Kismet 'Koda'
Gelangweilt versuchte der siebzehnjährige Schüler ein Gähnen zu unterdrücken, was ihm allerdings nur schwer gelingen wollte und bei der langatmigen Rede seines Japanischlehrers auch kein Wunder war. Es fiel ihm schwer, sich auf den Stoff zu konzentrieren - hinzu kam auch noch, dass ihn diese Grammatikregeln weniger als gar nicht interessierten. Wer sollte sich denn das alles merken können und weshalb überhaupt? Sobald er von der Schule abging, würde er eh mit seiner Band berühmt werden, wozu also die ganze Mühe? Er war sehr wohl in der Lage, seine eigene Sprache zu beherrschen, schließlich verfasste er seine Liedtexte selbst, anstatt wie andere vor irgendeinem Computerspiel zu hocken und den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als wie ein Besessener auf bunten Knöpfchen herum zu drücken. Sein Traum war es schon immer, ein berühmter, respektierter Sänger zu werden und diesen Traum wollte er sich auch erfüllen, koste es, was es wolle.
Seufzend wanderte sein Blick zum Fenster, als hätte sich das altbekannte Bild inzwischen verändert. Doch nichts war anders - alles was er erkennen konnte, war grau. Ein grauer, verregneter Himmel und wenn er sich ein Stück von seinem Stuhl erhob, konnte er noch so gerade die Spitzen der herbstlichbelaubten Bäume ausmachen. Ein leises Seufzen seinerseits folgte, ehe er erneut gedankenverloren auf seinen Tisch starrte. Er hasste diese Jahreszeit einfach. Kalt, nass und grau, die wenigen bunten Blätter an den Bäumen konnten ihn nicht wirklich von seiner Überzeugung abbringen. Für so ein Wetter war er einfach nicht geschaffen, vielmehr bevorzugte er den Sommer oder zumindest den Frühling. Mit einem grummelnden Laut schob er sich eine störende, blonde Haarsträhne zurück hinter sein Ohr.
Um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, griff er nach dem Erstbesten, was er in seine Finger bekam; er erwischte seinen Kugelschreiber. Irgendwann käme er hier noch vor Langeweile um, dies war ihm schon seit längerem klar. Den Gegenstand immer aufs Neue zwischen seinen Fingern hin- und herdrehend, schielte er desinteressiert nach vorne zu seinem Lehrer, welcher ihm seit geraumer Zeit den Rücken zudrehte, um irgendeine wichtige Formel in das begonnene Tafelbild mit einzubringen. Und wieder starrte er nur auf sein Heft, den Lehrer und seine erklärenden Worte einfach ignorierend. Sollte der sich nur beschäftigen und ihn in Ruhe lassen. Doch er hatte sich zu früh gefreut, forderte der Lehrer seine Klasse auch schon wenige Sekunden später auf, das nun anscheinend fertige Schriftbild in ihr Heft zu übernehmen, was im Grunde genommen eine Frechheit war. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er seinen Ordner, der neben ihm auf der Fensterbank stand. Warum zur Hölle bestand ihr Japanischlehrer nur darauf, dass sie alle ein Heft und nicht, wie sonst üblich, das Aufgeschriebene in ihrem Ordner abhefteten? Merkte der Mann nicht, dass er sich gerade dadurch nur noch unbeliebter machte? Nein, offenbar nicht. Oder er ignorierte es konsequent. Was wahrscheinlich eher der Fall war. Pestbeule.
Der blondhaarige Schüler musste grinsen, als er den gereizten Kommentar seines Banknachbarn hörte. Das undeutliche Gemurmel sollte wohl ungefähr soviel heißen wie: "Ich hasse körperliche Anstrengung am Montagmorgen..", oder so ähnlich. Doch sein Grinsen verwandelte sich in ein gefrustetes Augenverdrehen, als ihrem Lehrer plötzlich auffiel, dass etwas an seinem an die Tafel geschriebenen Text nicht stimmte und er erst einmal die Hälfte wieder abwischte. Wunderbar, der Schultag begann doch mal wieder herrlich! Ein weiterer Minuspunkt für den armen Mann, der zur allem Überfluss auch noch ihr Klassenlehrer war. Und ausgerechnet heute musste ihre Sozialkundelehrerin krank sein, was soviel bedeutete wie, dass sie ihren geliebten Klassenlehrer einige Stunden später als Vertretung ein weiteres Mal begrüßen durften. Die Welt war wirklich ungerecht, hatte er das heute schon einmal erwähnt?
In selbstmitleidähnliche Gedanken versinkend, hörte er gar nicht mehr auf die Worte seines Lehrers und bekam so auch nicht die Ankündigung mit, die dieser mit weit ausfallenden Armbewegungen unterstrich und seine Klasse zum Schluss ernst ansah. Ebenso wenig registrierte er den genervten Blick, mit dem er bedacht wurde. Abrupt wurde er aus seiner Gedankenwelt gerissen, als er plötzlich einen nicht gerade sanften Stoß in seine rechte Seite bekam. "Spinnst du, Kai?", zischte er wütend. Der offensichtliche Störfaktor schüttelte nur hastig seinen Kopf und forderte ihn mit einer verzweifelt wirkenden Kopfbewegung auf, nach vorne zu sehen. Ein verständnisloser Blick seinerseits folgte, ehe er der Aufforderung nachkam und nun endlich den Blick seines Lehrers bemerkte. "Sehr schön, dass Sie wieder unter uns weilen, können Sie bitte wiederholen, was ich gerade eben versucht habe, Ihnen verständlich zu machen?", fragte ihn Herr Okinaba mit deutlich schärferem Unterton. Sein blondhaariger Schüler suchte hektisch nach einer guten Ausrede, kam aber zu dem Schluss, dass er keine hatte. "Ähm..." Okay, immerhin ein Anfang, jetzt musste er das Ganze nur noch weiter ausarbeiten. "Sie sagten, dass.." Ja, was hatte der denn eigentlich gesagt? Irgendwie gingen ihm die passenden Argumente schon von vorneherein aus. Verzweifelt schielte er zu Kai, der ihm schon die ganze Zeit über irgendwelche nicht zu verstehenden Zeichen machte. Wie sollte er denn bitte daraus schlau werden? Unterdrückt aufseufzend gab er es auf.
"Entschuldigung, ich war mit meinen Gedanken woanders", murmelte er, sich dabei um einen freundlichen Ton bemühend, was in Anbetracht der Tatsache, dass er sich gerade seinem am meisten verhassten Lehrer gegenüber sah, nicht sonderlich einfach war. "Ja, so sahen Sie auch aus. Vielleicht kann Ihnen ja Kai erklären, worum es geht und wenn möglich mit Worten und nicht mit Handzeichen." Auffordernd wurde der schwarzhaarige Schüler angesehen, der betreten seine Hände senkte und leicht verlegen dreinblickte. "Ähm ja, also..", begann er und räusperte sich leicht, "Heute kommt doch dieser neue Schüler in unsere Klasse und wir sollen ihn entsprechend aufnehmen. Die Frage war, wer ihn in unseren Schulablauf einweisen möchte..." Der Jüngere hatte gezwungenermaßen zugehört und verdrehte nun leicht die Augen. Was interessierte ihn das? Er hatte eh etwas besseres zu tun, als irgendeinen Idioten, der womöglich noch aus einer dummen Vorstadt kam, durch die Schule zu führen. Doch leider schien Herr Okinaba da anderer Meinung zu sein zu. "Da Sie ja anscheinend nicht sonderlich viel zu tun haben, eignen Sie sich vorzüglich für diese Aufgabe." Sein Schüler starrte ihn entsetzt an. "Das.. das geht nicht! Ich muss heute-..." - "Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich darum kümmern, dass er sich schnell zurecht findet. Immerhin ist es mitten im Schuljahr nicht einfach, sofort mit dem Stoff klar zu kommen", wurde ihm unmissverständlich klargemacht, sodass er keine Chance hatte abzulehnen. "Okay..." Herr Okinaba nickte zufrieden. "Wunderbar. Und in Zukunft passen Sie auch in meinem Unterricht auf." Anscheinend war das Thema damit für ihn beendet. Hätte er den an ihn gesandten Todesblick seines Schülers bemerkt, hätte er sich sicherlich gefragt, ob seine Entscheidung wirklich so klug war...
"Das gibt's doch nicht!" Ärgerlich wurde das sowieso schon leicht misshandelt aussehende Japanischschulheft auf den Boden gepfeffert. "Ruki, reg dich doch nicht so auf, beruhig dich lieber", versuchte Aoi seinen Freund zu besänftigen, doch der schenkte ihm nur einen vernichtenden Blick. "Beruhigen? Ich soll mich beruhigen? Wer sagt denn, dass ich mich aufrege?!" Wütend hob er sein Heft wieder auf und beförderte es in seine Schultasche. "Vielleicht ist der Neue ja ganz nett", mischte sich nun auch Kai hoffnungsvoll in das Gespräch mit ein, um Aoi zu helfen, den Jüngsten in der Runde wieder aufzuheitern. "Nett? Ich mag ihn jetzt schon nicht", wurde Kais Argument sofort in den Wind geschossen. Aoi seufzte überfordert auf und fuhr sich ratlos mit seiner rechten Hand durch seine Haare. Er war bereits in der dritten Klasse, machte bald seinen Abschluss und war somit eine Klasse höher als die beiden andern. "Wo treiben sich eigentlich Reita und Uruha schon wieder um?", versuchte er das anscheinend sinnlose Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. "Draußen, denke ich", antwortete Kai, als Ruki nicht reagierte. "Okay... wann treffen wir uns eigentlich wieder zu den Proben? Diesen Mittwoch kann ich leider nicht." Endlich schien Ruki wieder ernsthaft mitzubekommen, was um ihn herum geschah. "Was ist denn am Mittwoch?", wollte er neugierig wissen und auch Kai wirkte deutlich interessiert. "Nichts, was euch zu interessieren hat", lautete die enttäuschende Antwort, unterstrichen von einem von Aois Unschuldslächeln. Ruki rollte gespielt mit den Augen. "Wenn du ein Date hast, kannst du es uns ruhig sagen. Es würde sich dabei zwar um ein Jahrhundertereignis handeln, aber trotzdem..." Kai lachte los, während Aoi seinen blondhaarigen Freund entgeistert anstarrte. "Wer redet denn hier von einem Date?", fragte er, mit einem nun doch etwas unsicher wirkenden Lächeln im Gesicht. Doch noch bevor Ruki zu einer sarkastischen Antwort ansetzen konnte, wurde ihr Gespräch von den beiden anderen ihrer Clique gestört.
"Wer hat ein Date?" Grinsend stützte sich Reita auf der Schulter seines älteren, besten Freundes ab. "Niemand", stöhnte Aoi genervt und schüttelte den etwas Größeren von sich. "Du kannst uns alles sagen", flötete Uruha und stellte sich neben Kai, welcher es sich auf seinem Tisch bequem gemacht hatte. Der Ältere zog es vor, ihn gekonnt zu ignorieren und sich stattdessen wieder an Ruki zu wenden. "Also, wann treffen wir uns denn nun zu den Proben?" Der Angesprochene wiegte nachdenklich seinen Kopf von links nach rechts, ehe er antwortete: "Passt es euch am Freitag?" Fragend blickte er in die Runde. Bei den Proben handelte es sich um die ihrer kleinen, wenn auch bereits recht populären Schulband.
"Also bei mir könnte es klappen", überlegte Uruha laut, offensichtlich damit beschäftigt, seine diversen Termine im Kopf nacheinander durchzugehend. "Mir passt es", nickte Aoi und auch Kai und Reita stimmten ihm nickend zu. "Ich kann euch morgen noch einmal Bescheid geben, ob es wirklich klappt, in Ordnung?", meinte Uruha anscheinend immer noch überlegend, ob er nicht doch noch etwas anderes geplant hatte. "Du hast Zeit", bestimmte Ruki und gähnte leicht. Für ihn war der Schultag jetzt schon gelaufen, was man ihm deutlich ansah. "Was ist denn dann mit Samstag? So wie ich das sehe, proben wir dann zwei Tage direkt hintereinander", entgegnete Reita. "Ja, ist nun einmal so. Normalerweise proben wir Mittwochs und Samstags und ich hab jetzt keine Lust, Samstags auch noch mal zu verschieben, also belassen wir es dabei." Ein einheitliches Nicken war die Antwort auf Rukis Beschluss. "Ich geh' dann mal wieder hoch, die Pause ist jeden Moment zu Ende. Bis später", verabschiedete sich Aoi und klinkte sich somit aus dem Gespräch aus, grinste noch einmal und verließ den Klassenraum der anderen vier.
"Zehn Minuten der Freiheit gehen einfach viel zu schnell vorbei", knurrte Ruki und man sah ihm deutlich an, dass seine schlechte Laune allmählich zurückkehrte. "Kopf hoch, Ruki-chan! Zwei Stunden haben wir ja schon hinter uns", startete Uruha einen Aufheiterungsversuch, wurde aber aufgrund des Spitznamen warnend angefunkelt. "Darum geht es nicht, jedenfalls nicht direkt. Wen haben wir wohl jetzt in der Vertretungsstunde? Und wen glaubst du, wird dieser jemand mitbringen? Gott, ich hab keine Lust auf den ganzen Mist!" Wütend starrte Ruki zur Klassentür, als stände der Ursprung seiner schlechten Laune bereits dort. "Ach, der Neue...", seufzte Uruha, "Sorry, daran hab' ich gerade nicht gedacht." Entschuldigend wurde Ruki angesehen. "Ja, ja. Schon gut", winkte dieser ab und schenkte seinem dunkelblonden Freund ein versöhnendes Lächeln.
"Wenn du nicht wie immer gepennt hättest, wärst du jetzt nicht in dieser Situation", mischte sich Reita ein, worauf sich Rukis Gesichtsausdruck augenblicklich verfinsterte. "Musst du gerade sagen. Erzähl du mir doch nicht, dass du zugehört hättest", war die patzige Reaktion. "Hier ging es nie um mich", lächelte Reita süffisant und strich sich durch seine blonden Haare, welche ebenso wie Rukis und Uruhas gefärbt waren. Doch noch ehe Ruki zu einer Antwort ansetzen konnte, wurden die vier durch das laute, deutliche Klingeln ihrer Schulglocke unterbrochen. "Und der Wahnsinn geht weiter..", seufzte Uruha, "Mal schauen, wie unser Neuling so drauf ist." Reita zuckte desinteressiert mit den Schultern. "Mir kann es egal sein, ich hab sowieso nichts mit dem Typen am Hut." Gelangweilt gähnend ging er zu seinem Sitzplatz, gefolgt von Uruha, welcher genau neben ihm saß. "Wenn du Hilfe brauchst, Ruki", wandte sich Kai an den Vocal ihrer Band. "Schon klar, danke", lächelte dieser schief.
Augenblicklich verstummten alle Gespräche, als der Klassenlehrer bereits zum zweiten Mal an diesem Tag durch die Tür trat. Erwartungsvolle, sowie auch einige weniger interessiert wirkende Blicke wurden ihm zugeworfen, doch entgegen aller Erwartungen war er allein. Herr Okinaba begrüßte seine Schüler erneut und forderte sie auf, sich zu setzen. "Beginnen wir erst einmal wieder normal mit dem Unterricht. Koda Imoutoko wird in den nächsten Minuten zu uns stoßen, so lange schlagt bitte eure Hefte auf und-" Ein weniger begeistertes Aufseufzen der Klasse folgte.
Ruki war die Verzögerung nur recht. Je weniger Zeit er mit dem Neuzugang verbringen musste, desto besser. Doch seine Freude währte nicht lange. Nur wenige Minuten später klopfte es. Es war ein lautes Klopfen, kein verschüchtertes, registrierte Ruki und verdrehte die Augen. Gleich wusste er, welchen Typen er sich da praktisch angelacht hatte. Herr Okinaba blickte auf. "Herein!"
Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen und alle Blicke hefteten sich auf den Eintretenden. Ruki war - im wahrsten Sinne des Wortes - sprachlos. Er hatte alles erwartet, wirklich alles, bis auf das! Der junge Mann, mit einem offensichtlichen Dauergrinsen im Gesicht, verbeugte sich leicht und ging auf seinen neuen Lehrer zu. Allein schon seine Kleidung fiel auf. Anstatt der üblichen Schuluniform trug er eine schwarze, ausgefranste und mit Löchern gespickte Jeans. Als Oberteil diente ihm ein ärmelloses, topähnliches, weißes Shirt mit dem japanischen Zeichen für "Rock" bedruckt. Deutlich auf seinen Armen zu erkennen waren einige Tattoos in Form von japanischen Zeichen, sowie Zahlen und einige lateinische Buchstaben oder englische Worte. Ob diese echt oder einfach nur Fake waren, konnte Ruki nicht erkennen. Auf seinem Kopf saß ein schwarzer Hut, unter dem lange, schwarze Haare hervorlugten. Außerdem trug er an beiden Handgelenken ein silbernes Armband, um seinen Hals eine silberne Kette, sein Gesicht zierte sowohl an der rechten Augenbraue, als auch an seinem linken Nasenloch, ein schwarzes Piercing, aber das Auffallendste an ihm war wohl das Piercing auf der rechten Seite seiner Unterlippe. Es ging komplett durch diese hindurch und ähnelte mit der dreieckigen Spitze einem schwarzen Teufelsschwanz. Von seiner Statur her war er schlank, sehr schlank sogar. Was Ruki allerdings am wenigsten passte, war die Größe des Fremden. Er überragte sogar Herrn Okinaba und selbst diesen konnte man nicht grade als "klein" bezeichnen. Ruki war mit seiner Körpergröße nicht sonderlich zufrieden, aber wie sollte das denn aussehen, wenn er mit diesem Riesen durch die Schule lief?! Einmal mehr verfluchte er seinen Lehrer und diesen Koda gleich mit dazu.
Herr Okinaba räusperte sich leicht und reichte seinem neuen Schüler die Hand. Anscheinend passte ihm sein Auftreten nicht, er schien mit dem ausgefallenen Kleidungsstil allerdings schon Bekanntschaft gemacht zu haben, sonst wäre er jetzt sicherlich nicht so freundlich gewesen. Den Schülern der Kanagawa-High ließ man zwar die Freiheit, ihre Frisur nach Belieben zu tragen, an die Kleiderordnung hatten sie sich jedoch zu halten: Die vorgeschriebene Schuluniform war einfach Pflicht und wer sich weigerte, hatte mit ordentlichen Konsequenzen zu rechnen.
"Am besten, Sie stellen sich der Klasse selbst vor", wurde Koda aufgefordert. Dieser nickte – immer noch grinsend – und räusperte sich leicht. "Ich fange gleich mal mit dem Wichtigsten an. Mein richtiger Name ist Koda Imoutoko, aber eigentlich nennen mich alle nur 'Miyavi' und es wäre cool, wenn ihr das auch machen könntet. Ist einfach Gewohnheitssache. Mein Leben ist die Musik, in meiner alten Schule, in Hyougou, war ich in einer Schulband und falls es so was hier auch gibt, möchte ich mich da gerne einmal umschauen." Wieder folgte ein Grinsen. Anscheinend schien er nachzudenken, was er noch erzählen könnte und wollte wohl gerade fortfahren, als der Lehrer ihm zuvor kam. "Wunderbar. Soweit ich weiß, haben wir hier sogar eine Schulband und solche Bands sind ja ständig auf der Suche nach Neuzugang." Hätte Herr Okinaba den vernichtenden Blick Rukis bemerkt, wäre er sicherlich schreiend aus der Klasse geflüchtet, doch so fuhr er unbeirrt fort: "Am vorteilhaftesten wäre es wohl, wenn Sie das alles in der Pause besprechen. Außerdem wird Ihnen in den nächsten Tagen einer Ihrer Klassenkameraden zur Seite stehen, der Ihnen alles Nötige erklären kann. Ach und ab morgen erscheinen Sie bitte in der vorgegebenen Schuluniform", beendete der Lehrer seine Rede, den letzten Satz hierbei besonders betonend. "Schon klar", erwiderte Miyavi. "Gut, dann setzen Sie sich jetzt bitte erst einmal neben Satoru, auf den freien Platz dort hinten links." Miyavi nickte nur, schlurfte zu seinem Platz, ließ sich auf diesen sinken, seine schwarze Schultasche, die mit einem großen, silbernen Peace-Zeichen bedruckt war, dabei einfach achtlos neben sich auf den Boden fallen lassend. "In der Pause führt Sie dann Ruki etwas im Schulgebäude herum", erklärte Herr Okinaba – nach Rukis Meinung in überflüssiger Weise – und deutete auf den Schüler. Miyavi lächelte seinem blondhaarigen Klassenkameraden kurz zu und wühlte dann in seiner Tasche, anscheinend auf der Suche nach etwas zu schreiben.
Ruki sprach sich innerlich Mut zu, nur ja immer wieder tief ein und aus zu atmen und sich bloß nicht aufzuregen. "Miyavi" sollte er diesen Typen nennen? Nein, mit Sicherheit würde er das nicht tun und ebenso wenig hatte er vor, ihn auch nur in die Nähe ihres Probenraumes zu lassen! Warum hatte eigentlich ausgerechnet er immer so ein Pech und weshalb saß dieser Kerl nur zwei Plätze neben ihm?!
Schlecht gelaunt starrte Ruki aus dem Fenster. Sollte es sein Lehrer wagen, ihn heute auch nur noch ein einizges Mal anzusprechen, dann könnte er mit Garantie nicht mehr so ruhig bleiben. Doch er hatte Glück. Wie durch ein Wunder ließ ihn Herr Okinaba in Ruhe und der Unterricht plätscherte ohne besondere Vorkommnisse dahin. Doch wäre es nach Ruki gegangen, hätte diese Stunde ausnahmsweise auch länger dauern können. Immerhin bedeutete das Pausenklingeln nichts anderes für ihn, als sich um diesen Verrückten zu kümmern...
Mittlerweile zählte Ruki schon die letzen Sekunden, die ihm noch verblieben, bis die Stunde beendet war. Eine Minuten und sieben Sekunden, eine Minute und sechs Sekunden... konnte er nicht einfach behaupten, ihm wäre plötzlich wahnsinnig schlecht geworden und dass er sich mit irgendeiner unheilbaren Krankheit infiziert hatte? Doch wahrscheinlich glaubte sein geliebter Lehrer ihm nicht und nachher musste er diesen Typen noch mit zu sich nach Hause schleppen, um ihm beim Lernen zu helfen. Dabei war er selbst nicht grade ein Schulass. Aber dies war ein anderes Thema und momentan auch vollkommen irrelevant! Aber was machte er sich eigentlich so große Sorgen? Er musste den Kerl nur kurz herumführen und nach diesem Schultag wie Luft behandeln: Problem gelöst.
Und doch... wenn man sich einen bestimmten Moment am wenigsten herbeiwünscht, dann kommt er um so schneller...
Das laute Klingeln der Schulglocke holte Ruki aus seinen zuversichtlichen Gedanken und machte ihm unvermittelt klar, dass es jetzt soweit war.
