und schaffte es gerade noch, das Grundstück zu verlassen, in dem sie gelandet war ehe die Spiegelscherbe in tausend winzige Stücke zerbrach und wirkungslos zu Boden regnete. Die kleine Explosion hatte einige Splitter in ihre Haut getrieben und aus mehreren kleinen Wunden begann sie zu bluten. Das war aber erst der Anfang. Aus ihren Augen liefen nun ebenfalls dünne Ströme Blutes. An ihrem ganzen Körper öffneten sich winzige Schnitte und Blut rann heraus. Ein stechender Schmerz packte sie in der Magengrube und bevor sie etwas dagegen tun konnte spie sie einen dicken Schwall Blut. Sie schaffte es nicht, auf den Beinen zu bleiben. Schlammverschmiert kniete sie auf dem feuchten und kalten Betonboden, während ihr ein dicker Faden Blut aus dem Mund rann. Sie wusste, was das alles zu bedeuten hatte. Sie hatte zu viel Magie eingesetzt, das war der Preis. Sich mühsam hochkämpfend torkelte sie zur S-Bahn. Ein kurzer Notruf war alles, was nötig war, damit Alex sie drei Stationen weiter abholte. Als er sie sah bekam er einen Schock. Sie war kreidebleich, blutverschmiert und schlammbesudelt. Während ihr noch immer ein feiner Faden Blut aus dem Mund rann erzählte sie ihm alles. Er war viel zu besorgt um sie, als dass er ihr irgendwelche Vorwürfe hätte machen können. Sie auf Armen tragend brachte er sie zum nächstgelegenen Krankenhaus. Der diensthabende Arzt wurde richtiggehend bleich, als er Beatrice sah. Alexander erzählte ihm, sie sei von einer explodierenden Glasscheibe getroffen worden und mit Hilfe von Magie stellte er sicher, dass diese Geschichte nicht angezweifelt werden würden. Um seine Freundin bangend sah er zu, wie sie operiert wurde. Kurz bevor sie einschlief drückte sie ihm noch ihr Handy in die Hand und bat: "Bitte. Morgen. Tu es einfach!" *** Als Alex erwachte wusste er zunächst nicht, wo er war. Er lag auf einer Plastikbank in irgendeinem langen Flur, der nach Chemikalien roch. Dann fiel ihm alles wieder ein: Bea! Mit einem Ruck war er hellwach. Er lief sofort los, bedrängte die nächste Schwester, die er finden konnte. Die Vorstellung, noch einen geliebten Menschen zu verlieren war beinahe zu viel für ihn. "Bea! Beatrice Kaiser! Wie geht es ihr? Ich hab sie gestern hergebracht, sie war schwer verletzt, hatte viel zu viel Blut verloren..." Die Schwester beruhigte ihn zunächst einmal, nahm ihn dann mit zum nächsten Büro und sah in den Akten nach. "Es geht ihr gut, sie liegt auf Zimmer 305." Alexander fiel ein Stein vom Herzen. Neuen Mut schöpfend ging er auf die Suche nach Zimmer 305. Seelenruhig lag sie da, atmete gleichmäßig. Unzählige Pflaster bedeckten all jene Stellen, wo sie gestern nach aufgeplatzt war. Ihre Augen waren immer noch tiefrot, das würde sich wieder geben. Alexander hatte niemals ganz akzeptiert, dass sie ihn damals zurückgewiesen hatte. Neben ihr Platz nehmend ergriff er ihre Hand. "Meine kleine, dumme, rothaarige Hexe", begann er mit sanfter Stimme zu sprechen. "Immer predigst du uns, wir sollten uns nicht verausgaben und jetzt tust du es selbst. Was hätten wir nur machen sollen, wenn du gestern nacht gestorben wärst?" Ein tiefer Seufzer kam über seine Lippen. "Du musst wohl immer alles so machen, wie du es dir in den Kopf gesetzt hast, was? Wir hätten schon noch einen Weg gefunden, die Quelle benutzen zu dürfen. Wieso musstest du das nur tun?" In dem Moment läutete Beas Handy. Alex nahm ab. Auf der anderen Seite meldete sich Herr Tonmüller. "Spreche ich mit Frau Kaiser?", wollte er wissen. "Nein, hier ist Alexander Albrecht. Wir kennen uns aber, ich habe Bea gestern begleitet." "Ich würde gerne noch einmal mit Ihnen sprechen. Kommen Sie doch einfach in mein Büro, wann immer es Ihnen passt." "Bea ist leider verhindert, aber ich werde sofort kommen." "Danke!" "Bis gleich" Alexander wusste beim besten Willen nicht, was er davon halten sollte. Der Mann hatte fast dankbar geklungen, als er gesagt hatte, er würde sich auf den Weg machen. Eine kurze SMS setzte Dana über das Wichtigste in Kenntnis. Sie würde Eva Bescheid sagen. Dann machte Alexander sich auf den Weg. Tonmüller bat ihn freundlichst Platz zu nehmen. Auf seine Frage, wie es Frau Kaiser gehe antwortete Alexander nur knapp, sie läge im Krankenhaus. "Hoffentlich nicht wegen mir!", wollte der Geschäftsmann daraufhin wissen. Er konnte nichts von Beas nächtlichem Spaziergang wissen, aber offenbar reagierte er nicht mehr rational. "Nein, nein, keine Sorge. Sie hatte nur einen kleinen Unfall", wiegelte Alex sofort ab. Ihm in diesem Geisteszustand das Grundstück mit der Quelle abzunehmen kam Alexander falsch vor. "Das freut mich. Lassen Sie uns noch einmal über Ihre Bitte von gestern reden. Ich habe es mir tatsächlich anders überlegt. Ich möchte, dass Sie das Grundstück haben. Ich schenke es Ihnen!" Bei diesen Worten strahlte er richtiggehend vor Freude. Schwere Gewissensbisse packten Alexander. "Das können wir nicht annehmen!", erklärte er. "Natürlich können Sie! Keine Widerrede!" Alexander versuchte vergeblich, seinen Gegenüber noch einmal umzustimmen. Er wusste aber, dass es keinen Sinn hatte. Sie konnten es sich nicht leisten, das Grundstück zu irgend einem fairen Preis zu kaufen. Egal wie viel er Tonmüller geben würde, es würde doch ein rein symbolischer Preis bleiben. Schließlich nahm er an. Das Einzige, das er jetzt noch sagen konnte war: "Bringen Sie mich bitte zu Ihrer Frau!" Tonmüller sah ihn überrascht an, fing sich aber sofort wieder. In Tonmüllers Auto fuhren sie zum Krankenhaus. Dort brachte sein Begleiter ihn in ein kleines Einbettzimmer. Eine unscheinbare Frau in Tonmüllers Alter lag reglos in einem sterilen Krankenbett. Einige Blumen standen auf dem Tisch neben ihr. Das Kruzifix über der Türe war das Einzige, das dem ansonsten kahlen Raum noch ein wenig Wärme und Farbe verlieh. Tonmüller blieb fast in freudiger Erwartung an der Türe stehen. "Machen Sie bitte zu!", bat Alexander ihn. Er zog sich einen Stuhl neben das Bett der Frau, schaute sie mitfühlend an. Er wusste was es bedeutete, von der Welt abgeschnitten im Koma zu liegen. "Ich muss Sie um eines bitten", wandte er sich erneut an Tonmüller. "Egal was Sie jetzt sehen, bitte sprechen Sie niemals mit irgend jemandem darüber. Das ist wichtig!" Tonmüller nickte nur. Alexander wandte sich erneut der Frau zu. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Dann fiel ihm eine alte Fernsehserie wieder ein. Die Idee gefiel ihm. Er konnte sich nicht mehr genau an den Wortlaut erinnern, aber das war auch nicht wichtig. Seine Rechte auf das Gesicht der Frau legend sprach er: "Ich bin du und du bist ich. Wir sind eins. Unsere Geister verschmelzen." Er wiederholte die Formel noch einmal. Beim dritten Mal begann der Mund der Bewusstlosen sich zu bewegen, in seine Beschwörung mit einzustimmen. Er hatte Kontakt. Ein letztes Mal den selben Spruch aufsagend lies er sich fallen, tauchte in ihren Geist ein. Es war kalt. Dunkel und kalt. Graue Wolken bedeckten den Himmel. Ganz schwach konnte Alexander die Sonne dahinter sehen, ebenfalls kalt, kraftlos. Der Boden war gefroren. Reif bedeckte verbrannte Erde. Er stand in einer leeren Ebene. Das Nichts erstreckte sich bis an den Horizont. Alexander konnte damit nichts anfangen. Das war alles .. unbedeutend. Was war das? Es kam ihm irgendwie vertraut vor. Er begriff. Der Ort an dem er sich befand war das Bewusstsein der Frau. Sie lag in einem tiefen Koma, dachte nicht länger nach. Er musste tiefer bohren. Langsam sank er hinab in den Boden, drang in ihn ein. Unter der Oberfläche lag eine graue Halbwelt. Nur Schatten lebten hier. Er sank tiefer, näherte sich dem Kern ihrer Psyche weiter. Schließlich hatte er es geschafft: Eine gigantische Festung aus schwarzem Stein und Stahl ragte aus der Dunkelheit empor. Einen Moment lang ging ihm durch den Kopf, dass er sich genau so immer Saurons Festung vorgestellt hatte, aber er verdrängte den Gedanken sofort wieder. Das war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Er umrundete die Feste zwei mal, fand aber keinen Eingang. Das wäre auch zu einfach gewesen. Er suchte sich ein flaches Stück Mauer und nahm davor Position. Es war nicht der erste psychische Wall, mit dem er zu tun hatte. Die Arme nach vorne gereckt, die Hände zu einem Dreieck formend sammelte er seine Kräfte und ließ sie durch das Dreieck in die Mauer fließen. Sofort öffnete sich ein Loch. Langsam, stets nach Gefahren Ausschau haltend arbeitete er sich vorwärts. Dann hatte er es geschafft. Er war in den Kern von Luise Tonmüllers Psyche eingedrungen. Durch enge, verwinkelte Gassen schwebend suchte er nach Hinweißen. Als erstes fand er ein Bild ihres Mannes, ins dämonische verzerrt, drei Frauen im Arm. Er begann das Bild zu ergründen. Franz hatte eine Affäre gehabt. Sorgsam zerstreute er das Bild und setzte an seine Stelle das Bild des Mannes, der voller Hoffnung und Sorge neben ihnen stand, draußen, in der greifbaren Welt. Als nächstes fand Alexander ein kaputtes Auto. Zwei tote Menschen lagen darin. Er begann auch dieses Bild zu ergründen. Kurz nach bekannt werden von Franzens Affäre hatten Luises Eltern einen schweren Autounfall. Sie starben beide. Diese beiden Schocks waren zu groß für sie gewesen, sie hatte der Welt den Rücken gekehrt. Alexander begann, auch dieses Bild zu verändern. Anstelle des ausgebrannten Autos platzierte er freudige Erinnerungen an Luises Kindheit. Er half ihr dabei, den Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Langsam begann der Schmerz zu ihm durchzusickern. Plötzlich waren es nicht mehr Luises Eltern, die tot in dem ausgebrannten Auto lagen, es waren Alexanders Eltern. Eben hatte er Luise noch freudige Erinnerungen an ihre Kindheit gezeigt. Nun sah er sich selbst diesen Erinnerungen gegenüber. Er erinnerte sich an seinen ersten Schultag, daran, wie sie gemeinsam eine Katze gekauft hatten, an den Streit, als er mit 15 mehr Taschengeld haben wollte, an den Abend des Abschlussballs und die bösen Witze seiner Mutter über die Oberweite seiner Tanzpartnerin. Seine beiden Eltern, tot in einem ausgebrannten Auto liegend erschienen erneut vor seinen Augen. Einsamkeit packte ihn, Verzweiflung umhüllte ihn, Trauer benebelte ihn und Schmerz lähmte ihn. Er war bereit zu sterben, jetzt, hier. Minuten vergingen, vielleicht aber auch Tausend Jahre. Zeit war an diesem Ort subjektiv. Ein Licht erschien, ein einzelner Stern, der sich zwischen den Wolken seinen Weg bahnte. Alexander konnte ihn sehen, ihn fühlen und auf einmal begriff er, dass er nicht alleine war. Er überwand die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Trauer und den Schmerz. Geschwächt aber doch ungebrochen erhob er sich. Sich gegen die Last auf seinen Schultern anstemmend ging er weiter, Schritt für Schritt. Zum schweben war er schon lange zu schwach. Ein riesiges, zehn Meter hohes Tor aus massiven Stahl versperrte ihm den Weg, aber jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Mit einer Kraft, die er niemals zuvor besessen hatte stieß er die Pforte auf, ging weiter. Dahinter war ein finsterer Raum. Ein kleines, ausgemergeltes Mädchen lag dort, bleich, am Ende ihrer Kräfte. "Ich bin gekommen, um dich zu befreien!", sprach er ihr Mut zu. Er hatte ganz normal gesprochen, aber seine Stimme donnerte wie eine Naturgewalt in der dunklen Kammer wieder. Der Stern, der ihm neue Kraft gegeben hatte tauchte ihn nun in helles Weiß. Das Mädchen, das innerste Ich von Luise Tonmüller sah eine Lichtgestalt auf sie zukommen, sie mit einem angenehm warmen, weichen Arm packen und sie auf Flügeln aus goldenem Licht aus diesem Ort, ihrer persönlichen Hölle befreien. Alexander bekam davon nichts mit. Er war zu sehr damit beschäftigt, das Mädchen wegzutragen und sie vor den Trümmern zu beschützen, die nun um sie herum nieder zu regnen begannen. Er wusste auch nicht, dass er es war, der in ihrer Wahrnehmung diese Ort der Schmerzen zerstörte mit reinigenden Blitzen puren Lichts. Er wusste nur, dass er sie stundenlang trug, immer weiter, immer nach oben, bis er die Oberfläche wieder erreicht hatte. Die Wolken waren verschwunden und die Sonne strahlte wie an einem warmen Sommertag. Vorsichtig legte er das Mädchen ab. Sie hatte kaum den Boden berührt, als Blumen um sie herum anfingen zu sprießen. Er wusste, er hatte getan was nötig gewesen war. Ein letztes mal blickte er sich um, sah die ganze Ebene blühen. Einzelne Flecken blieben schwarz und tot, aber das schien ihm nur normal zu sein. Der wahre Heilungsprozess stand erst noch bevor. Gemeinsam öffneten sie die Augen. "Franz!", rief sie glücklich. "Luise!", erwiderte er nur, eilte an ihr Bett, drückte sie an sich. Alexander wusste, dass es nun Zeit für ihn war, zu gehen. Er hatte die Türe fast erreicht als Tonmüller ihn noch einmal zurückrief. "Wie kann ich meine Schuld nur jemals begleichen?", wollte er von Alexander wissen. Alexander schüttelte den Kopf, antwortete dann: "Das Grundstück. Mehr wollen wir nicht." Dann verließ er die beiden. *** Bea war wieder bei Bewusstsein. Dana und Eva waren beide schon wieder nach Hause gegangen. Alexander und Beatrice war das nur recht. Sie brauchten einige Minuten für sich. "Ich denke immer noch, dass es falsch war, was du getan hast", erklärte er ihr. "Warum? Ich habe ihm neue Hoffnung gegeben, neuen Glauben – und seine Frau zurück." "Du hast ihn betrogen, ihm sein Grundstück weggenommen." "Glaubst du, es wäre ihm anders lieber gewesen?" "Nein, aber es geht ums Prinzip. Außerdem hättest du dich nicht als Engel ausgeben dürfen!" "Warum nicht? Ich habe genau das getan, was echte Engel auch tun, wenn es sie denn gibt. Ich habe ihm neuen Mut gegeben – und ein Wunder für ihn vollbracht." "Aber du bist kein Engel!" "Wer sagt das? Erinnerst du dich an deine Theorie, Gott sei dir erschienen? Vielleicht ist er das wirklich. Vielleicht war es aber auch nur irgendjemand, der das Selbe gemacht hat wie ich..." Dem gab es nichts mehr hinzuzufügen. Kapitel 8 --------- 8 Vier Wochen waren vergangen. Es war Ende März und der Frühling hatte begonnen. Überall begann es zu grünen, auch auf dem ehemaligen Fabrikgelände. Tonmüller hatte Wort gehalten und es Beatrice überschrieben. Nach eingehender Prüfung ihres Kontos hatte Beatrice den kleinen Bungalow, in dem früher die Verwaltung saß renovieren lassen. Er hatte jetzt wieder Strom und Wasser, die Toiletten waren in einem Zustand, in dem man sie benutzen konnte, eine moderne Heizungsanlage war eingebaut worden, es gab sogar ein kleines Badezimmer mit Dusche und Wanne. Weiter hatten ihre Ersparnisse nicht mehr gereicht. Alles weitere mussten sie und ihre Freunde selbst machen. Der Bungalow hatte fünf große Räume, jeder an die 70 Quadratmeter groß. Einen wollten sie als Küche und Esszimmer herrichten, die anderen sollte jeweils einer von ihnen bekommen. Die Nacht auf Beas Couch in Erinnerung hatte Dana diesen Vorschlag vehement vorgetragen. Auf dem Papier war Bea die Eigentümerin des Grundstücks und sie bezahlte die Renovierung, aber sie hatte keinen Widerspruch erhoben, als Alexander den Vorschlag gemacht hatte, dass es ihnen allen gemeinsam gehören solle. So kam es, dass jeder von ihnen seinen eigenen Raum bekommen sollte. So weit waren sie aber noch lange nicht. Gerade waren sie dabei, den ersten Raum herzurichten. Nachdem die Handwerker Mittwoch Nachmittag abgezogen waren, hatten Alex, Bea und Dana die nächsten zwei Tage damit verbracht, alle Räume auszuräumen und den Boden sauber zu machen. Es handelte sich um alten Linoleumboden, der schon an etlichen Stellen Risse und Löcher auswies. Bei nächster Gelegenheit wollten sie Teppich darauf legen, aber das hatte noch Zeit. Samstag Früh hatten Alex und Bea dann zunächst einmal Farbeimer und Pinsel gekauft, alte Zeitungen ausgelegt und angefangen, die Räume zu streichen. Dana konnte ihnen dabei nicht helfen, da sie seit neun Uhr Morgens im Bus nach Liverpool saß. Sie nahm dieses Jahr an einem Schüleraustausch teil und würde eine Woche bei einer Gastfamilie in der englischen Hafenstadt verbringen. Dafür hatte Eva jedoch versprochen, heute vorbei zu kommen und zu helfen. Die zwei Tage zuvor hatte sie damit verbracht, auf die demnächst bevorstehenden Klausuren zu lernen. "Weißt du, was mir gerade durch den Kopf geht?", fragte Alexander Bea, als sie gerade eine kleine Pause einlegten. "Was?" "Die Räume hier sind doppelt so groß wie mein Zimmer im Wohnheim. Wenn wir erst einmal fertig sind mit renovieren sehen sie wahrscheinlich auch besser aus und weiter zur Uni hab ich’s von hier aus auch nicht. Ich überleg mir echt, ob ich nicht ganz hier einziehen soll." Bea blickte ihn eine Weile nachdenklich an, ehe sie antwortete. "Warum nicht?", meinte sie dann schulterzuckend. "Ich meine, wir haben hier alles, Dusche, WC, Küche, Telefon, alles was noch fehlt ist ein Anschluss für den Fernseher und das kann man ja auch noch machen. Großes Zimmer, riesiges, verwildertes Grundstück, was will man mehr?" Bea hatte nichts gegen Alexanders Idee einzuwenden und so ließ sie ihn noch eine Weile reden, ehe sie ihn unterbrach und ihn daran erinnerte, dass er nie hier einziehen könne, wenn sie nicht weiterarbeiteten. Gegen vier Uhr Nachmittag traf Eva dann ein. Sie half noch eine gute Stunde mit, dann hatten Alex und Bea keine Lust mehr. Sie hatten die Hälfte ohnehin schon geschafft. Die Sachen einfach in einem der frisch gestrichenen Räume stehen lassend setzten sie sich in die große Halle, in der die Quelle lag. Hier blühte und wucherte schon alles und die Luft war auch um einige Grad wärmer. Die Kraft, die dieser Ort ausstrahle in sich aufnehmend saßen sie da und redeten. Es waren keine besonders tiefgründigen Gespräche. Alex und Bea hatten mehrere Stunden hart gearbeitet und nun war ihnen einfach nach belanglosem Small Talk. Als es langsam dunkel wurde meinte Eva, sie müsse bald nach Hause. Alexander bat ihr an, sie heimzubringen und sie nahm gerne an. Bea ihrerseits wollte noch etwas an der Quelle meditieren und blieb deshalb. In der S-Bahn plauderten sie zunächst auch wieder über Belanglosigkeiten, nach einer Weile wurde Eva jedoch ernst. "Ich hab wieder von dem Spiegel geträumt", verriet sie Alexander. "Wie ist es diesmal gelaufen?", wollte er wissen. "Überhaupt nicht. Ich habe mich nicht getraut, ihn zu berühren." "Verstehe" Eva hatte sich dem Spiegel schon drei mal gestellt. Jedes mal war es gleich abgelaufen. Sie war gescheitert. "Ich hatte einfach nicht den Mut. Ich kann es doch eh nicht", gab sie ihm kleinlaut zu verstehen. Verständnisvoll blickte er sie an. "Du findest schon noch eine Lösung, ganz bestimmt", ermutigte er sie. Ohne es zu merken legte er ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. "Ja, vielleicht", entgegnete sie leise. "Ganz bestimmt!" Schweigend fuhren sie weiter. Evas Kopf lag auf Alex' Schultern und sie lächelte zufrieden, er sah nachdenklich aus dem Fenster in die Dämmerung hinaus. Plötzlich ruckte sein Kopf hoch, sein ganzer Körper spannte sich an. "Was ist los?", fragte Eva besorgt. "Ich weiß nicht. Irgendetwas war da." "Was denn?" "Ich weiß auch nicht, irgendetwas..." Die S-Bahn war inzwischen weitergefahren und die Stelle, an der Alex geglaubt hatte, irgendetwas gesehen oder gespürt zu haben war inzwischen lange außer Sicht. Er entspannte sich langsam wieder. "Wie war das eigentlich, als du erwacht bist?", wollte Eva wissen. "Das weißt du doch. Alle Leute um mich herum stachen plötzlich aus der Umgebung heraus. Es war fast so, als ob sie sich plötzlich in meinen Kopf drängen würden." "Bei mir ist das in letzter Zeit fast, als wäre da ein Splitter in meinem Kopf, der da nicht hingehört, der immer zieht. Meinst du das?" "Eigentlich nicht, obwohl, doch, in gewisser Weise schon." Ohne sich umzudrehen behaupte er: "Zwei Bänke hinter uns sitzen drei Leute, richtig?" Ein kurzer Blick bestätigte ihr, dass es so war. "Ich musste mich nicht einmal konzentrieren, um das zu wissen", erklärte er ihr. "Ich weiß es einfach. Der linke ist in der letzten Station eingestiegen und zwei andere sind ausgestiegen, die davor eine Bank weiter hinten saßen." "So ähnlich geht es mir, wenn ich euch sehe, oder wenn ich zur Quelle komme. Jeder von euch hat seine eigene Melodie. Ich kann sie immer schon hören, bevor ich euch sehe." "Du benutzt die Musik auch zum Zaubern, nicht wahr?" "Ja. Wenn ihr irgendetwas schweben lasst ist das immer eine ähnliche Melodie. Wenn ich mir ähnliche Melodien vorstelle hilft mir das, wenn ich irgendetwas schweben lassen will. Vielleicht finde ich sogar eine Art Grundmelodie, aus der sich alle anderen Schwebemelodien herleiten." "Hm, kann ich irgendwie gar nichts mit anfangen." "Wie empfindest du die Magie denn dann?" "Du weißt doch, dass ich das nicht kann!" "Auch nicht, wenn du selbst zauberst? Ich meine, du musst die Kraft doch irgendwie lenken." "Das hängt immer ganz vom Zauber ab." "Ach so?" "Ja. Je nach Zauber verwende ich ein anderes Symbol, eine andere Zauberformel, ein anderes Ritual." "Und weiter?" "Nichts weiter. Mehr gibt’s bei mir nicht. Ist natürlich klar, wenn ich irgendetwas durch die Luft schweben lasse, muss ich es bewusst steuern und mich darauf konzentrieren." "Wir müssen hier raus!" Damit war das Thema erst einmal vergessen. "Weißt du eigentlich, dass du sehr hübsch bist?", fing Alex an, als sie aus der S-Bahn draußen waren. "Danke" "Ich meine es ernst! – Wo müssen wir hin?" Eva schien sich nicht an der Plumpheit des Kompliments zu stören. "Du hast keinen Freund?", erkundigte Alex sich auf dem nun folgenden Fußweg. "Nein", entgegnete Eva lächelnd. "Das kann ich gar nicht verstehen. Ein so hübsches Mädchen wie du..." Schweigend gingen sie weiter. "Da sind wir", eröffnete Eva kurz darauf. Sie standen vor einem mehrstöckigen Mietshaus. Eva sperrte auf und gemeinsam gingen sie in den zweiten Stock. Als Eva die Wohnungstüre öffnete und sie gerade am hineingehen waren erklang aus einem Zimmer die Stimme ihrer Mutter. "Eva, bist du das?", wollte sie wissen. "Ja, Mama" "Wurde auch langsam Zeit. Wir haben schon gegessen." In dem Moment kam die Mutter in den Eingangsflur. Sie war etwas größer als ihre knapp einen Meter und sechzig große Tochter, hatte aber die selbe schlanke Figur. Sie wirkte jedoch kräftiger, nicht so zierlich. Ihre Haare hatten fast den selben dunkelbraunen Farbton wie die ihrer Tochter, waren aber sehr kurz geschnitten. Überrascht sah sie Alex an. "Hallo Mama, das ist Alex", erklärte Eva ihr, "ein Freund von mir. Er hat mich nach Hause gebracht." Ihre Mutter fing sich wieder und begrüßte Alex freundlich. Noch bevor Eva ihn in ihr Zimmer führen konnte wurde sie von ihrer Mutter jedoch mir der Frage, wie weit sie mit dem Lernen sei überfallen. "Das weißt du doch, Mama, ich hab Mathe komplett durch und Bio mache ich Montag und Dienstag." "Na gut" Evas Zimmer war etwas größer als Alex' Bude im Wohnheim. In der Ecke stand ein sauber gemachtes Bett, vor dem Fenster ein Schreibtisch, daneben an der Wand ein Regal. An der gegenüberliegenden Wand, wenn man ins Zimmer kam rechts, stand ein schicker Spiegelschrank. Über dem Bett war ein Brett mit Stofftieren, vor dem Schreibtisch stand ein Drehstuhl. Das erste, das Alex auffiel war die Ordnung, die im Zimmer herrschte. Auf dem Boden lag überhaupt nichts, die Bücher und Schulhefte auf dem Tisch waren ordentlich aufeinandergestapelt und das Regal war ebenfalls sauber eingeräumt. Ganz unter im Regal lag ein Klarinettenkoffer oder so etwas ähnliches, weiter oben standen einige Kisten und Kästchen, danach kamen nur noch Bücher und Hefte. Eva hatte ihm den Stuhl angeboten und sich selbst auf die Bettkante gesetzt. "Hübsches Zimmer", behauptete Alex, als er sich setzte. Vom Regal aus wanderte sein Blick weiter zu dem Bild, das daneben an der Wand hing. Es zeigte drei spielende Katzen. Eigentlich mochte Alexander Ölgemälde nicht besonders, aber das war ganz nett. Grinsend wandte er sich wieder Eva zu. "Danke", erwiderte sie auf sein Kompliment. "Und so sauber." Als sie nicht weiter darauf einging fuhr er nach kurzer Pause fort: "Sag mal, lernst du wirklich so viel?" "Ja, schon" "Siehst du, ich mache immer gerade mal das Nötigste", erklärte er ihr in beinahe schon entschuldigendem Tonfall. In dem Moment ging die Türe auf und der Kopf von Evas Mutter kam herein. "Kann ich euch etwas zu Trinken bringen?", wollte sie wissen. Als sie beide Alexander fragend anblickten antwortete er zurückhaltend "Ja, danke, das wäre nett." "Mir auch bitte. Mama", schloss sich Eva an. Nachdem sie wieder alleine waren fuhr Alex fort: "Ich sehe überhaupt keine magischen Utensilien. Bea hat dir doch einiges mitgegeben, oder nicht?" Grinsend entgegnete Eva "Meine Eltern müssen ja nicht alles wissen", als sie zum Regal hinüber ging und eine blaue Kassette herausnahm. Als sie sie öffnete sah Alex im Inneren Kreiden, Kerzen, einige Halbedelsteine und was sie sonst noch so benutzte. "Meine Aufzeichnungen sind hier", erklärte sie weiter, während sie einige Schulhefte aus dem Regal holte. Als sie sie gerade Alex reichte kam ihre Mutter mit einem Tablett herein. Neben zwei Gläsern, Apfelsaft und Mineralwasser stand außerdem noch eine Packung Kekse darauf. Eva nahm ihr das Tablett sofort ab und stellte es auf den Schreibtisch. Da hatte ihre Mutter aber bereits den Inhalt der Kassette entdeckt. "Was ist denn das?", fragte sie neugierig. "Das brauchen wir für Kunst", log ihre Tochter. "Was macht ihr denn da?" "Das soll eine Art Plastik werden." "Und das nennt sich Kunst!", murmelte ihre Mutter verständnislos und verlies kopfschüttelnd den Raum. "Mama würde das nicht verstehen", meinte sie rechtfertigend. "Wissen deine Eltern davon?" "Nein", entgegnete er knapp. "Muss schwierig sein, so auf Dauer. Besonders wenn du im Koma liegst. Du siehst deine Eltern nicht oft, oder?" "Nein!" Dieses Mal kam die Antwort noch schroffer als zuvor. Endlich fiel Eva auf, dass irgendetwas mit Alex nicht stimmte. "Ist dir das Thema irgendwie unangenehm?", fragte sie verunsichert. "Ja. Mir wäre es lieber, wenn wir über irgendetwas anderes reden könnten", entgegnete er bestimmt. Eva war sichtlich verunsichert und es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu einem halbwegs ungezwungenen Gespräch zurückgefunden hatten. Gegen halb zehn meinte Eva, Alex solle vielleicht langsam gehen, ehe ihre Eltern etwas sagen konnten. Sie brachte ihn noch zur Türe. "Tut mir leid, dass ich vorhin so komisch war", sagte er ihr, als sie im Freien standen. "Ich rede einfach nicht gerne über meine Eltern." Mit fragendem Blick sah sie ihn an. "Sie leben nicht mehr. Sie sind bei einem Autounfall gestorben, letzten Sommer." Man merkte Eva an, wie betroffen sie war, als er ihr das eröffnete. "Mach's gut, wir sehen uns!", verabschiedete er sich. "Du auch", murmelte Eva, als Alex sich umdrehte und ging. Er hatte versucht, unbeschwert zu wirken, aber sie spürte, dass das nur Fassade war. Kapitel 9 --------- 9 "Wo willst du hin?" Die Stimme ihrer Mutter klang so scharf, dass Eva beinahe zusammenzuckte. "Ich wollte Alex und Bea besuchen", antwortete sie mit unsicherer Stimme. "Schon wieder?" "Ja" "Du hast sie doch erst am Samstag gesehen!" Eva wagte es nicht, etwas zu erwidern. "Für meinen Geschmack verbringst du verdammt viel Zeit mit den beiden! Am Ende vernachlässigst du noch die Schule!" Dieser Vorwurf war absolut unangebracht, und Eva sagte ihr das auch. Ihre Mutter ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen kam sie zum eigentlichen Anlass ihrer Erregung: "Und was hat es bitte schön mit dem neuen Schlüssel an deinem Schlüsselbund auf sich?" Es handelte sich um Evas Schlüssel zum neu hergerichteten Verwaltungsgebäude der Fabrik in der Hasenstraße. Aber das konnte sie ihrer Mutter schlecht sagen. Noch bevor sie sich irgendetwas einfallen lassen konnte konfrontierte ihre Mutter sie bereits mit ihrer Interpretation der Umstände: "Das ist doch bestimmt der Schlüssel von diesem Alexander, oder? Gib's doch zu! Du hast was mit ihm. Dabei bist du doch noch viel zu jung für so was! Und dann auch noch mit einem Jungen, der viel älter ist als du!" Eva versuchte verzweifelt, eine Melodie zu finden, die den Ärger ihrer Mutter abwenden und sie aus dieser Situation bringen könnte, aber es gelang ihr nicht. Schließlich redete sie sich damit heraus, dass das der Reserveschlüssel von Beas Wohnung sei, und dass sie ihn ihr gegeben habe, falls sie ihren eigenen mal verlieren würde, oder falls sonst irgendetwas sei. Ihre Mutter lies sie schließlich ziehen, allerdings erst nachdem sie ihr eingebläut hatte, dass sie diese Bea mal kennen lernen wolle, nachdem ihre Tochter schon so viel Zeit mit ihr verbrachte. In der S-Bahn beruhigte Eva sich erst einmal wieder und als sie in der Hagengasse ankam, hatte sie sich von der Predigt ihrer Mutter schon wieder erholt. Alex hatte ihr gestern noch eine SMS geschickt, dass sie mit ausweißen fertig geworden waren und offensichtlich hatte er seinen Vorsatz, heute umzuziehen in die Tat umgesetzt. In seinem Zimmer standen mehrer Kisten voller Bücher und Geschirr und er war gerade dabei, ein Bettgestell zusammenzuschrauben. "Darf ich hereinkommen?", fragte sie schelmisch. "Das muss ich mir erst noch überlegen", antwortete er etwas lahm, nachdem er sich wieder gefangen hatte. Sie hatte ihn mitten aus der Konzentration gerissen. "Bis du dir das überlegt hast komm ich schon mal rein." Er hatte keine Einwände und so setzte sie sich neben ihn auf den Boden. Inzwischen hatten sie im ganzen Haus Teppich verlegt. "Ist das neu?", wollte sie wissen. "Ja. Bea und ich waren heute morgen bei Ikea." Eva sah sich um und stellte fest, dass eine ganze Einrichtung ihrem Zusammenbau harrte. Außer dem Bett standen drei Sessel, ein niedriges Tischchen, ein Schreibtischstuhl, zwei Schreibtische und mehrere Regale und Schränke herum, alle noch verpackt. "Hattest du bisher keine Möbel?", wollte sie wissen. "Nein. Studentenwohnheim, alles schon drin", entgegnete er knapp, während er versuchte eine Schraube zwischen zwei Leisten festzuziehen. "Nicht besonders viel allerdings", fuhr er kurz darauf fort, "Bett, Stuhl und Schreibtisch halt, mehr geht eh nicht rein." Eva nahm das zur Kenntnis, ohne weiter darauf einzugehen. "So viel Zeug! Was hat das denn alles gekostet?", fragte sie stattdessen. "Och, eine ganze Menge", entgegnete er, inzwischen mit der zweiten Schraube beschäftigt. "Und wie kannst du dir das leisten?", hakte sie weiter nach. Alex sah sie an, lies den Schraubenzieher sinken und setzte sich aufrecht hin, ehe er antwortete. "Meine Eltern haben mir einiges hinterlassen, mir und meinem Bruder. Er verwaltet das ganze zur Zeit, zumindest bis ich fertig studiert hab'. Ich hab ihm gesagt, dass ich umziehen will und dass ich Geld für Möbel brauch und er meinte, das ginge in Ordnung." Eva merkte deutlich, wie verkrampft seine Stimme klang, als er das sagte. Sie hatte fast den Eindruck, er versuche, seine Emotionen zu verdrängen. Es war aber bei weitem nicht so schlimm wie vor drei Tagen. Vielleicht fiel es ihm leichter, jetzt da sie bereits vom Tod seiner Eltern wusste, vermutete sie. Sie ging nicht weiter darauf ein und sah sich statt dessen lieber an, was er im Einzelnen gekauft hatte. Das Bett war fast zwei auf zwei Meter groß, mit einem breiten hölzernen Rahmen um die Matratze herum. Das Tischchen war vielleicht einen Meter auf einen halben, schätzte sie. Als sie gerade dabei war, die Angaben auf der Packung zu studieren sagte er, in weitaus normalerem Tonfall, dass er es zusammen mit den Sesseln in die Mitte des Raumes stellen wolle. Die Regale, so erklärte er würden an die beiden Innenwände kommen, das Bett an die rechte Außenwand, die Schreibtisch nebeneinander an die Linke. Während sie sich umsah schraubte er an seinem Bett weiter. Sie bot ihm an, ihm zu helfen, aber mehr als ihm das Werkzeug zu reichen konnte sie im Endeffekt nicht tun. Sie hatte selbst nie irgendetwas zusammenbauen müssen. Als das Bett fertig war schoben sie es in die dafür vorgesehen Ecke, packten Alex' neues Bettzeug aus und bezogen es. Er hatte bei der Gelegenheit gleich noch zwei neue Bettbezüge gekauft, einen roten und einen schwarzen, und beide mit einem Drachen drauf. Eva hatte sich inzwischen an den etwas ausgefallenen Geschmack ihrer neuen Freunde gewöhnt und sie gefielen ihr gut. Sie war allerdings etwas erstaunt, als er zwei Kissen und zwei Decken bezog und auf sein neues Bett legte. Er sah ihr die Irritation offensichtlich an und erklärte, dass er das schon länger so mache. "Ich liebe es einfach, mich in dem ganzen Zeug einzukuscheln. Und wenn mal jemand anderer mit hier übernachtet ist es ganz angenehm", erklärte er ihr verschwörerisch. Das ging ihr dann doch etwas zu weit und sie ignorierte die Anspielung so gut als möglich. Er belies es auch dabei. Stattdessen erklärte er ihr, dass sein Vater das Nachtkästchen gebaut habe, dass er gerade neben das Bett stellte. Dabei schien er weniger traurig zu sein, sondern eher wehmütig, Eva glaubte fast zu spüren, wie sein Geist in die Ferne schweifte. "Aber genug jetzt!", erklärte er vehement, wieder zurück im Hier und Jetzt. "Das Wichtigste haben wir, den Rest kann ich auch noch Morgen zusammenbauen!" Damit hatte er zweifellos recht. Er hatte gerade Semesterferien und nichts zu tun. "Wie ist das eigentlich, Telepath zu sein?", wollte sie wissen, als sie es sich in den Sesseln bequem gemacht hatten. Sie hatten sie nur noch auspacken müssen, sie waren bereits zusammengebaut geliefert worden. "Wie ich schon mal gesagt hab', ich muss mich noch mehr zusammenreißen als Ihr, damit ich meine Macht nicht missbrauche. Obwohl..." Eva glaubte zu erraten, was ihn zum einlenken gebracht hatte. "Und was war mit Beas Alleingang?", hakte sie nach. Sie war über deren Alleingang damals ähnlich geschockt gewesen wie Alex, vielleicht noch mehr. Sie hatte es nur nicht so deutlich gezeigt. "Doch, es stimmt schon. Egal was sie da gemacht hat, ich könnte noch viel schlimmere Dinge tun." "Es ist nur so", gestand sie mit kleinlauter Stimme, "ich glaub' ich bin auch ein Telepath. Da ist diese Melodie, ich hab sie das erste mal gehört, als du gegen ... es gekämpft hast." Eva vermied es nach Kräften, das Wort Dämon zu benutzen. "Seitdem geht sie mir im Kopf umher, und wenn ich mich auf sie konzentriere, glaube ich die Gedanken der Leute um mich herum zu hören, wie so ein ganz leises Murmeln." Verlegen sah sie ihn an. Er schien einige Minuten zu überlegen, ehe er ihr antwortete. "Wir könnten versuchen, das zu testen. Was hältst du davon? Komm, lass uns rüber zur Quelle gehen!" Sie stimmte zu, zuerst ein wenig unsicher, aber auf dem Weg fand sie zusehends Gefallen an der Idee. Gespannt darauf, was sie wohl herausfinden würden betrat sie an Alex' Seite das alte Fabrikgebäude. Irgendetwas stimmte nicht, aber sie schenkte dem zunächst keine weitere Beachtung. Als sie sich dem Saal mit der Quelle näherten wurde ihr Unbehagen jedoch stärker und als sie schließlich dort ankamen wurde ihr klar, was es war. Eine Disharmonie hatte sich in die ansonsten harmonische Musik der Quelle eingeschlichen. Alex schien ebenfalls etwas zu bemerken. Er schob sie zurück in den Eingang und näherte sich vorsichtig dem Teich im Zentrum. Da entdeckte auch sie den Ursprung der Disharmonie: Ein fremdartiges Wesen hatte sich über dem Teich breit gemacht. Es bestand nur aus einem merkwürdig proportionierten Leib, vier gotisch anmutenden Beinen, mit vielfachen Auswüchsen und Einkerbungen und in langen Klauen endend und einem Art Stachel, den es in den Teich eingetaucht hatte. Das Wesen besaß keine sichtbaren Sinnesorgane und schien aus fein gegliedertem Chitin zu bestehen, der aber in blau und violett irisierte. Als sie genauer hinsah, fiel ihr auf, dass eine ölige Substanz sich um den Stachel herum sammelte. Sie war sicher, dass das die Ruhe dieses heiligen Ortes störte, in aus der Balance warf. "Es vergiftet unsere Quelle!", rief sie Alex zu. "Ich seh' es!", antwortete er, ohne das Wesen auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. "Was ist das?", wollte er wissen. Sie hob ihre rechte Hand, versuchte sich an die Geste zu erinnern, die Bea ihr gezeigt hatte. Sie fiel ihr aber beim besten Willen nicht mehr ein, und so streckte sie dem Wesen schlussendlich einfach nur ihre offene Hand entgegen, während sie ihren Geist der Welt öffnete. Die Sonate des Ortes erklang nun in voller Lautstärke, kraftvoll, mächtig, aber verzerrt. Alexander strahlte seine für ihn typische Melodie aus, in der sie jedoch Zeichen von Besorgnis zu hören glaubte. Sie ignorierte beide und wandte sich dem Wesen zu. Es hatte eine ganz eigene Melodie, unharmonisch, düster, bedeutungsschwanger, Spuren wilden Aufloderns wurden angedeutet, ohne dass sie direkt in Erscheinung traten. Als sie genauer hinhörte, entdeckte sie ein vertrautes Thema. Sie hatte es schon einmal gehört, vor über einem Monat. Der Dämonenprinz, den Alex bezwungen hatte, hatte so geklungen. "Vernichte es!", schrie sie ihm zu. "Es ist ein Dämon!" Alex nickte. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber seine Entschlossenheit spiegelte sich in seiner Melodie wieder. Er tat zwei Schritte auf das Wesen zu und begann, die Kräfte der Quelle zu sammeln. Eva wusste, dass er das nicht bewusst tat, aber sie konnte fühlen, wie sich eine Aura der Macht um ihn bildete. Irgendeinem wirren Gedankengang folgend stieß er "Fulminictus Donnerkeil!" hervor, und ein gleißender Strahl weißen Lichts schoss aus seinen Händen, seinen Armen, seinem gesamten Rumpf. Noch während er den Strahl aussandte, hüllte der Dämon sich ebenfalls in eine Aura aus magischer Macht. Er hatte es jedoch offensichtlich nicht nötig, diese umzuwandeln. Er formte sie direkt, wie Eva es bisher nur bei Bea gesehen hatte. Alexanders Angriff konnte diese Barriere nicht durchdringen. Er glitt harmlos daran ab. Er versuchte er erneut, ein zweites mal schleuderte er dem Feind gleißendes Licht entgegen, dann griff er ihn mit sengenden Flammen an. Nicht einmal die Tentakeln, die er aus lebender Dunkelheit formte konnten den Schild des Ungeheuers durchbrechen. Während er den Dämon wiederholt angriff, ihm seine gesamte Macht entgegenschleuderte begann sich irgendetwas an seiner Melodie zu verändern. In gewissen Tonhöhen begann sie, an Struktur zu verlieren, zu verwischen. Eva richtete ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf ihn, und zu ihrem großen Entsetzen musste sie erkennen, dass die Haut anfing, in seinem Nacken zu zerlaufen. Auch seine Ohren begannen, ihre Form zu verlieren, wie warmes Wachs herunterzulaufen. Sie packte ihn, zerrte mit ihrer ganzen Kraft an ihm und schrie ihm ins Ohr, er solle endlich aufhören. "Es hat keinen Sinn. Du kannst ihn nicht besiegen, und du machst dich selbst kaputt dabei!" Irritiert hielt er inne, wandte sich ihr zu. Eva bekam fast einen Schock, als sie sein Gesicht sah. Das einzige, das noch menschlich aussah waren seine Augen. Sie waren klar und braun wie immer, der Rest war eine einzige Masse zerflossenen Fleisches. Entsetzt stellte sie fest, dass sie sich vor ihm ekelte. Sie versuchte es aber nicht zu zeigen. "Hör auf, du bringst dich nur selber um!", schrie sie ihn an. Ihm war inzwischen selbst gewusst geworden, was er getan hatte. Entsetzt starrte er auf seine Hände, oder viel mehr das was davon noch übrig war. Und selbst das konnte sie nur seiner Melodie entnehmen, sein Gesicht war nicht mehr in der Lage, menschliche Emotionen auszudrücken. Dann fing er sich wieder. "Einen Versuch noch!", erklärte er vehement. Eva spürte, dass sie ihn nicht davon würde abhalten können. "Na gut, aber wirklich nur noch einen Versuch!", versuchte sie, ihm ins Gewissen zu reden, Er drehte sich um, wandte sich erneut dem Wesen zu, das inzwischen immerhin seinen Stachel eingezogen hatte, das vorübergehend von der Quelle abgelassen hatte, sie nicht länger vergiftete. Eva konnte spüren, wie er erneut Kraft sammelte. Viel war es allerdings nicht, entweder er konnte nicht mehr mehr aufnehmen, oder er brauchte es im Moment nicht. Plötzlich eine geradezu unheimliche Ruhe ausstrahlend wandte er sich dem Wesen zu. "Ich kann dich also nicht verletzen", erklärte er ihm." Ich kann aber etwas anderes tun. Ich kann versuchen, dich zu brechen. Ein einziges mal habe ich meine Macht missbraucht, und ich habe bitter dafür bezahlt. Seitdem halte ich diese Kraft unter Verschluss, aus Angst davor, was ich damit anrichten könnte. Du verdienst aber keine Gnade. Sogar ich kann die Zerstörung spüren, die deiner Aura anhaftet, die dein ganzes Wesen durchdringt. Du verdienst keine Gnade, und ich werde dir keine Gnade gewähren. Heute werde ich gegen eine eiserne Regel verstoßen. Ich werde das tun, was ich noch nie getan habe." Während er diese Worte sprach, lies er sich nieder. Er verschränkte die Beine, und legte die Hände auf die Knie. Als er das letzte Wort gesprochen hatte schloss er die Augen. Die ganze Darbietung war von einer leise einsetzenden, zusehends komplexer werdenden Melodie begleitet gewesen. Zumindest nahm Eva es so war und sie fragte sich, ob das alles nicht Teil des Zaubers war, den Alex offensichtlich vorhatte. Es wirkte auf sie beinahe wie ein Ritual. Die Melodie kam ihr vage vertraut vor. Sie glaubte, einige Stellen wiederzuerkennen, er hatte sie benutzt, als er gegen den Dämon gekämpft hatte. Es war eine Melodie des Geistes. Und dann breitete die Melodie sich aus. Sie floss dem Dämon geradezu entgegen, durchdrang seinen Schild als wäre er nicht da, umhüllte ihn. Alexander und der Dämon erstarrten. Keiner von beiden bewegte auch nur noch den winzigsten Muskel, Alex atmeten nicht einmal mehr. Es war, als würden zwei Statuen einander gegenüberstehen, zwei Statuen, beide gleichermaßen unmenschlich, als wären sie der Phantasie eines wahnsinnigen Bildhauers entsprungen. Eva wagte selbst kaum zu atmen, fürchtete sie doch, den Bann zu brechen, der plötzlich auf dem Raum zu liegen schien. Mit heftig pochendem Herzen stand sie da, unfähig, irgendetwas zu tun. Zumindest hatte Alexander aufgehört zu zerlaufen. Die Zeit verging. Über eine Stunde stand sie da, ohne das irgendetwas geschah. Nur die Melodie erklang, immer den selben Rhythmen folgend. Irgendwann begann sie sich dann zu ändern. Rasend schnell steuerte sie auf den Höhepunkt zu, erreichte ihn – und endete einfach. Im selben Moment kam wieder Bewegung in die beiden ungleichen Gegner. Alex war offenbar unterlegen. Er brach zusammen, fiel einfach um. Wenigstens begann sein Brustkorb sich wieder zu heben und zu senken. Das Wesen bäumte sich derweilen auf, schrie seine Wut und seinen Hass mit einer Stimme, die kein gewöhnlicher Mensch jemals würde hören können in die Welt hinaus und stürzte sich dann auf seinen reglosen Gegner. Eva fing sich jedoch schnell genug, um das zu verhindern. Seit bald zwei Monaten bemühte sie sich, die Ströme der Magie zu meistern und auch wenn sie weit davon entfernt war, ihren drei Freunden ebenbürtig zu sein, so besaß sie doch Macht. Sie konzentrierte sich auf die Melodie, die das Wesen erzeugt hatte, als es sein Schutzschild errichtet hatte, und richtete die Waffe ihres Feindes gegen ihn. Eine magische Barriere umgab Alex. Es versuchte sich auf ihn zu stürzen, aber es gelang ihm nicht, die Barriere zu durchbrechen. Wieder und wieder drang es auf sie ein, jedes mal ungestümer als zuvor. Es schien vollständig den Verstand verloren zu haben. Doch die Barriere hielt. Eva mochte keine besonders erfahrene Magierin sein, aber eines hatte sie seit ihrer frühesten Kindheit gelernt: Disziplin. Ohne auch nur einmal nachzugeben hielt sie die Barriere aufrecht. Im Gegenteil, die Barriere wurde sogar noch stärker. Mit der ihr eigenen Fähigkeit, Ordnung zu schaffen begann sie die wichtigen Töne von den unwichtigen zu trennen. Nach einer Stunde erklang die Melodie so klar und rein, so geordnet, so strukturiert, als sei sie nach mathematischen Formeln berechnet worden. Jeder Ton hatte seine Bedeutung, jede Pause im Rhythmus ihren Effekt. In diesem Moment fühlte Eva sich allmächtig. Sie hatte alles unter Kontrolle, alles folgte ihrem Willen, sogar der Dämon schien in seinen Angriffen einem klar erkennbaren Muster zu folgen. Ihre ganze Welt bestand nur noch aus einem einzigen, komplexen Muster. Sie glaubte, ewig so weitermachen zu können, wollte ewig so weitermachen. Jeder Zweifel, jede Unsicherheit war plötzlich aus ihrem Geist verschwunden. Nur noch das Muster zählte, ein unglaublich schönes, klar strukturiertes Muster, das sie alleine aufrecht erhalten konnte. Daran, wie sie den Dämon jemals besiegen könnte, ob Alexander überhaupt noch lebte dachte sie nicht mehr, konnte sie nicht mehr denken. Alles war klar geordnet, strukturiert, die Welt war perfekt. Eine weitere Stunde verging. Langsam wurde Eva klar, dass ihr die Kräfte ausgingen. Sie verbrauchte die Kraft schneller, als die Quelle sie liefern konnte. Woher bezog die Quelle überhaupt ihre Kraft? Sie wusste es nicht. Sie konnte nicht mehr so viel Kraft aufnehmen, wie sie verbrauchte. Sie begann zu spüren, wie sie sich langsam selbst verausgabte. Und trotzdem konnte sie an nichts anderes denken als an das Muster, das in seiner geometrischen Schönheit ihren Geist gefangen hielt. Ganz kurz wurde ihr nur immer wieder bewusst, wie schnell sie dem Punkt näher kam, an dem sie nicht mehr in der Lage sein würde, die Barriere aufrecht zu erhalten. Doch jedes Mal verlor sie sich erneut in der Struktur des Zaubers. Sie konnte sich nicht lange genug konzentrieren, um überhaupt nach einem Ausweg zu suchen. Dann war es soweit. Der Rhythmus begann auszusetzen, einzelne Töne kamen zu spät, die Symmetrie ihres Zaubers begann sich aufzulösen. Sie konnte klar fühlen, wie er ihr immer mehr entglitt, wie sie die Kontrolle über ihn verlor. Und dann, als die Klauen des Ungeheuers bereits begannen, die Barriere zu durchbrechen tat sie etwas, das sie zuletzt vor gut zwei Monaten getan hatte, in jener Nacht, in der sie erwacht war: Sie lies sich gehen. Sie versuchte nicht länger, die Melodie zu kontrollieren, zu ordnen. Sie lies der Melodie freien Lauf. Und die Melodie erklang mächtiger denn je zuvor, vielschichtiger, wilder, hemmungsloser. Und die Barriere gewann erneut an Kraft. Und dann beschränkte sie sich nicht mehr länger darauf, des Ungeheuer zurückzuhalten. Sie griff es an. Die Barriere wurde in ihren Händen zur Waffe, sie stemmte sich dem Ungetüm entgegen, streckte es nieder. Es gelang ihr jedoch nicht, es zu besiegen. Es entkam ihr, floh in die Welt jenseits unserer Welt, in die Welt der Geister. Sie konnte es deutlich spüren. Dann brach die Magie zusammen. Sie hatte keine Reserven mehr. Es gelang ihr noch nicht einmal mehr, die Urgewalten der Quelle zu erspüren. Zugleich wusste sie jedoch, dass sie sich verändert hatte. Sie war eine andere Person. Sie konnte es deutlich spüren. Sie wusste aber auch, dass noch irgendetwas geschehen musste, um den Übergang zu vollenden. Langsam fing sie an, wieder rational zu denken. Ihr wurde bewusst, dass das Ungeheuer noch lange nicht besiegt war, nur vertrieben. Es konnte jederzeit zurückkehren. Sie mussten es jetzt zur Strecke bringen, solange es noch geschwächt war. Da Alex noch immer bewusstlos war und sie selbst offensichtlich ihre gesamten Kräfte aufgezehrt hatte, konnte sie eigentlich nur noch Bea zu Hilfe rufen, zumal sie selbst überhaupt nicht gewusst hätte, wie sie dem Dämon hätte folgen sollen. Dana war ja nach wie vor in England. Das tat sie dann auch. Sie rief Bea an und als diese eine halbe Stunde später da war berichtete sie ihr, was geschehen war. Gemeinsam schafften sie Alexander in sein Zimmer, dann ging Bea zurück zur Quelle, um dem Wesen zu folgen. Alex' Zustand schien sie nicht weiter zu beunruhigen. Eva vermutete fast, dass sie tatsächlich irgendetwas darüber wusste. Hatte sie nicht vor einigen Wochen behauptet, sie müssten sich deswegen keine Sorgen machen? Eva konnte es nicht sagen. Mit einem Selbstbewusstsein, dass sie von sich überhaupt nicht kannte kümmerte sie sich um Alex. Wie Bea es ihr seinerzeit gezeigt hatte, legte sie ihm heiße Tücher auf die Stirn, nachdem sie die Heizung ganz aufgedreht und ihn dick in seine beiden Decken und eine zusätzliche Wolldecke, die sie unter seinen Sachen entdeckt hatte eingepackt hatte. Wie er schon sagte, das Bett ist das wichtige, alles andere kann warten... Dann machte sie sich erst einmal einen Tee, stellte die volle Kanne auf den Nachttisch, den Alexander von seinem Vater bekommen hatte und trank ihn langsam, während sie seine Hand hielt. Die Stunden vergingen und es wurde langsam Abend. Evas Handy läutete mehrfach, aber sie schaltete es einfach ab. Als es bereits dunkel war kam langsam Leben in Alexander zurück. Er schien psychisch am Ende zu sein, aber Eva fühlte sich zuversichtlich, dass sie ihm helfen könne. Sie hielt seine Hand, sprach ihm Trost aus, ermutigte ihn zu erzählen, was er erlebt hatte. Er begann mit zitternder Stimme zu erzählen: "Ich habe meine Drohung wahr gemacht. Ich habe das Schlimmste getan, das ich mir vorstellen kann. Ich habe ihn vernichtet. Ich habe seine Persönlichkeit zerstört, ausgelöscht, ... vernichtet. Nichts ist mehr von ihm übrig, er existiert nicht mehr." Eva begriff. Nicht Alex hatte verloren, sondern die Bestie. Nachdem er ihren Geist ausgelöscht hatte, hatten ihre Instinkte die Kontrolle übernommen. Das erklärte auch, warum sie ohne Sinn und Verstand gegen die Barriere angelaufen war. "Weißt du, was ich eben getan habe? Ich habe getötet. Mehr als getötet. Ich habe ihn vernichtet, seinen gesamten Geist aufgelöst! Er existiert nur noch hier, hier, in meinem Geist. Ich bin in seine Gedanken eingedrungen, ich habe sein ganzes Wesen in mich aufgenommen, bevor ich es vernichtet habe. Sein ganzes, schreckliches Wesen!" Eva schauderte. Dies waren die tiefsten Abgründe der Telepathie, einer Disziplin, die auch ihr offen stand. Sie hoffte inständig, dass sie niemals gezwungen sein würde, so weit zu gehen. "Ich weiß alles, was er weiß. Ich habe gesehen, wie er gezeugt wurde, aus dem Schmerz dahingeschlachteter Kinder. Ich habe den Wut und den Hass und den Zorn erfahren, der von Anfang an den Kern seines Wesens bildete. Ich bin froh, dass ich ihn vernichtet habe. Er hatte kein Recht zu existieren! Ich weiß, was er erlebt hat. Er wurde gezeugt und dann sperrte man ihn ein. Es machte ihn wahnsinnig, steigerte seinen Hass und seinen Zorn noch mehr. Aber das schreckt mich nicht. Ich war selbst schon eingesperrt, und ich habe darin neue Kraft gefunden. Dann wurde er befreit. Es war der Tod seines Herren, seines Erschaffers, seines Gebieters, der Kreatur, die er zugleich abgöttisch liebte und aus ganzem Herzen hasste. Das Siegel brach. Sein Herr war nicht mehr. Er war jedoch zu schwach, um von sich aus Schmerzen zu verbreiten. Wochen wanderte er umher, ohne Ziel, ohne Hoffnung auf Besserung. Dann sah er sich unwillkürlich erneut seinem Meister gegenüber. Als ich damals den Dämon besiegte blieb ein Teil seiner Aura an mir haften. Diese Aura war es, die er gespürt hatte. Er verlor mich aber wieder aus den Augen. Die S-Bahn war weitergefahren. Erinnerst du dich?" Es war eine reine rhetorische Frage. Alexander wartete erst gar nicht auf eine Antwort. "Er hatte mich aus den Augen verloren, aber er hatte ein neues Ziel. Er versuchte, mich wiederzufinden, und so kam er schließlich hierher. Hier fand er etwas, das für ihn von unbeschreiblichem Wert war, einen Ort, an dem er sich stärken konnte. Er gelang ihm, körperliche Gestalt annehmen. Er beschloss, diesen Ort zu seinem neuen Zuhause zu nehmen. Er hatte bereits angefangen, ihn zu vergiften – "säubern", wie er es sah. Als nächstes wollte er jeden Überrest seines alten Meisters aus dieser Welt tilgen, ehe er sich daran machen würde, sein eigenes Reich der Schmerzen zu errichten. Als wir aufeinander trafen wurde plötzlich alles andere unwichtig. Es war ihm egal, wie viel Kraft er schon hatte und wie viel mehr er brauchen würde, der Hass auf seinen alten Meister wurde zum Zentrum seines Denkens. Er griff jedoch nicht sofort an. Er fürchtete mich. Er suchte eine Schwachstelle, eine Schwäche, die er ausnutzen könnte. Seine Taktik schien aufzugehen, ich verausgabte mich zusehends. Er musste nur noch auf den richtigen Moment warten. Du hast mich gerettet, du hast mich davon abgehalten, so weiterzumachen. Was ich dann mit ihm getan habe weißt du." Eva drückte seine Hand und sie sprach beruhigend aus ihn ein. Sie waren sich nahe wie nie zuvor und sie konnte spüren, wie er den Erlebnissen dieses Tages ihren Schrecken nahm. Es wäre falsch gewesen zu behaupten, er habe sie komplett verarbeitet, aber er hatte den ersten Schritt dazu getan. Mit einem seltsamen Gleichmut nahm Eva zur Kenntnis, dass sie derartigen Erfahrungen selbst nicht gewachsen wäre, und sie schwor sich, es nicht so weit kommen zu lassen. Zugleich bewunderte sie, wie leicht Alexander das alles wegsteckte. Vielleicht, dachte sie sinnierend, hat er sich einfach daran gewöhnt, schmerzhafte Erfahrungen zu verarbeiten. Sie blieb noch eine Weile an seinem Bett sitzen, hielt seine Hand, gab ihm Kraft. Als er eingeschlafen war fuhr sie nach Hause. Ihre Eltern waren beide noch wach, und sie waren zornig wie sie sie selten zuvor erlebt hatte. Ihr Zorn konnte sie aber nicht schrecken, nicht heute, nicht jetzt. Mit fester Stimme erklärte sie ihnen: "Alexander hat einen schwachen Kreislauf und bisweilen bricht er zusammen. Er braucht dann jemanden, der sich um ihn kümmert. Ihr habt mich dazu erzogen, Verantwortung zu übernehmen. Wenn Alex meine Hilfe braucht, helfe ich ihm auch. Und ich werde ihm auch weiter helfen, solange es nötig ist." Dann ging sie an ihren Eltern vorbei in ihr Zimmer. Ihre Eltern waren sprachlos. So sie hatten ihre Tochter nie zuvor erlebt. Sie hatte keine Furcht gezeigt, keine Unsicherheit, keine Unterwürfigkeit. Aus ihrer Stimme hatte pure Kraft geklungen, ihr Blick sprach von einem unbeugsamen Willen. Sie starrten noch eine Weile auf die geschlossene Türe von Evas Zimmer, dann gingen sie ohne einander anzusehen zu Bett. Keiner von beiden sprach später noch einmal über diesem Abend. *** Eva begann zu träumen. Die Erlebnisse dieses Tages versuchten in ihre Träume einzudringen, aber sie ließ es nicht zu. Zielgerichtet begab sie sich in den blauen Raum, rief den Schwarzen Spiegel zu sich. Er folgte ihrem Befehl und erschien. Ohne überhaupt darüber nachzudenken trat sie hindurch. Wie schon etliche Male zuvor erschienen Lichtpunkte, Gedanken. Nun wusste sie aber, was sie zu tun hatte. Sie lies sie kreisen, zuerst nur wenige, dann immer mehr. Sie versuchte erst gar nicht, sie zu lenken, sie stieß sie nur an, lies sie ihre eigenen Bahnen finden. Dann öffnete sie sich, lies ihre eigenen Gedanken frei fliesen. Und sie trieben inmitten der fremden Gedanken, aller Gedanken. Und in diesem Moment war die Umwandlung vollbracht. Sie erlebte einen Moment absoluter Schönheit, absoluter Klarheit. Satori wurde es in Japan genannt, die Erleuchtung. Für einen Moment war sie eins mit dem Universum. Und es war nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen würde. Dies war erst der Anfang. Kapitel 10 ---------- 10 Roter Feuerschein färbte Beas Kimono in der Farbe frischen Blutes. Flammen umgaben sie auf allen Seiten, aber die konnten ihr nichts anhaben. Hier, in Findracors Halbwelt gab es nichts, das ihr gefährlich werden konnte. Sie war hier auf Wunsch des alten Drachen, und er lies nicht zu, dass ihr hier irgendetwas geschah. Schweigend trieben sie nebeneinander her, die winzige Gestalt Beas, ihre Haare rot von Natur, die weiße Seide ihrer Kleidung gleichermaßen gefärbt vom Schein des allgegenwärtigen Feuers, aus dem die gesamte Halbebene zu bestehen schien, und direkt neben ihr die Gestalt des alten Feuerdrachens, so gigantisch, dass seine funkelnden, roten Schuppen in der Entfernung mit den Flammen zu verschmelzen schienen. Schweigens trieben sie nebeneinander her. Es war ein einvernehmliches Schweigen. Sie hatten bereits ausgiebig darüber diskutiert, warum das Lateinische sich besser als andere Sprachen zum Rezipieren von Zauberformeln eignete, und später hatte Bea sich mit Findracor über Eva unterhalten, darüber warum sie keine rechten Fortschritte zu machen schien und wie man ihr helfen könnte. Nun trieben sie schweigend nebeneinander her, wie es nur wahre Freunde konnten, nicht getrennt durch Worte, sondern vereint in der Stille. Schließlich erklang der tiefe, hallende Bass von Findracors Stimme erneut: "Du musst nun gehen!" Es lag nichts gebieterisches in seiner Stimme. Es war mehr als würde er sie an eine Verabredung erinnern, oder einen Termin. Ohne zu widersprechen folgte sie seiner Anweisung. Sie wusste, dass sie jederzeit hierher zurückkommen konnte. Langsam verblasste die Ebene des elementaren Feuers um sie herum, als ihr Geist in ihren Körper zurückkehrte. Das Gefühl zu atmen war wie immer das erste, was zurückkehrte. Dann wurden ihr langsam ihre Arme und Beine bewusst, bis schließlich als letztes ihr Seevermögen zurückkehrte. Während sie ihren Körper langsam aus seiner Verspannung löste wurde ihr bewusst, dass ihr Handy läutete. Sie konnte später nicht sagen, ob es gerade erst angefangen hatte zu klingeln, oder ob es das schon länger tat. Ohne weiter darüber nachzudenken nahm sie den Anruf an. "Eva hier. Wir sind in der Quelle. Kannst du bitte so schnell wie möglich herkommen? Wir haben ein Problem." Ohne weiter nachzufragen sagte Bea ja, sie legten auf, und begann sich fertig zu machen. Ohne sich groß umzuziehen zog sie einfach einen Mantel über ihren Kimono, zog ein paar schwarzer Lederstiefel über und machte sich auf den Weg. Was wohl passiert war? Evas Stimme hatte ganz ruhig geklungen. Sie schien gefasster zu sein als sonst, keine Spur von Unsicherheit. Das überraschte Bea etwas. Im Falle eines echten Notfalles hätte sie doch aufgeregter sein müssen als sonst, nicht ruhiger. Kopfschütteln sah sie sich im Bahnabteil um. Ihr beinahe direkt gegenüber, nur eine Sitzreihe weiter vorne sah sie ein knutschendes Liebespaar. Sie merkte, wie ihre Stimmung rapide sank. Die Anderen kannten nur ihre vitale, selbstsichere, unabhängige Seite. Die Einsamkeit verbarg sie tief in ihrem Inneren. Es war erst einige Wochen her, dass sie Eva erzählt hatte, dass sie mit Findracors Hilfe ihr Leben in den Griff bekommen habe, dass sie jetzt glücklicher sei als je zuvor. Was sie ihr nicht erzählt hatte war wie sehr sie es oft vermisste, einfach nur im Arm gehalten zu werden. Sich einfach fallen lassen zu können, und zu wissen, dass jemand da war, der sie auffangen würde. Aber sie konnte nicht. Sie hatte sich von Steffen getrennt, weil sie begriffen hatte, dass sie ihn nicht wirklich liebte, und seither wartete sie darauf, dass sie sich neu verlieben würde. Aber es geschah nicht. Sie hatte damals sogar darüber nachgedacht, auf Alex' Annäherungen einzugehen, aber irgendetwas hatte sie zurückgehalten, und dann hatte sie Alex' dunkle Stunden miterlebt, zuerst die Geschichte mit Andrea, und später jenen anderen Vorfall. Seitdem war jeglicher Gedanke an sie und Alex als Paar undenkbar geworden. Die bloße Erinnerung daran, wie ihm das Fleisch aus dem Gesicht gelaufen war – ihr schauderte. Dabei hatte sie sich vorher schon nicht dazu durchringen können, mit ihm etwas anzufangen. Und er war nicht der einzige. Seit sie sich von Steffen getrennt hatte, hatte es kein Mann mehr geschafft, sie zu beeindrucken. Einige hatten es schon bei ihr versucht, sie sah ja schließlich gut aus, aber sie hatte bei keinem von ihnen das Gefühl gehabt, dass es richtig wäre, mit ihm etwas anzufangen. Zwei mal hatte sie tatsächlich nachgegeben, aber schon am nächsten Tag war ihr bewusst gewesen, dass das nicht das war, was sie wirklich wollte und sie war auf Abstand gegangen. Das Paar stieg aus, und ihre Gedanken kehrten zurück in das Hier und Jetzt. Viel dachte sie sowieso nicht darüber nach. Wenn überhaupt, dann gelegentlich in den einsamen Stunden nachts vor dem Einschlafen. Was konnte an der Quelle nur geschehen sein? Während die S-Bahn langsam auf ihre Station zuvor tastete sie mit ihren übernatürlichen Sinnen hinaus. Sie konnte die Quelle von hier aus bereits schwach spüren. Aber irgend etwas stimmte nicht. Die Aura unberührter Ruhe, die normalerweise von der Quelle ausging war gestört. Es schien ihr, als habe irgendetwas das Gleichgewicht gestört, als kämpfe die Quelle gegen eine unsichtbare Bedrohung an. Besorgt stieg sie aus, rannte so schnell sie konnte in die Hagengasse. Schwer schnaufend kam sie in der alten Fabrikhalle an. Das vage Gefühl war mittlerweile konkreter geworden, sie konnte deutlich die Verunreinigung spüren, die vom Teich in der Mitte ausging. Dann sah sie Eva und Alex. Alex sah übel aus. Sein Körper hatte jegliche Konsistenz verloren, war kaum mehr als menschliche Hülle zu erkennen. Gefasst berichtete Eva ihr, was geschehen war. Gemeinsam brachten sie Alex in sein Zimmer, und mehr aus Gewohnheit als weil es wirklich nötig gewesen wäre beruhigte sie Eva. Sie fragte sich kurz, ob Alex ihr bereits erzählt hatte, was mit seinem Körper los war, aber das ging sie eigentlich nichts an. Sie hatte nun zudem Wichtigeres, auf das sie sich konzentrieren musste. Sie begab sich zurück an die Quelle und lies sich direkt neben dem Teich nieder. Mit einem dürren Ast zeichnete sie einen Kreis um sich selbst herum in die Erde, um den Übergang zu erleichtern, ehe sie zu meditieren begann. *** Blinzelnd öffnete Bea ihre Augen. Der Anblick lies sie bis in die Knochen erschaudern. Hier auf der anderen Seite der Realität hatte sie die Quelle bisher immer als Ort überirdischer Ruhe und Schönheit erlebt. Davon schien nichts mehr übrig zu sein. Ein eisiger Wind fuhr über vertrocknete, verkohlte Erde, zwischen dürren, ausgetrockneten Sträuchern hindurch, und zog an den kahlen Ästen, die leblos von den Bäumen hingen. So viel Schaden, angerichtet in so kurzer Zeit. Der Dämon hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. Zorn stieg in ihr auf, aber die Sorge um die Quelle war größer. Ihr ganzen Können aufbietend nahm sie die Aura des sie umgebenden Raumes in sich auf. Und da, ganz deutlich, im Zentrum der Quelle, des Teiches spürte sie neue Kraft, die aus den Urgründen der Magie in diesen Ort sprudelte, ihn erneuerte. Die Schäden, die das Unwesen angerichtet hatte würden heilen. Darin war sie sich sicher. Sie beschloss, ihren Teil beizutragen, um die Quelle wieder in den Garten Eden zurückzuverwandeln, als den sie sie kannte, sobald sie zurück war. Jetzt ging die Jagd auf den Dämonen vor. Mit Hilfe der Formel der Canis Ignem rief sie ein Rudel Feuerwölfe, vier riesige Wolfsrüden mit schwarzem Fell und glitzernden Zähnen und Krallen, aus deren Augen und Rachen Flammen züngelten. Einen Moment lang schienen sie sich gegen sie auflehnen zu wollen, doch dann beugten sie sich ihrem mächtigen Geist. Sich unterwürfig zu Boden drückend harrten sie ihrer Befehle. "Findet den Dämon, der diesen Ort entweiht hat!", befahl sie ihnen mit eiserner Stimme. Ihren Befehl mit einem durch Mark und Bein gehenden, urzeitlichen Heulen beantwortend liefen sie los. Sie liefen um die Quelle herum, begannen zu schnüffeln, zu wittern, und dann legte einer von ihnen den Kopf in den Nacken, stieß ein erneutes Geheul aus und stürmte los. Er stürmte los, lief von der Quelle weg, zwischen zwei Bäumen hindurch – und verschwand einfach. Das Selbe geschah mit den anderen Dreien, als sie ihm folgten. Bea wusste zunächst nicht, was sie davon halten sollte. Sie näherte sich der Stelle an der die Wölfe verschwunden waren, konzentrierte alle ihre übernatürlichen Sinne darauf und – tatsächlich, da war etwas: Sie versuchte es genauer zu ergründen, aber sie hatte so etwas vorher noch nie gesehen. Sie musste einen Moment an Alex denken. Er wüsste bestimmt schon, was das war. Er war bei so etwas einfach cleverer als sie, so wenig sie es sich eingestehen wollte. Aber er ist nicht hier! Er liegt in seinem Zimmer und wird wahrscheinlich die nächsten Tage nicht in der Lage sein, irgendwas zu machen. Ich schaff das auch alleine! Sie versuchte erneut, die magischen Auren des unbekannten Phänomens zu lesen, aber sie verstand sie nicht. Schließlich beschwor sie die stärksten Schutzzauber die sie kannte und trat zwischen den beiden Bäumen hindurch. Nichts geschah. Die Wölfe sind hier verschwunden. Wie? Sie überlegte. Sie hatte irgendetwas gespürt, als sie verschwunden waren, da war sie sich sicher. Was war das gewesen? Sie war sich nicht mehr sicher. Aber vielleicht konnte sie es herausfinden. Sie untersuchte die Aura des Ortes an dem sie stand erneut, und ganz schwach konnte sie die Rest-Auren der Wölfe ausmachen. Sie hatten sich verändert, kurz bevor sie verschwunden waren. Alle vier, auf die gleiche Art und Weise. Bea wünschte sich erneut, Alex wäre jetzt hier. Er war viel besser als sie darin zu improvisieren. Schließlich gelang es ihr, eine halbwegs genaue Kopie der Wolfs-Auren um sich herum zu erzeugen. Sie veränderte sie so, wie sie es bei den Wölfen gespürt hatte – und spürte plötzlich wie sie in eine andere Ebene gezogen wurde. Der Übergang dauerte nur einen Moment, aber sie spürte, wie ihr übel wurde. Das hätte normal nicht geschehen dürfen. Es sei denn – ich habe die Realität ganz verlassen. Vielleicht wurde mein Körper mit in diese Welt gezogen. Während ihre Augen ziellos umherwanderten versuchte sie ihren Körper bewusst zu spüren, und tatsächlich – sie konnte spüren, wie ihre Brust sich beim Atmen hob und senkte. Sie konnte ihre Muskeln fühlen, wenn sie sie anspannte, ihre Augen waren da, zu trocken wie immer. Was immer gerade geschehen war, das war nicht ihr Astralkörper, das war ihr echter Körper. Ein merkwürdiges Gefühl der Beklemmung nahm von ihr Besitz, während sie sich erstmals bewusst umsah. Das erste das ihr auffiel war die Sonne. Eine gleißende, weiße Scheibe, die den ganzen Himmel golden zu färben schien. Am Horizont waren einige schwarze Wolken zu sehen, kaum heller als die schwarzen Felsennadeln, die überall aus dem Boden ragten. Als Beas Blick langsam tiefer glitt sah sie die Wälder. Bäume erstreckten sich bis an den Horizont. Zunächst dachte sie, hier sei vielleicht Herbst, angesichts des ganzen roten Laubes, aber dann wurde ihr bewusst, dass hier alle Pflanzen rot waren. Die Blätter an den Bäumen, die beinahe wie Kiefern aussahen, das Gras unter ihren Füssen, sogar das Moos, das an den rötlich-braunen Stämmen der Bäume wuchs. Und zwischen dem roten Grass und den karmesinfarbenen Farn, der überall zu wuchern schien waren einzelne Steine auszumachen, schwarz wie die Felsen, die immer wieder aus den roten Baumkronen hervorstachen. Bea ignorierte ihre Unbehaglichkeit. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Sie sah sich um, konnte aber keine Spur von den Feuerwölfen entdecken. Sie waren hier aber vorbei gekommen, sie konnte ihre Auren noch deutlich spüren. Sie hätte sie zurückrufen können, aber das hätte wenig Sinn gemacht, denn schließlich galt es ja den Dämonen einzuholen. Er hatte bereits genug Vorsprung, Eile war geboten. Es gab noch eine zweite Formel, die sie zusammen mit der Canis Ignem gelernt hatte, die Equus Ignem. Sie war schwieriger, und hier konnte sie auch nicht auf die Kraft der Quelle zurückgreifen, aber es gelang ihr trotzdem sie korrekt auszuführen. Aus dem Nichts erschien ein Nachtmaar, ein schwarzer Hengst mit glitzernden Hufen und Zähnen, aus dessen Maul und Augen ebenfalls Flammen schlugen. Bea hatte diese Formel noch nie zuvor angewandt, und die Gestalt des Geisterrosses war wahrhaft ehrfurchtgebietend. "Ich habe dich gerufen. Du musst mir gehorchen!", befahl sie ihm. Als Reaktion darauf senkte der Nachtmaar mit einem lauten Wiehern das Haupt, einem Wiehern, das mindestens ebenso sehr durch Mark und Bein ging wie das Heulen der Feuerwölfe – das Heulen der Feuerwölfe, das wie als Antwort auf das Wiehern des Hengstes in der Entfernung einsetzte. "Ich brauche deine Dienste. Du musst mich tragen. Ich bin auf der Jagd, und meine Beute darf nicht entkommen. Verstehst du mich?" Der Hengst antwortete mit einem erneuten Wiehern, und wieder erklang das Heulen der Wölfe als Antwort darauf. Bea war früher gelegentlich geritten, und sie konnte nur hoffen, dass sie sich auf dem Nachtmaar würde halten können. Zunächst benötigte sie einen Sattel. Sie formte einen prächtigen Sattel aus dunkelrotem und schwarzen Leder in ihrem Geist, lies ihn dann erscheinen. Sie hatte sich schon öfter mit Alex über die Anderswelt unterhalten. Er war der Meinung, dass es sich dabei um einen Ideenraum handle, der vollständig aus Vorstellungen und Ideen bestand, in dem Gedanken also feste Form annehmen konnten. Sie hatte sich nie von dieser Vorstellung überzeugen lassen, wusste selbst aber auch nicht, warum sie hier Dinge aus dem Nichts beschwören konnte. In der realen Welt konnte sie das nämlich nicht, konnte es keiner von ihnen. Dort waren sie auf subtilere Magie angewiesen. Der Sattel, den sie sich in Gedanken ausgemalt hatte erschien, und sie schnallte ihn auf den Rücken des Nachtmaars. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube schwang sie sich auf den Rücken des Hengstes, der größer war als jedes reale Pferd auf Erden. Den Sattelknauf festhaltend rief sie ihm zu: "Folge den Wölfen! Sie bringen uns zu unserer Beute!" Das Geisterpferd richtete sich auf, stieß einen wahrhaftigen Kriegsschrei aus und gallopierte los. Bea gelang es mit Mühe sich festzuhalten. Immer wieder schlugen ihr rote Äste ins Gesicht, und einmal bemerkte sie, wie ihr Reittier in einem weiten Satz über einen kristallklaren Bach setzte. Als sie langsam anfing sich sicher zu fühlen sah sie die Wölfe, die teils vor ihnen, teil neben ihnen liefen, zielgerichtet ihrer Beute entgegen. *** Plötzlich wurde der Hengst langsamer. Bea verstand zunächst nicht, warum. Die Wölfe hielten ihr Tempo bei, der Abstand vergrößerte sich schnell. Dann sah sie das tote Pferd. Es war ein schlankes, geradezu filigranes Tier, mit strahlend weißem Fell und langer, geflochtener Mähne. Riesige Wunden waren in seine Seite gerissen worden, das Blut lief in Strömen davon. Nicht weit von dem toten Tier lag eine Frau. Irgendwie waren Beas Sinne in dieser Welt besonders sensibilisiert, denn sie konnte spüren, dass die Frau noch lebte. Sie sprang vom Rücken des Nachtmaars herab und eilte zu ihr hin. Als sie sich über sie beugte hatte sie Zeit, sie genauer anzusehen. Die Frau war jung, höchstens so alt wie Bea selbst, nur wenig größer als sie und noch mal um einiges schlanker. Bea hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Mensch so schlank sein konnte, aber die Frau schien überhaupt kein Mensch zu sein. Ihr Gesicht wirkte zu schlank und spitz, und ihre langen weißblonden Haare waren feiner als Bea es je bei einem Menschen gesehen hatte. Das fremdartigste an der unbekannten Frau waren aber ihre Augen. Als Bea sich über sie beugte öffneten sie sich, und sie waren groß, größer als Menschenaugen, mandelförmig, leicht schräg gestellt, und anstelle einer Pupille gab es nur eine funkelnde, von innen heraus leuchtende, ozeanblaue Iris. "Lis'tai du lifail tan tiel?", fragte die Unbekannte. Bea wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie kannte die Sprache nicht. In der Hoffnung, die Andere würde sie vielleicht verstehen sagte sie schließlich: "Ich verstehe dich nicht. Verstehst du mich?" Die Fremde verstand sie jedoch nicht, und so blickten sie einander zunächst schweigend an. Bea nutzte die Gelegenheit, sich die Kleidung der unbekannten Frau genauer anzusehen. Sie trug einen vielfach verzierten Panzer aus einem schwarzen Metall, darunter ein weitärmliges blauweiß gemustertes Seidenhemd. Unten herum trug sie weite Beinkleider aus leichter schwarzer Seide, die über den zierlichen Lederschuhen mit Bändern zugebunden waren. Das ganze erinnerte sie stark an traditionelle chinesische Kleidungsstücke. Der Brustpanzer passte aber nicht so recht dazu, genauso wenig wie die beiden geschwungenen Samuraischwerter, die an ihrer Seite hingen. Die Frau war offenbar nicht schwer verletzt, denn sie erhob sich grazil, mit schnellen aber koordinierten Bewegungen. Alles an ihr erinnerte an eine Kriegerin, nicht besonders kräftig, aber schnell und tödlich. "Ich komme in Frieden", versuchte Bea es schließlich in gebrochenem Latein. Das schien zu funktionieren. "Was willst du dann hier?", antwortete die Unbekannte, ebenfalls in gebrochenem Latein. "Ich jage einen Dämon. Hast du ihn gesehen?", fuhr Bea fort. "In der Tat. Ich begegnete ihm. Er überraschte mich. Er griff mich an, verwundete mein Pferd. An mehr kann ich mich nicht erinnern." "Dein Pferd ist tot. Es liegt dort drüben." Die fremde Frau folgte Beas Blick, dann sah sie das tote Pferd. Das Leuchten ihrer Augen schien plötzlich schwächer zu werden, als sie langsam zu ihm hinüber hing, ohne dabei Bea jedoch ganz aus den Augen zu lassen. Sie beugte sich über es, strich ihm einmal sanft über die Stirn, und schloss dann seine Augen. "Ji'etail tu numiniel sin durail, ki tail'que coer nur tail", sprach sie in feierlicher Stimme. "Was hast du mit dem Dämon zu schaffen?", wollte sie dann von Bea wissen. "Ich jage ihn. Er hat meinen Freund angegriffen und verletzt. Er hat Schaden angerichtet. Ich will ihn finden und vernichten", antwortete Bea darauf. "Das kann ich verstehen. Doch, wer bist du, woher kommst du?" "Mein Name ist Beatrice und ich komme aus einer anderen Welt." Die Fremde sah sie mit großen Augen an, akzeptierte diese Aussage aber scheinbar. "Ich bin Cey'Lan, aus der Kaste der Krieger, vom Hofe Dir'Lathwain. Ich heiße dich willkommen in unserer Welt. Wir haben ein gemeinsames Ziel. Wollen wir den Dämon gemeinsam jagen, Beatrice aus der Anderswelt?" "Ich nehme dein Angebot an, Cey'Lan." Bea führte ihre neue Gefährtin daraufhin zu ihrem Nachtmaar. Cey'Lan schien sichtlich beeindruckt zu sein, als sie das Tier sah. "Ein Feuerpferd!", rief sie beeindruckt. "Ich habe bisher noch nie gehört, dass eines geritten würde!" Beinahe ehrfürchtig setzte Cey'Lan sich hinter Bea, ehe sie losritten, erneut den Wölfen hinterher. Der Nachtmaar richtete sich erneut auf ehe er los gallopierte, stieß erneut sein furchtbares Wiehern aus, und wieder antworteten die Wölfe. Dann ging es weiter, mit hohem Tempo quer durch den herbstfarbenen Wald. Endlich holten sie die Wölfe ein. Doch nicht nur die Wölfe, auch den Dämonen. Auf einer Lichtung hatten sie ihn eingeholt und zum Kampf gestellt. Er war jedoch ungleich mächtiger als sie. Zwei von ihnen lagen bereits verwundet am Boden, brennendes Blut strömte aus ihren Wunden wie glühende Lava. Die anderen beiden umkreisten ihn noch immer, auf der Suche nach einer Lücke in seiner Verteidigung. Aber sie suchten vergebens. Seine vier in Krallen endenden Beine waren schnell und beweglich, und sein Panzer stark. Es war ein beeindruckendes Bild, dass sich Bea darbot. Die gotisch anmutende Gestalt des Dämons, in blau und violett gesprenkeltes Chitin gehüllt, ohne erkennbare Sinnesorgane, nur aus einem verknöcherten Rumpf und vier feingliedrigen, mit unzähligen Spitzen besetzten Beinen bestehend stand inmitten roten Laubes. Um das fremdartige Wesen herum lagen die schwarzen Leichen der beiden toten Feuerwölfe, aus deren Wunden brennendes Blut strömte. Die anderen beiden Feuerwölfe, ebenfalls in Schwarz und mit flammenden Augen, umkreisten das fremdartige Wesen, immer wieder, bis der erste zustieß. Der zweite folgte augenblicklich, und von zwei Seiten fielen sie das Wesen an. Sie hatten jedoch keine Chance, messerscharfe Klauen erfassten sie beide, schleuderten sie durch die Luft und rissen dabei tiefe Wunden. Blitzartig ihre Schwerter ziehend sprang Cey'Lan vom Rücken des Nachtmaars und wollte sich auf den Dämonen stürzen, aber Bea rief sie zurück: "Warte. Lass mich das machen!" Dann öffnete sie ein Tor in Findracors Sphäre und rief die Kraft des elementaren Feuers daraus hervor. Das Unwesen schien zunächst widerstehen zu können, aber nicht lange. Bea schleuderte ihm noch mehr Flammen entgegen, und schließlich brach es zusammen. Mit einem furchtbaren Schrei, der klang als würden Hunderte von Neugeborenen zu Tode gequält schmolz es dahin, begann zu brennen, und schließlich blieb nur Asche zurück. Das war Bea aber immer noch zu viel. Sie rief pure Magie aus ihrem Innersten hervor. Wie gleißendes Licht brach es aus ihren Händen hervor und tilgte noch den kleinsten Ascherest, der von dem Wesen übrig war. Dann erst war Bea zufrieden. "Das hätten wir erledigt", verkündigte sie Cey'Lan in ihrem brüchigen Latein. "Du bist wahrhaft eine mächtige Magierin, Beatrice aus der Anderswelt. Es wäre mir eine Ehre, dich nach Dir'Lathwain einladen zu dürfen." Beas Neugier war geweckt. Sie hatte große Lust, das Angebot anzunehmen. Als sie erfuhr, dass sie dazu eine Woche lang reiten müssten lehnte sie jedoch ab. Sie wurde in ihrer eigenen Welt gebraucht, und sie wusste noch überhaupt nicht, wie sie überhaupt dorthin zurückkehren sollte. Sie brachte Cey'Lan noch zurück zu der Stelle, an der der Leichnam ihres Pferdes lag, dann rief sie ihrem Nachtmaar zu: "Bring mich zurück, zurück in meine Welt!" Das Geisterpferd richtete sich erneut auf, ein weithin hörbares Wiehern erklang, und dann stürmten sie davon durch das rote Unterholz. ___________________________ Gespannt wies weitergeht? Dann nichts wie ENS an den Autor, dann gibts die ganze Geschichte in einer Datei zum bequemen ausdrucken oder offline am PC lesen! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)