Einmal nur Prinzessin sein
Eine alte, abgegriffene Puppe mit blauen Augen und einem großen roten Mund liegt auf dem Boden. Ihr Stoffkörper sieht alt und zerschlissen aus. Ein kleiner Sonnenstrahl dringt durch das kleine Fenster auf der gegenüberliegenden Seite der Tür. Der Staub tanzt im Licht des Scheines. Die Zeit vergeht, doch das Zimmer bleibt leer. Auch als die Sonne untergeht und es langsam Nacht wird. Es ist ruhig im Zimmer. Kein Laut dringt von draußen herein. Einsam liegt die kleine Puppe noch immer am Boden, lächelt weiter unermüdlich vor sich hin, die großen blauen Augen weit aufgerissen. Das blonde Haar ungekämmt und voller Flusen, das rosa Kleidchen verschmutzt. Könnten Puppen sprechen, diese würde von einem Mädchen erzählen. Einem Mädchen, das bis vor wenigen Tagen noch hier lebte. Ein kleines Mädchen mit blondem Haar, roten Lippen und traurigen, blauen Augen. Ihr Kleidchen war zerrissen, ihre Hände waren zerkratzt. Und niemals sah die kleine Puppe das Mädchen lachen. Jeder Tag verging ohne ein einziges, winziges Lachen. Und die Puppe würde noch mehr erzählen. Sie würde die Geschichte eines Mädchens erzählen, welches ein trauriges Leben führte, bis zu dem Tag, an dem das Mädchen nicht zurück kam. Marie, so hieß die Kleine. Und sie sprach mit der kleinen Puppe, gab ihr einen Namen, spielte mit ihr. Charlotte, so nannte sie sie. Marie saß oft alleine in einer Ecke des Zimmers, Charlotte auf dem Arm und weinte. Dann redete sie wieder mit Charlotte. Sie erzählte ihr, wie ihr Vater sie schlug, erzählte ihr, dass ihre Mutter ihr nicht helfen würde. Und Charlotte hörte zu. Sie hörte zu wie Marie davon erzählte, dass ihr Vater Dinge mit ihr machte, die sie nicht wollte. Die Schatten an der Wand zeigten die grausamen Taten, wenn Marie nicht im Zimmer war, wenn sie draußen vor der Tür war. Und Charlotte hörte die Stimmen, die Stimme von Maries Vater. Das Flehen der kleinen Marie. Und das Weinen der Mutter.
In manchen Momenten saß Marie einfach nur da, sah Charlotte an und sprach ganz ruhig zu ihr. Dann waren ihre Augen so leer. Charlotte tat das kleine Mädchen leid. Marie sagte dann "Du bist meine einzige Freundin Charlotte! Dir kann ich alles erzählen!" und Charlotte lachte sie an. "Warum tut Papa das? Warum tut Papa mir immer weh? Ich verstehe das nicht! Aber du tust mir nicht weh Charlotte! Du bist eine gute Puppe!" Charlotte sah sie dann immer an, große blaue Augen wollten etwas sagen, doch Marie verstand sie nicht. "Ich hab gestern gesehen wie ein Mädchen draußen spielte! Sie sah glücklich aus! Aber, sie hatte ganz andere Kleider an als ich! Und sie war nicht so schmutzig! Ich hab gehört wie ein Mann sie gerufen hat!" An diesen Tag erinnerte sich Charlotte noch genau. Marie sah so verwirrt aus. So traurig, anders als sonst. Und Charlotte hatte das Gefühl, Marie hätte einen Entschluss gefasst, den sie selbst noch nicht begreifen konnte. "Charlotte, irgendwann! Irgendwann wird mein Papa mich auch so nennen! Dann werde ich auch so ein hübsches Kleidchen tragen! Mama wird mich anlachen, so wie die Frau, die das Mädchen angelacht hat!" Das war das erste Mal, dass Charlotte Marie hatte lächeln sehen. Und gleichzeitig war es das letzte Mal gewesen. "Charlotte! Irgendwann werde ich Papas Prinzessin sein!" Charlotte konnte das Leuchten in Maries Augen noch immer sehen. Die kleine Puppe wusste noch ganz genau wie entschlossen das Mädchen gewirkt hatte. Doch nun, Charlotte lag auf dem Boden, der Staub fraß sich durch das Zimmer und die Stille wurde langsam unerträglich. Vor drei Tagen war Marie zum letzten mal durch die Türe nach nebenan, in das Zimmer ihres Vaters gegangen, doch sie war nicht zurückgekommen. Charlotte hatte gehört wie Marie gefallen war. Sie hatte gehört wie ihr Vater sie gequält hatte. Charlotte wusste was geschehen war. Marie würde nie wieder in dieses Zimmer kommen. Könnten die Menschen die Puppen sprechen hören, wüssten sie was mit Marie passierte. Doch die Puppen schweigen. Und so wird das kleine Mädchen Marie irgendwann vergessen sein. Niemand hat es je bemerkt. So wie Marie sterben täglich tausende von Kindern durch die Gewallt der Eltern.
Und Charlotte lacht weiter...