Broken Life - gebrochenes Dasein von Kizu8 (Wieviel Schmerz erträgt eine Seele..?) ================================================================================ Kapitel 20: Raureif in meinem Leben .. -------------------------------------- Die Bäume glänzten im weißen Raureif, welcher sich wie Puderzucker um sie gelegt hatte. Dieses wunderschöne Funkeln der Eiskristalle. Es war einfach fantastisch. Märchenhaft. Aber andererseits war es grauenvoll zu sehen, wie die letzten Herbstblumen grausam erfroren und zu Eis erstarrt waren. Wie sie mitten im Leben plötzlich aus dem Wachstum gerissen wurden. Wie alles zum Stillstand kam. Die Kälte ihnen den Atem auspresste. Sie liebte dieses Wetter so. Aber nur noch ein mattes Lächeln konnte sie auf ihre Lippen zaubern. Zu mehr war sie nicht im Stande. Es erinnerte sie zu viel. ~ .. wenn man einfach so im Leben unterbrochen wird .. ~ Ja. Nun war auch in ihr Leben Raureif eingetreten. Das kalte Wetter war für diese Zeit relativ früh gekommen, irgendwie war sie froh darüber. Auch wenn es ihr auf beängstigende Weise immer wieder diese Sache vor Augen führte, beruhigte sie die Stille. Eine Ruhe, die nur der Winter bringen konnte. Sie war einfach endgültig. Sie war wissend. Er hätte es bestimmt auch gern gehabt. Diese Stille. Sie wusste das. Er hatte diesen Fakt an Russland schon immer betont. Was gäbe sie nur drum zu sehen, wie er im Schnee stehen und genüsslich die Augen schließen würde. Auf seine ganz eigene Weise einatmen, den Sauerstoff durch seinen Körper fließen lassen und ich dann sanft durch die Nase ausatmen würde. Kleine Wölken würden aufsteigen. Er sah so geheimnisvoll aus. Dies konnte nur er. Jedes Mal lief ihr ein Schauer dabei über den Rücken. Sie sah das Bild vor sich, wie die Schneeflocken in der Luft tanzten und an seiner Wange herabglitten. Einige Kristalle würden sich in seinen silbrigen Haaren verfangen, vielleicht sogar die Wimpern etwas schmücken. Es könnte süß aussehen, wenn eine auf seiner Nasenspitze landen würde. ~ .. träume für mich, mein Engel .. ich habe dieses Privileg verloren .. ~ Grausam. Der Gedanke war grausam. Es tat unendlich weh zu wissen, dass diese Bilder möglicherweise .. möglicherweise nur ein ewiger Traum sein würden. Vielleicht würde sie so was nie wieder sehen.. . Nun war es anderthalb Monate her. Jane lebte seit anderthalb Monaten ein anderes Leben. Wenige Sekunden hatten alles umgeworfen, ja ihr ganzes Dasein abrupt verändert. Dabei war es doch nichts ungewöhnliches. Im Grunde wusste jeder Mensch, dass nichts auf der Welt selbstverständlich war. Nichts. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir laufen, uns unterhalten, schreiben oder lesen können, oder einfach frei sind. Das ist alles ein Geschenk. Wenn nicht sogar Zufall. Aber Menschen vergaßen das zu oft. Sie schlossen zum wiederholten Mal die Augen davor. Das ihr Leben nur eine Fügung sein konnte, ein kleines Versehen. Nun wusste Jane ganz genau, was Leben wirklich war. Ein Lächeln war ihr innigster Wunsch. Ein Lächeln von ihm. Nur von ihm. Diese einfach Geste. ~ .. doch ich vergaß, was das Wahre ist, selbst ich war blind .. ~ Leises Klopfen an der Tür lies Jane aufschauen. Sie drehte sich vom Fenster weg, als ein Jugendlicher eintrat. Er lächelte, wie immer. Sie musste gestehen, dass sie das brauchte. Dieses warmherzige Lächeln. Er war einer der einzigen, die ihr wirklich beistanden und sie wahrhaft verstanden. Seine bernsteinfarbenen Augen glänzten wie Opale, aber man sah, dass eine gewisse Müdigkeit mitschwang. Die pechschwarzen Haare umrahmten das Gesicht perfekt. Ein goldener Schnitt wie er im Buche stand. " Hi Ray" sagte Jane sanft. Ihre Stimme war in der letzten Zeit weich geworden. Die innere Verbitterung lies sie dünn erscheinen, es war nur ein Hauch. Es konnte aber auch den Beruhigungsmitteln liegen, dass ihre Stimme wohl bald zu verstummen schien. "Wie gehst?" fragte er und sah sie an. " Ich glaube meine Antwort ist auch immer die gleiche, oder?" erwiderte sie und lächelte gequält. Der Chinese verstand; er nickte. Er zog seine Jacke aus und hängt sie über einen Stuhl. Einen Moment blieb er im Raum stehen, sah zu Kai, dann auf Jane, welche sich wieder zum Fenster umgedreht hatte. Mit gemächlichen Schritten lief er durch den Raum und gesellte sich zu ihr. Seine Augen verfolgten die kleinen Schneeflocken, welche langsam in einer beneidenswerten Leichtigkeit zu Boden fielen. "Scheiß kalt, draußen. Ich hasse den Winter" , sagte er monoton. Jane betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. "Die Meinung kann ich nicht teilen.." sie zögerte. " Ich glaube .. Russen lieben den Winter im allgemeinen. Kai besonders." Die 17-jährige verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an den Fensterrahmen, indem der Kopf das kalte Glas berühre. Es machte ihr nichts aus. Ihr Blick war nach draußen gerichtet, doch ihr Kopf spann seinen eigenen Film. "Weißt du, die Winter in Russland sind was ganz besonderes. Sie sind anders als hier. Knackig kalt, bis Minus 30 Grad oder noch mehr. Der Schnee ist so hoch, dass man in Gefahr läuft, darin unter Umständen zu versinken. Auf den zugefrorenen Seen tummeln sich die Menschen und fahren Schlittschuh. Sie drehen Peiruheteen, oder machen waghalsige Sprünge." Ein kurzes Lächeln flog über ihr Gesicht. "Und die Wälder sind traumhaft weiß. Die Luft - so klar und frisch, dass sie in den Lungen brennt." Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht, da sie in den Kopf etwas schief legte. Sie betonten nur noch mehr Janes Attraktivität. Ihr Augen glänzten in voller Nostalgie. "Russlands Winter sind einzigartig. Nirgendwo sonst spürt man mehr, wer man eigentlich ist. Diese Wälder lassen einen .. sich selbst finden." Ray hörte ihr zu, verfolgte aber eigentlich nur ihre Lippenbewegungen. Sie gefiel ihm, dass wusste er schon, seit er sie das erste mal sah. Diese weiße Haut, die schwarzen Haaren, mit dem grünen Glanz, die dunklen Augen, welche bestimmt so manches Geheimnis für sich behielten. Aber vielleicht war es auch ihre Art. Er bewunderte sie, wie sie hier jeden Tag vor dem Bett saß, stundenlang, und anscheinend nur bei seinem Teamleader sein wollte. Er wusste, wie schwer es ihr fiel. Und schon wieder drängte sich ihm eine Frage auf. Konnte er es riskieren. War es erlaubt, zu so einer Zeit? " Wart ihr .. eigentlich zusammen?" quoll es einfach so aus ihm raus. Völlig überrascht sah ihn Jane an, blickte in diese gelben Augen. Sie wirkten völlig ruhig. Irgendwie spürte die Jugendliche deutlich, dass ihr Gesicht heiß wurde. " .." sie zögerte sichtlich. Versuchte ihre Gedanken zu sortieren. " .. Nein. ... Im Grunde weiß ich nicht mal, .. ob wir Freunde waren.." erwiderte sie traurig und senkte die Stimme. Das Mädchen drehte sich um und richtete ihren Blick auf Kai, der in dem Krankenhausbett lag und an sämtlichen Gerätschaften angeschlossen war. Das monotone Piepen des Beatmungsgerätes war für sie nicht mehr hörbar. Sie hatte sich schon so stark daran gewöhnt. Kais Gesicht war fahl wie ein Blatt Papier. Seine Haare hatten den sonst so schönen silbrigen Glanz verloren und waren ergraut. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. In den ersten Tagen hatte sie nur vor dem Bett gesessen und geheult. Aber bald konnte sie einfach nicht mehr. Jeden Tag kam sie ihn besuchen. Jeden. Ohne Ausnahme. Sie wollte da sein, einfach nur bei ihm. "Aber du wärst gern mit ihm zusammen, oder?" Rays Blick legte sich sanft auf sie. Jane sagte nichts. Sie wurde nicht rot, fing nicht an herumzustottern. Sie sah nur Kai an. Es erfüllte sie mit Wehmut diese Frage zu hören und ihn zu sehen. Auf einmal kam es ihr vor, als würde nicht sie, sondern etwas tief in ihr antworten. " Was wir wollen, oder was wir uns wünschen .. ist manchmal nicht erreichbar. Es sind Träume. Man kann für sie kämpfen, aber man sollte sich auch fragen, welchen Preis man bezahlen müsste, wenn der Traum zerplatzt... ." ~ .. ich fürchte mich davor, zu hoch zu fliegen .. ich könnte zu tief fallen .. ~ Jane musste sich selbst eingestehen, dass sie sich diese Frage auch immer stellte. Sie wusste nicht, wo sie stand. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie fühlte, was sie fühlen durfte und was nicht. Ob es Grenzen gab und wo sie lagen. Eine Beziehung besteht immer aus zwei Leuten. Also konnte man hier nicht ansatzweise von einer Bindung sprechen. Sie kam sich verloren vor, wie ein Lamm, welches nicht wusste, wo seine Mutter war. Doch nur eines wusste sie. Nur eines, was an ihr nagte. Die ganze Zeit. Es zermürbte sie, brachte sie um fast jede Nacht. Die Schuldgefühle - er hatte sich nachdem er bei ihr war umbringen wollen. Sie war der Auslöser gewesen. Sie. Diese Feststellung lastete auf ihr, wie ein Stein. Es drückte sie nieder, oftmals hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Nachts lag sie einfach wach und versuchte verzweifelt nicht wieder loszuschluchzen. Oder sich womöglich etwas an zu tun. Die Jugendliche verfiel geradezu in eine Art Hysterie. Sie hätten sich niemals treffen sollen. Sie hätte ihn damals in Russland nie ansprechen sollen. Wär sie doch nur nicht im Tokiopark gewesen. Wär doch alles nur anders gekommen. Vielleicht hätte er besser leben können. Er hätte sich bestimmt nicht umbringen wollen .. .. wirklich ? .. Sie zweifelte. Es zeriss sie .. Die Bilder kamen wieder, als der Arzt vor anderthalb Monaten fort fuhr und einige Umstände näher erklärte. Als er ihnen, Ray und ihr, etwas zeigte, was sie so geschockt hatte, dass sie eine Beruhigungstablette nehmen musste. Diesen Anblick würde sie nie vergessen können. Es war mit das grausamste was sie je gesehen hatte. **** Flashback **** Es waren wohl mindestens 10 Minuten vergangen, in denen beide Jugendliche damit kämpfen mussten, diesen kurzen Satz zu verstehen. Ray hatte den Arzt nur unverständlich angeschaut. Seine sonst so standhafte Ruhe hatte sich für immer verabschiedet. Seine Hoffnungen, Erfahrungen - weg. Manchmal begann man erst sehr spät zu verstehen, was Leben hieß. Dagegen saß Jane einfach nur betäubt in ihrem Stuhl und starrte auf den grauen Fußboden. Sie war innerlich verloren. Der Doktor hatte seine Brille weggelegt, sich kurz die Augen gerieben und mit sanfter Stimme versucht beide zu beruhigen. Er hatte ihnen erklärt, um welche Komaart es sich handle und ihnen mitgeteilt, dass Medizinern förmlich die Hände gebunden waren. Sie konnten das Koma in Dauer und Tiefe nicht beeinflussen Das traumatische Koma, in welchem Kai lag, war noch nicht hinreichend untersucht. Ein Sachverhalt, der an viele Stellen Fragen offen lies. Das einzige was bekannt war, dass es vom Patienten abhing, wann und ob er überhaupt aufwachen würde. Hier war wohl das Wort - wollte - treffender. Traumatische Komapatienten fallen in eine Art Koma, in der sich der Geist vollkommen abschließt. Doch im Unterbewusstsein läuft alles seinen gewohnten Gang. Somit ist das ganze Denken nur dort verankert. Im Grunde könnte man es als Traum bezeichnen. Der Haken war, dass dieser Traum nie endete. Außerdem wurde bei Test entdeckt ,dass der Körper ungewöhnlich viele Stresshormone ausschüttete. Dies hieß, dass der Patient in diesen Träumen, wohl das schlimmste durchmachen musste. Dieses Koma war ein Albtraum ohne Aufwachen. Es war die Hölle. Schon diese Einsicht war schrecklich. Nur das trieb Jane schon in den Wahnsinn. Neben ihr lag Kai und durchlebte die Hölle, ohne das sie ihm helfen konnte. Er durchlitt Qualen und sie stand nur daneben. .. das war psychisch kaum aus zu halten. Doch eines war grausamer. Der Arzt hatte ihnen etwas gezeigt, als sie sich wieder gefangen hatten. Er war zu Kais Bett gegangen, hatte die Decke zurückgeschlagen und ihnen die Arme des Russen gezeigt. Mit größter Mühe musste sie ihren Schrei damals dämpfen. Kai hatte sich geritzt. Aber das schlimmste war, dass es nicht nur ein paar Narben waren. Es glich einem Netz. Die Narben lagen so nah beieinander, kreuzten sich in jedem Winkel .. Es war kein Fetzen normaler Haut mehr zu erkennen .. Ein Gitter aus Linien spannte sich um jeden Unterarm. Vom Handgelenk bis zur Armbeuge war die Haut vollkommen zerstört. Man konnte sich kaum vorstellen, unter welchen Umständen er sich zu solchen Taten getrieben hatte. Diese eine Frage konnte der Arzt kaum stellen. Sie war zu grauenvoll. Selbst ihm standen die Haare zu Berge .. Wie stark muss ein Mensch leiden, wie schrecklich müssen seine inneren Leiden sein, um sich so brutal selbst zu verstümmeln. Wie groß mussten die Qualen des Jugendlichen sein, wenn er sie in diesem Maße körperlich ausglich. Ausgleichen musste, um es ertragen zu können. Was machte dieser 17-jährige durch, was hatte er erlebt, dass ihn so in die Enge trieb. Wie groß mussten die seelischen Brüche sein, um sich das anzutun und auf eine so schmerzhafte Art umbringen zu wollen. ( *** Flashback-ende *** ) Sie konnte sich dieses Bild immer noch vor Augen führen. Die Ärzte hatten die Unterarme daraufhin mit Bandagen verhüllt, damit man es nicht sah. Die Wunden sollten besser heilen. Eine Sache gab Jane besonders zu denken. Die Narben waren etwas älter. Das hieß, dass er sie sich vor dem Besuch bei ihr geritzt hatte. Die ganze Zeit. Die ganzen Jahre hatte er sich mit seinen Problemen allein rumgeschlagen, sie in sich reingefressen, bis er es bald nicht mehr aushalten konnte. Der Schmerz in ihrem Herzen wurde von Tag zu Tag stärker, je mehr sie hinter seine Fassade blickte, desto mehr war sie schockiert. Wie hatte er das alles nur aushalten können. All die Jahre. Wie konnte er nur schweigen. Wie konnten die anderen nicht merken, dass er zu Grunde ging. Das er langsam dahin starb. In seinem kleinen Zimmer. Über die Jahre. In dieser kalten Dunkelheit. ".. Warum .. hat er nur nicht mir uns geredet. Warum hat er sich uns nicht anvertraut. Ich versteh es nicht .. " unterbrach Ray die Stille, welche schon seit einiger Zeit im Raum gelegen hatte. Damit riss er Jane aus ihren Erinnerungen, sie sah ihn an. Es machte ihn genauso fertig, wie sie. Das spürte die Russin. Für einen Moment schwieg die Jugendliche noch. Sie versuchte ihre Worte vage zu benutzen und bis sie zu erzählen begann. " Kai hatte einen Grund, euch nichts zu sagen." Sofort blickte Ray sie an, überrascht starrten die Katzenaugen in ihre. ".. hat er etwas über uns gesagt?" Irgendwie gefiel ihr nicht unbedingt seine Wortwahl. Es klang, als hätte Kai gelästert. Ein kleiner Funken Wut regte sich in ihr. " Er hat mir erzählt, dass ihr ihn nur ausgenutzt und praktisch nicht beachtet habt. Ich denke das ist der Grund, warum er sich euch nicht anvertraut hat. In seinen Augen hätte es bestimmt keinen Sinn ergeben. Ihr hättet ihn so wieso nicht zugehört. Er kam mir sehr verloren vor, als er das gesagt hat." Sie atmete aus, leckte sich kurz die Lippen. " Es schien mir so, als hätte er keine Freunde. Als würde sich niemand für ihn interessieren .." sagte sie leise. "Das ist nicht wahr," erwiderte Ray mit Nachdruck. "Ich und die anderen haben dauernd versucht, mit ihm zu reden und ihn in unsere Freizeit einzuschließen. Aber er hat immer abgelehnt. Er wollte nie etwas mit uns machen." Janes Augen schimmerten. Sie war nicht beeindruckt - in keinster Weise. "Und irgendwann habt ihr einfach aufgehört, euch um ihn zu bemühen. Irgendwann habt ihr die Geduld verloren." Der Chinese wollte widersprechen, aber irgendwie war es wahr. Es war hart formuliert, aber es war irgendwo doch nur die gottverdammte Wahrheit. Ja, sie hatten die Geduld verloren. Sie wollten sich die Laune nicht verderben lassen. Sie hatten auch ein Leben. Ray räusperte sich. " Tyson und Max haben als erste von ihm abgelassen. Die beiden hatten die Faxen dicke und wollten endlich ihr Zeug machen. Ich hab bis zuletzt versucht, Kai zu zeigen, dass einige wenige ihn nicht vergessen haben. Aber ich hatte das Gefühl, dass er einfach nichts mehr wahrnahm. Am schlimmsten war es wohl, am Tag als er sich ..." Er brach ab und ballte die Hände. Jane horchte auf. Da war es. Ihre Vermutung schien endlich Beweise zu finden. "Was .. wie meinst du das?" fragte sie. Ihre Stimme zitterte. " Ich hab ihn begrüßt als er nach Hause kam. Aber mir ist gleich aufgefallen, dass etwas anders war. Er hat nicht reagiert, als ich ihn was gefragt habe. Irgendwie sah er .. mitgenommen aus. Ich dachte erst, dass ich mich versehen hatte, aber ... seine Augen waren total gerötet. Seine ganzen Klamotten waren dreckig. Ich glaube, in diesem Moment kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass er wie verwahrlost wirkte... mir wurde plötzlich klar, dass ich überhaupt nichts von ihm wusste..." In einer ruckartigen Bewegung stieß sich Jane vom Fenster ab. Sie ging ein paar Schritte bis sie einen gewissen Abstand zwischen Ray und sich gebracht hatte. Plötzlich war es ungenehm geworden. Sie hatte das Gefühl, erdrückt zu werden. Ihre Augen huschten von einer Ecke in die andere. Sie war verwirrt, aber gleichermaßen geschockt. Kai .. Kai hatte geweint? Seine Sachen waren dreckig? Er hatte verwahrlost gewirkt? Das Bild von Russland kam ihr in den Sinn, als sie ihn am See gesehen hatte. Sie konnte sich vorstellen, wie Ray ihn gesehen hatte. Kai - vollkommen vereinsamt, wie ein Kind, welches von seinen Eltern verstoßen wurde und verzweifelt nach etwas oder jemandem suchte, wo er vielleicht hingehörte. Wie er von jedem allein gelassen wurde und doch einfach nur ein zu Hause suchte. ~ .. der einfachste Wunsch, kann der schwerste sein .. auch wenn er aus dem Herzen kommt .. ~ Sie legte beiden Hände ans Gesicht, um sich zu beruhigen. Sie musste die Nerven behalten. Sie empfand Kais Schmerzen zu stark nach. Sie übertrug seine Probleme zu sehr auf sich. Das war gefährlich - das wusste sie. Aber sie konnte es nicht verhindern. Sie konnte spüren, wie er sich gefühlt hatte, wie das alles ihn aufgefressen hatte. Es war unerträglich. "Jane, ist etwas?" fragte Ray verunsichert. Die Russin bemühte sich, dieses dumpfe Gefühl von sich abzuschütteln. Sie lies sich auf einen Stuhl neben Kais Bett nieder und starrte den Silberhaarigen an. > Dreh jetzt nicht durch. Dreh jetzt unter keinen Umständen durch. < sagte sich die Jugendliche immer wieder vor. "Wenn was ist, dann sag es.." meinte Ray ruhig aber bestimmt. Die Angesprochene spielte nervös mit ihren Händen. Was durfte sie ihm alles sagen? Aber hatte sie nicht langsam das Gefühl, dass sie ihm vertrauen konnte..? " Kai war, wie du sicher weißt, die letzten Tage bei mir gewesen." Sie räusperte sich. "Ich hab ihn im Park getroffen, als er gerade gebladet hat. Er ist kurz darauf zusammengebrochen .. es war ein Schwächeanfall. Anscheinend hatte er kaum was gegessen .. " Ray blickte sie unmissverständlich an. " Schwächeanfall? Kai hatte so was noch nie!" "Ich glaube es weniger .. oder weißt du, was er den ganzen Tag so macht?" Augenblicklich verstummte Ray. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Eindeutig. Sie führte ihm seine Fehler vor Augen. Er hatte keine Ahnung. "Er hat mehrere Tage durchgeschlafen. Das hat mir Sorgen bereitet. Er hatte auch mehrmals kleinere Anfälle als er wach war. .. Und ich hab diesen Dingen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit gegeben. Ich hätte es verhindern können. Verstehst du?" Jane drehte sich ihm um und sah ihn an. Sie wirkte bleich, verängstigt. "Ich hätte es verhindern können. Es war meine Schuld! Er hat sich umbringen wollen, nachdem er gegangen war. Ich bin daran Schuld.." Ihre Augen verschwammen langsam. "Hör auf so einen Blödsinn zu reden! Keiner ist hier Schuld und wenn dann schon nicht allein. Und vor allem nicht du! Red dir so was nicht ein!" " Ja, aber sag mir doch den Grund, warum er sich umbringen wollte, nachdem er bei mir war. Er hätte allen Grund dazu gehabt!!" sagte sie laut mit tränenerstickter Stimme. Verwirrt sah der Chinese sie an. Er stand neben dem Stuhl auf welchem Jane saß. Diese blickte traurig in seine Augen. Einige Tränen rannen die Wangen hinunter. Zunehmend wurde diese Krankenhausbesuch beunruhigender. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch schloss er ihn darauf wieder. Stattdessen kramte er in seiner Hosentasche nach etwas. Kurzerhand fischte er ein Taschentuch heraus und gab es Jane. "Wisch dir erst mal die Tränen weg. Und dann erklärst du mir bitte, was hier läuft. Denn ich hab von dem ganzen keine Ahnung." Jane versank etwas in den gelben Opalen. Es beruhigte sie etwas. Hier war jemand da. ~ .. du lässt mich wieder atmen, du bist ein Sonnenschein .. ein Ray of Light .. ~ Janes Blick hatte sich auf Kais fixiert. Seit nun mehr einer halben Ewigkeit sah sie ihn an, aber seit ein, zwei Minuten war sie doch etwas in Gedanken versunken. Hatte sie es richtig gemacht? War es in Ordnung Ray etwas zu erzählen? Geistesabwesend strich sie über das etwas knittrige Bettlaken. Sie hatte differenziert. Bevor sie zu beichten begann, hatte abgewogen, was sie sagen durfte. Manchmal war es gut einige Dinge zu überdenken, bevor man sie aussprach. Ihre Schwester hätte Kai rausgeworfen, sie hätte ihn beschimpft. Niedergemacht. Das hatte Jane Ray gesagt. Natürlich hatte er nachgefragt. Diese kargen Informationen befriedigten ihn kaum. Aber sie hatte es geschafft, elegant auszuweichen. Sie tat sich schwer. Sie konnte doch nicht einfach einem fast noch fremden Menschen ihre ganze Lebensgeschichte erzählen, und als Krönung die paar Fakten zu Kais. Sie tat es nicht, da ihr die Sache mit Kai nicht aus dem Kopf ging. Er hatte ihnen nicht vertraut. Vielleicht lag es daran. Vielleicht wollte sie ihn nicht hintergehen. Ihr Blick klärte sich. Sie nahm die Person vor sich wieder bewusst war. Das Gesicht des Russen war matt, die Wangen fahler als sonst. Die Lippen, trocken. Einige Haarsträhnen fielen ihm immer noch in die Augen. Sie wischte sie beiseite. Strich mit ihren Fingern sachte über seine Haut. Streichelte ihn, wie es ihre Mutter oft getan hatte. Es war diese wunderbare Geste, die Menschen verband. Es drückte das Verständnis aus. Sie verstand Kai zwar nicht immer, aber sie war da. " Wie denkst du, war es richtig Ray etwas zu sagen?" fragte sie ihn. " Ich bin mir so unsicher." Seufzen. Sie fuhr leicht durch seine Haare. Sie waren immer noch weich. "Eigentlich ist er kein schlechter Kerl, aber .. ich weiß nicht. Vielleicht kann ich einfach nicht mehr vertrauen .. außer dir natürlich!!" sagte sie bestimmt. Sie lächelte milde und ergriff vorsichtig seine Hand. Sie hielt die seine zwischen ihren. Auch wenn seine Hand etwas größer war, waren beide doch fein gebaut. " Für mich bist du das Wichtigste." Sie streichelte seine Hand. " Das Wichtigste auf der Welt. Und das wird sich niemals ändern." Die Russin hob seine Hand leicht und küsste sie. Einen Moment blieb sie still sitzen. Schließlich stand die Jugendliche auf, beugte sich leicht über Kai und küsste ihn auf die Stirn. "Alles Gute zum Geburtstag, Kai." ... Mit allergrößter Vorsicht schloss er die Tür. Er war darauf bedacht, nicht bemerkt zu werden. Er entfernte sich von dem Zimmer. Ein paar Gänge lies er hinter sich, bis er einfach an einem Fenster stehen blieb und einen Augenblick verweilte. Er trat an das Fensterbrett, stützte die Hände darauf und schloss die Augen. Das Ausatmen erstreckte sich über mehrer Sekunden, so erschien es ihm. Wie konnte er nur .. er hatte gelauscht. Es beunruhigte ihn. Dieser Prozess. Er begann zu leben .. ~ ... was bringst du Bewegung in mein Dasein, grausiger Raureif ... ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)