Zum Inhalt der Seite

Chrysalis Soul

Oder: Was passiert, wenn sich vier Verzweifelte begegnen... [NEUES KAPPI IS DA! http://animexx.onlinewelten.com/weblog/benutzer.php?weblog=166198#eintrag321219]
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Same Ol' Thing

Chrysalis Soul
 

Diese FF widme ich allen, die mir je Gutes getan haben und mir Freunde waren!

Ein riesiges Dankeschön an Flyinglamb, Osaka-sama und BabyTunNinjaDrac für die unvergesslichen gemeinsamen Schreib- und Lachorgien,

und an -Nightstalker- und Karen_Kasumi für ihre unersetzbaren Momente der Zweisamkeit und ihre wunderbare Freundschaft!
 

Disclaimer: Die Charaktere, die ich für meine Fanfiction benutze, gehören nicht mir, sondern Clamp. Ich leihe sie mir lediglich für meine Geschichte und verdiene auch kein Geld hiermit.
 

-"Was ist unsere Seele?

Wo ist sie?

Wann entsteht sie?

Schlüpft sie in den Menschen, wenn er geboren wird? Ist sie bereits ein Teil seines sterblichen Fleisches, wenn er auf die Welt kommt?

Ist die Seele gesund und wird erst im Laufe eines Lebens krank? Ist die Seele schon blass oder schwach, wenn sie mit einem Menschen geboren wird?

Unsere Seele ist wie eine Schmetterlingspuppe.

Sie ist eine einzige Entwicklung, eine Wanderung, eine Reise.

In ihr ist alles enthalten, was uns ausmacht.

Sie bindet sich an denjenigen, der sie stützt und ihr Schutz gewährt.

Sie stirbt, wenn man sie verwundet.

Unsere Seele, und der Weg, den sie geht, ist eines unser letzten großen Geheimnisse.

Wir erforschen sie, sezieren und analysieren sie, doch werden wir uns all der wunderbaren, schrecklichen, unvergleichlichen Dinge, zu denen sie uns Menschen animiert, niemals völlig bewusst werden."-

(Victor Hugo)
 

~~
 

"Nein-... NEIN, BITTE NICHT!! GEHEN SIE WEG!!"

Mit ohrenbetäubendem Krachen fiel eine Tür ins Schloss.

Schritte. Dumpf und hart hallten sie in der finsteren Halle wider.

Pulsierend. Gehetzt.

Gehetzt wie ein vor nackter Angst halb wahnsinniges Tier, das vor einer Feuersbrunst floh.

Vor einer Feuersbrunst, die sich schon längst an seinen Fersen festgesetzt hatte und sich nun langsam, quälend langsam seinen Körper hochfraß und seine Haut, sein Fleisch und seine Knochen rücksichtslos verschlang...

Verheerend wie entferntes Donnergegroll verlor sich das Echo der Schritte zwischen den Wänden.

Vor Angst mehr stolpernd als rennend hastete die junge Frau durch den Salon.

Ihre Atem donnerte in harten, keuchenden Stößen durch ihre Lungen.

Obwohl ihr Gesicht im spärlich hereinfallenden Mondlicht weiß wie ein Bettlaken wirkte, war es aufgedunsen und schweißüberströmt. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie einfach umzufallen drohte. Verzweifelt, fast schon hysterisch, kam sie am Nordflügel des Salons an. Wie besessen drehte und wendete sie sich nach allen Seiten, als fürchtete sie, dass ein unbekanntes Etwas sie plötzlich aus dem Schatten der Wände heraus anspringen und ihr die Kehle durchbeißen würde.

Ihre angstgeweiteten Augen sprangen fiebrig umher, irrten ziellos über die Möbelstücke, die im Nachtschatten ruhig wie alte Freunde an den Wänden standen.

Die Hoffnung auf eine Flucht war aussichtslos. Die einzige Möglichkeit, die ihr jetzt noch blieb, war sich zu verstecken.

Wo sollte sie jetzt bloß hin? Gab es denn wirklich keinen Platz mehr, an dem er sie nicht finden würde?

Ein leichtes Geräusch hinter ihrem Rücken ließ die junge Frau aus ihren Gedanken aufschrecken.

Wild fuhr sie herum.

Nichts.

Niemand.

Oder doch-...?

Waren das Schritte, die da näherkamen? Atemzüge? Das Klirren einer Waffe?

Unruhig wich die junge Frau immer weiter vor diesen ominösen Geräuschen zurück, die sich langsam im Südflügel des Salons auszubreiten begannen.

Ihr Herz zappelte in ihrer Brust wie ein junger Vogel.

Und als draußen am regenverhangenen Himmel ein jäher Blitz aufflammte und das Innere des Salons für wenige Sekunden in gleißendes Licht getaucht wurde, sah sie ihn.

Er war direkt vor ihr. Groß und drohend überragte er ihre armselige, zitternde Gestalt. Verheerend. Unüberwindlich.

Und er kam immer weiter auf sie zu. Es war wie ein Albtraum.

Hilflos von ihrer Angst überflutet wie von einer Welle eiskalter Gischt, sank die junge Frau mit einem erstickten Aufschluchzen auf dem Parkettboden in sich zusammen.

"Bitte-... bitte, tun Sie's nicht... bitte, ich--"

Etwas Kaltes, Spitzes, das sich plötzlich unmerklich auf ihre Kehle legte, ließ sie in ihrem Angstgewimmer innehalten.

Ihr Herz machte einen Satz.

Mit zitternden Lippen ließ sie den Blick ihrer hellgrünen Augen nach unten schweifen.

Es war eine Schwertspitze. Kühl und rasiermesserscharf funkelte sie im hereinfallenden Mondlicht.

Langsam wurde ihr Kopf angehoben, und sie blickte in ein Paar harter, zinnoberfarbener Augen.

"So", hörte sie eine raue, heisere Stimme aus der Dunkelheit heraus wie das Grollen einer Raubkatze.

"Genug Fangi gespielt."

Die Schwerspitze bohrte sich ein wenig fester in ihre Kehle.

Die Kälte fraß sich unaufhaltsam in ihre weiche Haut.

"Nein-- nicht!", stieß die junge Frau schwach hervor, während sie spürte, dass ihr bereits die Tränen in die Augen stiegen.

"Bitte-... bitte, tun Sie's nicht! Gehen Sie weg, ich flehe Sie an, gehen Sie weg, bitte--"

Ein missbilligendes Seufzen.

"Mein Gott, das sagen Sie jetzt schon den ganzen Abend. Fällt Ihnen nicht langsam mal was anderes ein?"

Die einzige Antwort, die er von seinem Opfer bekam, war ein keuchendes Schluchzen.

Sie wusste, dass für sie jetzt Schicht im Schacht war, und gab sich ganz dem Kollaps hin. Tränen stiegen in ihre geröteten, angstgeweiteten Augen und rannen in immer rascherer Folge ihre leichenblassen Wangen hinunter.

Ihre Hände, Beine und Füße zitterten wie von einem Krampf durchzogen. Ihr wirres, fuchsbraunes Haar hing ihr in verschwitzten Strähnen in die ebenso verschwitzte Stirn. Wie eine schmutziges Etwas kniete sie am Boden.

Eben auch nur ein Mensch. Eben auch nur wie die unzähligen anderen vor ihr.

Stellte man ihm den Tod in Aussicht, war der Mensch nicht mehr als ein Tier. Sogar noch viel weniger.

Nur um seine nackte Existenz besorgt, weil er nicht wusste, was danach kam.

Hässlich. Kriecherisch. Elend.

"Warum..."

Ein plötzliches, heiseres Wispern vonseiten seines Opfers ließ ihn aufmerken.

"Was?"

"Warum tun Sie nur so etwas Abscheuliches", flüsterte die junge Frau und starrte ihn an.

Als Antwort drückte sich die Klinge seines Katana nur etwas fester gegen ihre Haut und hinterließ eine dünne, blutende Linie.

Sie schnappte unwillkürlich nach Luft.

Die Todesangst, die sich immer tiefer in ihren Verstand hineinwühlte wie eine Zecke in das Fleisch ihres Wirts, ließ ihre Augen ziellos in ihrem Gesicht auf- und abhüpfen.

Man konnte ihr förmlich ansehen, dass sich ihr ganzer Organismus unter der Angst vor dem Ungewissen in den Wahnsinn verlor.

Er hob geringschätzig die Augenbrauen.

"Sie verdienen Ihr Geld, indem Sie tagsüber versuchen, die verdammte Politik voranzubringen und sich nachts von Kerlen vögeln lassen. Ich verdiene mein Geld, indem ich Sie jetzt kaltmache."

Vielleicht war es die nüchterne Feststellung, dass sie genaugenommen nicht viel mehr war als eine billige Nutte, vielleicht war es die unangenehm klare Formulierung, dass sie heute nacht unter einer gewissen Garantie abkratzen würde, die ihr plötzlich wieder Kraft verlieh.

Ihr Körper bebte.

Ein durchdringender, pfeifender Schrei stieg langsam in ihr empor wie eine Lokomotive, die aus einem Tunnel kam. Mit einem wilden Satz sprang sie auf die Füße und riss die Hände hoch, um auf ihn einzuschlagen.

"NEIIIIIIIN!!!"

Es war zwecklos. Er kannte solche Fälle schon. Manche Menschen reagierten auf ihren baldigen Tod wie ein in die Enge getriebenes Stück Vieh- sie drehten total durch, verfielen in Raserei und versuchten sprichwörtlich, sich frei zu boxen.

Doch er war nicht umsonst an der Spitze seiner Einheit. Mühelos schaffte er es, sein Opfer bei den Händen zu packen und zu bändigen.

"Keine Angst. Es geht ganz schnell."

"Was--"

Sie wollte etwas erwidern, sie wollte aufschreien, ihm das Gesicht zerkratzen, sie wollte sich losreißen, ihn zu Boden stoßen und wegrennen, nur noch wegrennen- aber er war schneller. Kalt blitzte das Katana im hereinfallenden Mondlicht auf.

Das Letzte, was die junge Frau in ihrem Leben noch spürte, war ein harter, glühend heißer Ruck, der sich von der Brust ausgehend durch ihren ganzen Körper zu bohren schien- und sie sah ihr Blut.

In einem langen Erguss spritzte es mit einem widerwärtigen Laut am Boden auseinander.

Warm und dunkelrot rann es aus dem faustgroßen Einschlag in ihrer Brust, in der bis vor wenigen Sekunden noch ihr Herz bis zum Explodieren gehämmert hatte, und in dem nun das Katana steckte wie ein riesiges, stählernes, hässliches Etwas.

In dicken Bächen rann das Blut ihr helles Hemd und ihren Faltenrock hinunter und tropfte auf den Boden.

Die junge Frau blickte nur noch einige Sekunden lang verwundert an sich hinunter, bevor ihr Blick langsam glasig wurde.

Wie in Zeitlupe fiel sie der Länge nach vornüber, schlug hart auf dem Boden auf und fühlte nichts mehr.

Nie mehr.

Schwarzes, pechschwarzes Schweigen breitete sich über dem Salon aus, stinkend und lautlos wie die Pest.

Mit einem teilnahmslosen Blick starrte der Mörder lange auf sein leblos am Boden ausgestrecktes Opfer.

Lauschte dem monotonen Regen, dem grimmigen Donnergegroll von draußen.

Lange, lange, lange.

Bis er sich schließlich wieder regte.

Seelenruhig griff er in die rechte Tasche seines knielangen, schwarzen Mantels und zog ein ebenso schwarzes Handy hervor.

Kurzerhand drückte er die Wahltaste. Er hatte noch nie eine andere Nummer mit diesem Ding angerufen.

Zwei- Gartenzaun. Tut. Tut. Tut.

"Am Apparat."

Er blieb still. Denn allein schon durch sein Schweigen wusste sein Auftraggeber am anderen Ende der Leitung, dass er es war.

Und so brauchte er nicht mehr viel zu sagen.

"Fertig."
 

Mittwoch, elf Uhr morgens.

In der Nacht hatte es heftig gewittert und geregnet, und an diesem Morgen war der Raureif auf den Dächern und Fenstern sogar noch dichter als sonst. Seltsam, dabei hatte der Wetterfritze doch Schnee angekündigt?

Anscheinend gab's heutzutage immer weniger Leute, die was von ihrem Fach verstanden.

Der Gedanke war ihm auch letzte Nacht gekommen, als sein Nachbar auf der Straße einen Herzinfarkt erlitten hatte, und der Heini vom Rettungsdienst den armen Opi mit seinen Wiederbelebungsversuchen endgültig über den Jordan geschickt hatte, anstatt ihn zu retten.

Ein Italiener. Hatte vor der Beatmung wohl zuviel Pizza Marinara gegessen.

"Murmelmurmelmurmelmurmelmurmel, blablablablablablaaa..."

Die Frau des Opis hatte sich vor lauter Frust über soviel Blödheit gleich auch den Lebensfaden abgezwackt, indem sie sich mit dem alten Karabiner ihres Manns den Schädel zu Rübenschnitzel verballert hatte.

Nutten, Herzinfarkt, Pizza, verrücktgewordene Oldies- über so eine Scheißnacht hatte er gleich neun Cognac kippen müssen und war mit einem Brummschädel und Ohrensausen aufgewacht. Seine Gemütsverfassung sah dementsprechend aus.

Gedankenverloren starrte Kurogane zum Fenster hinaus.

"Murmelmurmelmurmelmurmel, blablablablabla..."

Auf den schneebeladenen Zweigen vor dem Fenster hockten einige dick aufgeplusterte Kohlmeisen wie an Fäden aufgezogene Marshmallows, nur sehr zaghaft zwitschernd, als wüssten sie nicht so recht, ob sie solch einen grauen, verschneiten Tag besingen sollten. Auf der Straße fuhren nur einige wenige Autos vorbei. Es war sehr ruhig.

Eine Seltenheit für eine Großstadt wie Kingstonville. Hundertfünfundzwanzigtausend Köpfe. Alltäglich kamen welche dazu.

Und allnächtlich rollten welche von dannen. Als ob er das nicht besser wüsste.

"Murmelmurmelmurmel, blaablaaabla-- bla?BLA!!"

"Hey-- HEY, HALLO!! Ja sagen Sie mal, hören Sie mir überhaupt zu?!"

Oh nein, nicht der schon wieder.

Träge wandte Kurogane seinen Kopf vom Fenster ab und sah mit einem verschlafenen Blick dem vor Wut zu doppeltem Umfang aufgeblähten Psychotherapeuten ins Gesicht, der ihm gegenüber hinter seinem stattlichen Schreibtisch hockte wie eine belgische Leberwurst unter Hochdampf.

Versuchte wohl schon seit längerer Zeit, mit ihm zu reden. Seit einer knappen Stunde also.

"Eh?"

"Erstens heißt das nicht "eh", sondern wie bitte ", keifte Dr. med. Fitzgerald A. Delauney, eine männliche Schönheit mit der zierlichen Statur eines Schweineschinkens, "Und zweitens: dürfte ich Sie nun endlich um Ihre vielgeschätzte Aufmerksamkeit bitten?? Ich versuche schon die ganze Zeit, ein halbwegs vernünftiges zwischenmenschliches Gespräch mit Ihnen zu führen!

Was ist dort draußen nur so schrecklich interessant? Ist Pamela Anderson gerade vom Mond geplumpst und führt jetzt vor dem Fenster einen Striptease auf?"

"Nein", gab der schwarzhaarige Riese auf dem Patientenstuhl gähnend zurück, "Ich denke nur gerade an gestern Nacht. Mein Nachbar ist einem Herzinfarkt verreckt, die Frau meines Nachbars hat sich kurz darauf die Kugel gegeben, und ich mir zum Schluss die Kante. Das war vielleicht was."

"Oh!"

Wie auf Knopfdruck wandelte sich das hysterisch-weibische Geifern des Doktors zu einem salbungsvollen, fast kameradschaftlichen Ton, als hätte er jetzt den vielversprechenden Leitfanden zu Kuroganes bekloppter- oho!- Psyche gefunden.

Diese Quacksalber waren echt allesamt wie geklont.

"Wollen Sie vielleicht darüber reden? Das war sicher ein unangenehmes Erlebnis für Sie, habe ich Recht?"

"Sie haben Recht. Für den Cognac ist mein halbes Monatsgehalt draufgegangen, und ich Blödmann versauf ihn einfach wegen nichts und wieder nichts."

Stille. Dr. Delauneys Kinnlade sackte runter. Für den beknacktesten Gesichtsausdruck der Welt hätte der Fettsack in just diesem Moment zweifellos die Lorbeeren eingesackt.

"W-... WAS?!"

Mit einem missbilligenden Funkeln in den zinnoberfarbenen Augen wandte Kurogane seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu.

"Mein Gott, Delauney, Sie kapieren aber auch gar nichts, oder? Der Cognac. Das war nicht nur irgendeine von solchen billigen Zahnspülungen, wie sie bei Ihnen im Regal stehen. Exquisit. Schabbli Prömmiär Gröö, oder wie man das auch ausspricht..."

Wieder Stille. Dieser Tubipp war anscheinend einer der Sorte, die alles erst zwanzigmal hören mussten, bevor sie's kapierten.

"Sie wollen mir also damit sagen", begann der Psychotherapeut schließlich langsam, "Dass Ihnen dieses, dieses-- Gesöff wichtiger war als Ihre beiden verstorbenen Nachbarn?"

Die zinnoberfarbenen Augen blickten angeödet.

"Es hat also endlich Klick gemacht, was, Professorchen?"

Dem Doktor, dessen Gesicht langsam die Farbe einer frisch abgekochten Languste annahm, fühlte sich zusehends unwohler in seiner Haut.

Diese Präsenz, die da auf dem Patientenstuhl saß und offenbar mehr Interesse an dem Fenster fand als an seinen verzweifelten Versuchen, endlich ein Gespräch mit ihm zu beginnen, erinnerte weniger an einen Menschen als an Raubtier.

Teilnahmslos und apathisch kauerte es in seiner Höhle, blind, taub und stumm- jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem es seine Beute in Aussicht bekam.

Und spätestens dann gab es jede Zurückhaltung auf, stürzte sich auf sein wehrloses Opfer und biss ihm mitleidlos die Kehle durch.

Oder riss ihm gleich den Kopf ab. Delauney konnte zwar durchaus von sich behaupten, während seinen zwanzig Jahren als Diplomtherapeut ein einigermaßen stabiles Nervenkostüm erworben zu haben, aber just dieses wollte ihm in diesem Moment abhanden kommen. So einen verstockten Fall hatte er noch nie gehabt. Er wäre schon froh gewesen, wenn ihm dieser ungehobelte Kerl wenigstens seinen Nachnamen genannt hätte, wenn er denn einen besaß.

Mit einer Kaskade von Räusperern versuchte der beleibte Mann mit dem kastanienfarbenen Toupet auf der Glatze erfolglos, sich zur inneren Ruhe zu zwingen.

"Das ist ja interessant! Sie haben wirklich das innere Leben eines Philisters! Ich denke, so langsam durchschaue ich die Problematik, die bei Ihnen vorliegt, Kurogane!"

Die zinnoberfarbenen Augen bekamen einen geringschätzigen Ausdruck.

"Kein Schwein durchschaut meine Problematik. Weil es da nämlich keine gibt."

"Oh doch, mein Lieber, Sie wollen es sich lediglich nicht eingestehen!", trumpfte Delauney erregt auf,

"Sie schleppen einen ganzen Mount Everbest an Problemen mit sich herum!"

Er musste ihn knacken. Er musste. Er musste. Er musste.

Kurogane gähnte unübersehbar. Das war ja schon fast wie in einem schlechten Psycho-Thriller.

"Es heißt ja eigentlich Everest und nicht Everbest", erwiderte er schließlich nüchtern.

"Und ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie von mir wollen, Delauney. Ich kann keine Problematik bei mir erkennen. Aber eins erkenne ich, und zwar, dass ich offenbar Perlen vor die Säue geworfen habe, als ich hierher kam."

Das war zuviel für den Stolz des Therapeuten. Sein Gesicht nahm eine Färbung an, die ihn aussehen ließ wie ein ungekochtes Würstchen, das man ihn ein Netz gezwängt hatte.

"WAS?!! Ich glaube, ich höre nicht recht! Sie sind doch aus eigenem Antrieb hier!! Was für ein Mensch sind Sie, dass Sie es wagen, mich derartig zu--"

"Ich bin nicht aus eigenem Antrieb hier. Ehrlich gesagt wurde ich kollegial gezwungen."

"ACH JA?!!"

Schon längst nicht mehr Herr seines Tuns, sprang der Doktor von seinem Stuhl auf und stützte sich mit beiden vor Zorn bebenden Händen auf dem Schreibtisch ab. Sein stets rebelliender "Problempatient" hatte ihn mal wieder soweit gebracht.

"Wissen Sie was, dann hauen Sie doch ab! Sie sind ein hoffnungsloser Fall! Auf Sie kann ich mit Handkuss verzichten! Na los, verschwinden Sie schon!"

"Mit größtem Vergnügen. Auf Nimmerwiedersehen."

Der Riese erhob sich. Die Sprechzimmertür schwang auf und schlug mit solcher Wucht wieder zu, dass ein wenig Mörtel und Verputz von der Decke des Sprechzimmers rieselte. Eine besonders fette, eklig schwarze Spinne purzelte ebenfalls herunter, genau auf die Patientenakte des Doktors. Mit einem hysterischen Kreischen eliminierte Delauney das bedauernswerte Geschöpf mittels eines Faustschlages, sodass ihr einziges weltliches Vermächtnis nur in Form eines hässlichen Flecks auf dem sauberen, weißen Papier zurückblieb. Schließlich sank der ebenso bedauernswerte Doktor auf seinem gepolsterten Stuhl in sich zusammen wie von einem Vorschlaghammer in Extra-Large getroffen.

Das konnte doch einfach nicht wahr sein. Und er hatte sich noch vorgenommen, Würde und Räson zu bewahren!

Felsenfest sogar! Aber nein, dieser unverschämte Kerl hatte ihn wieder aus der Reserve gelockt, ohne dabei auch nur einen Finger zu krümmen.

Dabei logiere ich erst seinem Jahr in dieser Stadt! Warum ich, warum ausgerechnet ich?

Eine lange Stille verging.

Mit sichtlichem Ekel musterte Delauney die von der toten Spinne verunzierte Akte. Schließlich fasste er sie mit Daumen und Zeigefinger an einer Ecke und schmiss sie mit krausgezogener Nase in den Papierkorb. Die Akte würde er ohnehin nie mehr brauchen. Mit diesem schwarzhaarigen Schwein war er fertig.

Es dauerte seine Zeit, bevor sich Delauney endgültig wieder aufraffte und sich den Schweiß vom Gesicht tupfte.

Nur ruhig bleiben, Fitzgerald, ruhig bleiben. Das war noch lange nicht dein letzter Patient für heute.

Besser kommst du wieder auf den Teppich, bevor du den nächsten auch noch davonjagst.

Wird schon noch werden, wird alles schon noch werden...

Der Doktor streifte die spinnenverschmierte Akte im Papierkorb mit einem misstrauischen Blick.

Er wusste nicht, warum- aber irgendwie genügte das, um ihm eine Schauer über den Rücken zu jagen.
 

Verdammt nochmal!

Dieses Arschloch! Dreckskerl! Bastard!

Innerlich kochend vor Unmut stampfte Kurogane den Korridor der psychotherapeutischen Praxis von Dr. med. Fitzgerald A. Delauney entlang, wobei er zielstrebig die Richtung zur Eingangstür anpeilte und sich dabei innerlich in Schimpftiraden erging, die hier unmöglich wiedergegeben werden können.

Hier würde er sich garantiert nicht nochmal herverirren! Wie in aller Welt war sein Auftraggeber nur auf die Schnapsidee gekommen, ihn zu einem Psychotherapeuten zu schicken? Dem wuchs das Geld anscheinend auch schon beim Arsch raus!

Erst Theaterabende, dann Opern, dann Nutten und jetzt dieser unerträgliche Delauney! Fragte sich nur, was als nächstes kommen würde, ein Wanderzirkus vielleicht? Er hätte diesen breitärschigen Möchtegern-Psychoheini liebend gern einmal so richtig durch die Mangel gedreht. Wie er ihn angestarrt hatte! Als ob er ein Irrer wäre, der jeden Moment seine Kettensäge auspacken und auf ihn losgehen würde! Dabei fehlte ihm doch gar nichts!

Da würde er ja noch ein gehöriges Hühnchen mit seinem Boss zu rupfen haben.

Der Zorn verlieh Kurogane sowohl unglaubliche Kreativität als auch unglaubliche Geschwindigkeit.

Doch leider schien ebenjener Zorn ihn auch blind zu machen, denn so sah er in seinem furiosen Abgang die Gestalt nicht, die gerade auf den Aufruf des Doktors hin vom Wartezimmer auf den Flur gekommen war.

WAMM.

Der Schwarze hörte nur noch einen Knall, spürte, wie er gegen etwas Zausiges, schlaksig Dürres prallte und von der Wucht des Zusammenstoßes mehrere Schritte zurückstolpern musste.

Es war, als hätte man einem Stier das rote Tuch gezeigt.

Verdammter Dösbaddel!! Wie blöd sind die Menschen von heute eigentlich?!

"Aus dem Weg!! Tomaten auf den Augen, was?!", bellte er deswegen, ohne den Jemand, gegen den er geprallt war, genauer zu fixieren und beförderte ihn mit einem groben Stoß schlicht gegen die gegenüberliegende Garderobe, bevor dieser etwas erwidern konnte, und verließ die Szene, stampfend wie ein zweiter Godzilla.

Einige der Wartenden fragten sich innerlich, ob das Haus unter den Schritten dieses Wahnsinnigen nicht bald in sich zusammenbrechen würde. Die wenigstens hatten ihr Testament schon gemacht.

Zwei oder drei reckten neugierig die Hälse und blickten dem schwarzen Ungetüm nach, wie es die Allee vor der Praxis hinuntertrompetete, fluchend und trampelnd, als hätte es vor, die Welt unter sich zu Schutt und Asche zu zertreten.

Man hatte den Eindruck, dass seine Mundwinkel jeden Moment mit dem Erdboden Bekanntschaft machen würden.

Ein paar schüttelten den Kopf. Kaum zu fassen, das.

Doch etwas Gutes hatte es: sie wussten immerhin, dass es ihnen weitaus- weitaus!- besser ging als dem.

Weitaus besser.
 

"Auuu! Aua!"

Verflixt nochmal, wie das wehtat!

Stöhnend befreite sich der verwirrte, zerzauste Jemand aus den Mänteln und Jacken, in die er von diesem rasenden schwarzen Ungeheuer geradewegs hineingeschleudert worden war und rieb seinen von dem Aufprall schmerzenden Kopf.

Mann! Was war denn das gewesen, ein Sumoringer auf Rollschuhen?

"Mr. De Flourite!", hörte er plötzlich die Stimme des Doktors aus dem Sprechzimmer tönen.

"Mr. De Flourite? Worauf warten Sie? Kommen Sie nur herein!"

"Gleich, gleich!", rief der Jemand zurück und versuchte hastig, ein wenig Ordnung in seine blonde Sturmfrisur zu bringen, was allerdings aufs Kläglichste misslang.

Mann! Hatte dieser Kerl denn keine Augen im Kopf?

Er hatte das Gefühl gehabt, von einem Zeppelin gerammt zu werden. So jemand musste doch nicht mehr alle Tassen im Schrank haben! Einen erst anrempeln, dann einfach weiterpflügen wie the Incredible Hulk auf Zerstörungstrip, und dabei auch noch schimpfen wie ein Kesselflicker!

Vielleicht hatte der Kerl ja einen Kater gehabt? Oder verdorbenes Chili zum Frühstück? Er hatte mal irgendwo gelesen, dass das das Nervenkostüm strapazieren würde.

"Mr. De Flourite!"

Oh, der Doktor! Den hatte er fast vergessen. Eilig klopfte der Blondling nochmal sein helles Hemd sauber und stolperte schnellstmöglich ins Sprechzimmer.

"Tagchen auch!", sagte er fröhlich und ließ sich in den gepolsterten Patientenstuhl fallen.

"Entschuldigen Sie die Verspätung, Doktor. Ich hatte nur einen kleinen... ahem-- Unfall auf dem Flur."

"Schon in Ordnung."

Mit geübten Fingern blätterte der wohlbeleibte Doktor durch die Akte, die er sich, nachdem er sich von den Schrecken seines vorigen Patienten erholt hatte, aus dem Schrank hinter seinem Schreibtisch gefischt hatte.

Fye De Flourite. Ein schon etwas klarerer Fall als der Vorhergehende. Komisch, ständig glaubte er, diesen Namen schon einmal irgendwo gehört zu haben- doch wo? Lieber dachte er gar nicht darüber nach und widmete sich lieber seinem Patienten, der ihn anstrahlte wie hundertprozentiges Uran.

"Tja, Mr. De Flourite, dann lassen Sie mal hören. Wie geht es Ihnen heute?"

Der schlanke Blondling auf dem weinroten Sessel lächelte herzlich.

"Sie werden es nicht glauben, Doktor: aber der Nachrichtensprecher von gestern hat doch tatsächlich Schnee vorausgesagt!

Und ob sie's fassen können oder nicht, gestern Nacht fiel kein Schnee! Es hat Katzen und Hunde geregnet, ich hab's selbst gesehen!"

"Oh,ähh-- ja. Ich sehe also, dass Sie tatsächlich an ihrem Insomnia-Problem arbeiten--"

"Genau! Das ist das Stichwort: arbeiten! Wir haben neu tapeziert, meine Mitbewohner und ich. Wir haben ewig lange gestritten, wissen Sie? Wir sind ja normalerweise totaaaal gechillte Brothers, aber anscheinend kamen wir nicht drum herum. Vom Nachbarhaus ist nämlich ein voller Spaghetti-Teller durchs Fenster zu uns rübergeflogen und hat die ganze Wand versaut. Soll es eine Tapete mit rosa Bärchen oder mit blauen Elefäntchen sein? Oder grüne Giräffchen? Es hat mich ernstlich beschäftigt. Was hätten Sie gesagt, Doktor? Bärchen, Elefäntchen oder Giräffchen?"

"Ähh, ahemm-- also, eigentlich habe ich mich ja nach Ihrem Zustand erkundigt-"

"Sie haben Recht, das ist doch kein Zustand. Ich war eindeutig für Elefäntchen, aber nein, die wollten unbedingt Bärchen!"

Delauney spürte, wie sich sein Magengeschwür zu melden begann.

"Ahm... ja also-- darf ich mich dann erkundigen, was die Gruppengespräche mit Ihren Mitbewohnern so machen?

Über was unterhalten Sie sich? Nur zu, erzählen Sie es mir."

Der schlanke junge Mann stieß- ein Sinnbild des Eifers- den rechten Zeigefinger in die Luft.

"Morgens reden wir über Kissen, mittags reden wir über gefüllte Enten, abends reden wir über den Mondkalender und nachts reden wir über Sex. Sonst noch was? Ach ja, seit kurzem sieht die Planung anders aus. Wir reden in letzter Zeit nur noch über Tapeten!

Die Situation scheint sich gehörig festzufahren, finden sie nicht auch? Nachts träume ich sogar von Tapeten. In so einem Tapetenhaus wäre Übernachten doch mal schön, was? Und außerdem--"

Der Psychotherapeut gebot dem unbremsbaren Erzähltempo seines geschwätzigen Patienten mit einer nervenschwachen Handbewegung nur mühsam Einhalt.

"Mr. De Flourite. Hören Sie mir zu. Jedesmal, wenn Sie bei mir erscheinen, möchte ich mit Ihnen über Ihre Probleme sprechen,

weil es mein Beruf und mein Wunsch ist, Ihnen zu helfen. Aber ich stelle auch fest, dass Sie jedesmal, wenn Sie bei mir erscheinen, nahezu kontinuierlich vom Thema ablenken, kaum dass Sie mir gegenüber sitzen. Ich frage Sie: hat das einen Grund?"

Das Grinsen des Blondlings war so breit, dass mühelos eine Wassermelonenscheibe in seinen Mund gepasst hätte.

"Aber nein, Dr.Delauney. Ich erzähle Ihnen lediglich, was mich beschäftigt!"

"Aha. Und Sie beschäftigt also Bärchen-Tapete."

"Nein, eben nicht Bärchen! Elefäntchen!"

Mit einem Stöhnen vergrub der Doktor seinen Kopf in den Händen, sodass sein Toupet leicht verrutschte.

"Dann führen Sie doch wenigstens ein wenig die Gesprächsthemen mit Ihren Mitbewohnern aus. Sie reden also nachts über Sex?"

Das Grinsen seines Patienten wurde noch ein wenig breiter.

"Aber ja, wir sind schließlich aufgeklärte Menschen. Ich meine, wer redet nicht gern über Sex?"

"Die wenigsten", antwortete der Doktor vergrätzt seufzend.

Sofort musste er für diese Antwort büßen. Der Blondling schüttelte sich kokett und zwinkerte dem Doktor verschwörerisch zu.

"Was lassen mich Ihre Worte hier ahnen, Doktor? Hat da etwa jemand ein kleines schmutziges Geheimnis?

Ich dachte, Sie wären verheiratet?"

"Wawawawawawas?!!", keuchte Delauney mit dem Gefühl, jeden Moment den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sein Patient kicherte. "Kommen Sie schon, Doc, mir können Sie doch alles erzählen! Lassen Sie's raus, Sie kleines Luder!"

Doktor Delauneys Gesicht nahm allmählich die Farbe von schlecht mit Joghurt gemischtem Johannisbeereis an.

Sein Magengeschwür bohrte ihm gedanklich Löcher in den Bauch. Ihm wurde nahezu schwarz vor Augen.

Kaum zu fassen. Rollentausch. Woher kommt mir sein Gesicht nur so bekannt vor?

"Sagen Sie, kenne ich Sie von irgendwo her?", fragte er mit schwacher Stimme. Sein Patient sah spielerisch nachdenklich zur Decke.

"Sie dürften mich kaum kennen. Ich meine, Sie logieren doch erst seit einem Jahr hier in Kingstonville, nicht?"

"Hätte ich Sie etwa besser gekannt, wenn ich vorher hierher gekommen wäre?"

Der Blondling lächelte.

"Wer weiß, Doc. Ich bin eben sehr beliebt."

"Ah, gut. Dann ist ja alles in Ordnung", krächzte Delauney.

Mit einem Seufzen nahm er die Akte seines Schützlings erneut zur Hand, um das zu tun, was er immer tat, wenn er nicht weiterwusste: er blätterte nervös darin herum. Oh Mann. Dann würde ihm wohl wieder nichts anders übrig bleiben, als sich auf die alte Weisheit "Kommt Zeit, kommt Rat" zu beschränken.

Nur ruhig bleiben, Fitzgerald, ruhig bleiben. Besser kommst du wieder auf den Teppich.

Wird schon noch werden, wird alles schon noch werden...

Es würde ein langer, langer Tag für ihn werden.

Und das wussten sowohl er als auch sein Patient.

Flow, Fly 'n Fall

-"Fürchtet euch nicht vor denen, die nur den Körper, aber nicht die Seele töten können."-

(Bibelzitat)
 

~~
 

Tiefste Nacht.

Der Teufel mochte wissen, wann genau.

Über der Großstadt Kingstonville hing eine dünne Mondsichel an einem tief samtblauen, wolkenlosen Himmel, an dem die Sterne in der Nacht funkelten wie ein Handwurf silbener Knöpfe, und tauchte das ganze Reichenviertel in bleiches Licht.

Es war affenkalt draußen. Würde wohl bald wieder Schnee geben. Logisch, immerhin war es Mitte Dezember.

Im Inneren des großzügig bemessenen Hauses Nummer fünf war alles totenstill.

Das einzige richtige Geräusch, das man hörte, war das Ticken der alten viktorianischen Standuhr im Wohnzimmer.

Gleichmäßig schwang ihr gusseisernes, reich verziertes Pendel hin und wieder her. Tick. Tack. Tick. Tack.

Doch wenn sich ein etwaiger Zuschauer der nächtlichen Szene nicht nur mit diesem Bild des häuslichen Friedens zufriedengegeben hätte, so hätte er vielleicht mit der Zeit auch das monotone Geplapper und Gedudel des Breitwand-Fernsehers in ebenjenem Wohnzimmer wahrgenommen.

Die kostspielige Apparatur warf flimmernde Schatten in den exklusiv im Viktoria-Stil eingerichteten Raum, und somit auch auf die mächtige, schwarze Gestalt, die regungslos in dem schwarzen, üppig gepolsterten Fernsehsessel saß. Besser gesagt lag sie mehr darauf, als dass er auf ihm saß. Noch besser gesagt: sie schlief.

Auf dem gläsernen Beistelltischchen neben dem Sessel stand ein Glas nebst einer langhalsigen Flasche, noch mit Bodensatz der begehrten Weinmarke Baron de Rothschild, Jahrgang fünfundsechzig.

In der Glotze lief gerade eine sterbenslangweilige Reportage über die Herstellung von öffentlichen Mülleimern.

Irgendso ein Heini, der auf beunruhigende Weise selbst einem Mülleimer ähnelte, wurde interviewt. Man merkte, dass er sowas selten mitgemacht hatte.

"Hm, ähh, ja also-- zuerst schmelzen wir, äh, das P-plastik ein, das recycelte mein ich, und, äh-- dann gießen wir es halt in die Formen da rein- ehm, ähhh-... und warten dann eben. Äh-- super-umweltfreundlich u-und garantiert frei von, äh- Schadstoffen! Ehm, und zum Schluss machen wir noch--"

Drrrrrr. Drrrrrrr. Drrrrrrrrrrrrrrrr.

Der äußerst lückenhafte Vortrag des bemitleidenswerten Kerls, der mehr aus Ähm und Hm als aus zusammenhängenden Worten bestand, wurde subito durch das metallische Schrillen der schnurlosen Telefonanlage im hinteren Teil des Wohnzimmers unterbrochen. In regelmäßigen Abständen plärrte monoton die Glocke.

Es dauerte allerdings seine Zeit, bis in das schwarze, schlaff über dem Fernsehsessel hängende Etwas, das tagsüber als Kurogane bekannt war, so etwas wie ein Funke Leben zurückkehrte.

Unter einer Reihe undefinierbarer Geräusche, teils Knurren, teils Stöhnen, teils Ächzen, erwachte der schwarzhaarige Riese aus dem Koma und hob nur sehr mühsam den Kopf, da es darin summte wie in einem Wespennest.

In seinem sonnengebräunten Stiernacken knirschte und knackte es, als würde ein unsichtbarer Jemand versuchen, ihm von hinten das Genick zu brechen, als er sich endlich endgültig aufrichtete und sich unter schmerzverzerrter Miene die Schläfen massierte.

Dabei erging er sich innerlich in Flüchen, das hatte ihm schon immer geholfen, Schmerzen aller Art zu bezwingen.

Verflucht, wie das wehtat! Was war in den letzten drei Stunden überhaupt passiert?

Der Blick des Schwarzen fiel auf die Flimmerkiste, auf deren Mattscheibe gerade eine Fließband-Prozession von öffentlichen Mülleimern zu sehen war, und ihm wurden auf unangenehm unterschwellige Weise drei Dinge klar. Erstens: das Telefon klingelte. Zweitens: er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Und drittens: das war seine letzte Flasche Baron de Rothschild gewesen!

Über das Erste dachte er erstmal gar nicht nach, denn er wusste jetzt schon, wer dran war, sondern machte sich pro primo ausführlich Gedanken über das Zweite und vor allem das Dritte.

Verdammt noch eins, wo sollte er nur neuen Rothschild herkriegen?

Der Laden, in dem er gerade diese letzte Flasche gekauft hatte, war seit zwei Wochen den Bach runter und sein Besitzer tot. Leukämie.

Wieso musste sich dieser bescheuerte Virus immer genau die aussuchen, die halbwegs wichtig waren?

Er würde wochenlang suchen müssen, um einen mindestens ebenso guten Weinladen in Kingstonville zu finden.

Und überhaupt- was war in letzter Zeit bloß mit ihm los, dass er einfach so vor dem Fernseher einschlief?

Mühsam versuchte der Schwarzhaarige, sich an die letzten Stunden zu erinnern, was ihm wegen des lästigen Telefonklingelns allerdings nicht so recht gelingen wollte.

Er stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus und überredete sich endlich, den Hörer abzunehmen.

"Am Apparat."

"Ich bin's, alter Freund."

Der Riese ächzte genervt. Die Nacht war auf jeden Fall schonmal im Arsch, wenn er anrief.

"O'Connor, verdammte Käsesocke! Dreckskerl! Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich nicht alter Freund nennen sollst, häh?!"

"Nun sei doch um Gotteswillen nicht so freundlich, Kurogane, mir wird schon schlecht", war die trockene Antwort,

"Ich rufe immerhin aus Gründen an, die dich interessieren."

"Das behauptest du jedes Mal."

"Okay, ich gebe zu, die Sache mit Tom und dem Gemüsebeet war wirklich etwas hergeholt. Aber dieses Mal ist es wichtig."

Kurogane stieß ein kehliges Knurren aus, das jedem Kingkong Respekt beigebracht hätte.

"Ich warne dich, du Hirnschwacher, noch so ein Himmelsfahrtskommando, und ich werde dich--"

"Ist ja gut, beruhige dich doch. Es geht um die Sache von gestern. Ich soll dir Lob von der ganzen Zentrale bestellen."

"Das ist ja nett. Ich kotze gleich. Und sonst?"

"Zwei Sachen. Die Polizei hat Wind gekriegt und den Tatort gesichert. Ich hoffe, du hast das sauber über die Bühne gebracht."

"Wie immer. Das reicht hoffentlich als Erklärung?"

Seinem Gesprächspartner war die Erleichterung deutlich anzuhören.

"Hervorragend, wirklich ganz hervorragend. Dann brauche ich mir ja keine Sorgen mehr zu machen. Das Honorar kommt auf dem üblichen Wege. Übrigens, wie war der Termin bei dem Psychotherapeuten, den ich dir besorgt habe?"

"Zum Kotzen. Ich hab dir schon tausendmal gesagt, hör auf, ständig mit solchem Scheiß zu kommen. Ich bin nicht Hannibal Lecter."

"Ach ja? Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Und wenn wir schon bei dem sind, was du als "Scheiß" bezeichnest- Sachiko ist vor zehn Minuten ganz aufgelöst bei mir reingeschneit. Was war denn bloß wieder los?"

Kurogane musste erst für zwei Sekunden überlegen, bevor ihm wieder einfiel, was sein Gesprächspartner meinte. Ach so, diese blöde Kuh, die am späten Nachmittag bei ihm geklingelt hatte, um ihn ein wenig zu "unterhalten". Er hatte ihr die Tür vor der Nase zugeknallt, mit der warmherzigen Empfehlung, sich ins Knie zu ficken.

Fast vergessen.

"O'Connor, wann kapierst du endlich, dass ich mir meinen privaten Umgang selbst aussuche?"

Ein entnervtes Seufzen drang an sein Ohr, was sich über die Telefonleitung anhörte wie ein verstärktes statisches Rauschen. Denen brannte wohl mal wieder der Schlips, weil sie dachten, er bekäme nicht genügend Abwechslung.

"Kurogane-- du bist der undankbarste Mensch, den ich kenne. Ich reiß mir den Arsch auf und besorge dir die besten Nutten der Stadt, und was machst du? Du schmeißt sie hochkant zur Tür raus!"

"Tut mir leid für deinen Arsch, aber mit wem ich in die Kiste springe, ist wohl meine eigene Entscheidung. Du wolltest doch noch etwas sagen", lenkte er schließlich von dem lästigen Thema ab.

"Stimmt. Ich habe einen neuen Job für dich. Diese Yamazawa hat noch mit einigen anderen Firmen sympathisiert, bevor du sie aufs Korn genommen hast. Wir haben schon ein paar ihrer Ansprechpartner der betreffenden Konzerne ausfindig gemacht."

"Wieviele?"

"Fünf."

"Und wieviel?"

"Zweihunderttausend pro Kopf."

Der Riese überlegte für ein paar Momente. Für ein paar Flaschen Baron de Rothschild würde es schonmal reichen.

"Na gut. Aber wehe, ihr vergesst zu zahlen."

"Schnauz mich nicht so an, natürlich zahlen wir. Du dürftest uns doch kennen. Ich schicke dir die Liste und die Daten der Vertreter über Fax. Für den ersten kann ich dir die nötige Info aber schon geben. Hast du die Abhörblockade angeschaltet?"

"Ich müsste blöd sein, wenn nicht."

"Sehr gut. Also, es handelt sich um einen Gewerkschaftsvorsitzenden namens Dimitry Navras. Endvierziger. Ziemlich mickrig geraten, mit Hornbrille und kurzen, grau melierten Haaren. Trägt fast immer 'n lausgraues Jackett. Und ich habe aus guten Quellen erfahren, dass er fast jeden Morgen am Johannesplatz seinen Kaffee trinkt. Meistens im "Jardin D'Hiver". Beschnupper ihn dir mal, es könnte sich lohnen."

"Ich bin kein Tier, O'Connor."

Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung bezweifelte das. Wenn er mit seinem bewährtesten Auftragskiller Worte wechselte, hatte er das Gefühl, sich mit einem an die Kette gelegten Panther zu unterhalten- nun, das würde zumindest auf ein ähnliches Ergebnis hinauslaufen. Auf gar keins nämlich.

"Nun, das wär's soweit von meiner Seite. Mr. Pantoliano ist in allen Hinsichten sehr zufrieden mit dir."

"Geb ich 'n Scheiß drauf."

"Du tätest besser daran, mehr als einen Scheiß drauf zu geben. Übrigens, ich hab einen Vorschlag: ich habe im letzten Playboy-Magazin von einer Brandneuen im Edelgewerbe gelesen! Angelique! Ein absoluter Kracher, sag ich dir! Gertenschlanke Beine, und Titten bis nach Jericho! Was ist, soll ich sie dir mal probeweise bu--"

Klick.

Ohne ein weiteres Wort legte Kurogane auf und schmiss den Telefonhörer kurzerhand aufs Sofa.

Was für ein Arschloch. Offenbar war sein Auftraggeber der Meinung, dass Nutten alle Probleme lösen konnten. Dabei hatte er nichtmal welche. Er und Probleme? Da lachten ja die Hühner! Sein einziges Problem zurzeit war der Baron de Rothschild, aber das würde er schon geregelt kriegen.

Jetzt erstmal zu diesem Dimitry Navras.

Mit einem Stöhnen streckte sich der geschmeidige Auftragskiller von oben bis unten durch, sodass alle seine Knochen krachten und schaltete den Fernseher aus, in dem immer noch diese bekloppte Mülleimer-Reportage lief. Dann warf er einen Blick auf die Uhr.

Halb drei am Morgen. Um sieben begann für gewöhnliche Leute normalerweise ein durchschnittlicher Arbeitstag. Da würde sich schlafen kaum mehr lohnen. Erstmal einen Kaffee trinken und dann ein bisschen trainieren.

In wenigen Schritten durchmaß der schwarzhaarige Riese das dunkle Wohnzimmer. Sein kalt im hereinfallenden Mondlicht glänzendes Katana lehnte ruhig an der Wand neben dem Fenster.

Sein Kampfgefährte, der immer griffbereit an seinem Platz stand und auf ihn wartete. Ein Freund, der immer Zeit für ihn hatte. Ihm immer zuhörte, wenn er mal wieder Gott und die Welt verfluchte. Immer bei ihm war, wenn es brenzlig wurde. Nie an ihm herummäkelte, ihn in Ruhe ließ und dennoch da war.

Sein Freund.

Mit geschlossenen Augen nahm Kurogane das Katana mit fast schon zärtlichen Fingern am Heft.

Streckte es aus, sodass das Mondlicht beinahe wie flüssiges Silber an dem schimmernden Stahl abperlte. Schwang es einige Male gekonnt. Das leise Sirren, mit dem es die Luft durchschnitt, klang in seinen Ohren fast wie eine geflüsterte Liebeserklärung.

Behutsam nahm er es wieder herunter, befühlte den Griff aus geschmeidigem Rochenleder, dieser so sinnliche, weiche Stoff, der sich wie die Haut einer Geliebten an seine Handflächen schmiegte, den verheißungsvoll glänzenden, federleichten Stahl, die Spitze, die sich immer so sanft und aufreizend in seine Fingerkuppen bohrte. An der Klinge haftete noch eine ganz leichte Geruchsaura von getrocknetem Blut. Metallisch. Anklagend.

Eine abgöttische Lust wallte in Kurogane auf. Sein harter Mund verzog sich zu zu einem Grinsen.

Dimitry Navras also. Dem würde das Lachen bald vergehen. Was war diese mickrige Existenz schon gegen ihn . Gegen sein Katana.

Das Herz das Schwarzhaarigen begann, schneller gegen seine Rippen zu pochen. Vorahnend. Erwartungsvoll.

An die Arbeit.
 

Zwanzig Kilometer weiter weg steckte Joshua O'Connor sein Telefon wütend zurück in die Anlage.

Das gibt's doch einfach nicht! Was mach ich hier eigentlich noch?

"Gab's wieder Probleme mit Kurogane?", erkundigte sich ein vorbeikommender Kollege.

Die Leichenbittermiene seines Vorsitzenden ließ sich nur schwerlich übersehen.

"Na, was denn sonst", gab O'Connor entnervt zurück.

"Ich kann echt machen, was ich will. Der wird von Tag zu Tag arroganter."

"Wem sagst du das. Irgendwann wird sich euer Panther von der Kette reißen."

"Du sagst es."

Joshua O'Connor warf einen müden Blick zum Fenster hinaus. Chaotisch, pulsierend vor Leben und riesengroß erstreckte sich Kingstonville in der Ferne vor ihm.

"Die Polizei ist schon am Yamazawa-Tatort. Wir können nur hoffen, dass er das diskret durchgezogen hat, sonst sind wir angepisst.

Eins kann ich dir garantieren: lange geht das nicht mehr gut mit ihm. Irgendwann müssen wir ihn wohl auch so verschwinden lassen, wie er für uns immer andere verschwinden lässt, wenn er weiterhin so rumspinnt."

"Steht zu erwarten."

Nach einem äußerst unangenehmen Schweigen zwang sich O'Connor schließlich, zu seinem Arbeitsplatz zurück zu kehren.

Er hatte für heute immerhin noch genug zu tun. Hoffentlich würde Kurogane das mit diesen Firmenvertretern regeln, ohne rumzumaulen.

Hoffentlich.
 

Sieben Uhr zweiundvierzig am Morgen.

Man hätte meinen können, es wäre immer noch mitten in der Nacht, denn alle Straßenlaternen waren noch an, und der Mond schien.

Naja, immerhin war es Mitte Dezember. In wenigen Wochen war Weihnachten.

Weißer, im Licht der Laternen leuchtender Schnee lag dicht und hoch auf den Dächern, Giebeln und Fenstervorsprüngen der Häuser, die sich rund um den Johannesplatz erstreckten. Der mit römischen Göttergestalten verzierte Romulusbrunnen in der Mitte des Platzes versprenkelte schon seit Anfang Oktober kein Wasser mehr. In den vielen kleinen Cafés und Feinkostgeschäften, die sich ebenfalls an dem riesigen Platz wähnten, der für Kingstonville "das" Symbol schlechthin war, herrschte allerdings schon Hochbetrieb.

Untertassen klapperten, Verpackpapier von heißen Zuckerküchlein, Pralinen und kandierten Früchten raschelte, Reinigungsmaschinen zischten, Stühle rückten, zahllose schwatzende, lachende Stimmen drangen durcheinander, vermischten sich.

Gedankenversunken lehnte Fye am Fensterbrett hinter der Theke der Konditorei 'Garden of Goodies', in der allerdings wie so oft keine Sterbensseele Süßigkeiten kaufen wollte, und starrte auf den Johannesplatz hinaus.

Mann, wie gerne er jetzt auf einen schnellen Sprung in eins der Cafés gegangen wäre, um ein Nikolausküchlein zu essen und einen heißen Cappuccino dazu zu trinken, oder wenigstens, um sich ein wenig aufzuwärmen. Hier stand er doch sowieso nur herum, weil sein verblödetes Rhinozeros von einem Chef ihn nichts machen ließ außer Ausfegen und Regale abstauben, und wie immer funktionierten die Heizungen in dem Laden nicht richtig. Die blassen, alabasterfarbenen Wangen des Blondlings waren noch weißer als sonst, und vor Kälte schlotterten ihm die Knie. Sein Frühstück- ein weichgekochtes Ei, Reibekuchen und englische Speckstreifen mit Orangensaft als Getränk- wälzte sich unruhig in seinem Magen hin und her.

Mann. Nicht einmal das konnte er jetzt noch bei sich behalten. Oder wollte er es nicht? Er wusste es nicht.

"BILL!!!"

Fye zuckte heftig zusammen und sein Herz sank ihm augenblicklich in die Kniekehlen.

Hilfe.

Mit einem ein wenig verkrampften Lächeln wandte sich der junge Mann zu der Gestalt um, die gerade im Türrahmen hinter dem Thresen auftauchte. Ein gedrungener, spitzbäuchiger Mann in den Frühfünfzigern, mit Armen wie Popeye und einem Stoppelbart auf der kantigen Bulldoggenvisage, an dem man sich wohl die Finger aufschlitzen würde, wenn man versuchen würde, ihn abzurasieren, mit einer schmutzigen Schürze um die Hüften gebunden und Haaren auf den Armen, von denen man sich einen Pullover hätte stricken können.

Sein Chef. Marcel Mayonès. Es ging das Gerücht um, dass er schon fünf Menschen auf dem Gewissen hatte, die es gewagt hatten, seinen Nachnamen mit dem Zeug zu vergleichen, das man in Tuben kaufen und über seine Pommes schütten konnte.

Gerade spuckte er den Zigarettenstummel, auf dem er schon seit Arbeitsbeginn herumgekaut hatte, in irgendeine Ecke des Ladens.

Fye registrierte aus dem Augenwinkel heraus, dass er geradewegs in einer schon älteren Mandeltorte im Schaufenster landete.

Naja. Die war wahrscheinlich eh schon schlecht gewesen.

"Was gibt's, Chef?"

"Was es gibt?! Ich hab dir doch gesagt, du sollst deinen dürren Arsch schwingen und den Ladeneingang ausfegen! Also steh gefälligst nicht so dämlich rum, sonst verwechseln dich die Leute noch mit dem Kleiderständer! Oder soll ich dir ein neues Arschloch bohren, damit du endlich was tust für dein Geld?!!"

"N-nein, lieber nicht. Ich hab ja schon eins."

"Dann beweg dich! LOS!!"

"Ja..."

Brav nahm sich Fye den Besen, der hinten an der Tür zur Küche lehnte, krempelte vorschriftsgemäß die Ärmel hoch und stolperte schleunigst nach draußen, um der vernichtend glotzenden, nach Sherry stinkenden Präsenz, die sich sein Chef schimpfte, zu entkommen, und sei es nur für ein paar Minuten. Mit einem lautlosen Seufzen lehnte der Blondling die Eingangstür an und fing an, die Treppen zu fegen, während Mr.Mayonès wieder in der Küche verschwand. Er behauptete immer, er würde an einem grandiosen neuen Tortenrezept arbeiten, das die Massen hundert pro für sich gewinnen würde und den "Garden of Goodies" zweifellos innerhalb weniger Tage zur beliebtesten Konditorei der Stadt machen würde, trotz kaputten Heizungen, ewigem Sherrygestank und Zigarettenstummeln in den Kuchen, aber wahrscheinlich dröhnte er sich mal wieder nur mit seinem Lieblingsgetränk zu.

Gedankenverloren stieg Fye die bereits gefegten Treppen hinunter und trat auf die Straße vor dem Laden, um dort auch nach dem Rechten zu sehen.

Was hatte sein Chef bloß? Der Asphalt war so sauber, wie ein Stadtasphalt nur sein konnte. Vielleicht verursachte zuviel Sherry mit der Zeit Halluzinationen. Naja, er fegte lieber trotzdem, sonst würde er wahrscheinlich nur wieder eins mit dem Nudelholz über die Rübe kriegen. Mit einem lautlosen Seufzer fegte Fye den linken Bordstein und wandte sich schließlich dem rechten zu.

In einer gekonnten Bewegung schwang er den Besen- doch er kam nicht weit. Denn auf dem rechten Bordstein stand jemand.

Mit verwirrten Augen starrte Fye auf die schwarzen, auf Hochglanz polierten Schuhe, die da standen, und die er gerade zweifellos mit seinem Besen staubig gemacht hatte.

Oh je. Das würde Stunk geben.

Zaghaft hob der junge Blondling seinen Blick und sah einem ungewöhnlich hoch gewachsenen, schwarzhaarigen Mann in einem etwa knielangen schwarzen Wintermantel ins Gesicht.

Wobei- in diesem Fall konnte man nicht wirklich "ins Gesicht sehen" sagen. Fye sah sein Gesicht nur aus dem Profil, weil der Fremde offenbar gerade mit Warten beschäftigt war, denn der Blick seiner Augen war ins Unbestimmte gerichtet. Er wirkte seltsam geistesabwesend, wie er so regungslos wie ein Ölgötze dastand und ins Nichts zu starren schien. Man könnte meinen, er wäre schon längst gestorben und hier über Nacht festgefroren.

"Eh-... e-entschuldigen Sie bitte?", fragte Fye zögerlich, denn immerhin wollte er diesen seltsamen Kerl auf seine von ihm bestaubten Schuhe aufmerksam machen. Und außerdem wollte er fegen, damit er heute ohne ein blaues Auge nach Hause kam.

"Entschuldigung? Ich, äh-- entschuldigen Sie? Hallo?"

Keine Reaktion. Fye wusste nicht, ob er hier einen Menschen oder ein lauerndes Raubtier vor sich hatte.

"Pardon, aber-- ähh, könnten Sie nur kurz ein wenig zur Seite gehen? Ich muss nämlich ausfegen, und, ähm--"

Immer noch keine Reaktion.War der Kerl etwa wirklich schon tot? Sein Chef würde ausflippen! Womöglich würde er auch noch denken, Fye hätte ihn getötet! Und dann würde er ihn sicher rauswerfen, und er würde die mühsam durchgerungene Elefäntchen-Tapete nicht bezahlen können!

"Bitte, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie die Wirkungsamplitude meines Besens durchbrechen?", fragte der Blonde schließlich mit etwas festerer Stimme, obwohl seine Wortwahl mehr als bescheuert war.

Immer noch keine Reaktion. Fye hob skeptisch die Augenbrauen.

"Ich bin der König der Welt! Erhören Sie mich! Sie müssen mir treu dienen! Küssen Sie meine Füße!"

Keine Reaktion.

"Agga ugga wugga bugga wuuuh!"

Keine Reaktion.

"UÄÄÄRKS!! MAN HAT MICH GEMORDTÖTET!!! ICH STERBEEE!!!!"

Volltreffer. Der Riese zuckte zusammen und fuhr herum. Das mit der Todesankündigung funktionierte halt doch immer.

Mit großen Augen fixierte Fye die ungewöhnliche Augenfarbe des Fremden.

Wie Lava oder Zinnober. Sah man nicht oft.

"Mann, was soll das, sind Sie eigentlich noch richtig im Hirn?!", blaffte der Schwarzhaarige gereizt, nachdem er sich vergewissert hatte, dass hier niemand gemordtötet worden war und starrte den Blonden vernichtend an.

"Keine Ahnung", gab Fye wahrheitsgetreu zurück, "Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mal eben einen Schritt zur Seite gehen könnten."

"Ach, und warum sollte ich das?"

"Weil ich fegen muss. Ich bin hier nämlich der Lehrling", erklärte sein jüngeres Gegenüber mit einem Lächeln und hielt ihm als Beweis seinen Besen unter die Nase.

Der Fremde musterte das Reinigungsutensil wie ein besonders ekliges Insekt, um dann Fye mit demselben Blick ins Gesicht zu sehen. "Pech für Sie. Ich war vor Ihnen da."

"Ich muss aber meine Pflicht erfüllen! Ich bin der Vishnu aller Besenstiele!", protestierte der Lehrling und schüttelte auf drollige Weise seine blonde Sturmfrisur.

Der Schwarzhaarige starrte ihn an, als ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte.

"Sie sind der-- was ?!!"

"Vishnu. Der hinduistische Gott mit der blauen Haut und den vier Armen."

Sein älteres Gegenüber fixierte Fye noch für einige Sekunden misstrauisch, als hätte er den Verdacht, dass der blonde Hilfswicht irgendwo noch ein zweites Paar Arme versteckt hielt, bevor er seinen Blick wieder ins Unbestimmte richtete. Allerdings gab er sich keine Mühe, einen Schritt beiseite zu gehen.

"Ehm, entschuldigen Sie--?"

"Ich entschuldige nicht."

"Ja, aber--"

"Nein."

"Aber ich--"

"Nein."

"Ich will doch nur--"

"NAIEN!!", brüllte der Schwarzhaarige aus voller Kehle und wandte sich Fye schließlich ganz zu, was diesen aus irgendwelchen Gründen sofort in Habachtstellung gehen ließ. "Hören Sie, ich geb einen Scheißdreck drauf, was für ein Wischbuh Sie sind, und es geht mir am Arsch ab, wo Sie fegen müssen! Gehen Sie mir einfach aus den Augen!"

"Sie sind aber gar nicht nett", jammerte der Blondling und schniefte einige Male kokett.

"Die ganze verdammte Welt ist nicht nett."

Der Fremde beschränkte sich auf diese Antwort und starrte wieder ins Nichts. Fye nutzte die verstreichende Zeit, um sich den Kerl mal näher zu betrachten. Seltsam, irgendwie kam er ihm bekannt vor, als hätte er ihn schon irgendwo gesehen.

Wohin schaute er eigentlich die ganze Zeit? Es wirkte auf eine merkwürdige, unterschwellige Weise so, als würde er eher auf etwas lauern als auf etwas warten. Neugierig folgte Fye dem Blick des Fremden.

"Was gibt es denn dort drüben in dem Café? Ein hübsches Mädchen?"

"Hm. Nö. 'nen alten Knacker", gab der Schwarzhaarige geistesabwesend zurück.

Offenbar war er nur zu reden gewillt, wenn er gedanklich gerade in anderen Sphären schwebte.

"Welchen? Dort sitzen so viele alte Knacker."

"Hm. Den mit den grau melierten Haaren."

Nach einiger Zeit des Suchens hatte Fye ihn. Im "Jardin D'Hiver". Ein mageres, ziemlich mickrig geratenes Männlein mit einer schweren Hornbrille auf der Adlernase und einem lausgrauen Jackett. Er war gerade dabei, sich Zucker in den Espresso zu schütten und unterhielt sich dabei mit einer ebenso verkalkt wirkenden Dame.

"Den dort?"

"Hm."

Fye grinste den Fremden von der Seite her breit an.

"Und was wollen Sie von diesem schicken Burschen?"

"Hm. Ihn töten."

"Achso. Ich dachte schon, Sie wollen was mit ihm anfangen. Nehmen Sie niemals einen, der sich Zucker in den Espresso schüttet. So ein Kunstbanause aber auch!"

Diese letzten Sätze ließen den schwarzhaarigen Kerl nach einer weiteren Weile des Schweigens endlich aus seinem geistigen Koma hochschrecken, und ihn selbstverständlich sofort bereuen, dass er diesem blonden Helferlein gesagt hatte, dass-... DASS---

Oh SCHEISSE.

Sofort fuhr er herum, packte den armen Blondling eisenhart am Kragen und hob ihn mühelos in die Luft.

"Hören Sie, Sie niedere Existenz, ich warne Sie, wenn Sie das auch nur irgendjemandem weitersagen, werde ich--"

"Ja wie, weitersagen?", krächzte Fye mit hervorquellenden Augen und ruderte wild mit den Beinen durch die Luft, "Weitersagen, dass Sie auf alte Knacker stehen?"

"WAS?!! Sie-- Sie, Sie, Sie--"

"Das ist kein Problem für mich!", fiepste der Lehrling heiser, "Jeder hat doch seinen kleinen Fetisch! Ich zum Beispiel stehe auf Elefäntchen-Tapete! Knacker sind dagegen ja noch total das keusche Hobby!"

"Was faseln Sie da für einen gequirlten Schei--"

Mitten in seinem unfeinen Auswurf hielt der Schwarzhaarige plötzlich inne. Na, dann bitteschön! Sollte dieses erbärmliche, blonde Etwas, das da wie eine zerquetschte Fliege zwischen seinen Pranken hing, eben denken, dass er auf alte Männer stand! Solange wenigstens nicht rauskam, dass er--

"Also gut, aber behalten Sie das bloß für sich", knurrte er schließlich heiser und ließ Fye wie einen Sack Kartoffeln wieder auf den Boden plumpsen. Mit einem strahlenden Lächeln rappelte sich der Kleine wieder vom Boden hoch und salutierte fröhlich.

"Aye-aye! Ihr Alte-Knacker-Koller ist bei mir in besten Händen! Ich bin fest verschlossen! Meine inneren Schotten, meine geistigen meine ich, sind gahahahanz fest zugezogen! Meine innere Schatztruhe ist versiegelt! Mein innerer Safe ist abgesichert! Ich werde schweigen wie ein Grab! Ich werde--"

"Halten Sie doch endlich die Klappe."

"Aye-aye! Aber darf ich Sie nun bitten, einen kleinen Schritt zur Seite zu gehen? Ich bin immerhin der Vishnu aller Besenstiele, und ein rechtschaffener Mann darf seinen Wein nicht trinken, bevor er gea-..."

"Ach. Wein."

Mit diesen Worten setzte sich der Fremde plötzlich einfach in Trab. Zügigen Schrittes marschierte er die Straße entlang des Johannesplatzes hinunter, bis er schließlich um eine Ecke bog und verschwand.

Verdutzt blickte Fye ihm nach. Was war denn mit dem los, dass er einfach so wegging?

Hatte er etwa genug von ihm gehabt? Von dem Knacker, versteht sich. Von einem Fye konnte man gar nicht genug kriegen, da war sich Fye ganz sicher. Vielleicht war der mit der Hornbrille, der gerade drüben im "Jardin D'Hiver" die Rechnung bezahlte, diesem schwarzhaarigen Kerl doch ein bisschen zu schmächtig gewesen. Und was hatte er nur mit diesem letzten Satz gemeint? Mochte er Wein etwa nicht? War er Vegetarier? Ein Mitglied des Kuckucks-Clans? Oder sogar ein Illuminat? Illuminaten hatten angeblich ihre Rituale in denen sie zuerst fünzfigmal 'Buh' brüllten, und dann--

"BILL!!"

"Ich fege noch, Chef!"

Augenblicklich hielt Fye in seinen wilden Überlegungen inne und fegte brav den rechten Bordstein, der jetzt ja frei war.

Dabei grinste er wie ein Honigkuchenpferd.

Irgendwie fühlte er sich plötzlich gut. Er wusste etwas, das sein Chef nicht wusste- eigentlich sogar zwei Sachen.

Erstens: es gab immer noch Männer, die auf alte Knacker standen. Und zweitens: er hieß nicht Bill, und sein Chef würde niemals wissen, dass er Fye hieß. Er würde niemals wissen, dass er "Fye De Flourite" war...

Eine selige Wärme dehnte sich in dem Inneren des Blondlings aus. Sein Lächeln wurde noch breiter.

Einfach herrlich, dieser Gedanke. Der schwarzhaarige Kerl konnte sich glücklich schätzen, an jemanden wie ihn geraten zu sein mit seinem Alte-Knacker-Koller. Wer weiß, vielleicht sah er ihn mal wieder.

Plötzlich fühlte Fye sich bärenstark.

Wild fegte er drauflos, sodass der Schneestaub nur so wirbelte.
 

Mit einem ohrenbetäubenden Stöhnen ließ sich Kurogane bei sich daheim auf die Couch fallen und legte sofort die Beine hoch. Beim Satan, Luzifer und allen tausenden Dämonen und Höllenhunden!

Was war denn das für eine absonderliche Kreatur am Johannesplatz gewesen?

Ein lästiger, blond beschopfter Floh, der ihn um wertvolle Stunden der Observation gebracht hatte. Mann, wie überflüssig konnte ein menschliches Wesen nur sein? Naja. Es gab ohnehin soviel Überflüssiges auf der Welt.

Er war kaum dazu gekommen, diesen Dimitry Navras richtig aufs Korn zu nehmen. Er hatte ihn nicht beobachten können. Weder das Zusammenspiel seiner Bewegungen, seine Schwachstellen, wann er zuckte, wann er zur Seite blickte. An all diesen winzigen Kleinigkeiten durchschaute man einen Menschen ganz und gar. Man fand heraus, welche Art von Hieb ihn am schnellsten und saubersten töten könnte, wie lange er leiden würde, was sein Herz an Leistung hergab. Wie lange er sich wand, kroch und sich krümmte, bis er schließlich erstarrte und kläglich den Geist aufgab.

All das hatte Kurogane heute herausfinden wollen, doch anscheinend hatte irgendeine Laune des Schicksals heute befohlen, ihn mit diesem unerträglichen blonden Etwas zu quälen. Nicht, dass er ans Schicksal glaubte.

Aber irgendwoher war ihm dieser komische Kerl mit seinem ständigen Grinsen bekannt vorgekommen.

Als hätte er ihn irgendwo schon gesehen.

Na, egal. Über soviel Ärger brauchte er erstmal einen ordentlichen Drink. Und den würde er sich jetzt gönnen.

Mit einem Ruck wuchtete sich Kurogane vom Sofa hoch und öffnete seinen kleinen "Privatschrank" direkt über dem Fernseher.

Aaah. Über fünfzig seltene Köstlichkeiten aus allen Ländern der Welt blinkten ihn vertraut an, abgefüllt in elegant geformten Flaschen, etikettiert und fest verschlossen. Kurzerhand entschied sich der Schwarzhaarige für einen ungarischen Tokaji.

Schwungvoll stürzte ein Schwall dunkelbernsteinernen Golds in das Glas und wurde ebenso schwungvoll gestürzt.

Aaaaaaah. Lecker. Besser als alles. Politik. Staat. Gesellschaft. Leben? Hmm.

Lieber erst gar nicht grübeln. Ja, so würde es am besten sein.

Das einzige, was ihn in seinem Genuss störte, war, dass es soeben an der Tür geklingelt hatte.

"Hauen Sie ab, verblödete Nutte!!", brüllte der Riese Richtung Eingang, betätigte vorsichtshalber die automatische Türen-Verriegelung und ließ auch gleich alle Rollläden runter. O'Connor würde toben.

Naja, konnte ihm ja egal sein. Mit einem Achselzucken zog sich Kurogane das Hemd über den Kopf und schaltete den Fernseher ein, bevor er sich ein neues Glas Tokaji einschenkte. Es liefen Nachrichten.

"Meine Damen und Herren, wir unterbrechen das Programm für eine Sondermeldung. Nobuhiko Yamazawa, die hartnäckigste politische Gegnerin des derzeitigen Bürgermeisters von Kingstonville, Teophil Stone, und Betreiberin des kürzlich sehr erfolgreich gewordenen Unternehmens 'Ovid Kunsthandel', wurde heute in den frühen Morgenstunden tot in ihrer Villa aufgefunden.

Die Polizei hat den Tatort sowie die Leiche bereits gesichert. Gerichtsmediziner vermuten, dass ihre Todesursache gewaltsa--"

Mit einem abfälligen Schnauben schaltete Kurogane auf einen anderen Sender.

Seid ihr aber wieder langsam heute.

Auf dem Sportkanal lief gerade Springreiten. Besser als gar nichts. Trotzdem, ziemlich fade. Blöde Pferdeviecher. Mit einem Ächzen schenkte sich der Schwarzhaarige ein drittes Glas Tokaji ein. Aahh. Einfach zu köstlich. Mit jedem Glas bekam er ein bisschen mehr das, was er sonst nie hatte. Seine Ruhe. Und vielleicht auch gute Laune.

Und es ließ sich ein bisschen leichter vergessen. Die Welt da draußen konnte ihn doch mal.

Er hatte hier alles, was er brauchte. Naja, außer Baron de Rothschild vielleicht. Langsam ließ sich Kurogane in seinem Sessel zurücksinken, sodass der Fernseher flackernde Schatten über die Muskeln seiner nackten Brust warf.

Morgen würde er eben nochmal auf Observation gehen. Und nach einem Weinladen Ausschau halten.

Hatte alles seine Zeit.

Lettre À Paris

-"Das äußere Hören darf nicht weiter eindringen als bis zum Ohr; der Verstand darf kein Sonderdasein führen wollen, so wird die Seele leer und vermag die Welt in sich aufzunehmen."-

(Dschuang Dsi)
 

~~
 

Freitagnachmittag.

Draußen schneite es. In Millionen und Abermillionen rieselten kleine, feinpudrig fallende Schneeflöckchen sanft und lautlos vom taubengrauen Himmel und bedeckten alles und jeden wie eine ebenso seidenweiche wie eiskalte Federdecke.

Eine kalte, milchig helle Wintersonne versteckte sich hinter der Schneewolkenwand, die die dünnen Sonnenstrahlen abzufangen schien wie die Maschen eines grob gestrickten grauen Pullovers.

Draußen auf der Straße hatten die Mülleimer, Straßenlaternen und Hausdächer allesamt hohe weiße Hauben auf.

Eine wunderbare winterliche Stadtidylle. Fast schon ein wenig kitschig. Nur weiß, weiß, weiß und vielleicht auch ein bisschen grau.

Grau wie der Teppich unter seinem Rücken.

"Sapperdibix", murmelte Fye gedankenverloren zu sich selbst, "Hab ich vielleicht schön geträumt."

Mit halbgeschlossenen Augen starrte er in die Luft. Alles um ihn herum war angenehm verschwommen, undeutlich, als würde er in einem riesigen Cocktailglas tauchen und durch die dünnen Glaswände nach draußen gucken. Aber wenn er schon mal in einem Cocktail tauchte, musste es ein Caipirinha sein. Mit Limetten. Und blauen Elefäntchen auf dem Trinkhalm. Hui-ii-iii.

Und wie schön er geträumt hatte. Er war auf Urlaub gewesen. In Paris. In einer schönen Wohnung mit Blick auf den Eiffelturm. An der Seine. Zum Träumen. Und Spaßhaben. Baguette und Petit Suisse. Wie wunderschön. Fragte sich nur, ob das richtig war.

Fye richtete sich stöhnend auf. Sein ganzer Körper schmerzte und war steif wie ein Brett. Naja. Allerdings seine Schuld, wenn er auf dem Fußboden schlief.

Sein Anrufbeantworter blinkte.

"Wenn du schon mal zu faul warst, um zur Frühschicht deinen Arsch aus dem Bett zu schwingen, übernimmst du die am Nachmittag! Wenn du nicht pünktlich bist, kill ich dich!"

Der Blondling seufzte. Dann machte er sich wohl besser auf den Weg. Shaolan würde auch erst gegen Abend wieder zurückkommen, wenn überhaupt. Er hatte in letzter Zeit wieder gehörige Probleme. Missmutig taperte Fye in den Hausflur und zog sich um.

Na, das konnte ja lustig werden.
 

"HATSCHIIII!!!"

Das Niesen zerriss die Stille wie eine plötzliche Explosion.

Ein Geräusch ertönte, das mehr nach einem Trompetenstoß klang als nach Naseputzen.

Unter höchst eindrucksvoller akustischer Begleitung schneuzte sich Kurogane in ein hastig hervorgewühltes Tempo-Taschentuch.

Just jenes hatte unter diesem Einfluss gehörig zu leiden, wobei "Einfluss" hier wörtlich zu nehmen war.

Verdammt nochmal, hatte er sich jetzt auch noch erkältet? Was war bloß mit ihm los? Das letzte Mal war er vor einem Dreivierteljahr krank gewesen, und da hatte er nur simuliert, um nicht zur Osterfeier mit seinen Kollegen fahren zu müssen. Wahrscheinlich war das eh nur das übliche geschmacklose Herumgeplänkel gewesen- schlechtes Essen, noch schlechterer Wein, schmierige Arbeitsgenossen und unerträglich aufdringliche Nutten, die immer wie bei einer Invasion von allen Seiten kamen, wenn er den Raum betrat.

Heute Morgen hatte schon wieder eine an seiner Tür geklingelt. Wasserstoffblond mit einem geradezu ekelhaft unecht aussehenden Pelzmantel. Er hatte ihr nur von seinem Wohnzimmerfenster aus sein Katana gezeigt und mithilfe einer Reihe äußerst eindrucksvoller Pantomimen vorgeführt, was er ihr mit diesem Katana zufügen konnte, worauf sie aus verständlichen Gründen sofort das Weite gesucht hatte. Heulte sich jetzt vermutlich bei O'Connor aus.

Kopfschüttelnd warf der schwarzhaarige Killer sein gebrauchtes Tempo-Taschentuch achtlos auf den Asphalt und und beförderte es mit einem Fußkick einige Meter weiter weg, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem zuwandte, wegen dem er schon den ganzen Morgen und jetzt auch den halben Nachmittag hier herumstand wie festgewachsen.

Mr. Dimitry Navras hatte sich soeben seinen dritten Espresso mit einem Tütchen Zucker bestellt. Mann, trank diese fossile Brillenschlange denn gar nichts anderes, wenn er seinen knochigen Arsch schon mal hierher schob?

Man konnte meinen, er wäre vollends abhängig von dem schwarzen Teufelszeug und würde sonst nervöse Zuckungen zweiten Grades und Wahnvorstellungen bekommen wie all die Psycho-Junkies aus Hollywood.

"Oh, lieber Herr Doktor!", hörte Kurogane den Alten zu einem imaginären Psychiater sagen, "Ich habe viel zu viel Espresso getrunken, und weil so missgestaltete alte Säcke wie ich das generell nicht vertragen, sehe ich schon die ganze Zeit unzählige wilde, purpurrote Leoparden, die dort hinter Ihrem Sessel lauern. Wenn sie nicht auf der Stelle von da verschwinden, bringe ich mich um!"

Tss, dieser Arschkopf... wobei, wenn der sich wegen den Folgeerscheinungen von exzessivem Espresso-Genuss umbringen würde, hätte er selbst wenigstens nicht mehr ganz so viel Arbeit. Der Schwarzhaarige bezweifelte jedoch, dass der Gewerkschaftsvorsitzende unter Wahnvorstellungen litt, in denen purpurrote Leoparden vorkamen.

Mit einem bodenlosen Seufzer mummte sich der Auftragskiller ein wenig fester in seinen schwarzen Wintermantel.

Scheiße, war das kalt. Und es schneite schon seit mehreren Stunden. Gottseidank stand er unter einem Dachvorsprung, sonst würde er mittlerweile wohl mehr einem depressiven Schneemann als einem Menschen ähneln. Er atmete mehrmals tief ein und aus und trat dabei von einem Fuß auf den anderen, wobei er sein Opfer jedoch nicht aus den Augen ließ. Diese verkalkte Schnepfe von gestern war auch wieder da. Beim näheren Betrachten wirkten ihre Haare irgendwie wie angeklebt.

Vielleicht trug sie ja eine Perücke. Plötzlich verspürte Kurogane den seltsamen Drang hinzurennen, ihr den roten Wisch vom Kopf zu reißen und ihr ihn in den Mund zu stopfen- doch bei dem Gedanken, was unter jenem Wisch zum Vorschein kommen könnte, beherrschte er sich lieber und konzentrierte sich auf den brillentragenden Koffein-Junkie Navras neben ihr.

Dieser wurde gerade von einer Kellnerin angesprochen. Er verschränkte die Arme, während er sich zu ihr umdrehte.

In Kuroganes zinnoberfarbenen Augen funkelte es lauernd auf.

Brustkorb, linke unterste Rippe.

Wenn er ihn da hintraf, würde es wohl am leichtesten gehen. Ein Hieb unter die Rippen tötete generell schnell, es würde nur sehr viel Blut geben, weil so ein Manöver stets sehr nah ans Herz führte. Doch wer kümmerte sich schon ums Blut? Es ging um Prinzip. Von ihm aus konnte der Alte bluten, bis man damit ein Freibad versorgen konnte. Und außerdem war es doch eh immer nur um den Aspekt des Aus-Dem-Weg-Schaf---....

"WUUUUAAAAHHHH!!"

Plötzlich fanden die Mordfantasien des Killers innerhalb weniger Sekunden ihren Abbruch.

Irgendein zerzaustes, langbeiniges Etwas tauchte plötzlich am anderen Ende der Straße auf. Hals über Kopf rauschte es, von einem ohrenbetäubenden Gejohl begleitet, quer über den Bürgersteig und platschte ihm wie ein frisch erlegter Weißbarsch zielgenau vor die blankgeputzten Schuhe.

Kurogane fuhr zusammen wie von einem Elektroschock getroffen, und wich hastig vor diesem unbekannten Jemand zurück, wobei er ein Gesicht machte, als hätte er gerade Michael Jackson, das Jesuskind und Al Pacino im Dreierpack auf einem Staubsauger vorbeifliegen sehen.

Was in Dreiteufelsnamen--?!!

Ein äußerst unangenehmes Schweigen verging, bis sich das blonde, zerrupft wirkende Etwas mit einem munteren "Sapperdibix, schon wieder hingefallen!" wieder vom Boden hochrappelte und dem Killer mit einem breiten Grinsen ins Gesicht sah.

"Hallollolööööchen!!"

Ein irritierter Blick war die einzige Antwort. Im ersten Moment wusste Kurogane gar nicht, wen er hier vor sich hatte.

Bis es ihm plötzlich wieder einfiel und es ihm augenblicklich schwarz vor Augen wurde.

Nein. NEIN, BITTE NICHT DER!!

"Hey, waren Sie gestern nicht schon mal hier?", fragte jenes blonde Individuum, das da mit blutender Nase vor ihm stand und über beide Ohren hinaufgrinste, sodass es einem schon allein beim Zusehen wehtat. Scheiße! War das nicht dieser unerträgliche Typ, der ihm auch schon gestern so auf die Nüsse gegangen war? Die Antwort ergab sich wie von selbst: ja , er war es eindeutig. Es genügte Kurogane schon, dieses Grinsen zu sehen, und er wusste, wer da vor ihm stand.

Offenbar machte es diesem Geistesschwachen nichts aus, dass er hier gerade über die Nase verblutete- er strahlte wie hochprozentiges Polonium.

Hirnverqualmtes Arschloch!

"Nein, wissen Sie, das war nicht ich, das war mein verschollener Zwillingsbruder von der Insel Tippilulu", giftete der Schwarzhaarige schließlich gereizt und bohrte dem ungebetenen Gast mit einem mörderischen Blick tausend Löcher ins Gesicht.

Dieser machte große Augen.

"Aber warum wohnt er denn auf der Insel Tippilulu? Will er nicht lieber bei Ihnen wohnen? Oder lebt er lieber im Süden? Ist die Insel Tippilulu denn im Süden? Schneit es dort auch? Und wie ist dort so das--"

"Halten Sie die Klappe!"

"Ja, aber, ich--"

"Klappe halten!"

"Aber Ihr Zwillingsbruder--"

"Ich sagte doch, Sie sollten die Klappe halten!"

"Und ich dachte noch, die Insel Tippilulu wäre--"

"KLAPPE HALTEN!! Das war nur ein Witz, verdammt nochmal!!"

Ein erstaunter Blick aus dem Paar hell glasblauer Augen, doch das Lächeln wackelte keine Sekunde. Auf Kuroganes markanten Gesichtszügen hingegen waren bereits sämtliche Zornesadern am Pochen.

Bei allen tausend Warzen des Satans, was wollte dieses unerträgliche blonde Etwas bloß?

"Ehm-- sind Sie mir böse wegen gerade eben?"

"Tsss."

"Es tut mir leid, ehrlich!", beteuerte der Blondling sofort, als würde er das undefinierbare Brummen seines Gegenübers als ein "ja" interpretieren.

"Ich wollte Sie nicht erschrecken oder so! Wissen Sie, ich falle öfter einfach so schepper-didepper hin, wenn ich in der Stadt bin, das ist normal bei mir--"

"Laufen müsste man schon können, was?", knurrte der Killer abfällig und starrte hartnäckig woanders hin.

Der Blonde lächelte immer noch.

"Sie haben Recht! Die Straßen sind ja total glatt zurzeit! Da kann ich Ihnen ein Liedchen singen, das können Sie mir glau--"

"Sind Sie eigentlich taub?! Halten Sie endlich die Omme, verdammt nochmal!"

Zwei Sekunden verwundertes Schweigen, dann ein albernes Kichern.

"Omme? Woher haben Sie denn dieses Wort?"

"Von den Franzacken."

"Von den Franzacken? Aus Paris?"

Wieder Schweigen. Der fremde Blondling kratzte sich überrascht an seinem gülden beschopften Kopf und sah Kurogane offenbar nachdenklich für einige Sekunden an, bevor er schließlich in die Hände klatschte.

"Wissen Sie was, ich habe eine Idee!"

"Um Gotteswillen, verschonen Sie mich."

"Es wird Ihnen aber ganz sicher gefallen! Sehen Sie, es schneit schon den ganzen Morgen über. Wie wäre es, wenn ich Ihnen einen Kaffee rausbringe? Sie sind ja ganz durchgefroren und zugeschneit von oben bis unten!"

"Nein, tatsächlich? Bis jetzt dachte ich, ich wäre im Sonnenstudio."

Wieder dieses bescheuerte Kichern. "Stimmt, Sie sind auch so schön braun!"

"MAUL HALTEN!!"

"Wird kaum möglich sein. Also, wollen Sie jetzt einen Kaffee oder nicht? Ich kenne da ein Geheimrezept!"

"Nein."

"Wirklich nicht?"

Ein entnervtes Seufzen. "Wieso sollte ich Ihr bescheuertes Gesöff trinken?"

Der spindeldürre Lehrling lächelte, wobei in seinen glasblauen Augen ein leichter Schalk auffunkelte.

"Erinnern Sie sich, was Sie gestern zu mir gesagt haben?"

"Häh?"

Bedeutungsvoll hielt ihm sein jüngeres Gegenüber einen ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase.

"Sie haben gestern gesagt: "Die ganze verdammte Welt ist nicht nett". Wissen Sie noch? Aber ich glaube nicht, dass es so ist. Ich möchte gerne ganz viel Nettes tun!"

"Ist ja hochinteressant", seufzte Kurogane gelangweilt, "Und wie kommen Sie dazu?"

"Ach, einfach so. Ich kann nämlich total nett sein, wissen Sie."

Der Schwarzhaarige sah ihn an, als ob er irgendein Insekt wäre, dass er am liebsten zwischen seinen Fingern zu Mus zerquetscht hätte. "Was für den einen "nett" ist, kann für den anderen wieder was ganz anderes sein."

"Echt, meinen Sie? Zum Beispiel?"

"Zum Beispiel nervtötend. Oder einfach überflüssig. Oder hirnrissig."

Mit einem weiteren Lächeln sah der Konditorlehrling zum Himmel hoch, an dem immer noch schwere graue Schneewolken hingen.

Entweder nahm er den Tonfall seines gereizten Gegenübers- den man wohl nur noch mit Glasscherben in einem Eiskübel vergleichen konnte- gar nicht wahr, oder er ignorierte ihn gekonnt.

"Wenn der andere das für nervtötend oder überflüssig oder hirnrissig hält, was ich ihm Nettes tun will- dann weiß er entweder nicht richtig Bescheid, was ich vorhabe, oder er interpretiert es falsch. Eine Bewertung, bevor man wirklich weiß, was los ist. Das nennt man Vorurteil, glaube ich."

Irritiert starrte der Killer den jungen Mann vor sich an. Immer noch klebte ihm getrocknetes Blut unter der Nase, aber er lächelte zuvorkommend wie ein Butler, der sich gerade erkundigte, ob der gnädige Herr vielleicht noch ein Glas Port wünsche.

Seltsamerweise fiel ihm beim besten Willen keine Antwort ein. Blieb nur noch die Standard-Lösung.

"Ach, Sie können mich doch mal."

"Besser nicht. Ich bin kein sexy Bad Boy."

"WAS?!!"

Der Blonde lachte. "War doch nur ein kleiner Scherz. Warten Sie, okay? Dauert keine Minute!"

Fröhlich hüpfte er die Stufen zur Eingang der Konditorei hoch, an der Kurogane bis jetzt gestanden hatte, fummelte einen altertümlich wirkenden Schlüssel aus den Taschen seines hellen Wintermantels hervor und schloss die Tür mit einem Knirschen auf.

"HEY!! HALT!! Warten Sie, verdammt nochmal, ich scheiß auf Ihren Kaffee!"

"Jajaja, aber sicher!", trällerte es fröhlich zurück.

Der Killer stieß in Gedanken einen unflätigen Fluch aus.

Na wunderbar. Jetzt hatte er für den Rest des Nachmittags diesen nervötenden blonden Wischmopp am Hals. Da half entweder nur ignorieren oder totschlagen. Aus Gründen der Diskretion tendierte Kurogane eher zu ersterem.

Wenigstens fehlten ihm nicht mehr viele Informationen, die er brauchte, um Navras sauber kaltzumachen. Dieser trank gerade seinen vierten Espresso. Die verkalkte Schnepfe rückte ihre Perücke zurecht.

"Hey, wollen Sie Zucker in Ihren Kaffee oder nicht?"

Der Schwarzhaarige erschrak halb zu Tode, als sich der schlaksige Blondling plötzlich unvermutet aus dem Fenster neben seinem Kopf lehnte. "WAHH!!"

"Oh je, hab ich Sie wieder erschreckt? Das wollte ich nicht, ehrlich!"

"LECKEN SIE MICH!!"

Der Blondling kicherte kokett. "Sie schmeicheln mir, aber ich bin wie gesagt nicht besonders sexy."

"Himmel, Arsch und Zwirn, das meinte ich doch gar nicht!!"

"Dann vielleicht den Knacker von gestern? Haben Sie den etwa schon wieder abgeschrieben? Er sah doch ganz schick aus! So unglaublich attraktive Falten, so eine sexy Warzennase... und dann diese heiße Hornbrille! Also echt!"

"DAS AUCH NICHT!!"

"Was meinten Sie dann?"

"Dass-- dass ich-- ach, vergessen Sie's doch, Sie hirntoter Körperträger."

"Ich weiß, was Sie meinen. Kaffee ist übrigens gleich fertig."

Wenige Minuten später kam der Blondling auch schon wieder nach draußen getrippelt, mit zwei großen Pappbechern dampfend heißem Kaffee in den Händen. "Vorsichtig trinken, er ist noch heiß!", ermahnte er sein schwarzhaariges Gegenüber und drückte ihm einen Becher in die Hand. Kurogane bekam nicht schlechte Lust, ihm das Teufelszeug einfach über den Kopf zu schütten.

Dennoch nahm er es- denn, hey, wenn man schon mal etwas umsonst bekam, sollte man zugreifen, solange es gratis war.

Kritisch beäugte der Killer das hellbraune Gesöff in dem Becher. Der Blondling, der seinem Blick gefolgt war, grinste breit.

"Keine Angst. Es ist nur Cappuccino-Puder, ein wenig Kaffeepulver, Schokoflocken, Milch, Zucker und Wasser drin. Ich nenne ihn "Papa D.'s Aufsteh-Kaffee"!"

Kurogane beäugte sein jüngeres Gegenüber nur, als ob dieser eine aufrecht gehende Kakerlake wäre.

"Ja?"

"Jaha!"

Ein Schweigen machte sich breit. Die beiden Männer standen wortlos nebeneinander und tranken ihren Kaffee. Während Kurogane das- wie fast alles andere- völlig lautlos absolvierte, veranstaltete Fye ein eifriges Schlürfen, Schmatzen und Prusten, und schaffte es dabei innerhalb weniger Sekunden, sich einen prächtigen Schnauzbart aus Milchschaum zuzulegen.

"Jamm!"

"Sagen Sie, müssen Sie mir sogar beim Trinken auf den Geist gehen?!"

"Wie? Oh, 'tschuldigung. Ist so 'ne Angewohnheit von mir. Wissen Sie, mein Chef liegt gerade betrunken im Hinterzimmer, da kann ich es mir auch mal leisten, einen Morgenkaffee zu trinken. Kommt öfter vor."

"Ah."

Mittlerweile so gut wie völlig am Ende seiner Nerven verzog der Schwarzhaarige seine Augenbrauen.

Mann, wär ich heute Morgen nur daheim geblieben.

"Echt? Warum denn?"

Überrumpelt fuhr Kurogane zusammen. Scheiße. Anscheinend hatte er nicht nur in Gedanken Selbstgespräche geführt.

"Dreimal dürfen Sie raten, elende Nervensäge."

"Hmm", meinte der Blondling mit einem Lächeln, "Gehen Sie denn nicht gerne außer Haus?"

"Geht Sie 'nen Dreck an."

"Na, wenn Sie das sagen. Ich zum Beispiel würde gerne mal in Frankreich Urlaub machen, in Paris oder so."

"Schreiben Sie den Franzacken doch einen Brief. Hier wird Sie niemand vermissen."

"Kann sein. Aber denken Sie, das wäre richtig?"

"Häh?!"

Der Konditorlehrling drehte den Kopf ein wenig und lächelte seinen unfreiwilligen Gesprächspartner von der Seite her an.

"Na, dass ich einfach wegfahre und alles zurücklasse."

Oh nein. Kein Psychogequatsche jetzt.

"Wär das nicht die beste Lösung?", knurrte er schließlich, um überhaupt etwas zu antworten.

"Einfach weggehen, meinen Sie? Guadeloupe wäre auch nicht schlecht. Träumen und Spaßhaben. Mögen Sie das auch?"

"Ich mag es, lästige Idioten eiskalt umzulegen."

"Ehrlich? Naja, jeder braucht sein Hobby. Kann man jemanden eigentlich auch 'brandheiß' umlegen?"

"Was soll denn der Quatsch?!!"

"Na, weil Sie gerade gesagt haben 'eiskalt' umlegen. Wie geht eiskalt?"

"Liegt das nicht auf der Hand? Unauffällig und ohne Gnade, zum Teufel!"

"Wäre dann jemanden 'brandheiß umlegen' auffällig und mit Gnade?"

"Sie sind reif für die Klapse."

"Stimmt. Ich habe nur Angst, dass das unverantwortlich sein könnte. Wegfahren meine ich. Mein Vergnügen meinen Freunden vorzuziehen. Oder meinen Pflichten."

Kurogane seufzte. "Verdammt nochmal, wir leben hier in einem freien Land. Wenn Sie träumen wollen, dann träumen Sie eben. Wenn Sie Spaß haben wollen, dann haben Sie eben Spaß! Niemand hat das Recht, Ihnen dreinzureden, kapiert?"

Der Blondling sah ihn aus großen, hellblauen Augen verwundert an.

Plötzlich sahen diese aufdringlichen Glotzer wie Glas aus.

"Was haben Sie denn jetzt schon wieder?"

"Ach...", meinte der Lehrling nur und starrte geistesabwesend auf den Boden, "Sie erinnern mich gerade an jemanden, den ich mal kannte." Dann lächelte er wieder. "Aber meinen Sie denn nicht, das, was mir Spaß macht, könnte anderen Unglück bereiten?"

Kurogane zuckte die Achseln.

"Kommt drauf an. Verstehen Sie unter Spaß Menschen töten oder foltern?"

"Nein. Und Sie?"

Diese direkte Frage irritierte den Killer ein wenig, und er musste sich beherrschen, damit er nicht einfach 'ja' sagte.

Geringschätzig starrte er den blonden Hilfswicht an, wie er weiter seinen Kaffee schlürfte und zum Zeitvertreib Navras im Jardin D'Hiver ein wenig aufs Korn nahm.

Was war das bloß für ein Absonderling, der da neben ihm stand?

Kurogane hatte in seinem Leben schon einige Bekloppte getroffen, aber der hier knackte den Highscore eindeutig.

"Ihr Knacker dort drüben-- Sie haben gesagt, Sie wollen Ihn töten. Wann, wenn ich fragen darf?"

"Heute nacht", gab der Schwarzhaarige eiskalt zurück. Für Diskretion fehlten ihm momentan einfach die Nerven.

"Oh. Dann gutes Gelingen."

Der Blondling drehte seinen Kopf und lächelte sein Gegenüber fröhlich an.

Bis plötzlich ein heiserer Brüller aus dem Inneren der Konditorei hinter ihnen ertönte.

"BILL!!"

"Schon zur Stelle, Chef! Ich hab nur draußen gefegt!", tönte der Lehrling automatisch zurück. Dann sah er Kurogane verschmitzt an.

"Tja. Mein Chef ist aus dem Suff aufgewacht, ich muss dann mal. Hat Ihnen mein Kaffee geschmeckt?"

"Zum Kotzen."

"Gerngeschehen!"

Der Hilfswicht wollte sich schon umdrehen und in den Laden zurücklaufen, als ihm plötzlich noch etwas einzufallen schien und er abrupt stehenblieb, als wäre er geradewegs gegen ein Stoppschild gerannt.

"Ach-- bevor ich's vergesse... danke für gerade eben."

"Häh?"

"Na, für das Gespräch! War gut. Ich bin schon versucht zu sagen, es war 'nett', hm?", meinte der Blondling mit einem augenzwinkernden Lächeln. "Und viel Spaß heute nacht. Tschauiiiii!"

"Jaja, hauen Sie schon ab."

Und das war es, was der Lehrling tat. Fröhlich hopste er die Stufen hoch und zog die Tür der Konditorei hinter sich zu.

Herablassend starrte Kurogane ihm nach.

Ein Verrückter, der von brandheißen Morden, Frankreich, Verantwortung und Träumen schwätzte.

Eindeutig nicht mehr zu retten.

Sie haben sich geirrt, Delauney. Ich bin nicht der einzige hoffnungslose Fall hier in Kingstonville.

Wie hatte sein Chef ihn genannt? Bill? Seltsam. Man konnte meinen, dieser Bill hatte nichts besseres zu tun, als über Dinge wie Träume oder Verantwortung nachzudenken.

Und dann dieser komische Ausdruck in seinen Augen.

Man sah es Kurogane vielleicht nicht an, aber wenn man einen Beruf wie seinen länger ausübte, erwarb man eine gewisse Menschenkenntnis, oder besser gesagt: ein Gespür dafür, die Menschen einzuschätzen. Und immer noch hatte er den Verdacht, diesen flapsigen Kerl vor längerer Zeit irgendwo schon mal gesehen zu haben. Aber wo... ? Und unter welchen Umständen?

Naja. Auch egal. Ging ihn ja nichts an.

Dann würde er eben auch heute abend wieder einen über den Durst trinken, um diese Scheißgeschichte schnell zu vergessen.

Schon wesentlich beruhigter wandte sich Kurogane wieder seinem Opfer zu, das gerade seinen fünften Espresso bestellte.

Lange hast du nicht mehr zu leben, Navras.

Heute abend würde es soweit sein. Kurogane dachte an sein Katana, das griffbereit wie stets neben seinem Wohnzimmerfenster lehnte. Sein Herzschlag beschleunigte sich automatisch.

Nicht mehr lange...
 

Zweiundzwanzig Uhr neununddreißig am Abend.

Draußen stand eine bleiche Mondsichel am nachtschwarzen Himmel und tauchte die Welt unter sich in gespenstisches, seltsam unwirklich wirkendes Licht. Es verlieh dem Schnee, der immer noch dicht und hoch auf den Zweigen der Bäume, den Fenstern, Dächern und Straßen lag, einen kalten Glanz und ließ jede lautlos durch das Industrieviertel von Kingstonville eilende Gestalt zu einer schattigen Silhouette zusammenschmelzen.

In den wenigen Häusern, die hier und dort zwischen all den Fabrik- und Konzerngebäuden eingezwängt standen und etwa so sehr ins Bild passten wie eine römische Villa auf eine Müllhalde, brannte kaum mehr Licht.

Die meisten Gutbürger lagen längst friedlich in ihren Bettchen und träumten von Reichtum, willigen Geschlechtspartnern oder am Galgen zappelnden Vorgesetzten.

Was für eine wunderbare Großstadtidylle. So echt wie falsches Geld.

Missmutig stopfte sich Dimitry Navras einen Diät-Vollkorn-Mandelkeks in den Mund, bevor er sich unter akrobatischen Verrenkungen aus seinem lausgrauen Jackett schälte. Ein wenig erweckte es den Eindruck, als würde sich eine Banane aus ihrer Schale freikämpfen wollen, doch dem Gewerkschaftsvorsitzenden war dieser Fakt im Moment herzlich egal.

Unter einer Reihe unterschwelliger Seufzer hängte der Endvierziger sein Jackett an den ersten Haken, der ihm über den Weg lief, bevor er schließlich unschlüssig in sein Wohnzimmer taperte und sich auf seinen zwar nicht zum restlichen Raum passenden, aber wunderbar bequemen Diwan sinken ließ.

Unter einer weiteren Serie von missgelaunten Ächzern rieb sich der ebenso missgelaunte Oldie die krumme Adlernase, um sich ein wenig zu beruhigen. Vor allem jedoch, um zu räsonieren.

Na wunderbar. Der Abend war mal wieder aufs Hervorragendste verdorben.

War es eigentlich das Basis-Schicksal eines erfolgreichen Gewerkschaftsvorsitzenden, dass er im ewigen Clinch mit seiner Ehefrau lag-das hieß, sofern er denn eine hatte? Einfach kaum zu glauben. In seinem Konzern schien er der einzige mit solchen Privatproblemen zu sein. Oder seine Kollegen redeten einfach nicht drüber, das war auch eine reelle Möglichkeit- denn immer, wenn er das Gesprächsthema in diese Richtung lenkte, starrten ihn seine Arbeitsgenossen an, als ob er gerade behauptet hätte, dass er der neue Messias und der neue Elvis Presley in einer Person sei. Tolle Kombination.

Gedankenverloren kratzte Navras seine faltige Stirn und suchte derweil mit den Augen nach der Fernbedienung.

Als er heute von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte er sich zunächst gar nicht getraut, über die Schwelle zu treten.

Im ersten Moment hatte er geglaubt, dass ein just aus dem Mittelalter herbeigehopster Hausdrache dort im Türrahmen stand, bewaffnet mit einem Nudelwalker und kampfbereit bis in die Spitzen der Fingerspitzen.

Er hätte mit der Yamazawa was verbrochen, so ein Unsinn! Er hatte sofort beim Augenlicht seiner Großmutter geschworen, dass er bezüglich Nobuhiko-San nie Hintergedanken gehegt hatte. Zwar glatt gelogen, doch besser, als in einem Küchengerät-Attentat ums Leben zu kommen. Doch das liebe Schicksal hatte wohl gewollt, dass er auf die Schnauze flog. Kaum, dass er sich wenige Minuten nach der offiziellen Versöhnung seinen rotgelb karierten Pullunder über den Kopf gezogen hatte, war ein Zettel aus der Brusttasche seines Polohemds gefallen.

Der Zettel, der ihn geradewegs in die Scheiße geritten hatte.

"Dimitry, du hast da was fallen gelassen. Warte, ich heb's dir auf."

Der Gewerkschaftsvorsitzende hatte nur mit hängenden Armen und offenstehendem Mund zusehen können, wie seine Frau Gemahlin den Zettel aufgehoben und ihn selbstverständlich auch gelesen hatte.

Nur ein einziges, nicht gerade stubenreines Wort war ihm in jenem Moment in fett gedruckten Buchstaben durch sein Hirn gewandert.

F-U-C-K.

Er hatte förmlich beobachten können, wie in den Augen seiner Frau erst Überraschung, dann Verwirrung und zum Schluss Wut aufflammte.

Hey, Mr.Navras ;-)... ich erwarte Sie heute abend bei mir. Meine Adresse kennen Sie ja, nicht? Ach, und... vergessen Sie die Flasche Armagnac nicht... Mfg: N.Y. ;-))

Um es kurz zu machen: viel war nicht mehr passiert. Eine versuchte Erklärung, dass es sich nur um ein harmloses Geschäftstreffen gehandelt hatte und nicht etwa um ein Rendezvous, als Antwort genau eine Ohrfeige pro Wange und dann der furiose Abgang mit dem Versprechen, schon am nächsten Morgen die Scheidungspapiere an sein Postfach zu schicken.

"Gertrud! WARTE!! Was wäre, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte?!" , hatte er ihr noch nachgeschrien.

"Ich würde einen Freudentanz aufführen und dann sofort neu heiraten, Flachwichser!" , war es zurückgekommen.

Dann nur noch eine zuschlagende Taxitür und quietschende Reifen.

Wie gesagt- ein typischer Tag im Leben eines Gewerkschaftsvorsitzenden. Dann würde er sich halt scheiden lassen. Nur schade, dass Nobuhiko-San tot war. So einen heißen Feger fand man nicht oft.

Kopfschüttelnd angelte sich Navras die Fernbedienung und schaltete seinen Plasmafernseher ein. Es liefen gerade Nachrichten.

"Die Polizei von Kingstonville ermittelt nach wie vor im Fall Nobuhiko Yamazawa. Dass es sich bei der vierundzwanzigjährigen Geschäftsfrau um eine gewaltsame Todesursache handelt, ist mittlerweile klargestellt. Gerichtsmediziner berichten von einem etwa sieben Zentimeter breiten Einstich in Herzhöhe, hervorgerufen durch einen langen, scharfkantigen Gegenstand, welcher den Herzmuskel und die Aorta zerstörte und die Hauptschlagadern kollabieren ließ. Die Suche nach Hinweisen auf einen etwaigen Mörder vor Ort laufen auch weiterhin. Sachdienliche Hinweise auf verdächtige Vorkommnisse vonseiten der Bevölkerung sind erwünscht. Kommissar Fullright und der Vorsitzende des Dezernats für nationale Sicherheit, Joshua O'Connor, bestätigen, dass--"

Mit einem weiteren Seufzen schaltete Navras die Kiste wieder aus. Irgendwie war ihm die Lust aufs Fernsehen vergangen.

Man konnte meinen, die ganzen Bullen vom Stadtkommissariat waren nur zum Schickimickimachen am Tatort.

Sie hätten doch schon längst irgendeinen Hinweis finden müssen! Entweder waren sie verdammt blöd- oder der Killer verdammt gut.

So einem Kerl wollte er nicht nachts auf der Straße begegnen. Womöglich ein desillusionierter Psychopath ohne moralische Wertvorstellungen.

Naja, egal. Solange er nicht davon betroffen war, sollte es ihm recht sein.

Missmutig entschied sich der Endvierziger schließlich für die angenehmste Variante, zumindest was den Rest des Abends anbelangte: noch etwas essen und dann schlafen gehen. Schließlich wartete morgen eine Menge Arbeit auf ihn.

Ächzend erhob sich der Gewerkschaftsvorsitzende von dem Diwan und wollte sich gerade in Bewegung setzen, um zur Küche zu gelangen.

Doch plötzlich ging das Licht aus.

Erschrocken zuckte der Oldie zusammen, als im ganzen Haus eine Glühbirne nach der anderen entweder aus der Halterung sprang oder durchbrannte. Der Kühlschrank und die Heizungen gaben den Geist auf. Der Anrufbeantworter schaltete sich aus.

Navras warf einen stirnrunzelnden Blick Richtung Deckenlampe, deren Draht gerade durchgebrannt war.

Was war los, war etwa die Sicherung rausgeflogen? Was würde heute abend denn noch alles passieren?

Diese plötzliche Dunkelheit, die sich an allem und jedem festzusaugen schien wie ein fetter, schwarzer Blutegel, verunsicherte ihn.

Das einzige Licht, das noch von draußen hereinkam, war das ferne Leuchten des Mondes.

Sollte er nachsehen gehen? Oder sollte er lieber bis morgen warten und dann einen Elektriker rufen?

Der Sicherungskasten war im Keller. Wenn nicht einmal dort das Licht funktionierte, würde er ja doch eher zu letzterem tendieren.

Nichts für ungut, aber er hasste den Keller. Schon seit frühester Kindheit hegte er eine angeborene Abscheu vor kalten, finsteren Orten aller Art.

Ein leichtes Geräusch ließ den Endvierziger aus seinen zweifelnden Gedanken aufmerken.

Es kam aus dem Hausflur. Klang fast, als würde sich jemand mit einem Schlüssel oder einem anderen metallenen Gegenstand am Türschloss zu schaffen machen.

Mit einem triumphierenden Blick überwand Navras das Herzklopfen, das ihn überkommen wollte, und machte sich unverzüglich auf den Weg Richtung Eingang.

Aha, Gertrud! Gibst du also doch klein bei! Wer ist denn jetzt der Beharrlichere von uns beiden, hm?

Um seinen Sieg vollends auskosten zu können, verharrte er im Türrahmen, halb zwischen Flur und Wohnzimmer.

Er wollte den Anblick seiner Ehefrau, wie sie keuchend und reumütig im Eingang erschien und sofort seinen Namen rief, um um Entschuldigung zu bitten, in allen Details auskosten.

Ganz schön gehässig, aber die Genugtuung wollte er sich jetzt gönnen.

Aufgeregt fixierte er den kleinen Knauf unterhalb der Klinke, der sich langsam hin- und herbewegte und dabei leise knirschte.

Na mach schon, wird's bald?

Mehrere Minuten vergingen, und mit jeder verstreichenden Sekunde schwand auch Navras' Triumphgefühl.

Ihm wurde zusehends unwohler in seiner Haut. Was war denn nun schon wieder los, dass seine Frau so lange zum Aufschließen brauchte? Hatte sie etwa keinen passenden Schlüssel eingesteckt?

Unwillkürlich wich der Endvierziger ein wenig nach hinten zurück, sodass er nun um den Türrahmen herumschielen musste, um weiterhin den Eingang erkennen zu können.

Von der Tür ertönte gerade ein kaum hörbares Quietschen. Offenbar war der Schlüssel eingerastet.

Mit starrem Blick beobachtete Navras, wie sich der Türknauf langsam in die ursprüngliche Position zurückdrehte.

Wie in Zeitlupe wurde die Türklinke heruntergedrückt. Wieder wich der Gewerkschaftsvorsitzende zwei Schritte zurück.

Mit pochendem Herzen verfolgte er, wie sich die Tür lautlos auftat.

Ein massiger, dunkler Schatten kroch über die Fliesen im Flur. Pechschwarz. Lang. Zu lang, um zu seiner Frau gehören zu können.

Kaum hörbare Schritte machten sich im Gang breit. Atemzüge. Ein Klirren.

"G-... gertrud? Bist du das?", krächzte Navras mit zaghafter Stimme in die Dunkelheit hinein.

Seine Worte stürzten wie Steine in die Stille.

Der Schatten auf dem Flur zuckte ein wenig und schien für einige Momente zu lauschen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung und wandte sich nach rechts. Zur Wohnzimmertür. Automatisch stolperte Navras wieder mehrere Schritte zurück, Richtung Diwan.

"Gertrud? Komm schon, Gertrud, hör auf damit. Du weißt genau, dass es mir leidtut!", stammelte er.

Der Schatten- beziehungsweise sein Besitzer- antwortete nicht. Langsam und stetig kroch er über den Boden ins Wohnzimmer.

Immer näher.

Und näher.

Und näher...
 

"Hier, halten Sie hier an!"

Bremsen quietschten.

"Das macht dann fünfundzwanzig Dollar und dreiunddreißig Ce--"

Die leicht bieder wirkende Frau mit den mahagonifarbenen Haaren machte sich keine Mühe, den Taxifahrer ausreden zu lassen, sondern riss sofort die Tür auf und spurtete den mit Terracotta-Steinen ausgelegten Weg hoch, der zu dem stattlichen Haus ihres Manns führte.

"Zeche geprellt, was?", rief ihr der Taxifahrer beleidigt nach, doch sie hörte es gar nicht.

Ein Teil in ihr verstand zwar immer noch nicht, warum sie zu diesem verdammten, untreuen Schwein zurückkehrte- doch der andere Teil wollte sich verrückterweise bei ihm entschuldigen. Es hatte doch jeder mal Hintergedanken, wenn er mit bestimmten Personen zu tun hatte. Außerdem gab man eine zweiundzwanzigjährige Ehe doch nicht einfach auf, verdammt nochmal!

Mit bebenden Händen wollte Gertrud Navras bereits ihren Hausschlüssel aus der Tasche ihres Pelzmantels hervorwühlen, während sie mit klappernden Bleistiftabsätzen Richtung Tür spurtete- doch irgendetwas an diesem Bild des nächtlichen Hausfriedens stimmte nicht, das spürte sie sofort, als sie nahe genug gekommen war. Vermutlich weibliche Intuition.

Und nach einer Weile sah sie auch, was so fehl am Platze wirkte. Ihr Herz machte einen Satz.

Die Eingangstür. Sie stand sperrangelweit offen.

Verwirrt blieb die Frau in den Frühvierzigern mitten auf dem Weg stehen. Was sollte das denn? War Dimitry etwa einfach ins Blaue getürmt? Nein, das konnte nicht sein, dazu war er ein viel zu solider Mensch. Die Lichter in der Wohnung waren ebenfalls alle aus. Anscheinend war er schon zu Bett gegangen. Beunruhigt setzte sich Gertrud wieder in Bewegung und trat über die Hausschwelle.

Tiefe Finsternis empfing sie, und Grabesstille.

Aha. Die übliche Macho-Tour. Der Mann wollte der Frau mit allen möglichen billigen Spezial-Effekten Angst einjagen, um ihr schneller das 'Es tut mir leid, ich tu's auch nie wieder!' zu entlocken.

"Dimitry?", rief sie entschlossen, während sie ihre Pömps kurzerhand von den Füßen schleuderte, weil ihr schon seit geraumer Zeit die Fersen von diesen Modedingern schmerzten wie verrückt.

"Dimitry, bist du da? Hör zu, ich weiß, ich war ungerecht zu dir-- Dimitry?"

Keine Antwort.

Zögerlich nahm Gertrud noch einmal die Tür in Augenschein. Ihr Herz setzte für zwei Schläge aus, als sie bemerkte, wie malträtiert der Schlossknauf unterhalb der Klinke aussah. Fast, als wäre sie aufgebrochen worden.

Vollends alarmiert machte sich die Frühvierzigerin auf die Suche nach ihrem Mann.

"Dimitry? Hallo, Dimitry! Wo bist du?"

Weder im Schlafzimmer noch in der Küche wurde sie fündig, auch nicht in Bad oder Toilette. Ratlos sah sie sich in der stockdunklen Wohnung um- bis sie plötzlich ein seltsames Geräusch hörte. Es kam aus dem Wohnzimmer.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

"Dimitry?", rief sie sofort und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, "Dimitry, mein Lieber, bist du hier?"

Ihr Blick wanderte suchend über alle Winkel des Raumes, bis er schließlich auf eine dunkel glänzende Spur am Boden fiel.

Sie schien sich bis ins Unendliche zu ziehen und endete hinter dem Diwan.

Ein seltsames Etwas ragte hinter dem golden bestickten Stoff hervor. Es war eine Hand, deren Finger sich jammervoll gen Himmel zu krümmen schienen. Mit einem leisen Aufschrei hastete Gertrud zu dem kunstvollen alten Sofa.

Und blickte in Augen ihres Mannes.

Ausdruckslos und glasig schienen sie ins Nichts zu starren. Unterhalb der linken Hälfte seines Brustkorbs war ein riesiges Einschlagloch. Immer noch sickerte Blut daraus hervor und tropfte in einem endlosen Rhytmus auf den Boden.

Plitsch. Plitsch. Plitsch.

Eine grässliche Stille breitete sich aus. Alles wurde leer in Gertrud. Leer, leer, leer.

"Gertrud! WARTE!! Was wäre, wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte?!"

"Ich würde einen Freudentanz aufführen und dann sofort neu heiraten, Flachwichser!"

Der faulige Gestank des geronnenen Blutes fraß sich in ihre Atemwege.

Metallisch. Anklagend.

Etwas ironischeres und grausameres als das Schicksal würde es niemals geben.

Weinend brach Gertrud über ihrem Mann zusammen.

Interlude: Refugee / Army Of Mine

// als Info: in den Interludes erfährt man immer ein bisschen was aus Fye-Chans bzw. Kuro-Piis Vergangenheit ^.~... viel Spaß beim Lesen! ^^ //
 

INTERLUDE: "REFUGEE / ARMY OF MINE"
 

-"Nichts kann eine menschliche Seele schneller vergiften und in die Schwärze hinabreißen als der zum Himmel stinkende Sündenpfuhl unserer heutigen Realität."-

(Heinrich H.)
 

~~
 

"LAUF!!"

Stoß nach vorne.

Nur noch laufen. Lauf, schnell! LAUF!!

Nur noch dieser Satz, nur dieser eine Satz- immer wieder hämmerte er in seinem schmerzenden Kopf.

Sprang wie von Sinnen darin herum, vernebelte ihm den Blick und ließ ihn taumeln, seine Füße immer wieder übereinander stürzen.

Lauf, lauf, lauf, lauf, lauf, lauf, lauf --

Das diffuse, trübschwarze Innere der schmutzigen Seitenstraße wurde von dem pulsierenden Geräusch eines Paares unerbittlich fliegender Füße erfüllt.

Er stolperte und strauchelte, fiel über nutzlos herumliegende Mülleimer, alte Bretter und anderen Unrat, rappelte sich immer wieder hoch und rannte weiter, rannte, rannte, rannte- rannte um sein nacktes Überleben.

Sein Herz schlug bis zum Zerspringen in seiner Brust, heiße, schwarze Angst schien seine Atemwege in einen eisernen Würgegriff zu schließen und erbarmungslos zuzudrücken.

Lauf, lauf, lauf, lauf, lauf--

"Schnell! IHM NACH!!"

Das donnernde Echo von verhallenden Revolverschüssen sprang zwischen den hohen, kahlen Wänden der Gasse hin und her wie eine eingesperrte Bestie. Ungestüm. Verheerend.

Vor Angst schrie er jäh auf und stolperte vor Hast über seine eigenen Füße, sodass er Hals über Kopf auf dem Boden aufkam. Glühender Schmerz bohrte sich wie Feuer durch alle seine Gliedmaßen, erfüllte seinen Kopf, seine Füße, Hände, Arme und Beine.

Mit einem hysterischen, irr klingenden Schluchzen kämpfte sich die kleine blonde Gestalt in dem zerrissenen, grauen Hemd wieder auf die Füße.

Vor lauter Angst und Schmerzen drehte sich sein Magen um, seine Kehle verkrampfte sich und Tränen stiegen in seine panisch aufgerissenen Augen, als er hastig eine umgestürzte Mülltonne zur Seite warf und weiterrannte.

Sein ganzer Körper, ja seine ganze winzige, schwache Existenz schien nur noch aus glühendem, beißendem, bohrendem Schmerz zu bestehen, er füllte ihn aus bis in die letzten Fasern seines Körpers, ließ ihn sogar während des Rennens weinen--

In seinem schwirrenden, glühenden Kopf allerdings war alles wie leergefegt.

Alles, was noch darin umhergeisterte, waren Bilder.

Bilder dessen, was er gesehen hatte.

Wie ein endloser Film tauchten sie immer wieder vor seinem geistigen Auge auf, wie eine ewige Bilderreihe zogen sie langsam daran vorbei, in grellen, grässlichen Farben und mit noch grässlicheren Geräuschen-- Schreien, Stöhnen, Heulen, Wimmern--

Alles hatte er gesehen, alles hatte er gehört, alles hatte er gefühlt, alles --

"Hilf uns! HILF UNS!! Siehst du nicht, dass wir sterben?! Wir sterben, und alles ist es deine Schuld--"

"Bitte-- bitte hol die Polizei, hol einen Krankenwagen, bitte, wir schlagen dich auch nie mehr-- BITTE!!"

"Wie willst du mit dieser Schuld nur leben?"

"Da vorne ist er! Los, schnappt ihn euch!!"

Die Revolverschüsse wurden lauter.

Fremde Schritte von mehreren Leuten wurden in der Gasse laut. Schwer. Trampelnd.

Das trommelnde Geräusch seiner eigenen nackten, zerschundenen Füße erfüllte die Straße und seinen Kopf bis zum Zerbersten.

"Wo ist er?!"

"Da!! Bei dem Container! Los, ziel!"

"Aber wenn ich ihn erschie--"

"ZIEL!!"

Ein lauter, trommelfellzerfetzender Knall erfüllte die enge, finstere Gasse wie eine plötzliche Explosion.

Es ging so schnell, dass er nicht einmal mehr schreien konnte.

Etwas Glühendheißes bohrte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit von hinten in seine linke Schulter und riss ihn mit seiner Einschlagwucht innerhalb eines Sekundenbruchteils von den Füßen.

Ein Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem Leben gespürt hatte, durchtränkte ihn von der Schulter ausgehend wie glühendes Magma.

Etwas Warmes, unangenehm Feuchtes quoll durch die Falten seines grauen Hemds, rann an seinem zerkratzten Hals vorbei und netzte sein Gesicht.

Sein Magen krampfte sich vor Grauen zusammen, als er begriff, dass es sein Blut war.

In einer letzten verzweifelten Anstrengung richtete er sich auf, doch sein ganzer Körper versagte ihm einfach den Dienst.

Völlig am Ende seiner Kräfte übergab er sich mit einem würgenden Kehllaut mitten auf den regennassen, schlammigen Asphalt.

Dann wurde alles schwarz um ihn, und er stürzte ins Tiefe.

Tief. Tief. Tief...
 

~~~~
 

"STILLGESTANDEN!!"

Alle standen still.

Zwanzig Beinpaare in blank polierten Stiefeln streckten sich durch, zwanzig Kinne reckten sich in die Höhe.

Vierzig Arme strafften sich am Körper gen Erdboden, als wollten sie ihn durchbohren.

Zwanzig muskelbepackte, uniformierte Leiber versammelten sich zu einer einzigen Linie der Kraft.

Zwanzig Kadetten standen stramm.

General Riccardo McSanderson stolzierte mit hinter dem Rücken verschränkten Armen in langsamen, festen Schritten vor seinen zwanzig Elite-Abkömmlingen, die auf seinen Befehl vor der Barracke XT-5617 aufmarschiert waren, auf und ab und musterte dabei jeden einzelnen gründlich von oben bis unten.

Vortrefflich. Zwanzig junge, bis in die letzten Muskelfasern abgehärtete, zähe, beispiellos ausgebildete Kämpfer.

Bereit, bis an die Grenzen zu gehen, bereit, im Ausnahmefall Leben zu opfern und ihre Positionen bis zum Tod zu verteidigen.

Der korpulente Mann mit dem schütteren, eisengrauen Schnauzbart hielt in seiner Stolziererei inne und starrte die zwanzig Kadetten aus blutunterlaufenen, leicht wächsern wirkenden Fischaugen an.

"Liiiiiiiiinks- UM!!", brüllte er.

Zwanzig rechte Füße drehten sich in einer völlig synchron laufenden, ruckartigen Bewegung aus der Ferse heraus nach vorn.

Zwanzig Hüften fuhren herum, zwanzig Oberkörper folgten der Bewegung.

Zwanzig Kadetten wandten sich stramm nach links um, ohne auch nur ein Milligramm an Haltung zu verlieren.

"Reeeeeeechts- UM!!"

Noch einmal dasselbe nette Spielchen, nur diesmal nach rechts.

Zufrieden nickend wiederholte der General seine Vorbeistolzier-und-Muster-Prozedur ein zweites Mal.

Nicht, dass er beeindruckt gewesen wäre- solche Babykommandos konnten auch noch von Geistesschwachen, Krüppeln oder Frauen befolgt werden; jedoch keinesfalls in solch einer korrekten und geübten Form, wie McSanderson sie bevorzugte.

Und überhaupt hatte er seine zwanzig Schützlinge schon in zahllosen anderen Ausbildungssituationen erlebt- anfangs weniger perfekt, doch im Laufe der Ausbildung immer perfekter, bis es zum Schluss fast schon an Paranormalität grenzte.

Aus zwanzig herumhampelnden Hallodris waren zwanzig Elitekrieger geworden.

"FRONT!!"

Zwanzig Kadetten wandten sich wieder- ebenso stramm- mit den Gesichtern zu ihrem General.

"Gentlemen", begann McSanderson schließlich in seinem üblichen, befehlsgewohnten Ton seinen Vortrag,

"Wie Sie zweifellos wissen, schreiben wir heute den Tag, an dem Sie- nach drei Jahren- Ihre Ausbildung zum Kadetten für nationale Sicherheit abschließen, und das ausnahmslos mit etwas, das Sie von mir aus Erfolg nennen können. In diesen drei lächerlichen Jährchen haben Sie alles gelernt, was Sie für Ihre weitere Zukunft als Kadett brauchen. Ab heute, Gentlemen, steht Ihr Name, der vorher nichts weiter war als der lumpige Beweis Ihrer Existenz, für Sicherheit, kühles Blut im Kampf und Sinn für nationale Gerechtigkeit. Bemerkenswert im Vergleich zu den windigen Kreaturen, die Sie vorher waren, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten."

Keine Antwort.

Gut ausgebildete Kadetten sprachen nicht, bevor ihr Vorgesetzter es ihnen befahl. Wieder nickte McSanderson zufrieden.

"Vor drei Jahren", fing er schließlich erneut an, "Waren Sie nicht mehr als zwanzig unfähige Bastarde ohne Wert und Bedeutung. Sie hätten wahrscheinlich ebensogut als Hausmann wie als Kadett anfangen können. Sie konnten damals wählen, als Sie Ihre Entscheidung trafen, Sie konnten wählen zwischen einem Dasein als Nichts oder einem Dasein als Etwas. Einem Leben mit oder ohne Stellenwert für die Gesellschaft, in der wir alle leben. Einem Leben in grauer Routine, eingeklemmt zwischen tausend anderen Namenlosen oder einem Leben als Kämpfer und Beschützer der Sicherheit Ihrer Mitmenschen- und Sie haben richtig entschieden.

Es mag sein, dass Ihr Ego, oder wie andere es nennen würden, "Psyche", unter dieser dreijährigen Ausbildung zu kurz kam, aber Sie haben erst durch diesen Verlust bewiesen, dass Sie Ihrem Lebensweg als Kadett würdig sind."

Während der General sprach, begann er wieder, wie ein aufgeblähter Truthahn vor seinen zwanzig Kadetten auf- und abzustolzieren.

"Und glauben Sie mir, Gentlemen, dieser angebliche "psychische Verlust", auch wenn er gar nicht im wörtlichen Sinne vorliegt- wenn überhaupt also- ist durch Ihren Zugewinn an Gerechtigkeitssinn, Kampffähigkeit, Entscheidungsverstand und etlichem mehr gewachsen wie unter keiner anderen Behandlung. Eines Tages werden Sie an meine Worte denken und stolz darauf sein, diesen Weg beschritten zu haben und auf die mentale Verrottung durch die Gesellschaft verzichtet zu haben. Sie sind Kadetten, und Kadetten haben- was zu sein? Mr.Macchiavelli!"

"Sir, Kadetten haben gerecht- leistungsstark- unbezwingbar zu sein, Sir!", betete der junge Kadett mit den italienischen Wurzeln und dem vierschrötigen Kinn die Regel herunter, die sie als erstes unter McSandersons Fuchtel gelernt hatten.

"Korrekt. Sie sehen also, Gentlemen, die Leistung liegt allein im Bestreben und nicht im Gefühl."

Mit einem provozierenden Blick aus diesen fischigen Glotzaugen stierte McSanderson seinen Schützlingen ins Gesicht, während er an ihnen vorbeistolzierte.

Zwanzig Augenpaare, die sich niemals die Infamität erlauben würden, seinen stochernden Blick direkt zu erwidern, sondern nur konzentriert und stramm ins Unbestimmte starrten.

Wirklich zwanzig Augenpaare?

Nein.

Gerade, als der General zum letzten Teil seiner inszenierten Rede anheben wollte, verschluckte er sich mitten im Wort und hielt inne.

Abrupt blieb er stehen und blinzelte, gegen seinen Willen unangenehm überrascht.

Er blickte in ein paar harter, glühend zinnoberroter Augen.

Ihr Blick bohrte sich ebenso kalt und respektlos in sein rundes Mondgesicht wie seiner in das des Urhebers dieses Blicks.

McSanderson hatte schon kuriose Dinge erlebt, aber sowas war ihm noch nie untergekommen.

Er fühlte gleichzeitig Ärger, Belustigung und Neugier in sich aufsteigen.

"Kurogane?", fragte er schließlich mit einer eklig süffisanten Grinsgrimasse auf dem Gesicht.

"Sir?", war die knappe, aber seltsam trotzig klingende Antwort.

"Auch Sie sind ein Kadett. Was sehen Sie mich also so an? Zweifeln Sie etwa an dem, was ich sage?"

"Sir, mit Verlaub, ich zweifle nicht daran, Sir!"

Mit jedem Wort flammte pure, kaltgepresste Verachtung in diesen Augen auf. McSanderson hob die Augenbrauen.

"Das wollen wir doch hoffen."

Der General stellte sich aufgrund von Mangel an ausreichender Körpergröße auf die Zehenspitzen und schob sein teigiges Gesicht ganz nah an das seines widerspenstigen Kadetten heran.

"Sie waren mir schon immer so einer, Kurogane. Einer der besten Jungs. Der Allerbesten. Sie werden von den ganz hohen Tieren im Sicherheitsdezernat eingestellt, höre ich. Ich bezweifle allerdings, dass das mit Ihnen gutgehen wird, wenn Sie diese Verstocktheit nicht langsam ablegen, wenn Sie wissen, was ich meine... Sie scheinen mir in kein Schema dieser Welt hineinzupassen. Früher oder später wird Ihre Widerborstigkeit Ihnen das Genick brechen, wenn das vorher nicht schon durch Ermangelung eines Nachnamens passiert. Denken Sie an meine Worte, wenn es soweit ist. Haben Sie mich verstanden?"

Keine Antwort.

"HABEN SIE MICH VERSTANDEN?"

"Sir, jawohl, Sir."

"Hervorragend."

Der General ließ sich wieder auf die Sohlen seiner platten Käsefüße sinken.

Eine Weile lang kämpfte der Blick seiner Fischaugen noch gegen den seines Kadetten, bis sie das stumme Duell schließlich verloren.

"WEGTRETEN!!"

Zwanzig Kadetten setzten sich zielstrebig in Bewegung und marschierten Richtung Barracke davon, wobei einer von ihnen noch eine stumme Niederträchtigkeit beim General ließ.

Heute abend würden die Elite-Abkömmlinge packen, und am nächsten Morgen zurück in die Zivilisation fahren oder fliegen.

Ihrer neuen Zukunft als funktionierendes Glied der Sicherheit für die Gesellschaft entgegen.

Draußen ging die Sonne allmählich unter und tauchte die ganze Barrackenreihe in rotgoldenes Licht.

Am Horizont teilte sich langsam die Wolkendecke.

Ein kühler Wind kam auf.

Concrete Identity

-"Jeder Name birgt sowohl den Geist der Eltern als auch den des Trägers. Er birgt einen Teil seiner Seele.-"

(P. Stamitz)
 

~~
 

"... Ja, und dann sag ich zu ihr: aber nein, Missis Robinson, das ist doch nicht nötig, beim Backen müssen Sie immer Ihr Kreuz so anstrengen, und dann sagt sie zu mir: den nehmen Sie aber jetzt, ich hab meine ganze Liebe und Sorgfalt dafür aufgebracht, ich bin vielleicht keine Meisterbäckerin, aber trotzdem, und dann sag ich zu ihr: aber Missis Robinson!, und dann sagt sie zu mir: ..."

Kurogane fletschte die Zähne. Eine feine, stetig schwellende Ader auf seiner Stirn war bereits seit einiger Zeit am heftigsten Pulsieren.

Um genauer zu sein: Seit acht gottverfluchten Stunden. Seit acht Uhr morgens bis jetzt.

Ich dreh jetzt nicht durch. Nein, ich dreh jetzt nicht durch.

Mit aller Macht unterdrückte der hochgewachsene, schwarzhaarige Killer den Drang, in trommelfellzerfetzendes Gebrüll auszubrechen und diese nervtötende, ewig quatschende Gesichtsbarracke auf irgendeine blutige, menschenunwürdige Art und Weise niederzumetzeln und dann im nächstbesten Schneehaufen zu verscharren. Von denen gab es am Johannesplatz jedenfalls mehr als genug- schon seit drei Stunden schneite es, diesmal in großen, wässrigen Flocken, und die schwächelnde Sonne, halb verborgen hinter grauen Wolken, schickte sich bereits wieder zum Untergehen an. Blödes Teil.

Aber nur halb so blöd wie dieser blonde Affe da neben mir.

Soeben hielt jener blonde Affe in seinen umfangreichen Ausführungen über sein Leben als guter Nachbar inne und fixierte sein älteres Gegenüber, das schon seit längerer Zeit den Mörderblick im Gesicht hatte- will heißen: einen noch schlimmeren Mörderblick als sowieso schon- und dabei aussah, als wolle er vor unterdrücktem Zorn jede Sekunde entweder implodieren oder explodieren.

Obwohl, explodieren war wohl die wahrscheinlichere Variante. Ein wenig seltsam wäre es ja schon gewesen, wenn der hochgewachsene Schwarzhaarige neben ihm plötzlich zu einem faustgroßen Materieklumpen zusammengeschrumpft wäre.

"Was ist denn?", fragte Fye erstaunt.

"Fragen Sie gefälligst nicht so saublöd, zum Teufel nochmal!!", bellte der Schwarze als einzige Antwort.

"Soll ich intelligenter fragen? Auf intelligentere Weise, meine ich?"

"Sie? Sie und Intelligenz?! Das ist ein Paradoxon im Superlativ!!"

"Wie fies! Sie benutzen gebildete Wörter, um mich zu verwirren und auszustechen!", stellte der Blondling schmollend fest.

"Ich würde Sie lieber AB- als ausstechen."

Hartnäckig ignorierte Kurogane den beleidigten Gesichtsausdruck des Jüngeren und starrte auf die andere Straßenseite, Richtung "Jardin D'Hiver", wobei er versuchte, das nach wie vor auf ihn einprasselnde Gequatsche zu überhören.

Offenbar quasselte der Konditorlehrling einfach nur raus, was ihm gerade durch sein hohles Hirn geisterte.

Die verkalkte Schnepfe mit der roten Perücke, die mal wieder an ihrem Stammplatz saß, schien ebenfalls ein wenig überfragt.

Unschlüssig sah sie sich nach allen Seiten um, offensichtlich verwundert, wo Navras heute blieb.

Tja, Alte. So schnell braucht Navras keinen Koffeinkick mehr.

Zu dumm nur, dass er jetzt weiterhin hier rumstehen und observieren musste- weil ebenjene verkalkte Schnepfe sein nächstes Opfer war. Madeleine Delnatte. Fünfundfünfzig Jahre alt. Organspenderin. Im Betriebsrat des Konzerns "Ovid Kunsthandel", wo auch die Yamazawa gewesen war. Er hätte aus gewissen Gründen liebend, liebend gern den Standpunkt gewechselt, aber von einem näheren Platz aus hätte sie ihn wohl bemerkt, und das war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.

"Hey? Hey, darf ich Sie was fragen?"

"Das fragen Sie mich jetzt schon zum zwanzigtausendsten Mal."

"Stimmt, aber ich bin abgeschweift. Ich wollte Sie schon die ganze Zeit fragen: was haben Sie da in Ihrer Tasche?"

Der Blondling nickte in Richtung der schwarz glänzenden Tasche, die schon den ganzen Morgen neben den Füßen des schwarzhaarigen Fremdlings stand.

"Eine Atombombe, mit der ich Ihnen das Maul stopfe, wenn Sie nicht gleich verschwinden", fauchte der Killer zurück, in der vergeblichen Hoffnung, sich so von seinem lästigen Gesprächspartner zu befreien.

Dieser lächelte jedoch strahlend und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. "Sagen Sie's mir doch einfach. Ich werde schon nicht Ihr ganzes Dasein davon abhängig machen, hm?"

Kurogane warf dem Blondling einen bitterbösen Blick zu und knurrte irgendetwas unverständliches, doch Fye hörte ein paar Silben heraus, die fast wie "Training" und "Fitness-Studio" klangen.

"Waaas, Sie gehen echt ins Fitness-Studio? Ist ja der Hammer! In welches?"

"MedX."

"Wooow, in dieses superprofessionelle?"

"Wer will das schon wissen", grollte der Schwarzhaarige.

Fye lächelte. "Ich will's wissen! Zufällig geh ich nämlich auch dorthin, wissen Sie? Zum Sportmachen!"

Kuroganes Augen weiteten sich.

NEIN. BITTE, BITTE NICHT.

"WAS?!! Seit wann das denn?!!"

"Schon eeeewig!", erläuterte der Hilfswichtel fröhlich, "Fast jeden dritten Tag! Ich brauch das einfach! Sport ist meine Droge! Soll ja auch sehr gesund sein!"

Geringschätzig hob der Schwarze die Augenbrauen und musterte sein schlaksiges, spindeldürres Gegenüber kritisch.

Alles, was er sah, waren Haut und Knochen, und der Rest war vermutlich Luft oder eher Blödheit.

"Ach ja?"

Mit einem Grinsen drehte sich der Blondling einmal um dreihundertsechzig Grad wie ein Brummkreisel. "Naja, bei mir sieht man's zwar nicht, aber an mir ist mehr dran, als man vermutet! Das sagt mein Physiotherapeut auch immer! Veborgene Kraft! Finde dein inneres Zentrum! Es gibt nur noch die Maschine und dich! Lass dich vom Wahnsinnsrausch deiner schweißströmenden Muskelkraft überrollen!"

Er hielt in seinen Ausführungen inne und musterte Kurogane genau, der ihn mittlerweile anstarrte, als ob er völlig gaga wäre.

"Bei Ihnen sieht man's allerdings, aber hallo! Warum verstecken Sie Ihre Muskeln unter diesem dicken Mantel?"

"Weil Winter ist, Sie Flachbanane."

"Oh, stimmt ja- hab ich vergessen. Wie kommt das? Haben Sie Ihr inneres Zentrum schon gefunden?

"Muskeln haben mit so 'nem Tratschtantenzeug nicht das geringste am Hut."

"Achso. Ähm-... darf ich Sie was fragen?"

"Nein."

Der Blondling grinste und wirkte auf possierliche Weise ein wenig verlegen, wie ein Schulbube, der nach der Uhrzeit fragte.

"Ja? Also: wie wär's, wenn wir gemeinsam hingehen? Zu MedX, meine ich? Ich war nämlich schon länger nicht mehr dort."

Kurogane erlitt fast einen Herzinfarkt, noch bevor sein Hirn die Frage vollständig verarbeitet hatte.

"WAS?!! Ooooh nein! Nicht mit mir! Suchen Sie sich einen anderen Affen, der Ihr hirnloses Geschwätz erträgt!"

"Ich würde aber lieber mit einem Menschen reden als mit einem Affen."

"Vergessen Sie's!"

"Ach, kommen Sie schon, wir kennen uns doch schon seit zwei Tagen!"

"Das sind genau zwei Tage zuviel!! Und außerdem haben Sie verdammt nochmal zu arbeiten!"

"Die Konditorei schließt heute sowieso früher! Und Sie haben Ihr Zeug schon dabei! Kommen Sie schon! BITTEEEE!!"

"NAIEN!!"

"Ohh, bittebittebittebittebittebittebitte-"

"MAUL HALTEN!!"

"-tebittebittebittebittebittebittebitte--"

"NUR ÜBER MEINE LEICHE!!"

"-ittebittebittebittebittebittebittebittebittebitte--"

"ICH GEHE!! HÖREN SIE MICH?!!"

"Ihhhiich--... k-komm mihihit!", keuchte der Blondling und japste wild nach Luft, die ihm während seiner Hardcore-Betteltour verständlicherweise abhanden gekommen war.

"Bleiben Sie, wo Sie sind!! Stehengeblieben!! KEINEN SCHRITT WEITER!"

Fye legte, nachdem er wieder zu Atem gekommen war, verwundert seinen Kopf schief und betrachtete den Killer, der vor ihm stand, als wolle er einen rasenden, genmanipulierten Urwaldaffen davon abhalten, den Planeten zu zerstören.

"Was haben Sie bloß? Ich werde Sie schon nicht fressen! Und ich will nicht an Ihnen herummeckern! Ich will einfach nur mitkommen! Laufen ist nicht gleich fertigmachen bis aufs Letzte, oder?"

Für wenige Sekundenbruchteile stahl sich so etwas wie Verwirrung in diese flammenden, zinnoberroten Augen.

"Hören Sie zu!", fauchte er schließlich und drohte seinem Gegenüber mit dem Zeigefinger wie einem unartigen Kind.

"Ich mache das, was ich will. Und ich mache alles allein, was ich machen will! Und schreiben Sie sich das jetzt gut hinter Ihre blöden Löffel, damit Sie's nicht vergessen: Sie. Werden. Nicht. Mitkommen. Nur über meine Leiche, kapiert?!

NUR- ÜBER- MEINE- LEICHE!!!"

Der Blondling machte nur große Augen und legte den Kopf abermals schief.

"Ach jaaaa?"
 

"Guten Tag, und herzlich willkommen beim MedX-Filiale von Kingstonville", sagte das hübsche Empfangsfräulein mit einem ebenso hübschen Lächeln zu den beiden von oben bis unten mit Schnee bepuderten Gestalten vor dem Thresen.

"Mein Name ist Natsu. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"

"Wir würden heute gerne beide unser übliches Trainingsprogramm absolvieren, Fräulein Natsu!", erwiderte Fye strahlend, während Kurogane nur mit einem zornbrodelnden Blick in eine andere Richtung starrte.

"Aber gern! Dann bräuchte ich zunächst Ihre Namen für unsere heutige Kundenliste."

"Ray", antwortete Fye wie aus der Pistole geschossen, "Ray Flückiger."

"Kurogane", tönte es dumpf knurrend hinter Fyes Rücken.

Flink huschten die Finger des Empfangsfräuleins über die Tastatur des Registriercomputers. "Kurogane und Ray Flückiger. Wunderbar. Wie ich sehe, waren Sie schon länger nicht mehr hier, Mr. Flückiger?"

Fye strahlte. "Familiäre Gründe. Mein Kragen war ziemlich eng geschnürt, wissen Sie."

"Das erklärt natürlich alles. Entschuldigen Sie meine Indiskretion. Dann bräuchte ich von Ihnen noch die Mitgliedskarte."

"Ich überlasse Ihnen den Vortritt", sagte Fye mit einem galanten Lächeln zu seinem unfreiwilligen Begleiter.

Dieser trat nur wortlos vor und knallte Fräulein Natsu seine Mitgliedskarte vor die Nase.

"Äh, ähh-- das übliche Programm, der Herr?", stammelte diese mit puterroten Wangen, offenbar war sie Kurogane sehr zugetan.

"Was denn sonst", war die gereizte Antwort. "Geben Sie mir endlich den verdammten Kabinenschlüssel."

"Hi-hier--"

Ohne noch eine weitere Silbe zu verschwenden, riss der Schwarzhaarige dem Mädchen den Schlüssel aus der Hand und stampfte von dannen, Richtung Umkleidekabinen. Einige Leute sahen ihm verwundert nach. Fräulein Natsu seufzte und versuchte, den roten Schleier von ihren Wangen zu vertreiben.

"Du meine Güte."

"Ganz meine Rede, Fräulein", meinte Fye gutmütig und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Anmeldethresen.

"Er heißt also Kurogane, hm? Kommt er denn öfter her?"

"Fast jeden zweiten Tag", legte das Empfangsfräulein sofort los,"Einer unserer Stammkunden! Er absolviert fast als einziger das schwerste Programm, das wir zu bieten haben, und das mühelos! Und, ähh-... der Erfolg, der... ehhm..."

"... der lässt sich sehen, wie?", ergänzte Fye grinsend, und Fräulein Natsu nickte mit feuerrotem Gesicht.

"Leider ist er kein sehr erzählfreudiger Mensch."

"Stimmt", seufzte das kupferfarben beschopfte Empfangsmädchen, "Er ist gerademal so gesprächig wie ein toter Hering. Kennen Sie ihn denn schon länger? Er ist noch nie in Begleitung hier erschienen."

"Nein", erklärte Fye mit einem Lächeln, "Es hat sich einfach so ergeben, wissen Sie."

"Einfach so?"

"Einfach so. Wir haben uns gesehen, und uns sofort ganz prächtig verstanden."

"Gut zu wissen. Manchmal kann man nämlich glatt denken, er geht zum Lachen in den Keller."

Fräulein Natsu senkte ihre Stimme zu einem vertrauensvollen Flüstern. "Und, mal ganz unter uns, ab und zu kommt mir sogar der Gedanke, dass er in seiner Freizeit Menschen kaltblütig umlegt, um Geld zu verdienen."

Fye lachte hell auf.

"Du liebe Zeit! Was für eine Idee!"

"Nicht wahr? Völlig absurd."

Der Blondling zwinkerte. "So spielt das Leben, was? Ich muss Ihnen sowieso noch eine Frage stellen, bevor wir das mit der Karte abwickeln, Fräulein..."

"Nur zu, Mr.Flückiger. Ich bin ganz Ohr."
 

Fünf Minuten punktgenau. Die Stoppuhr piepte.

Mit einem lautlosen Ächzen stellte Kurogane die Hanteln ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Er spürte deutlich, wie gut ihm das Training nach fast drei Tagen Auszeit tat. Bei sich zuhause hatte er zwar auch einiges an Gerätschaften herumstehen, aber hier hatte er noch am meisten das Gefühl, dass es ihm etwas brachte. Bei seinem Job musste in Sachen Muskelmasse eben alles stimmen. Und außerdem bereitete es ihm eine gewisse Genugtuung, all das schlaffe, gewöhnliche Ungeziefer um sich herum zu beobachten, wie es sich an den Maschinen und Übungen abzappelte.

Hilflose, kleine Menschlein, denen schon beim Sechzig-Pfund-Gewicht fast die Augen aus dem Kopf fielen.

Ach herrjeh, wie anstrengend, wie anstrengend, das schaff ich ja nie!

Mit einem gehässigen Grinsen auf dem Gesicht warf sich Kurogane sein schwarzes Handtuch über die Schulter und begab sich zum Klimmzug. Trotz seiner schlichten Garderobe- ein schwarzes Shirt, eine schwarze Jogginghose und schwarze Nikeschuhe- war er in diesem Studio ein beliebtes Ziel von weiblichen Blicken, was ihm wie üblich die Laune rasch wieder vergällte.

Verdammte Weiber! Was glotzten sie ihn so an, war er Arnold Schwarzenegger oder Jesus oder Allah, oder was?

" 'ne neue Frisur würde Ihnen nicht schaden", sagte er im Vorbeigehen zu einer bereits etwas reiferen Dame, die ihn schon, seit er hier im Türrahmen erschienen war, mit perversen Blicken bombardiert hatte. Als ob er je was von so einer breitärschigen alten Wachtel wollen würde.

Gerade wollte sich der Killer auf den Klimmzug schwingen, um seine vierzig Stützen abzuarbeiten, als ihm plötzlich etwas einfiel.

Misstrauisch ließ er seinen glutäutigen Blick durch das Studio schweifen.

Wo war dieser Bill, oder Ray, oder wie er auch hieß, abgeblieben? Nicht, dass es ihn interessierte. Es wäre ihm sogar viel rechter gewesen, wenn dieser Schwachmat sein doofes Gesicht nie wieder gezeigt hätte und einfach vom Erdboden verschwunden wäre.

Aber innerlich hegte Kurogane schon die grauenvolle Vision, dass dieser unerträgliche Kerl mit seinem noch unerträglicheren Gefasel die Inhaber dieser MedX-Filiale um den Verstand brachte und soweit trieb, dass sie sich in einem wilden Anfall von Verzweiflung hundert Tonnen Dynamit besorgten und den gesamten Laden in die Luft sprengten, bevor sie anschließend Selbstmord begingen.

Lieber ging er ihn suchen, oder stellte zumindest klar, wo er sich aufhielt, um die drohende Katastrophe abzuwenden.

"He!", hielt er den Erstbesten an, der an ihm vorbeiwollte, "Ich such einen blonden Idioten. Haben Sie einen gesehen?"

"Gucken Sie doch einfach bei EBay", war die ungehaltene Antwort seines Ansprechpartners, bevor dieser weiterlief.

In Gedanken schickte Kurogane diesem elenden Individuum tausend gotteslästerliche Flüche nach. So ein Arschkopf! Am besten machte er sich selbst auf die Suche. Gesagt, getan.

Diesem Teil des Studios war die Abteilung "Musikalische Allround-Gymnastik" am nächsten. Der Killer hasste diesen Ort, weil hier stets irgendwelche geschmacklose Dance-Musik lief, zu der alte, schwabbelbeinige Omas ihre verkalkten Hüften kreisen ließen, um ihren Tod um ein paar Stunden hinauszuzögern. Trotzdem steckte er seinen Kopf durch den Türspalt.

"Ich such einen blonden Kerl, der ständig grinst", hielt er sein nächstes Opfer- eine jener schwabbelbeinigen Omas- an. Diese überlegte für einen Moment, wobei sie den groben Tons ihres Gegenübers großzügigerweise überging.

"Hmm... ein blonder Kerl, sagen Sie? Naja, wir haben einen blonden Physiotherapeuten hier, aber ich weiß nicht, ob--"

"WAS?! WO IST ER?!!"

"Ehh- zwei Räume weiter--"

Ohne sich ein weiteres Wort der Erklärung anzuhören, sprintete der Schwarzhaarige los, das Desaster bereits vor Augen, geradewegs bis zum Gymnastikraum 3A, kam schnaufend davor zum Stehen, riss die Tür auf-- und erstarrte.

Bei dem Anblick, der sich ihm hier bot, wich ihm alles Blut aus dem Gesicht.

"Sooo, und jetzt kommen wir zum dritten Teil unserer Übung! Ich will Ihre Beine oben sehen, Ladies and Gentlemen! Eins-zwei, eins-zwei, zwo-drei-vier-fünf! Hoch das Bein, und hoch damit! Lassen Sie mich Ihre Energie fühlen! Und vergessen Sie den Kampfruf nicht! Yeah! Shake ya legs!!"

Zwanzig restlos begeisterte Frührentner stemmten synchron die Fäuste in die Hüften, ließen die Becken im Takt zur Musik kreisen, und warfen immer wieder die krampfaderdurchzogenen Beine in die Luft, als ob sie versuchten Cancan zu tanzen.

"Yeah! Yeah Baby! Hit me, come on!", riefen sie dazu im Chor wie eine Versammlung von katholischen Priestern.

"Und jetzt nehmen wir die Arme dazu! Rhytmisch im Takt, Monkey-Dance, mit Schwung! Was will ich von Ihnen hören?"

"We will dance like crazy monkeys!"

"Genau! Sie sind agil, Sie sind geschmeidig! Nichts kann Sie aufhalten! Und ab geht die Post!"

Fye schien ebenso in seiner Aktivität aufzugehen wie seine zwanzig Schützlinge. Völlig losgelöst, in furios-gymnastischen Bewegungen frönte er seiner Beschäftigung als Vorreiter, wobei das weite, taubenblaue Hemd und die weiße Jogginghose, die er trug, wie leere Säcke um seine schlanken Gliedmaßen schlackerten. Ein wenig wirkte er wie eine Fetzenpuppe.

Er hielt in seinen Übungen inne, als er Kurogane im Türrahmen bemerkte, der mittlerweile Augen wie Spiegeleier machte.

"Hey! Hi! Wollen Sie auch beim allround-gymnastischen Monkey-Dance mitmachen?"

"Was, was-- was-- WAS TUN SIE DA?!!"

"Na, sieht man das nicht? Ich bin hier Physiotherapeut! Der Monkey-Dance stammt von mir! Wollen Sie's auch mal probieren?"

"NEIN!!"

"Echt nicht?"

"NAIEN!!"

"Na gut! Dann macht jetzt jeder noch seine Übungen fertig, und später treffen wir uns in der Dusche, okay?"

"WAA-- ach, rutschen Sie mir doch den Buckel hinunter!!"

"Lieber nicht. Das wäre ziemlich ungesund für den Rücken."

"AAAARRRGH!!"

Mit einem Wutschrei schlug Kurogane die Tür zu und stampfte so schnell er konnte wieder ins Studio zurück.

Dieser Idiot war Physiotherapeut. Ein verdammter Physiotherapeut.

Ich glaub das nicht. Ich glaub das einfach nicht.
 

Halb sieben am Abend.

Die Tür des Haupteingangs schwang auf und schlug mit solcher Wucht wieder zu, dass sie fast aus den Angeln gefallen wäre.

Fye, der abgeduscht, geföhnt und in seinen hellen Wintermantel eingemummelt etwa zehn Minuten gewartet hatte, drehte sich mit einem Lächeln zu dem miesgelaunten Schwarzhaarigen um, der mit seiner Tasche im Schlepptau auf die Straße gestapft kam.

"Da sind Sie ja!"

"Nein, wirklich?!"

Ohne den Blonden eines einzigen Blickes zu würdigen, marschierte der Killer einfach drauflos, sodass ihm sein Begleiter wohl oder übel nachjappeln musste. "Warum so schlecht drauf? Das war doch total erfrischend!"

"Für Sie vielleicht, Mr. Flückiger, aber zufällig hatte ich besseres zu tun als diesen bescheuerten Affentanz zu machen, und--"

"Hey... kommen Sie. Schalten Sie 'nen Gang runter", meinte der Konditorlehrling nur mit einem gutmütigen Lächeln, "Es ist Abend, und wir können uns Zeit lassen. Morgen ist auch noch ein Tag."

Ein längeres Schweigen verging. Auf der Straße fuhren einige Autos vorbei. Es hatte mittlerweile aufgehört zu schneien.

Am wolkenbesetzten Himmel schimmerte manchmal die bleiche Scheibe des Halbmonds auf.

"Übrigens", begann der Blonde plötzlich unvermutet, diesmal etwas leiser, sodass Kurogane wohl oder übel langsamer laufen musste, um ihn weiterhin zu verstehen, "Ich heiß nicht Flückiger. Ich heiß Fye. Fye De Flourite."

Geringschätzig wandte der Killer den Kopf um und starrte Fye an.

"So? Ist ja entzückend. Wie kommt's, dass Sie anderswo Mr. Flückiger heißen?"

Misstrauisch beobachtete Kurogane, wie sein Gegenüber offenbar verlegen den Blick senkte.

"Naja. Kleine Macke von mir. Ich bin eben ziemlich schüchtern."

Nach einer Pause fügte er erwartungsvoll hinzu: "Und wie heißen Sie?"

"Das wissen Sie doch schon längst", war die unwillige Antwort.

Der junge Mann legte mit einem Lächeln den Kopf schief. "Ich würde es aber gerne nochmal von Ihnen hören. Weil es Ihr Name ist."

Stille. Als der schwarzhaarige Riese zu sprechen anfing, war es kaum mehr als ein Murmeln. Doch Fye hörte ihn klar und deutlich.

"Kurogane."

Wieder Stille.

"Kurogane also? Ihr Vorname, nehme ich an? Und Ihr Nachname?"

"Halten Sie die Klappe."

"Oh. Tut mir Leid. Ich war nur neugierig."

Irritiert wandte der Killer seinen Kopf zu seinem Kompagnon um.

"Sie machen einen Rückzieher?"

"Klar, wieso nicht? Wenn Sie nicht darüber reden wollen, ist das okay. Es ist Ihr Name, und ich habe keine Rechte drauf."

Kurogane starrte ihn an wie einen komplett Geistesgestörten.

"Namen sind was Besonderes! Wem man seinen Namen verrät und wem nicht, ist die Entscheidung von einem selbst, finden Sie das denn nicht?", fragte Fye verwundert.

"Nein."

"Warum nicht?"

"Namen sind 'ne schlichte Lüge. Ein guter Vergleich sind Haustiere. Sie nennen Ihre Katze Lenny, aber was hat die Katze dann davon? Sie bleibt die gleiche Katze wie vorher, und wenn sie stirbt, nützt ihr der Name auch nichts."

"Hat der Mensch denn bei Ihnen den Stellenwert einer Katze?"

"Tsss."

Als Kurogane den Blick hob, sahen die Augen des Blondlings wie Glas aus. Bleiches Milchglas.

"Was ist?!!"

"Ach, nichts. Sie erinnern mich so an jemanden Bekannten."

Wieder Stille. "Ich denke", begann Fye schließlich wieder, "Wenn man seine Katze Lenny nennt, bezweckt man doch irgendetwas damit. Ich weiß nicht, warum mich meine Eltern Fye genannt haben... aber, wer weiß? Vielleicht haben sie mir durch diesen Namen eine gute Eigenschaft gewünscht, die ich besitzen soll? Vielleicht haben sie mir mit meinem Namen etwas mitgegeben? Unmöglich ist nichts. Vielleicht sagen Namen ein winziges bisschen darüber aus, wer wir wirklich sind."

Kurogane stöhnte. "Mein Gott, was sind Sie bloß für ein Schwachmat- Sie machen Monkeydance, schwafeln von Paris und Träumen und Namen und tapezieren Ihr Zimmer mit blauer Tapete! Das werde ich wohl bis an mein Lebensende niema--"

Der Killer hielt verwirrt in seinem nicht gerade netten Auswurf inne, als er das Lächeln seines Begleiters sah.

"Warum grinsen Sie jetzt schon wieder?!!"

Fye zwinkerte. "Sie sind lustig. Sie bringen mich zum Lächeln."

Ein langes Schweigen verstrich, in dem Kurogane Fye nur aus verständnislosen, zinnoberroten Augen musterte. Es war mittlerweile so kalt, dass ihr Atem in Form von Dunstwolken über ihren Köpfen aufstieg.

Dem Schwarzhaarigen fiel beim besten Willen nichts ein, was er jetzt noch sagen konnte. Verdutzt bemerkte er, dass er während ihrer Unterhaltung einfach auf dem Fußweg stehengeblieben war. Der Blondling schien das auch just zu realisieren, er grinste jedoch nur.

Immer noch Stille.

"Kurogane?"

Der Killer hatte allmählich wirklich genug für heute, und hob nur die Augenbrauen zum Zeichen, dass er hörte.

"Ich muss gehen. Ist 'n ziemlicher weiter Weg von hier bis zu meinem Haus."

"Ah. Wie interessant. Worauf warten Sie dann? Hauen Sie schon ab!"

Fye strahlte. "Alles klar! Dann-... ... dann bis dann irgendwann."

"Jaja, Sie mich auch."

Der Konditorlehrling grinste und ließ noch einen belustigten Blick zurück, bevor er sich auf den Weg machte.

Kurogane setzte sich- endlos erleichtert- ebenfalls in Bewegung. Er wollte schon um die Ecke biegen, als er merkte, dass ihm sein Kompagnon noch etwas nachrief. Völlig entnervt drehte er sich um.

"WAS?!!"

Das Grinsen des Hilfswichtels war so breit, dass man es sogar noch sehen konnte, wenn man zwanzig Meter weiter weg stand.

"Eine Frage noch! Hätten Sie Ihre Katze denn wirklich Lenny genannt, wenn Sie eine hätten?"

Kurogane schnaubte durch die Nase. Dieser Idiot konnte vielleicht Fragen stellen.

Schließlich tippte er sich mit einem Zeigefinger an die Stirn.

"Blöde Frage! Ich hätte sie natürlich Mr. Flückiger genannt!"
 

"Leute! HEY!! LEUTE!!"

RUMMS. Mit einem Krachen flog die Eingangstür der Wohnung im Hippie-Viertel auf. Hastig schleuderte Fye seine Winterstiefel von den Füßen, wühlte sich aus seinem Mantel und rannte ins Wohnzimmer.

Dort saß einer seiner beiden Mitbewohner- Shaolan- der offenbar gerade beim Lernen gewesen war, und erschrocken aufmerkte, als sein Mitbewohner Hals über Kopf ins Zimmer getaumelt kam, sich auf den erstbesten Sessel sinken ließ und in lautes, hemmungsloses Gelächter ausbrach.

"WAHAHAHAHA! Hihihihi- buahahahah!!"

Der schlaksige Teenager mit dem kastanienfarbenen Schopf blickte drein, als hätte er ein Ei im Ganzen verschluckt.

"Ähh-... Fye-San? Wo bist du gewesen? Es ist halb zehn! Ist alles in Ordnung?"

"Jaja, schon, Shaolan, es-... PUAHAHAH!! Es ist nur so lustig!! Rate mal, wo ich heute war, rate mal!"

"Im Untergrundshop für Ecstasy?"

"Nein! Ich war heute im Fitness-Studio!"

"WAS?! Aber Fye-San-- du warst doch noch nie in deinem Leben in einem Fitness-Studio!"

"Eben! War das vielleicht gigantomatisch! Und ich bin mit Kurogane hingegangen!"

"Kurogane? Ist das der Name von diesem komischen Typ, von dem du schon seit zwei Tagen redest?"

"Ja! Und stell dir vor: ich war sogar Physiotherapeut! "

"WIE bitte? Was hast du denn nur wieder angestellt, Fye-San??"

"Ich hab mich angemeldet, und hab mich ein bisschen umgesehen, und weil so 'ner Rentner-Truppe gerade der Therapeut gefehlt hat, hab ich ihn eben ersetzt! Wow! War das vielleicht cool! Hab ich dir eigentlich schon meinen Monkey-Dance gezeigt?"

Shaolan schüttelte den Kopf. Fye warf sich stolz in die Brust. "Hab ich mir heute ausgedacht! Ich sag dir, das hat irre Spaß gemacht! Sowas müsste man öfter machen! Haaafuuuuuuh!"

Mit einem theatralischen Seufzer beruhigte er sich schließlich wieder. "Aber dieser Kurogane ist wirklich lustig. Wir hatten ein interessantes Gespräch über Namen. Vielleicht seh ich ihn ja wieder."

Mit einem nachdenklichen Lächeln warf Fye einen Blick zum Wohnzimmerfenster hinaus.

"Es ist nur so seltsam, Shaolan. Heut abend hab ich irgendwie-- gelebt. Glaube ich zumindest. Das ist so seltsam, dass es fast schon wieder lustig ist!"

Da sein Mitbewohner ihn nur verwundert anstarrte, besann sich der Blondling- wie jeden Abend- auf das Übliche.

"Naja, dann genug davon. Es ist schon spät. Komm, wollen wir einen Kuchen zu Abend backen?"

"Ähh, okay."

Fye lächelte und lotste seinen jugendlichen Mitbewohner in die Küche. Der Abend war gerettet.

Jedenfalls vorerst.

Bis die Nacht kommen würde.

About These Simple Things

-"Es gibt nichts auf der weiten Welt, was nicht in unseren Seelenlandschaften zu finden wäre."-

(Andreas Tenzer)
 

~~
 

Sonntag. Früh am Morgen. Die Uhr zeigte jedenfalls vier Uhr an.

Draußen war es noch stockdunkel. Das einzige Licht kam von der fahlsilbrigen Scheibe des Mondes und vom Schnee, der sanft und lautlos vom finsteren Himmel herabrieselte und alles in einen weißen Mantel des Schweigens hüllte. Die Straßenlaternen waren noch ausgeschaltet.

In den stillen Straßen des Hippieviertels regte sich noch kein einziger Windhauch. Im Vergleich zum schlaflosen Kingstonville war dieser Bereich der Stadt fast ein kleines, eigenständiges Dorf, dessen Bewohner es gerne friedlich und gemütlich hatten.

In der Beethovenstraße allerdings, in dem kleinen, weiß getünchten Haus Nummer Dreiunddreißig, das für seine Größe ungewöhnlich hoch und schlank war und wie ein übergroßer Bananenkarton wirkte, brannten im Erdgeschoss die Lichter.

Um genauer zu sein: in der Küche. Der Teekessel pfiff.

"Willst du 'nen Tee, Shaolan?"

"Nö, danke. Bin schon bedient."

Mit einem unterschwelligen Stöhnen kämpfte sich Fye von seinem Stuhl am Esstisch hoch und wankte Richtung Herd, um das Teewasser anzurichten. Dabei gähnte er, als hätte er vor, die halbe Einrichtung des Raums mit einem Schwung runterzuschlucken.

Shaolan starrte bekümmert auf den dampfenden Kaffee in seiner Tasse.

"Wie ich bereits gesagt hab: deswegen hatte ich auch wieder Streit mit Sakura, verstehst du? Was soll ich jetzt bloß tun, Mann? Von allein kommt sie bestimmt nicht zurück. Dabei wollte ich mich doch entschuldigen, Mann."

Fye lächelte müde und drehte sich zu seinem Mitbewohner um, der wie ein deprimierter Zombie in seinem Stuhl hing und lustlos an seinem Aufsteh-Kaffee nippte. Er steckte noch in einem blau-weiß gestreiften Schlafanzug aus Flanell, er hatte Striemen vom Kopfkissen im Gesicht und dicke Augen. Der arme Teufel. Völlig übernächtigt.

Genau wie er.

"Reg dich ab, Shaolan. Schau, sie ist doch bis jetzt jedes Mal wieder zurückgekommen. Sie macht sich eben Sorgen, dass ihr Vater rausfindet, wo sie steckt. Er ist schon öfter hier aufgetaucht! Weißt du das nicht mehr?"

"Dieser Bastard kann mich doch mal", stöhnte der Teenager und knabberte beunruhigt an seinem rechten Daumennagel herum. "Er macht Sakuras Leben kaputt, dieses gewalttätige Schwein. Gegen den ist Desmond noch das reinste Engelchen."

Mit einem besorgten Lächeln ließ sich Fye wieder am Tisch nieder und schenkte sich Tee ein. "Hier ihr Vater, da dein Vormund. Hoffen wir mal, dass sich die beiden nie über den Weg laufen, was?"

"Dann können Sakura und ich uns gleich aufhängen. Das Leben ist so kompliziert, Mann. Ich könnte mal wieder Hilfe von Gott gebrauchen."

Fye legte seinem jugendlichen Kompagnon eine Hand auf die Schulter. "Hat er sich schon länger nicht mehr bei dir gemeldet?"

"Nein, Mann. Vielleicht hat er ja grad woanders zu tun. Es wär toll, wenn er Sakura auch mal helfen würde."

Mit einem leicht gequälten Grinsen wandte sich Shaolan zu seinem älteren Gegenüber um. "Mann, Alter. Ob's wohl einfach zu den Flegeljahren dazugehört, sich jeden Tag so scheiße zu fühlen? Das find ich nicht nett."

Der Blondling lächelte und versteckte seine bleichen, zitternden Hände unter dem Tisch. "Als ich so alt war, hab ich mich das auch gefragt. 'Die ganze verdammte Welt ist nicht nett' ", zitierte er mit geschlossenen Augen.

Shaolan starrte ihn verwundert an.

"Wer hat dir denn das ins Ohr gepustet, Mann?"

"Kurogane."

"Was?! Ist das etwa dieser Kerl, von dem du schon seit drei Tagen ununterbrochen faselst?"

"Jepp!", erklärte Fye fröhlich, "Er ist ja auch ein sehr ungewöhnlicher Mensch! Warum sollte man nicht von einem ungewöhnlichen Menschen erzählen, wenn man einen getroffen hat?"

Shaolan stöhnte. "Fye-San, mal bei allem Respekt- kannst du nicht unterscheiden, ob jemand ungewöhnlich ist oder ob jemand ganz einfach 'nen Drill zur Gewalt hat?"

"Warum Drill zur Gewalt? Wir haben uns nur unterhalten."

"Echt? Wenn man aber nach deinen ganzen Berichten geht, hat er dich wohl eher beschimpft, ohne Luft zu holen."

"Er hat definitiv Luft geholt. Sonst wäre er gestern schon tot gewesen!"

Shaolan seufzte und biss in eine Scheibe Weizentoast. Man sah es Fye vielleicht nicht an, aber manchmal konnte er sturer sein als ein Bock. Vor allem, wenn er müde war, und das war er in letzter Zeit eigentlich ständig. Konnte schon mal vorkommen, dass er mitten in der Nacht noch im Haus umherwanderte.

Man konnte fast meinen, da steckte was dahinter.

"Ich würde ihm aus dem Weg gehn, Fye-San", erklärte er schließlich ebenso nachdrücklich wie mit vollem Mund, "Ich weiß nicht, aber nach allem, was du mir so erzählt hast, scheint dieser Kerl 'n ziemlich linker Vogel zu sein."

"Ich weiß nicht viel mehr als du, Shaolan. Außerdem find ich nicht, dass er ein linker Vogel ist. Er ist--... hmm. Schwierig. Sag mal, isst du den Nusszopf dort noch?", fragte er schließlich und deutete auf den angebissenen Kuchen auf Shaolans Teller.

"Ja, später noch. Ich will erstmal überlegen, wie ich Sakura wieder zurückholen kann."

"Jetzt wart's doch erstmal ab. Sie kommt sicher wieder, und dann könnt ihr nochmal über alles reden. Ihr habt euch bis jetzt jedes Mal wieder vertragen. Sakura-chan hat dich doch lieb!"

"Hoffentlich, Mann. Aber das mit dem "Er ist, hmm schwierig" musst du mir noch erklären. Was hast du damit gemeint?"

Fye lächelte strahlend. "Wenn ich das wüsste, Shaolan! Wenn ich das bloß wüsste! Aber gedulde dich noch ein bisschen, okay? Vielleicht fällt mir ja bis heute abend noch was ein. Ich kenne ihn zwar noch nicht sehr gut, aber-... so ist das halt mit den ungewöhnlichen Leuten, glaube ich. Man kann sie nicht richtig beschreiben, auch wenn man's noch so sehr will."

Shaolan starrte seinen blonden Mitbewohner verwundert an. Dieser erhob sich lediglich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht von seinem Stuhl. Soeben war ihm ein Einfall gekommen.

"Entschuldige mich kurz, Shaolan. Mir ist eben was eingefallen, ich muss noch wo anrufen."

"Alles klar, Mann."

Mit diesen Worten verließ Fye die Küche, wobei er einen vollends ratlosen Shaolan zurückließ, und griff sich draußen auf dem Flur das Telefon.

Die Nummer der MedX-Studios. Gottseidank hatte er die noch nicht vergessen.

Tippetippetipp, tut-tut-tut. Während es am anderen Ende der Leitung klingelte, grinste der Blondling in sich hinein.

Er hatte selten gute Ideen- aber dieses Mal konnte er getrost von sich behaupten, eine gehabt zu haben.
 

Zehn Uhr dreiundzwanzig.

Draußen auf den Straßen des Reichenviertels war das Alltagsleben bereits in vollem Gange, während in Haus Nummer fünf wie so oft noch alle Jalousien heruntergelassen und das gesamte Innere der Wohnung in schattiges Halbdunkel getaucht war.

Der Brausekopf der Dusche rauschte. Eiskaltes Wasser plätscherte und rann auf den Boden der Kabine.

Die Luft in dem geräumigen, mit schwarzen Fliesen ausgelegten Badezimmer war kühl und feucht.

Ein schwerer Duft nach Duschgel hing unsichtbar über der Duschkabine und hatte sich schon längst im restlichen Raum verteilt.

In winzigen Tropfen schlug er sich an den Innenseiten der Kabinenwände nieder und sammelte sich zu feinen Kondensspuren.

Im Inneren der Dusche bewegte sich eine breitschultrige, hochgewachsene Gestalt unter der Brause, halb versteckt zwischen Duschvorhängen und Kabinenwänden.

Halblaut vor sich hinknurrend angelte Kurogane nach der Duschgelflasche und quetschte gleich den ganzen Inhalt in seine Handfläche, bevor er begann, sich abzuschrubben. Dreimal verfluchte Scheiße, wie sein Schädel brummte! Was hatte er gestern abend bloß getrunken? Und vor allem wieviel? Er fühlte sich wie frisch durch den Fleischwolf gedreht.

Und um es noch besser zu machen, erinnerte er sich kaum mehr an das, was passiert war, nachdem er über die Schwelle seines trauten Heims getreten war. Er wusste nur noch, dass er die Katze des Nachbars über den Balkon geworfen und irgendwann danach über zwölf brennenden Teelichtern an die zweihundert Liegestütze gemacht hatte.

Ach ja- und er hatte mit O'Connor telefoniert. Daran erinnerte sich Kurogane zwar nur unter einer flüchtigen Begleiterscheinung von Mordlust, aber leider Gotts gehörte es zu seinem Job, ab und zu mit seinem Vorgesetzten in Kontakt zu treten.

Zu seinem Job. Mit einem müden Ausdruck in den flammenden Augen legte der Killer den Kopf zurück und schäumte gedankenverloren seine Haare ein.

In ein paar Tagen war es soweit. Dann war sein vierter Jahrestag. Seit vier Scheißjahren übte er diese verdammte Arbeit so aus, wie er's heute tat. Nicht, dass er das feiern würde. Irgendwie hatte er nie so recht gewusst, ob diese Wende in seinem Leben von positiver oder von negativer Natur gewesen war. Und wenn er so darüber nachdachte, verspürte er dabei weder Freude noch Wut.

Freude an sich empfand er sowieso ziemlich selten, aber sein Job hatte ohnehin fast nie irgendeine Form von Emotion zugelassen. Naja- nicht ganz.

Höchstens an diesem einen Tag nicht. Damals, als er-- ... ... du liebe Scheiße, was sollte das denn?

Bekam er plötzlich einen Moralischen? Es war wohl doch zuviel Brandy oder Armagnac oder wasweißich gewesen.

Mit einem lautlosen Seufzen fischte sich Kurogane den Brausekopf von der Halterung und spülte sich gründlich den Schaum von Kopf, Brust und Beinen, bevor er den Hahn abdrehte und sich das Wasser aus den Haaren schüttelte. Zwar fühlte er sich jetzt etwas frischer als vorher, als er aufgewacht war und feststellen musste, dass er sein ganzes Bett vollgekotzt hatte, aber sein Kopfweh brachte ihn immer noch fast um. Am besten legte er sich ein wenig aufs Sofa und schaute fern.

Unter Schmerzgeächze wischte er sich das Wasser aus den Augen und wollte gerade die Kabinenwand aufschieben, als es plötzlich an der Tür klingelte. Augenblicklich brodelte Zorn in ihm hoch wie Hühnerbrühe in einem Schnellkochtopf.

Scheißnutten! Wenn ihr doch bloß verrecken würdet!

Mit pochender Zornesader wartete der Killer, ob die ungebetene Besucherin von allein wieder verschwand, doch seine Hoffnungen wurden enttäuscht, als sich die Klingel ein zweites Mal meldete, und zwar um einiges penetranter als vorhin.

"HAU AB, SCHEISS BOA-TUSSE!!", brüllte Kurogane Richtung Eingang, doch es klingelte ungerührt weiter. Endgültig ins Bockhorn getrieben warf sich der Killer den ersten Bademantel über, der ihm über den Weg lief und stampfte wutentbrannt Richtung Wohnzimmer. Den Kopf voller jugendgefährenden Gewaltfantasien und mit einem Extraschub an Testosteron im Blut schmiss er seine Post der letzten zwei Monate kurzerhand vom Fensterbrett aufs Sofa und riss die Jalousien hoch, um das Fenster aufzustoßen und sofort in Super-Maxi-Deluxe-Lautstärke draufloszubrüllen.

"HEY, SIE!! Haben Sie kein Hirn, oder was?! Entfernen Sie sofort Ihren schäbigen, kommerzgeilen Arsch von meinem Grundstück, oder ich ramme Ihnen einen rostigen Kleiderbügel in die F--"

Auf diesen unfeinen Anfang sollte eine noch viel unfeinere Suada in Form einer furiosen Brüllarie folgen. Doch angesichts der Person, die da vor seiner Tür stand, blieben ihm seine ganzen Beleidigungen für einige Sekunden erstmal im Hals stecken und bildeten dort einen harten Klumpen.

Kaum, dass sein Hirn alle nötigen Eindrücke endgültig verarbeitet hatte, wünschte er sich augenblicklich, tot zu sein.

"Guuuten Mooorgeeen!", trällerte Fye und strahlte über das ganze Gesicht, während er dem vor den Kopf geschlagenen Killer fröhlich von der Eingangstür aus zuwinkte.

"Wie geht es Ihnen? Gut geschlafen? Ganz schön kalt draußen, was? Minus zehn Grad gestern Nacht, das kam heute morgen im Radio! Was haben Sie eigentlich mit kommerzgeil gemeint? Hey, der Bademantel steht Ihnen aber!"

"KLAPPE HALTEN!!!"

"Ich mein es aber total ernst! Schwarz soll dieses Jahr ja die Modefarbe sein, gleich nach blau, und deswe--"

"Ich sagte Klappe halten! Sie machen jetzt keinen Mucks, keinen-einzigen-Mucks , und ICH stelle die Fragen, kapiert?!!"

Der ungebetene Gast lächelte und salutierte scherzhaft. "Aye-aye! Dann schießen Sie mal los!"

Wenn Kurogane in dem Moment eine Pistole bei sich gehabt hätte, hätte er die Aufforderung des Blondlings nur allzu gern wörtlich genommen, doch er hegte bereits seit einigen Jahren eine gewisse Abneigung gegen Schusswaffen. Die Gründe hätte er am liebsten schon längst wieder vergessen, also beließ er den Kugelhagel auf verbaler Ebene.

"Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?! Was fällt Ihnen ein, mein Grundstück zu betreten?! Und wie haben Sie überhaupt meine Adresse rausgefunden?!!"

Der Blondling warf sich in die Brust und starrte mit so großen Augen in die Luft, als müsse er ausrechnen, wieviele Generationen von Katzen man bedenkenlos mit Weichspüler ernähren konnte, wenn man die Masse der Venus mal den Umdrehungs- Differentialquotienten von vegetarischem Beefsteak nahm.

"Herrjemine! Soviele Fragen! Also gut, dann zu Ihrer ersten Frage: ich suche nichts hier, weil mir nichts verloren gegangen ist. Man sucht nur, wenn man etwas finden will. Wenn man was nicht findet, mein ich. Ich will höchstens etwas BE-suchen, und zwar Sie, was auch Ihre zweite Frage beantwortet. Und zu Ihrer dritten: ich hab im MedX-Studio nach Ihrer Adresse gefragt. Bei Fräulein Natsu, wissen Sie noch? Das nette Fräulein an der Theke! Sie hat mir nebenbei auch ein ganz tolles Stockfisch-Rezept verraten!"

Der Konditorlehrling beobachtete nach dieser ausführlichen Antwort mit großen Augen, wie auf der Stirn des Killers langsam aber sicher eine beachtliche Zornesader zu einem noch beachtlicheren Umfang anschwoll.

Dieser notierte sich gerade in Gedanken Fräulein Natsu als viertausendfünfzigste Kandidatin auf seiner privaten Abschussliste.

Ich hasse die ganze, verdammte Welt.

"Ehm, ähh- 'tschuldigung?", meldete sich Fye in diesem Moment schüchtern und zeigte auf, als wäre er in der Schule, "Aber darf ich jetzt reinkommen? Es ist so kalt draußen, und ich möchte Sie doch besuchen!"

"WAS?!! Nein, vergessen Sie's! Sie geben jetzt Hackengas und kriechen in das Loch zurück, aus dem Sie gekommen sind!"

"Das Loch ist aber ziemlich weit weg!", erklärte Fye, "Ich bin fast 'ne Stunde gelaufen, um herzufinden!"

"Ihr Pech! Und jetzt hauen Sie ab!"

"Och, kommen Sie schon, Kurogane! Ich tu Ihnen doch nichts?"

"Ich aber IHNEN, wenn Sie nicht gleich verschwinden!"

"Aber--"

"MAUL HALTEN!!"

Der Blondling schien für einen Moment zu überlegen, bis er plötzlich einen Zeigefinger in die Luft stieß. "Okay! Wissen Sie was? Dann werde ich jetzt solange den bewährten Rio de Janeiro-Ananas-Stepptanz vor Ihrem Fenster tanzen, bis Sie mich reinlassen! Ich hab zwar kein bauchfreies Hemd, keine Ananas und auch keine Musik da, aber dann singe ich eben dazu! Ist das keine grandiose Idee?"

"WAAAS?!! Hören Sie, wenn Sie das tun, dann werde-- dann werde ich Sie--"

"-- hereinlassen? Alles klar!", jubilierte der Konditorlehrling strahlend, "Dann machen Sie sich jetzt auf den besten Ananas-Tanz Ihres Lebens gefasst! Un, deux, trois--"

Noch bevor Kurogane auch nur irgendwie Einspruch erheben konnte, vollführte der blonde Hilfswicht auch schon einen koketten Luftsprung und stellte sich in Tänzerposition, während seine Knie zu einem Rhytmus an seinem inneren Ohr auf- und abwippten.

"Yeahhh, huh! Jetzt geht es los! Lasst uns tanzen! Ananas-Tanz!", deklamierte er mit feierlicher Miene.

"Aahh-lalalala, dammdamm, aahh-lalalala, dudummdammda! Die Ananas ist rund und dick, und Tanzen ist kein Zaubertrick, die Ananas ist saftig-süß, komm mach dir nicht dein Leben mies! Aahh-lalalala, dammdamm! Ananas-Tanz! Yeah!"

Der Ananas-Tanz schien wohl einer dieser ganz bestimmten Tänze zu sein, die man spät nach Feierabend tanzte, wenn man sich bereits diverse Alkoholika hinter die Binde gekippt hatte- man musste weder Sinn für Rhytmus noch für Gesang, Choreographie oder gute Manieren haben. Man schwenkte ganz einfach sein Hinterteil à la Angelina Jolie und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum wie ein Kapellmeister- und das war es auch, was der Blondling tat. Kurogane konnte nur mit fassungslos heruntergesackter Kinnlade nach draußen glotzen und beobachten, wie dieser Schwachmat aus vollem Halse jaulend durch den Schnee hüpfte und auf eine Art tanzte, für die man eigentlich lebenslänglich verhaftet gehörte.

"Anaaaanaaaas-Tahahahaaanz! Yeah, seht mir alle zu! Sehen Sie, wie Ihre Nachbarn sich freuen? ANANAAAHAAAS-TAHAAANZ!"

Das durfte doch einfach nicht wahr sein. Vor Wut schoss dem Schwarzhaarigen das Blut in die Ohren, bis sie stärker glühten als ein Pavianhintern. Aus dem Augenwinkel konnte er mühelos mitverfolgen, wie seine gesamte Nachbarschaft nach und nach die Aufmerksamkeit auf das richtete, was sich hier gerade vor seinem Wohnzimmerfenster abspielte.

Vermutlich hielten sie ihn für einen Perversen, so wie die alle glotzten. Kein Wunder eigentlich. Er war halb nackt und sah einem blonden Springfloh zu, wie er vor dem Fenster einen Stepptanz der abartigsten Sorte hinlegte. Die reinste Fetisch-Orgie.

"Wuhuuuh, yeah! Ananas-Tanz! Ananas-Tanz!"

Die ganze schöne Diskretion, zerlaufen wie Schnee in der Märzensonne.

Die ganzen Weiber-, Ehemänner- und Kinderblicke bohrten sich wie Speere in seine Haut.

Verdammte, verfluchte, bekotzte, weggefackte, dreimal abgewixte SCHEISSE!!!

"ACH, ZUM TEUFEL!!", brüllte er plötzlich auf wie ein verwundeter Drache und verschwand in den Hausflur.

Fye hielt überrascht in seinem Stepptanz inne, als die Eingangstür der schicken Eigentumswohnung ohne Vorwarnung mit einem ohrenbetäubenden Knallen aufflog und Kuroganes wutschnaubende Gestalt dahinter sichtbar wurde.

"Rein, aber schnell, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!"

Fye strahlte und kam schleunigst herbeigestolpert.

"Vielen Dank!"

"Bedanken Sie sich lieber bei meinen Nachbarn", knurrte Kurogane unwillig und haute die Tür wieder zu, sodass sie fast aus den Angeln fiel. Kaum, dass das geschehen war, machte sich eine äußerst peinliche Stille breit. Der Killer musterte den Eindringling, als hätte er irgendeine scheußliche Kreuzung aus Mensch und Insekt vor sich.

Na wunderbar, jetzt hatte er sich die Plage ins Haus geholt. Was nun?

Sollte er ihn fesseln und knebeln und warten, bis er verhungert war? So dürr, wie der war, würde das sicher nicht allzu lange dauern. Oder sollte er lieber mal eben sein Katana aus dem Wohnzimmer holen? Nein, den Teppich hatte er erst vor zwei Wochen neu gekauft, und der sollte nicht jetzt schon Flecken kriegen. Sollte er ihm dann vielleicht einfach das Genick brechen? Aber wohin dann mit der Leiche? Wo blieb seine Spontanität, wenn er sie mal brauchte? Ach, was soll's.

"Ehm...", meldete sich sein ungebetener Gast soeben verlegen und blickte schuldbewusst auf den Dielenboden, "Wenn ich Sie jetzt bei Ihren Nachbarn blamiert habe, tut mir das leid. Ehrlich."

"Jaja, vergessen Sie's. Die halten mich sowieso schon für einen abgebrühten Teufelsanbeter", war die gereizte Antwort.

"Oh! Im Ernst? Na, dann ist es ja in Ordnung. Jetzt bin ja ich da!"

"Sie haben mir gerade noch gefehlt."

"Ehrlich?", rief Fye erfreut, "Ich habe Ihnen gefehlt?"

Mit einem Stöhnen vergrub Kurogane sein Gesicht in den Händen und wollte schon anfangen, loszugeifern, als ihm plötzlich auffiel, dass er ja so gut wie nackt war. Diese lästige Existenz dachte sich sicher schon ihren Teil bezüglich seiner unkonventionellen Garderobe. Und sein Kopf war auch noch klitschnass. Scheiße.

"Ich muss mich umziehen. Sind Sie fähig, für fünf Minuten keine Apokalypse auszulösen?"

"Klar! Ich weiß ja nichtmal, wie man die Pest hervorruft!"

"Sie mich auch. Hören Sie, Sie warten jetzt hier. Genau hier. Nicht bewegen, ja? Keinen einzigen Mucks!"

"Okay."

Missmutig stapfte der Killer nach nebenan ins Wohnzimmer und sah auch schon Rettung winken: über dem schwarzen Ledersofa hingen noch seine Sachen von gestern- eine schwarze Jeans, dazu ein schwarzes Polohemd und schwarze Socken.

Hastig rubbelte sich Kurogane mit einem Zipfel seines Bademantels den Kopf trocken, stieg anschließend in die Hosenbeine und zerrte sich das Hemd über den Kopf, wobei sein Blick immer wieder argwöhnisch Richtung Hausflur flackerte. Als er sich schließlich wieder aufrichtete, fiel ihm schmerzhaft auf, dass er die Unterwäsche vergessen hatte. Er hätte nie gedacht, dass eine Jeans ohne Boxershorts darunter so im Schritt kneifen würde. Scheiße auch, wie das wehtat!

Mit schmerzverkrampftem Gesicht taperte er wieder in den Hausflur. Okay, Kurogane. Sei ein Mann. Tut ja gar nicht weh.

Der Blondling war mittlerweile auch schon aus Stiefeln und Mantel geschlüpft und empfing ihn mit einem breiten Grinsen.

"Hey, das hab ich ja fast vergessen- ich hab Ihnen etwas mitgebracht!", sagte er und hob ein mittelgroßes, gut verschnürtes Paket vom Boden auf, das er bis jetzt wohl unter seinem Mantel mit sich durch die Gegend geschleppt hatte. Kurogane verzog den Mund und presste die Knie zusammen, da der Schmerz offenbar beschlossen hatte, noch ein Weilchen anzuhalten.

"Ich akzeptiere keine Bestechungsversuche."

"Aber nicht doch! Es ist ein Geschenk!", erklärte der Blondling fröhlich und hielt das Paket über seinen Kopf wie Frankenstein die neuste Ausgeburt seiner kranken Fantasien, bevor er es dem Schwarzhaarigen anbot.

"Hier, bitte! Für Sie!"

"Und-... und was ist drin?", fragte Kurogane unschlüssig, während sein Groll ein wenig abflaute.

Er hatte selten Geschenke bekommen. Die Frage, was er jetzt damit anfangen sollte, überwog seinen Zorn- und sogar den Schmerz.

"Kuchen!""

"Kuchen?"

"Ja! Das Rezept hab ich gestern zum ersten Mal ausprobiert und wollte Ihnen ein paar Stücke mitbringen, zum Kosten!"

Skeptisch musterte der Schwarzhaarige das Paket, als könnte es jede Sekunde explodieren.

"Aha."

Mit einem Lächeln beobachtete der Blondling die Mimik seines unfreiwilligen Gastgebers.

"Wie wär's, wenn wir ihn zusammen essen? Ich kenne ein Rezept für superleckeren Winter-Kakao!"

"Ich hasse Süßigkeiten."

"Wer sagt, er mag keine Süßigkeiten, hat noch nie welche probiert!"

Kurogane blinzelte verdutzt, und da ihm keine Antwort auf diese zutreffende Aussage einfiel, musste er wohl oder übel hinter seinem ungebetenen Gast herrennen, als sich dieser plötzlich in Bewegung setzte. Der Schmerz schien sich währenddessen in seiner Hose sehr wohl zu fühlen und breitete sich quietschlebendig immer weiter Richtung Leistengegend aus.

"HALT!! Bleiben Sie stehen, hey! Das ist immer noch MEINE Wohnung!"

"Woow, haben Sie's vielleicht schick hier!", plapperte der Blondling glücklich, ohne auf Kuroganes Einwurf zu achten, "Ist das ein echter Perserteppich? Huiii! Dagegen ist meine Wohnung das reinste Mauseloch! Und sogar ein Plasmafernseher! Du liiiebe Güte! Ist das da vorne Ihre Küche? Mannometer, so eine Küche wollte ich schon immer!"

"HAAALT!!"

Mit zwei gewaltigen Schritten hatte Kurogane seinen lästigen Gast endlich eingeholt und packte ihn von hinten am Schlafittchen.

"Der Gastgeber betritt die Küche zuerst!"

"Seiwannndndas--?", japste Fye, da ihm der eisenharte Griff nicht wirklich viel Luft zum Reden übrigließ.

"Ist halt so! Solange Sie in meinem Haus sind, haben Sie nach meinen Regeln zu spielen."

"Ohhgeii-... uhhhurrgs--"

Da der Konditorlehrling immer noch lautstark nach Luft schnappte, ließ ihn der Killer wie ein unartiges Kind einfach auf den Hosenboden fallen. Der Schmerz blieb seelenruhig da, wo er bis jetzt gewesen war.

"Sie verkraften nicht viel, kann das sein?"

"Was? Alkohol, Sex oder Drogen?", fragte der Blondling nur fröhlich zurück, während er sich wieder hochrappelte.

"Und überhaupt, wär das nicht ungesund?"

"In meinem Haus ist es ungesund, 'ne große Klappe zu riskieren." Und Jeans ohne Boxershorts anzuziehen.

"Na, in dem Punkt fall ich doch nicht auf?"

"Was für eine Idee!" Kuroganes Stimme troff vor Sarkasmus, seine Leistengegend vor Schmerz.

"Na also! Aber jetzt koche ich uns erstmal den besten Winterkakao der Welt!"

Mit diesen Worten wandte sich Fye lächelnd um und betrat die geräumige Küche, welche jeden Hobbykoch sofort vor Verzückung in die Knie gezwungen hätte. Ein weitläufiges Refugium aus dunklem Timberholz, Kachelarbeit und glänzendem Edelstahl erstreckte sich vor den beiden, mit einer ellenlangen Arbeitsplatte, einem großzügigen Repertoir an Töpfen, Pfannen und Besteck, einem stilvoll beleuchteten Esstisch und einem freistehenden Herd mit einer Dunsthaube, die sich wie eine riesige schwarze Blüte über die Platten senkte. Fye machte Augen wie Platzteller und besann sich erst wieder, als er Kuroganes entnervtes Seufzen hinter seinem Rücken hörte. "Wie hübsch Sie es hier haben! An so einem prima Herd gelingt mir bestimmt der beste Winterkakao der ganzen Galaxis- nein, was sage ich! Der beste Winterkakao des ganzen Universums !"

"WAS?!", fuhr der Killer fassungslos auf, "Sie glauben doch wohl nicht, dass ich Sie an meinen Herd lasse?"

"Wie soll es denn anders gehen? Ich kann als einziger von uns beiden kochen! Und überhaupt, wollen wir den Kuchen mit oder ohne Stäbchen essen? Mir ist es egal, da richte ich mich ganz nach Ihnen."

Stille trat ein. Kuroganes Augen wurden für einige Sekunden rund wie Murmeln.

"Wie, was-- ..."

"Sie kommen doch aus Japan, oder nicht?"

"Woher--"

Fye lächelte und blickte seinem älteren Gegenüber freundlich ins Gesicht.

"Irgendwie sieht man es Ihnen an. Nicht vom Aussehen her, aber-... seltsam, ich weiß nicht einmal selbst, wie ich da draufgekommen bin. Da sieht man mal, wie wenig wir in Wirklichkeit voneinander wissen, nicht?"

"Nennen Sie's, wie Sie's nennen wollen."

"Ich nenne es ganz normale Neugierde, Kurogane. Wieso erzählen Sie mir nicht ein wenig über Ihr Leben? Irgendwie war bis jetzt nie die Rede davon. Eigentlich traurig, das. Ich frage mich zum Beispiel, wo Sie arbeiten."

"Ich frage mich, ob Sie je ein Fitness-Studio öfter als einmal von innen gesehen haben", gab Kurogane nur eisig zurück, nachdem er seine ganze Verwirrung erst einmal runtergeschluckt hatte. Woher wusste dieser Mensch, dass-... dass er--

"Ich frage mich, warum Sie hierher gekommen sind."

"Ich frage mich, warum Sie das überhaupt wissen wollen."

"Und ich frage mich, was Sie eigentlich dagegen haben!"

Der Blondling brach in helles Gelächter aus.

"Unglaublich! Das ist ja nahezu umwerfend, wie wenig wir voneinander wissen! Also, wollen Sie mir nichts erzählen? Ich würde mich sehr freuen! Nur zu, jetzt haben wir Zeit."

"Sie können einen so auf die Palme bringen", knurrte Kurogane nur mit pochender Zornesader und wickelte unter viel umständlichem Herumgefuchtel den Kuchen aus seiner Verpackung. Er staunte nicht schlecht, trotz seinem Hass auf Süßigkeiten aller Art. Vor ihm standen, zierlich verpackt in hellweißes Kandispapier, vier kleine kegelförmige Kuchen von einer blassorangenen Farbe. Helle Zuckerkringel waren rund um ihre Seite angebracht und mit grobkörnigem Zucker bestreut. Auf den vier Spitzen reckten sich drollig anmutende, orange glänzende Sirupfäden in einem nebligen Netz in alle möglichen Richtungen.

"Gefällt er Ihnen?", erkundigte sich Fye fröhlich, der dem halb skeptischen, halb neugierigen Blick seines Kompagnons gefolgt war.

"Ich habe sie 'Zuckernebelberge' genannt! Bin ziemlich lange in der Küche gestanden. Meinen beiden Mitbewohnern hat er aber geschmeckt."

"Mag ja sein, aber- Ihr Chef ist ein Bastard! Haben Sie das bei dem gelernt?"

Der Blondling blickte Kurogane an, als ob ihm dieser gerade eine Million in bar versprochen hätte.

"Oh!", rief er dann ganz entzückt aus, "Ooooh! Sie-... Sie finden, dass mein Chef ein Bastard ist?"

"Ja, wieso?"

"Ooooh! Vielen lieben Dank, ich-... ich meine-- oooooh! Sie wissen gar nicht, wie gut mir das tut- ich hasse diese abgewixte Missgeburt schon, seit ich ihr begegnet bin!"

"Sie hassen jemanden?", erkundigte sich der Killer nur nüchtern, "Ist ja der Knall im All."

Fye grinste belustigt. "Unglaublich, nicht wahr? Und zu Ihrer Frage: ich hab das nicht bei ihm gelernt. Alles, was ich von dem gelernt hab, ist Treppenfegen. Dabei war es schon immer mein Traum, Süßigkeiten zu machen. Am liebsten hätte ich eine eigene Konditorei. Süßigkeiten sind nichts Weltbewegendes. Es sind nunmal Süßigkeiten. Aber irgendwie spüre ich, dass sie mir Freude bereiten. Vielleicht verstehe ich eines Tages auch, warum das so ist. Wo arbeiten Sie, Kurogane?"

Der Blick des Schwarzhaarigen wurde geistesabwesend, als er sich auf einem der beiden Küchenstühle niederließ und seinem ungebetenen Gast dabei zusah, wie er Milch erhitzte und sie in zwei Tassen goss, bevor er nach dem Kakaopulver suchte.

Er wusste nicht warum, aber plötzlich drückte ein mächtiges Stechen gegen seinen Brustkorb, obwohl es nichts gegen das Stechen in seiner Beingegend war. Verfluchte Scheiße nochmal.

"Im Dezernat für nationale Sicherheit. Außerhalb."

Die Hand des Blondlings zuckte, sodass er ein wenig Milch verschüttete.

"Im Ernst? Wie lange?"

"Knappe fünf Jahre. Was interessiert Sie das eigentlich?"

"N-nein, wissen Sie, es ist nur--... sind da auch die ganzen Akten von Verbrechen und so drin?"

"Ja! Wen kümmert's?"

"Aaach, ich hab da nur mal was drüber gehört, das war alles", erklärte Fye mit glasigen Augen, während er die beiden gefüllten Tassen kunstgeübt vom Herd zum Tisch balancierte. "Kommen Sie wirklich aus Japan?"

"Ich nicht."

"Dann Ihre Eltern?"

"Hm. Woher kommen denn Ihre?", wich Kurogane schließlich mit einer Gegenfrage aus.

"Die haben schon hier gewohnt, als ich geboren wurde. Sie sind übrigens tot", erklärte Fye fröhlich und nahm eine der kleinen Kuchengabeln zur Hand, die der Schwarzhaarige aufgetragen hatte.

"Hab ich danach gefragt? Mein Gott, Sie sind nerviger als ein Glascontainer voll Kleinkinder."

"Sie schmeicheln mir. Man hat schon ganz andere Dinge zu mir gesagt."

Mit einem jovialen Lächeln stützte der Blondling sein Kinn auf den linken Handteller. "Anscheinend ist irgendetwas an mir, das mich bei den Leuten unbeliebt macht. Das ist schon seit Ewigkeiten so."

"Dann müssen Ihre Mitbewohner ja 'ne Eselsgeduld haben."

"Haben sie auch. Ich glaube, ich werde nie heiraten oder so. Ich würde einer Frau einfach zuviel Ärger machen. Wie sieht es bei Ihnen aus, leben Sie allein?"

"Ich wüsste nicht, was Sie das anginge."

"Einfach so! Ich meine, Sie wohnen allein, oder?"

"Natürlich, was sonst? Ich müsste verrückt sein, mir 'ne Wachtel ins Haus zu schaffen!"

"Wieso?"

"Sie würde mir ständig Fragen stellen, sie würde mir im Bett den ganzen Platz wegnehmen und womöglich auch noch eine Familie gründen wollen... bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um."

"Sie wollen nicht heiraten?"

"Lieber tot sein."

"Achso. Wissen Sie, zwei Leute aus meiner Nachbarschaft haben kürzlich geheiratet. Ich wohne oben im Hippie-Viertel."

"Dort heiraten die doch ständig."

"Naja, vielleicht nicht ständig."

"Mag sein. Bleibt für mich genauso unsympathisch."

"Oh. Verstehe..."

Fye lächelte und besah sich seinen unfreiwilligen Gastgeber mit einem freundlichen Blick.

"Sie sind wirklich ein ungewöhnlicher Mensch, Kurogane."

"Nicht ungewöhnlicher als Sie."

"Das mag stimmen. Es würde mich freuen, wenn wir diese Sache irgendwann zu Ende besprechen. Aber jetzt erzählen Sie mir doch noch ein wenig über Ihren Beruf, nur zu, nur zu!"

Kurogane stöhnte. Der Schmerz in seiner Hose war immer noch nicht abgeklungen. "Muss das denn sein?"

"Natürlich muss es! Es macht Spaß, zu reden, oder etwa nicht?"

"Nein."

"Na, seien Sie doch nicht so! Fangen Sie ruhig an!"

Der Killer seufzte und presste die Knie unter dem Tisch zusammen.

Dieser Blondling würde wohl keine Ruhe geben, bis er ihm Rede und Antwort gestanden war.

Sah aus, als würde das noch ein langer, langer, langer Abend werden.

Mit einem innerlichen Knurren sah er das ersehnte abendliche Trinkgelage vor dem Fernseher in weite, weite Ferne rücken.

Hoffentlich wurde er seinen lästigen Gast möglichst schnell los.

Hoffentlich.
 

Spät nach Mitternacht.

In den ruhigen Straßen des Reichenviertels waren bereits so gut wie alle Lichter aus.

Die Kinderchen lagen im Bett, die Elterchen ebenfalls. Das Papachen wollte kuscheln, das Mamachen sagte, sie hätte Kopfschmerzen.

In Haus Nummer fünf war alles wie ausgestorben- die Jalousien waren unten, alle Lichter waren ausgeknipst und alle Türen abgeschlossen. Aber egal. Dunkelheit konnte in vielerlei Dingen sehr praktisch sein.

Zum Beispiel, wenn man sich aus einer Jeanshose befreien musste, die einem wohl den schmerzhaftesten Tag seit langem beschert hatte. Mit einem Fluch, für den man sich als Schüler lebenslängliches Nachsitzen eingehandelt hätte, kämpfte sich Kurogane aus den Hosenbeinen und pfefferte sie, kaum, dass er sie sich runtergerissen hatte, in die nächstbeste Ecke seines Schlafzimmers.

Die würde er morgen sofort verbrennen oder aufschlitzen, und den Outletmanager töten. Ein neuer Kandidat für die Abschussliste.

Knurrend und stöhnend schlüpfte Kurogane in seine schwarzen Nachtshorts, die ihm ungefähr bis zu den Knien reichten, und ließ sich mit einem erleichterten Aufatmen auf sein Bett sinken.

Endlich ein wenig Entspannung. Es hatte Stunden gedauert- um genau zu sein, bis acht Uhr am Abend- bis er seinen lästigen Gast endlich dazu gezwungen hatte, sich in seinen Fummel zu schmeißen und abzuhauen. Er hatte nicht gewusst, dass es so anstrengend sein konnte, Besuch zu haben, besonders nicht einen von der Sorte. Er würde wahrscheinlich Wochen brauchen, um über diese Marter hinwegzukommen, die darin bestanden hatte, dass ihm dieser Blondling über qualvolle Ewigkeiten hinweg beide Ohren ab- und wieder angequatscht hatte, ihm dazu auch noch Süßigkeiten aufgezwungen hatte, und im ganzen Haus herumgeeiert war, um seine blöden Bemerkungen über alles und jedes abzugeben. Mann. So musste es ungefähr ablaufen, wenn man ein dreijähriges Kind zu hüten hatte. Nachher war man völlig mit den Nerven runter und einem blieben nur noch zwei Möglichkeiten- man besoff sich so hemmungslos, dass man am nächsten Morgen womöglich nackt in einer Mülltonne aufwachte und sich an nichts mehr erinnerte, oder man sprang aus dem Fenster.

Der Schwarzhaarige hatte sich für einen etwas angenehmeren Mittelweg entschieden- er hatte sich für diesen Abend mit zwei Gläschen altfranzösischem Armagnac begnügt und war anschließend gleich ins Schlafzimmer gegangen.

Woher zum Teufel hatte diese lästige Existenz nur gewusst, dass er japanische Wurzeln besaß?

Wie hatte er das erraten? Er hatte ihm keinerlei Anhaltspunkt gegeben! Er besaß weder einen Akzent noch andere Eigenheiten, und sowas wie traditionelle Bräuche hatte er nie gepflegt, weil er vor sowas keinen Respekt hatte.

An seinem Arbeitsplatz war das nie zur Sprache gekommen. Und auch sonst nie.

Am besten zerbrach er sich gar nicht mehr den Kopf darüber. Vielleicht war dieser blonde Freak ja auf Drogen gestanden, immerhin wohnte er im Hippieviertel, wo die ganzen anderen Schwachsinnigen, Junkies und Vergewaltiger wie die Tiere in ihren Löchern hausten. Er und ihn besuchen? Nie und nimmer, eher würde er O'Connor einen Heiratsantrag machen.

Hoffentlich sah er den nicht so schnell wieder- er würde es der ganzen Welt danken.

Kurogane schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als das Telefon im Flur plötzlich klingelte.

Der Schwarzhaarige knurrte halblaut in sich hinein. O'Connor, du Drecksau.

Missmutig stapfte er auf den finsteren Flur und riss das Telefon von der Gabel.

"Am Apparat."

"Kurogane, bist du es?"

Der Killer stutzte ein wenig. Für ein paar Sekunden erkannte er die gehetzte, atemlos klingende Stimme am anderen Ende der Leitung gar nicht wieder.

"Blöde Frage, wer sonst? Der Weihnachtsmann vielleicht? Was ist los, O'Connor?"

Sein Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung antwortete nicht gleich, als müsse er sich zunächst sammeln.

Im Hintergrund waren trampelnde Füße und erregtes Stimmengewirr zu hören.

"O'Connor! Spuck's endlich aus!"

Als O'Connor zu reden anfing, klang er, als hätte er grässliche Bauchschmerzen.

"Komm sofort ins Dezernat, Kurogane. Es mag verrückt klingen, aber-... aber bei uns ist eingebrochen worden!"

Lullaby

-"Die innere Stimme ist der Kompass der Seele."-

(Andreas Tenzer)
 

~~
 

"Guten Morgen, mein Herr!"

Der krausköpfige Sicherheitsbobbie am Registrierschalter grinste so schleimig, dass man ihn mit einer überdimensionalen Haargel-Tube verwechseln konnte. "Dürfte ich Sie um Ihren Ausweis bitten?"

Der offenbar äußerst missgestimmte schwarzhaarige Riese am Steuer des ebenso schwarzen Jaguars, der soeben vor dem Registrierschalter am Haupttor des Dezernatsgeländes gehalten hatte, würdigte den Bobbie keines einzigen Blickes.

"Sie dürfen nicht bitten. Lassen Sie mich durch."

"Es tut mir leid, Sir, aber bevor ich Sie einlassen kann, muss ich Sie in den Großrechner eingeben!"

"Vergessen Sie's! Ich geb 'nen Scheiß auf Ihren Technikschrott! Und jetzt lassen Sie mich durch, es ist ein Notfall."

"Das hat heute Morgen bis jetzt schon jeder als Ausrede benutzt", entgegnete der Bobbie spitz, "So allmählich verliert der Gag an Wirkung! Also würden Sie mir jetzt endlich Ih--"

"LASSEN SIE MICH DURCH, verdammt nochmal! Oder ich reiß Ihnen den Schädel auf und piss Ihnen ins Hirn!!", fauchte der Schwarzhaarige gereizt und starrte den Bobbie- obwohl er gar nicht Bobbie hieß- so brandgefährlich an, dass dieser bleich wie Sauerteig wurde und aus verständlichen Gründen um sein Leben fürchtete.

Ein ziemlich unangenehmes Schweigen verging.

"Ähh-... ähh--"

Mit zittrigem Zeigefinger betätigte der Bobbie hastig einen Knopf an seinem Schaltpult. Mit einem unterschwelligen Summen teilten sich die beiden Torflügel aus blankpoliertem Titan und gaben die breite Auffahrt zu den Parkarealen des Dezernatsgeländes frei.

"Hier, bittesehr-- und, ähh, noch einen schönen Ta--"

"Sie mich auch. Kaufen Sie sich mal 'n neues Gesicht."

Ohne ein weiteres Wort an den Bobbie zu verschwenden, gab Kurogane Gas und brauste den Weg zu Parkareal A2 im Schoß des mächtigen Dezernatsgebäudes hoch, das die Form eines großen U besaß. Während er nach einer Parklücke Ausschau hielt, warf er immer wieder misstrauische Blicke zum Seitenfenster hinaus. Es schneite schon, seit er losgefahren war, und die wie immer rege belebte Autobahn war fast vollständig von Schneeverwerfungen eingehüllt, die den mutigen Fahrern ganze Wolken von blendend weißem Schneegestöber gegen die Windschutzscheibe peitschten.

Normalerweise begannen im Dezernat für nationale Sicherheit schon gegen sechs Uhr die regulären Arbeitszeiten.

An diesem finsteren Dezembermorgen jedoch schien es, als wäre über Nacht die Pest ausgebrochen. Der gewaltige, durch seine ungewöhnliche Architektur aus Stahl, Glas und Beton sehr futuristisch wirkende Gebäudekomplex lag da wie das Gerippe eines gestorbenen Dinosauriers- weder die üblichen, wild schnatternden Angestellten ließen sich blicken, noch die fettbäuchigen Ratsvorsitzenden oder irgendwelche anderen hohen Tiere- ja, nicht einmal die schleimigen Otto-Normalarbeiter mit den naiven Rehaugen, weder auf dem Gelände noch im Eingangsgebiet des Dezernats.

Die perfekte Einöde also. Fröhlicher Alltag, im Herzen Sonnenschein. Nichts ließ auch nur im Entferntesten darauf schließen, dass hier im Dezernat eingebrochen worden war. Es sah aus wie an einem völlig stinknormalen Arbeitstag- genauso grau, hässlich und verschneit wie immer. Hatte dieser Saukopf O'Connor am Ende etwa nur einen blöden Witz gemacht?

Zu dieser Frage kam noch der Fakt, dass Kurogane für gewöhnlich keinen einzigen Fuß hierher setzte, nicht einmal, wenn ihm dadurch die Suspendierung drohte. Dieser Ort war ihm schon seit langer Zeit verhasst.

Seit vier Jahren wurde ihm allein beim Gedanken daran schlecht. Zu Weihnachten wünsch ich mir 'ne Atombombe.

Hartnäckig ignorierte der Schwarzhaarige den heftigen Wunsch, einfach das Steuer herumzureißen und wieder nach Kingstonville zu fahren und parkte seinen Jaguar wie immer in der linken äußersten Ecke des Areals 2A.

Gerade stieg der Killer aus, betätigte den Autolock und wollte sich schon auf den Weg zum Gebäude machen, als ihn plötzlich eine Stimme vom Parkeingang her erreichte.

"Kurogane! Hier drüben! Guten Morgen!"

Kurogane knurrte und unterdrückte das plötzlich einsetzende, heftige Jucken in seinen Fingern.

"Pack dir lieber die Sülze von der Zunge, O'Connor, und spuck endlich aus, was hier los ist."

Er sah seinen dunkelblonden, hageren Vorgesetzten nicht an, als dieser keuchend neben ihm zum Stehen kam.

Der frierende, anscheinend bereits völlig unter dem Einfluss des Burnout-Syndroms leidende Ministerialrat wirkte nicht besonders glücklich- kein Wunder, wahrscheinlich hatte er bereits ordentlich Anschiss von Mr. Giuseppe Pantoliano, dem Ratspräsidenten des Dezernats, bekommen, und dazu sah er aus, als wäre er von einem Rasenmäher überrollt worden.

Fehlte nur noch, dass auf seiner Stirn in riesigen, roten Buchstaben ARSCH VOM DIENST geschrieben stand.

"Das hab ich dir doch schon am Telefon gesagt, Mann", begann O'Connor soeben seine Ausführungen, wobei er wild mit den Händen in der Luft herumfuchtelte. Wahrscheinlich, um Kuroganes Dunstkreis einigermaßen zu erreichen, denn immerhin reichte er dem schwarzhaarigen Ungeheuer nur knapp bis an die Schultern.

"Irgend so ein kranker Idiot fand es wohl lustig, hier einzubrechen!"

"Ah ja? Merkt man ja auch voll, dass ihr schon fleißig am Ermitteln seid..."

"Kurogane", seufzte O'Connor entnervt und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, um sich zu beruhigen- der einzige Effekt, den er erzielte, war, dass sein Schopf nur noch verwahrloster aussah als vorher-, "Verstehst du das denn nicht? Offiziell gab es keinen Einbruch! Wir versinken endgültig in der Scheiße, wenn die Medien davon Wind kriegen! Ich seh's schon in den Schlagzeilen... "Das Dezernat für nationale Sicherheit- leichte Beute für affektgetriebene Einbrecher?" Unser Ruf wäre im Eimer, und damit auch alle geschäftlichen Verbindungen! Deswegen halten wir lieber erstmal inne!"

"Soll das etwa heißen, dass ihr bisher noch keine Ermittlungen angestellt habt?"

"Nein. Es wäre zu auffällig, hier jetzt tausend Einheiten rumwuseln und nach Spuren suchen zu lassen. Am Ende riecht die Polizei noch Lunte, und diese arbeitsgeilen Gesichtsbarracken Kinomoto und Fullright treiben ihre Bullenhorde hier rüber. Und wenn die was über unsere Untergrundaktivitäten rausfinden, sind wir verloren. Endgültig, kapiert? Dann gehen wir alle vor die Hunde!"

"Ach so... ich verstehe...", meinte Kurogane gehässig, "Euch brennt also der Schlips... ich nehme an, dann soll ich wieder die Drecksarbeit für euch erledigen und den kleinen Eierdieb schnappen, damit ihr ihn in den Kerker schmeißen und zu Tode foltern könnt, bevor der Mantel des Schweigens wieder zum Einsatz kommt?"

Er hatte einen sehr empfindlichen Punkt getroffen. O'Connors Gesichtsfarbe wechselte schlagartig von Kreideweiß auf Tomatenrot, beinahe wie bei einem hirnschwachen Tintenfisch. Vor Zorn oder vor Scham?

"Hör doch auf, sowas zu sagen!", bellte der Ministerialrat gereizt und wandte den Blick ab, "Wir verdammen dich doch nicht dazu! Du hast deine ganze Mannschaft hinter dir! Mr.Pantoliano hat euch als die besten Männer für diesen Job befunden! Er wünscht ausdrücklich, dass ihr das Ganze ohne großen Wirbel durchzieht, sodass die Außenwelt nicht involviert wird!"

"Aber sicher..."

Ohne weiter auf seinen aufgebrachten Vorgesetzten zu achten, machte sich der Schwarzhaarige auf den Weg zum Eingang des Hauptgebäudes. Mit jedem Schritt, den er sich diesem hässlichen Kasten näherte, spürte er das kribbelnde Ziehen in seinem Nacken stärker, das er immer wahrnahm, wenn er hierher kam. Sein Magen meldete sich mit pochendem Schmerz.

"Kurogane! Warte doch, verdammt nochmal!!"

"Lauf halt schneller, was kann ich für deine Spaghettibeine? Habt ihr wenigstens schon die Sicherheitskameras überprüft?"

"Das schon, aber der Einbrecher hat alle Linsen auf seinem Weg mit so 'nem komischen, klebrigen Zeug zugeschmiert... giftig ist es nicht, aber niemand weiß so recht, was das für 'ne Pampe sein könnte. Fingerabdrücke und Fußspuren gibt es auch nirgends. Ach ja, und zwei Nachtwächter sind bei der ganzen Schose draufgegangen. Offenbar durch ein Messer."

"Das klingt ja prickelnd ... und sonst? Wurde überhaupt was geklaut?"

"Es wird deine Aufgabe sein, das herauszufinden."

Kurogane seufzte. Na ganz große Klasse. Zu blöd für alles.

"Also gut... freu dich. Ich mach die Drecksarbeit, und du wirst ausnahmsweise mal der Held sein, und nicht der Arsch. Und wegen der Mannschaft, sag denen, sie können ruhig wieder heim ins Bettchen. Ich arbeite alleine."

"Aber--"

"ICH ARBEITE ALLEINE!! Kapiert?!!"

"Schon gut, schon gut, beruhige dich! Ich sage der Mannschaft bescheid. Aber zieh das sauber durch."

"Jaja, du mich auch. Und jetzt hau ab zu deinem Götterboss, da wo du hingehörst..."

Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, setzte sich Kurogane wieder in Trab und ließ einen vor verletztem Stolz schlotternden O'Connor zurück. Unruhig rieb er seinen immer stärker kribbelnden Nacken, als er das Hauptportal betrat und ihn der Eingang verschluckte.

Ruhig, Kurogane. Nur keine Blöße zeigen jetzt. Ist doch immerhin schon vier Jahre her.

Doch innerlich wusste er, dass diese Billig-Meditation nichts helfen würde- sie hatte noch nie geholfen.

Diese Sache vor vier Jahren würde er niemals vergessen.

Weil man solche Dinge einfach nicht vergaß.
 

"Sooo, meine lieben Hörer und Hörerinnen, es ist zwei Uhr punktgenau! Draußen haben wir Minus fünf Grad am schönsten Dezembernachmittag, den man sich nur wünschen kann! Hier ist Nelly am Nachmittag, und wie immer hat Radio Kingstonville den besten Musikmix aus allen Hits von heute für Sie parat! Doch bevor wir mit dem neuesten Topsong "Sexyback" von Justin Timberla--"

"Laaangweilig! Bring was von Rammstein!"

"-ke weitermachen, startet wie immer um diese Zeit unser beliebtes Radio-Quiz "Ugly Chicks to Hell" mit exklus--"

"Das war dein Todesurteil! Stiiiirb!"

Ohne weiter zu zögern, ließ Fye seinen unheilvoll in der Luft schwebenden Zeigefinger auf den roten Knopf herniedersausen.

Mit einem leisen Klicken schaltete sich das uralte Transistorradio aus. Exekution, Baby!

Wohltuende Stille machte sich in der kleinen Küche breit.

Nach diesem kleinen Moment des Triumphs hielt der Blondling in seiner Beschäftigung inne, das schmutzige Geschirr von gestern Abend zu spülen, und warf einen gedankenverlorenen Blick nach draußen. Eine einzige Melange aus weiß und grau offenbarte sich ihm. Es hatte den ganzen Morgen über geschneit. Sogar der geistreiche Graffitispruch auf der Frontwand des Nachbarhauses ('Harley's best, fuck the rest') war ganz und gar vom Schnee kaschiert. Sicherlich waren Missis Robinson und ihr Mann nicht wirklich traurig darüber.

Fye seufzte ein wenig. Mann. Er wäre wirklich gerne nach draußen gegangen, um auch Schnee zu räumen wie die anderen.

Allerdings fühlten sich seine Knie nach dieser Sache von gestern Nacht wie zwei alte Wienerschnitzel an, sodass er sich nicht traute, auch nur einen Schritt über die Hausschwelle zu tun. Seine Nachbarn hätten sich sicher auch ein wenig gewundert, wenn er auf der Straße plötzlich einfach umgekippt und gestorben wäre. Naja, auch logisch, nach diesem plötzlichen Anfall gestern Nacht. Kaum zu fassen, wie schnell das immer ging! Missis Robinson war wirklich tapfer gewesen, ihn bis zu sich nach Hause zu tragen und dann einen Arzt zu rufen, sonst wäre er jetzt wohl schon tot. Gute alte Missis Robinson.

Obwohl- tot? ... Tot? Gestorben? Oder vielleicht sogar verreckt?

Netter Gedanke. Fast schon wieder einen Lacher wert.

Natürlich hatte er sich- wie so oft- nicht an die Anweisungen des Doktors gehalten und war aufgestanden, kaum dass dieser das Haus verlassen hatte. Im Bett liegen! Übermüdung! Insomnia! Rückblickende Angst! Paaah! Er hatte Pflichten! Außerdem hätte er sowieso kein Auge zubekommen. Ein paar Tabletten und ein Wohlfühlbad hatten gereicht.

Seine imaginäre Frau hätte sich vor Wut über ihn wohl schon längst aus dem Fenster geworfen.

"Sie wollen nicht heiraten?"

"Lieber tot sein."

Eh-... ?

Fye merkte auf, als ihm plötzlich Fetzen der Unterhaltung von gestern wieder ins Gedächtnis kamen.

Ein wenig verwundert über sich selbst blinzelte er ein paarmal. Hey, ja-... genau! Kurogane!

Wie es ihm wohl gerade ergehen mochte? Was er gerade tat? Ob er wieder bei der Arbeit war, im Dezernat?

Im Dezernat. Und Gott sprach: macht euch die Erde untertan.

Einer Eingebung folgend wandte sich der Blondling um und warf einen Blick zum Kühlschrank.

Dort standen eine Schüssel voll Fudge, der Hausbesen und ein Putzeimer. Aber vor allem lag dort auch das Telefon.

Hm. Hm. Hm.

Sollte er? Ihm war ziemlich langweilig, und er brauchte dringend jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte.

Andererseits hatte das schwarzhaarige Ungetüm ihm gestern abend gedroht, seinen Kopf als Klobürste zu benutzen und anschließend bei EBay zu versteigern, wenn er ihm noch einmal zu nahe kommen sollte- das war gewesen, als Fye mit diesem schicken Kampfschwert aus Versehen seine Wohnzimmervorhänge aufgeschlitzt hatte. Ein Leben ohne Kopf war sicher kompliziert.

Da hast du aber mal verdammt recht , meldete sich seine schizophrene innere Stimme, Außerdem hat er zu arbeiten! Für 'ne lästige Runkelrübe wie dich hat er da sicher keine Zeit! Wer weiß, vielleicht stürzt er ja gerade George Bush und rettet somit den gesamten Planeten!

Hör gar nicht auf die! , sagte der andere Teil seiner inneren Stimme sofort, Du kannst ihm gar nicht zu nahe kommen, wenn du ihn anrufst! Und du willst ihn doch nur fragen, wie's ihm geht! Darüber freut sich jeder!

Fye seufzte. Na toll. Ein Gewissen mit multipler Persönlichkeit zu besitzen war auch nicht immer das Paradies gewesen.

Doch heute fand er durchaus, dass zumindest der andere Teil Recht hatte.

Kopf bei Ebay oder langweiliger Nachmittag? Eindeutig eher Kopf bei Ebay. Hoffentlich zu halbwegs guten Preisen.

Entschlossen streckte der Blondling eine spülschaumnasse Hand nach dem Telefon aus.

Mal sehen, ob er sich freut.
 

Plingelingeling. Plingelingeling.

"Sir?"

Keine Reaktion. Die zinnoberroten Augen blickten starr auf den Boden.

Plingeling. Plingelingeling.

"Sir? Entschuldigen Sie, Sir, aber Ihr Handy kli--"

"ICH BIN NICHT TAUB, MANN!!"

"I-ist ja gut..."

"Nichts ist gut! Und jetzt hauen Sie ab!"

"B-b-bin schon weg-..."

Schwer atmend wartete Kurogane, bis der lästige Nachtwächter, der ihm bis eben noch blutige Gruselstories von weißer Spionagepampe und toten Kollegen erzählt hatte, den Korridor hinuntergefußelt und aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Dann bezwang er mühsam dieses eklige Gefühl, das ihn an die Atombombe von Hiroshima erinnerte und sich schon vor Stunden in seinem Magen festgesetzt hatte, und wühlte mit einer fahrigen Handbewegung sein Handy aus den Tiefen seines schwarzen Mantels empor.

"Am Apparat. O'Connor, wenn du's bist, leg auf oder stirb."

Stille. "Oukonner?", fragte eine verwirrte Stimme am anderen Ende der Leitung, "Was ist denn ein Oukonner?"

Das schwarzhaarige Ungetüm musste erstmal blinzeln. "HÄH?!! Was soll der Scheiß?! Wer zum Henker ist da?!"

"Na, ich!"

"Wer ist ich?! Beschreib dich mal, ich!"

"Ja also, ich bin ein stolzer Jüngling mit güldenem Haar, von hochadligem Blut, tadellosen Manieren und pädagogisch wertvollem, edelmütigem Charakter--"

"Güld-- was?!", unterbrach Kurogane patzig den Redeschwall, der sich mitleidlos an sein Ohr drängte, "Meinst du blo-- ..."

Wieder Stille.

Noch während er redete, fiel der Groschen. Es war, als würde ein Komet in den Grand Canyon einschlagen.

"N--... NEE, ODER?!! Nicht Sie!! NICHT SIE!!"

"Hey, wer soll ich denn sonst sein?", fragte der verdammte blonde Hilfswicht- denn natürlich war er es, und anscheinend wie immer putzmunter, "Ich würde schon sagen, dass ich es bin! Immerhin bin ich ich! Und ich weiß doch am besten, dass ich ich bin?"

"WAS WOLLEN SIE SCHON WIEDER?!!"

"Sie fragen, wie es Ihnen so geht und was Sie machen! Meine schizophrene innere Stimme hat mir gesagt, dass Sie sich sicher darüber freuen würden! Also: wie geht es Ihnen? Was machen Sie gerade?"

"Ich hab gearbeitet! Jedenfalls, bis irgend so ein blonder Hirnverbrannter es wohl witzig fand, mich anzurufen! Und bis zu diesem Zeitpunkt ging es mir richtig scheiße, aber jetzt geht es mir noch viel scheißer!!"

"Ihre Grammatik ist perfekt, das muss man Ihnen lassen. Und was ist denn jetzt ein Oukonner?"

"Ein anderes Wort für 'verdammter, geleckter Strohkopfbastard'!!"

"Eeecht? Strohkopfbastard? Geht das denn? Haben alle Bastarde Strohköpfe? Oder gibt's auch welche ohne? Dann wäre ich ja--"

"KLAPPE HALTEN!!", tobte das schwarzhaarige Ungetüm und sprang von dem billigen Bürosessel auf, auf dem er sich bis vor wenigen Sekunden noch den Hintern plattgehockt hatte.

"Wieso können Sie mich nicht einfach in RUHE lassen?!! Ich hab zu arbeiten, wohl ganz im Gegensatz zu IHNEN!! Hat Sie diese beknackte Ballerfresse etwa rausgeworfen?! Ich frag mich, warum Sie nicht zur Abwechslung mal DEN piesacken können!!"

Auf ähnliche Weise ging es noch mehrere Minuten lang weiter. Der Blondling wartete geduldig, bis sein Gesprächspartner sich genügend heiser gebrüllt hatte, um seine furiose Suada zugunsten des Gewinns von frischem Sauerstoff zu beenden.

"Und ich frage mich", begann er schließlich vergnügt, "Ob Sie immer so sind, oder ob ich es bin, der diesen interessanten Effekt in Ihnen hervorruft?"

"Welchen Effekt?!"

" 'Die Bombe explodierte und zerfetzte alles zu Brei' ", zitierte der Konditorlehrling.

"WAAAS?!!"

Etliche Otto-Normalarbeiter auf dem Korridor des ersten Stocks drehten sich perplex nach dem Urheber dieses Urwaldgebrülls um, doch das war dem Killer im Moment herzlich schnuppe. Vergessen war das Hiroshima in den Gedärmen.

"Wieso explodieren?! Ich explodiere nicht!! ICH BIN DIE RUHE IN PERSON!!!"

"Das merkt man. Ihre Ruhe ist richtig ohrenbetäubend. Stalin würde Sie beneiden."

"Stalin ist TOT, Mann!!"

"Ach so, stimmt ja! Und wer ist schuld?"

"Irgendso'n Arschloch namens Gott!"

"Ruhe!", rief ein schmerbäuchiger Bürotrottel von seinem Schreibtisch aus.

"SELBER RUHE, WICHSER!!"

Mit kreidebleichem Gesicht verkroch sich der Fettsack wieder hinter seinen Akten. Kurogane ließ sich schwer schnaufend wieder in seinen Sitz zurückfallen und stemmte mit schmerzverzerrtem Gesicht die rechte Hand in seine pochende Magengegend.

Verdammt. Verdammt. Verdammt.

"Hey? Hey, hallo? Sind Sie noch dran?"

"Was denn sonst?! Tot bin ich jedenfalls nicht!"

"Da bin ich erleichtert."

Stille. Der Killer versuchte vergeblich, den dumpfen Schmerz in Kopf und Bauch zu ignorieren und stand wieder auf, diesmal mit dem Gefühl, als würden seine Beine aus zerlutschtem Kaugummi bestehen.

"Wieso sind Sie eigentlich nicht auf der Arbeit? Heute ist Montag!"

"Ich wäre gestern Nacht um ein Haar gestorben, und mein Arzt hat gesagt, ich soll zuhause bleiben."

"WAS?!!"

"Ach, so schlimm ist es gar nicht!", versicherte der Blondling sofort, "Es sah schon gefährlicher für mich aus! Ich bin nur ein wenig übermüdet. Hat jedenfalls mein Arzt gesagt."

Kurogane runzelte die Stirn. Das konnte durchaus zutreffen, denn er hatte schon gestern bemerkt, dass der Konditorlehrling durch die Gegend gewackelt war wie ein magersüchtiger Storch, mit tiefen Schatten unter den Augen. Fast wie ein Gespenst.

Gespenst?! Wohl eher Quälgeist.

"Aha. Wie interessant. Und Sie sind bis jetzt nicht auf den Gedanken gekommen, dass Sie jetzt vielleicht besser daran täten, sich 'n paar Stunden lang aufs Ohr zu hauen?"

"Aufs Ohr hauen? Das tut doch weh!"

"SCHLAFEN MEINE ICH!!!"

"Achsooo... naja, wissen Sie, das ist so mein kleines Problem. Ich schlaf immer ziemlich schwer ein. Ich war den halben Morgen damit beschäftigt, einzuschlafen, und es wollte einfach nicht klappen! Ich hab fast alles ausprobiert! Ich hab Stupid White Men

gelesen, ich hab mich dreimal ums Haus jagen lassen, ich hab zu Frank Sinatra gesungen, ich hab Fudge gemacht--"

"Fadsch?", fragte Kurogane entgeistert, "Was ist denn ein Fadsch?"

"Fudge? Eine Süßigkeit! Fudge besteht aus Sahne, Buttermilch, Johannisbrot, Rum, Ingwer, Rosi--"

"JAJA!! Ist ja gut, ich hab's verstanden!"

"Tja. Und es hat trotzdem nichts geholfen. Meine Mitbewohner mögen Fudge, aber eingeschlafen bin ich nicht."

"Das merkt man."

"Ähm- kennen Sie dann vielleicht ein gutes Mittel, um einzuschlafen?"

"Hammerschlag. Dauert keine Sekunde."

"Ähh-... ich meine, eins ohne schmerzhafte Nebenwirkungen!"

Peinlichst darauf bedacht, nicht plötzlich in einen fanatischen Schreikrampf auszubrechen, rieb sich der Killer die pochenden Schläfen und versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass mittlerweile die halbe Büroetage gebannt aus den Türrahmen schielte und das lautstarke Telefongespräch mitverfolgte. Scheiß Notoriker!

"Ich kenne nur schmerzhafte Mittel. Haben Sie mir gestern nicht zugehört?"

"Naja, doch, aber--... hey, ich hab's! Ein Schlaflied! Kennen Sie ein gutes Schlaflied? Könnten Sie mir vielleicht eins vorsingen?"

Beinahe stolperte Kurogane über seine eigenen Füße.

"WAAAAAAAAAAAAS??!! Ja sagen Sie mal-- TICKEN SIE NOCH RICHTIG?!!"

"Nein, eben nicht! Aber ich hab mal gelesen, dass Schlaflieder ein pädagogisch wertvolles Mittel zum Einschlafen sind! Naja, zumindest pädagogisch wertvoller als ein Hammerschlag!"

"Singen Sie sich doch selbst eins vor!! Ich bin nicht pädagogisch wertvoll!"

"Ich kenn aber nur sowas wie: 'Schlaf Kindlein schlaf, dein Vater ist ein Graf, er fliegt des Nachts von Haus zu Haus und saugt das Blut den Leuten aus, schlaf Kindlein schlaf'! Dieser Kindergartenkram eben!"

"Wo sind SIE denn in den Kindergarten gegangen?!", fragte Kurogane angewidert.

"Gar nicht!", erklärte der Blondling fröhlich, "Deswegen frag ich ja! Kennen Sie ein gutes Lied?"

"Ich kenne 'Schlaf mein blödes Drecksblag klein, sonst wirst du bald im Grabe sein', und 'Die Kettensäge hol ich raus, bläst du nicht bald die Kerze aus'. Wär das etwa besser?!"

"Naja, klingt immerhin interessanter als das Grafenlied! Ach, kommen Sie schon, singen Sie mir eins vor!"

"WIE BITTE?!!"

"Ach so, genau: bitte! Ich wünsche mir das Kettensägen-Lied!"

Die Zornesader des Schwarzhaarigen pulsierte so heftig, als hätte sie ein Attentat auf sein Gesicht vor; gerade wollte der Killer tief Luft holen, um die unapettitlichste Schimpfarie aus sich rauszuschreien, die je das Licht der Welt erblickt hatte, als er plötzlich aus dem Augenwinkel O'Connor bemerkte, der hastig auf ihn zugestolpert kam.

Auf einmal war ihm wieder hundeelend zumute. Scheiße. Jetzt kam, was kommen musste- der Schlüssel für den Keller.

Dieser neureiche Bastard wusste genau, dass Kurogane bei seiner bisjetzigen Suche nach dem Einbrecher alles andere als erfolgreich gewesen war, obwohl er Stockwerk für Stockwerk durchkämmt hatte, kathegorisch von oben bis unten- doch überall Fehlanzeige. Kein einziger Hinweis. Es war ihm, als würde er einen Geist jagen.

Und jetzt kam O'Connor, um ihm den Kellerschlüssel zu bringen. Verdammter Rattenkopf.

"Kurogane! Kurogane? Sind Sie noch dran?"

"Später."

Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, legte der Killer auf. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen.

Ihm war schlecht. Seine Knie zitterten. Sein Kopf pochte, als hätte sich in seinem Hirn ein zweites Herz eingemietet.

Denk nicht dran. Denk einfach nicht dran.

"Ah, Kurogane, da bist du ja!", rief O'Connor schon von weitem, "Hast du gerade telefoniert?"

"Hat dich nicht zu interessieren. Gib mir einfach den Schlüssel."

"Hier. Schon was gefunden?"

"NEIN, wie oft denn noch?! Ich hab alles abgegrast!"

"Die Kellerareale aber noch nicht, oder?"

Kuroganes Finger zuckten gefährlich. Die Kellerareale. Die hatte er als einzige noch nicht durchsucht. Dort unten waren die alten Archive mit den verjährten Fällen, die Waffenkammern, und-... und die Kerker.

Der Magen des Schwarzhaarigen krampfte sich zusammen, eine jähe Welle von Übelkeit stieg in ihm hoch. Einen Augenblick lang überlegte er, dass es vielleicht ein wenig seine Stimmung heben könnte, wenn er sich jetzt den Finger in den Hals rammen und seinen Vorgesetzten vollkotzen würde. Naja. Besser ließ er es bleiben, sonst wurde er am Ende womöglich noch entlassen. Man musste ja von was leben.

"Nein, die Kellerareale noch nicht", entgegnete er eisig, "Darum mach ich das jetzt. Und ganz nebenbei bist du eine Missgeburt."

O'Connor schluckte schwer. Obwohl sein verletzter Stolz in ihm herumtobte wie ein angezündeter Knallfrosch, sagte er nichts, als sich das schwarzhaarige Ungetüm wortlos umwandte und den Gang Richtung Lift hinunterstapfte. Die Aufzugstür schloss sich hinter ihm. O'Connor war kein Hellseher, doch wenn er eine ungute Vorahnung hatte, traf sie meistens ein.

Es läuft aus dem Ruder.
 

Dinng.

Erster Stock- Erdgeschoss- Untergeschoss. Lautlos glitten die Türen des Aufzugs auf.

Kurogane seufzte ein wenig, als er auf den nur sehr spärlich beleuchteten Gang des Korridors trat.

Das war für ihn zweifellos der verrückteste Arbeitstag seit langem.

In einem Augenblick beschäftigte er sich mit einem Einbrecher, im nächsten unterhielt er sich über zweckdienliche Schlaflieder, und im übernächsten war auf einmal alles nur noch scheiße. Eindeutig nicht wie sonst.

Plingeling. Plingelingeling. Plingelingeling.

Verdammt nochmal!! Mit gefletschten Zähnen wühlte der Killer sein Handy aus der Manteltasche.

"Was verstehen Sie eigentlich unter später , Mann?!!", fauchte er gereizt in die Sprechmuschel.

"Och, seien Sie doch nicht gleich wieder sauer!", quengelte es an seinem Ohr, "Ich hab extra fünf Minuten gewartet!"

"Fünf Minuten? Macht es Ihnen Spaß, mein Leben zu ruinieren?", fragte der Schwarzhaarige eisig, während er den diffus erleuchteten Gang langsam abschritt, an dem viele, sterilgrüne Türen anlagen.

Dieser Teil des Untergeschosses führte zu allen alten Archiven, in denen die Akten und das Beweismaterial verworfener, bereits abgeschlossener oder ungeklärter Fälle des Dezernats vor sich hingammelten.

"Ruiniere ich denn Ihr Leben?", fragte der Hilfswichtel soeben. Seine Stimme klang seltsam unstet.

"Ach, vergessen Sie's", gab Kurogane gereizt zurück und wühlte mit einer Hand eine kleine Sprühflasche aus den Tiefen seines Mantels empor, noch halbvoll mit einer durchscheinenden Flüssigkeit- Luminol. Sprühte man es auf eine blutbenetzte Fläche, färbten sich die organischen Überreste leicht violett an. Unverzüglich begann er, alle Wände und Türen des Archivgangs mit Luminol vollzusprühen und kam sich dabei vor wie Detective Somerset aus Sieben .

"Sie wissen es nicht?", fragte die helle Stimme an seinem Ohr.

"Man sollte nur das Wissen anstreben, für das man nicht skalpiert werden kann", erwiderte der Killer geistesabwesend.

"Skalpiert?", fragte der Konditorlehrling erstaunt, "Sie meinen das Wissen, das die innere Stimme einem rät?"

"Haben Sie denn sowas wie eine 'innere Stimme'?"

"Naja, eine schizophrene. Aber die hat mir zumindest geraten, Sie anzurufen. Ich fand, sie hatte Recht."

"Dann rät Ihnen Ihre innere Stimme eindeutig das Falsche", grollte Kurogane, während er darauf wartete, dass sich die Wände verfärbten, "Ich hatte sowas noch kein einziges Mal. Nicht einmal früher, als ich noch klein und blöd war."

"Jeder war mal klein und blöd, wenn Sie damit 'gutgläubig' meinen. Die meisten verlieren ihre Gutgläubigkeit irgendwann. Vor allem, wenn sie begreifen, was das 'Leben' in Wirklichkeit ist, oder?"

"Das bestreite ich nicht. Wieso versuchen Sie nicht endlich, zu schlafen?", lenkte der Killer vom Thema ab.

"Ich kann nicht", antwortete der Blondling leise.

"Ich singe Ihnen kein Schlaflied vor, Sie müssen gar nicht erst anfangen zu betteln."

"Menno! Hab ich das gesagt?"

"Profilaktisch", knurrte Kurogane und rieb verbissen seine wie verrückt pochenden Schläfen.

"Sagen Sie das nicht, dann muss ich immer so sehr an den Zahnarzt denken. Was ist denn los?"

"Wie?"

"Ich mein ja nur. Sie klingen anders als vorhin. So gedrückt. Sind Sie im Keller?"

"WAS?!!"

"Dachte ich's mir doch. Mir geht's jedenfalls ähnlich, wenn ich im Keller bin."

"Also schön: ich bin im Keller. Und Sie liegen sicher nicht im Bett, obwohl es Ihrer Gesundheit vielleicht zuträglicher wäre."

Die Stimme am anderen Ende der Leitung hielt inne. Die verstreichende Zeit nutzte Kurogane nachdrücklich, um nach Verfärbungen zu suchen. Die Türen sahen alle unberührt aus, jedenfalls nicht, als hätte ein Verrückter versucht, sie in die Luft zu sprengen. Wieso hielt man einen Einbrecher automatisch für einen Verrückten?

"Ich bin tatsächlich nicht im Bett. Eigentlich stehe ich gerade am Küchenfenster. Ich schau raus auf die Straße. Und was sehe ich?"

"Das Leben."

Der Lehrling stutzte wieder einige Sekunden lang. Doch das nahm der Schwarzhaarige nicht zur Kenntnis, denn soeben hatte eine Stelle an der Wand neben der dritten Tür von rechts begonnen, sich zu verfärben. Zwei etwa daumengroße, dunkle Blutkleckse wurden sichtbar.

In spinnenbeindünnen, kaum mehr erkennbaren Rinnseln waren sie offenbar in Richtung Boden getropft. Boden... ?

Einer Eingebung folgend ging Kurogane in die Hocke und sprühte großzügig Luminol auf den dunklen Parkettboden.

"Mögen Sie Keller nicht?", fragte der Blondling soeben munter weiter, "Ich mag Keller auch nicht, aber eigentlich nur wegen den Spinnen und Mäusen, in unserer Wohnung sind jedenfalls massig Spinnen im Keller, und die finde ich ja absolut ek--"

"Wollten Sie nicht ein Schlaflied?!!", fauchte der Killer gereizt dazwischen, da er es jetzt nicht brauchen konnte, aus der Konzentration gebracht zu werden, "Also gut, dann singe ich Ihnen eben eins vor: 'Da waren mal zwei Lichterfeen, die wollten nicht ins Bettchen gehen, sie liefen rum bei dunkler Nacht, da ist die Hexe aufgewacht, die packte die Lichterfeen am Kopf und warf sie in den Suppentopf, sie kochte sie ein zu Cordon Bleu, versenkte sie im Käse bis zu den Zeh'n, und fraß sie zum Schluss ganz einfach auf, so ist nunmal des Lebens Lauf!' "

Verdattertes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Vermutlich hatte sich der Hilfswichtel über Kuroganes nur sehr ungenügende Gesangeskenntnisse in die Hosen gemacht. Während er die mehr schlecht als recht aus den Fingern gesaugten Schüttelreime runterdudelte, verfolgte er mit unruhig gehendem Herzschlag, wie sich die dünnen Blutsfäden auf dem Boden immer markanter bemerkbar machten. Und da waren sogar-- Fußabdrücke?

"Verdammt", entfuhr es dem Killer, und er begann unverzüglich, der Spur der Blutsrinnseln zu folgen, die sich wie kaltviolette Spinnenfäden über den Gang zogen.

"Warum verdammt?"

"Verdammt, weil da überall Blut auf dem Bo-- hey, Moment! Für wen halten Sie sich, dass Sie mich sowas fragen?"

"Keine Ahnung. Wir können ja CIA spielen!", schlug der Blondling vor, "Und Sie sind Sherlock Holmes, und ich bin Watson!"

"Sherlock Holmes bei der CIA?!! Ihre kranke Fantasie will ich haben. Demnächst seh ich wohl den Bürgermeister zu Hit Me With Your Rhythm Stick tanzen..."

"Ich bitte Sie, zu dem Lied tanzen zu können gehört zur Allgemeinbildung. Und Sie haben die Moral der Geschicht vergessen!"

"Achso: 'Und die Moral von der Geschicht: Cordon Bleu essen soll man nicht!' Da! Zufrieden?"

"Was hat das mit Einschlafen zu tun?"

"Nichts für ungut. Ich hasse Cordon Bleu. Und ich hasse es, wenn-- scheiße ."

"Was? Was ist los?"

Doch Kurogane gab keine Antwort. Er war soeben am Ende des Gangs angelangt und um die Ecke gebogen, wo sich ein neuer Korridor erstreckte, allerdings kürzer als der Hauptgang- die einzige Tür, die dort anlag, stand sperrangelweit offen, und hier war das getrocknete Blut noch deutlich sichtbar. Ein metallischer, unangenehm dumpfer Geruch lag in der Luft.

Am Ende des Ganges führte eine Stahltreppe noch tiefer in das Dunkel hinein. Zu den Kerkern.

Der Magen des Killers drehte sich sofort um, seine Kehle fühlte sich an, als hätte er eine lebendige Schlange verschluckt.

Instinktiv stützte er sich an einer Wand ab und atmete tief ein. Nur mühsam bezwang er den plötzlichen Brechreiz.

Denk nicht dran. Denk einfach nicht dran. DENK NICHT DRAN.

"Kurogane? Ist alles in Ordnung? Sie atmen ja wie Darth Vader!"

"Dann muss Darth Vader mindestens zwanzig Kotzbeutel in seinem Helm gelagert haben", keuchte Kurogane und musste ein zweites Mal mit sich ringen, um sein Frühstück bei sich zu behalten, bevor er mit unsicheren Schritten der Blutspur bis zu der aufgebrochenen Tür hin folgen konnte. Seine Augen weiteten sich, als er den Raum betrat. Es war das Archiv der ungeklärten Fälle von den letzten zwei Jahren. Auf den ersten Blick schien nichts besorgniserregend zu sein, doch ein einziges Regal sah aus, als hätte man versucht, ein gleichzeitig toll- und sexwütiges Nilpferdmännchen darin einzusperren. Trotz der diffusen Dunkelheit sah man sofort das Tohuwabohu- alle Schubladen waren aufgerissen und blutverschmiert, Aktenordner lagen überall herum, altes Beweismaterial war über den Boden verstreut. Doch Kurogane war drei Jahre lang darauf gedrillt worden, sich von äußerer Unordnung oder Unruhe nicht beeinflussen zu lassen. Ungerührt betrat er den finsteren Archivraum und besprühte den Boden vor dem zerwühlten Aktenschrank gründlich mit Luminol.

Wieder wogte eine Welle von Übelkeit in ihm hoch. Er hustete. Elende Scheißbiochemik!

"Atmen Sie tief durch", riet der Blondling, "Und massieren Sie sich den Hals. Das wirkt."

"Wissen Sie was, werden Sie doch Wunderheiler", gab der Killer gereizt zurück, doch er tat wie geheißen.

Der Brechreiz wich. Die Unruhe blieb, wie immer. Doch dann kam ihm ein Einfall.

Ich werd mich zwar dafür hassen, aber--

"Hören Sie, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun, und reden", knurrte er mit rauer Stimme in die Sprechmuschel.

"Wie?"

"Reden Sie ganz einfach."

"Okay! Ich hab Ihnen doch vorher von Fudge erzählt, richtig? Im Englischen bedeutet das 'weiches Zuckerwerk', aber es kann auch "Blödsinn" bedeuten, und es gibt keine richtig universelle Übersetzung für dieses Wort, und-..."

Die perfekte Ablenkung. Was bin ich doch genial. Während der Konditorlehrling drauflos schwafelte, klemmte sich der Killer das Telefon zwischen Ohr und Schulter, und begann den Aktenschrank zu untersuchen. Es war zwar alles durcheinandergeworfen und zerwühlt, aber es fehlte nichts. Nun ja- fast nichts. Im Abteil der ungeklärten Verbrechen vor zwei Jahren war ein einziges Aktenfach leer, und auch der Titankoffer mit dem Beweismaterial fehlte. Bingo. Fehlte nur noch das Luminol.

Immer noch vom Geschwätz des blonden Hilfswichtels begleitet, ging Kurogane in die Hocke und besah sich den Boden.

Tatsächlich, er hatte sich verfärbt. Und diesmal war es sogar mehr als nur Blutschmierer und -linien.

Es waren mehrere Schuhabdrücke. Sie waren gerillt, und in der Mitte der Sohle war eine kleine Prägung mit einem Wort darin. Misstrauisch wühlte der Killer eine kleine Stablampe aus seinem Mantel hervor und beleuchtete den unheimlich fluoreszierenden Fußabdruck. Angel , sagte die Prägungsschrift auf der Fußsohle.

"Stopp", unterbrach Kurogane den Redeschwall seines geschwätzigen Gesprächspartners.

"Was gibt's? Haben Sie was gefunden?"

"Fußabdruck. Mit 'Angel' als Prägung."

"Angel? Das englische Wort für Engel? Naja... hmm... ich glaub, es gibt eine Stiefelmarke, die so heißt!"

"Eine Stiefelmarke? Wie geschmacklos", konstatierte der Schwarzhaarige, "Beinahe schon pervers."

"Gerngeschehen, Mister Holmes. Sie spielen ja gar nicht richtig mit!", quengelte der Blondling.

"Also schön: 'Genug der Nervenplage für heute, Mister Watson, legen Sie jetzt auf'."

"Waaas? Aber warum?"

"Weil."

"Na, Sie sind mir vielleicht ein Detektiv! Sie können wahrscheinlich nicht zu Hit Me With Your Rhythm Stick tanzen! Naja, egal. Ich würd mich gern bei Ihnen bedanken. Darf ich?"

"Wofür?"

"Naja...", die Stimme des Lehrlings bekam einen verlegenen Unterton, "... für das von eben halt. Ich glaube, das hab ich gern gemacht. Stört Sie das? Die Zusammenarbeit mit mir?"

"Es ist mir ehrlich gesagt scheißega--..."

Kurogane stutzte. In seinem Kopf entstand eine fragende Lücke. Zusammenarbei--... ?

"EINEN MOMENT MAL, Sie impertinentes Gespenst!!", keifte er sofort los, "Wollen Sie etwa damit andeuten, ich hätte mit Ihnen-- mit-- MIT IHNEN--... haben Sie eigentlich ein-- das ist ja die reinste-..."

Der Blondling antwortete nicht.

Er ließ ein kleines Kichern hören, das sich wie das Klingeln eines winzigen Glöckchens im Raum verlor.

"Machen Sie's gut, Kurogane."

Klick.

Stille. Wortlos starrte der Killer das Handy in seiner Hand an. Kein Kopfweh, kein Bauchweh, keine Übelkeit mehr- nur noch ein fettes Fragezeichen. Der hat doch wohl nicht geglaubt, ich hätte mit ihm--...

Rasch verwarf er den Gedanken und stand auf. Zeit, O'Connor von der ganzen Scheiße zu berichten. Ob der wohl zu Hit Me With Your Rhythm Stick tanzen konnte?

Kurogane seufzte. Vor seinem geistigen Auge sah er schon das nächste Besäufnis herannahen.

Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da...

Naja. Vielleicht würde ja ein Schlaflied helfen.
 

Fye lächelte.

Mit kreideweißen, zitternden Händen legte er den Telefonhörer zur Seite und streckte sich auf dem Sofa aus.

"Schön, dass ich Ihnen helfen konnte", flüsterte er leise.

Ein seltsam wärmendes, weiches Gefühl kroch kribbelnd seine Wirbelsäule hoch wie tausend kitzelnde Ameisen.

Sanft schloss er seine Augen und sank langsam in einen bleiernen Schlaf.

Interlude: Blackout / Toxic

-"Was kommt es darauf an, was unseren Kopf oder unsere Börse bedroht? Denken wir nur an das, was unsere Seele bedroht!"-

(Victor Hugo)
 

~~
 

Regen.

Rauschender Regen.

In feinen, kaum mit den Augen auszumachenden Tropfen schlug er sich an den Häuserwänden nieder.

Ein nass glänzender Film überzog alles und jeden wie eine zweite Haut.

In ewig strömenden, glucksenden, plätschernden Rinnsalen rann das Wasser an den Dachrinnen des alten, heruntergekommenen Lagerhauses herunter und tropfte unablässig durch die Ritzen der gesplitterten Fensterscheiben.

Ein kalter Wind fegte durch die Straßen. Wirbelte vertrocknetes Laub auf, spielte mit ihm.

Es zog fürchterlich in dem riesigen, leeren Lagerraum, und es war klirrend kalt. Nackter, grauer Beton und alte, teils schon vor sich hinschimmelnde Holzkisten, so weit das Auge reichte.

Die einzigen Geräusche, die man hörte, waren das Regenrauschen und das unerbittliche Heulen des Herbstwindes.

Wirklich die einzigen?

Nein.

Aus der finstersten, schmutzigsten Ecke des langgestreckten Raums, hinter einem hohen Stapel völlig verwitterter Lattenkisten, halb verloren in Dunkelheit, Dreck und Kälte, drangen eigenartige, kaum hörbare Laute hervor.

Wimmern. Winseln. Schluchzen. Stöhnen.

Die kleine, blonde Gestalt kauerte sich in seinem kalten, verdreckten Schlupfwinkel zusammen wie ein in die Enge getriebenes Tier und presste beide Hände auf seine glasigen, hellblauen Augen, in denen in endloser Abfolge Tränen aufstiegen und seine bleichen, zerkratzten Wangen hinunterrollten.

In seinem Kopf, in seinem Arm und vor allem in seiner linken Schulter pochte schon, seit er an diesem gottverlassenen Ort aus einer bleischwarzen Ohnmacht aufgewacht war, ein stechend heißer, bohrender Schmerz, und machte ihn fast wahnsinnig.

So weh. Alles tat ihm so weh. Und kein Mensch war hier. Niemand.

Lange verharrte er so in der Schwärze. Weinend, zusammengekrümmt und unsichtbar für jeden.

Bis er plötzlich ein Geräusch hörte.

Ein Hallen. Von den Wänden widerhallende Schritte. Sie kam von der anderen Seite des großen Lagerraums.

Wild fuhr er aus seiner Starre hoch und suchte mit tränenbrennenden Augen die Umgebung ab.

Nichts. Die Schritte waren allerdings immer noch da. Und sie kamen immer näher.

Sein Herz hämmerte vor Angst wie ein Presslufthammer in seiner Brust. Verzweifelt rollte er sich in seinem finsteren Winkel zusammen und machte sich so klein wie möglich. Überseht mich. Bitte überseht mich. Bitte...

Alles, was er jetzt noch hörte, war das Regenrauschen und das flatternde Pochen seines Herzens.

Stille. Schwärze. Kälte.

Bis plötzlich ein langgestreckter, schwarzer Schatten um die Ecke gekrochen kam.

Drohend fiel über seine wehrlose Gestalt wie ein finsteres, staksendes Ungetüm.

Ohne jede Vorwarnung schoss eine eiskalte Hand mit langen, dünnen Fingern nach vorne und packte ihn unsanft bei den zerzausten blonden Haaren.

Vor Angst stieß er einen kleinen, heiseren Schrei aus und krümmte sich wie ein Wurm am Haken.

Sein Atem ging schwach und unregelmäßig, als er spürte, wie sich diese kalten, fremden Finger unerbittlich in sein Haar vergruben und seinen Kopf langsam nach oben zwangen.

"Mach die Augen auf."

Die Stimme, die das sagte, ließ sein Herz schwirren wie ein riesiges Gummiband.

Solch eine Stimme hatte er noch nie in seinem Leben gehört.

Sie klang wie das Murmeln von Wasser, das aus einer tiefen, schwarzen Grotte kam.

Wie ein jäher, kühler Windstoß, der sanft durch seine Haare strich.

Eiskalt und zugleich unbeschreiblich angenehm.

"I-... ich--"

"Tu, was ich dir sage."

Sein Puls flatterte wie eine verwundete Libelle, als er sich zwang, seine tränennassen, verschwollenen Lider zu heben.

Ah-...

Seine Augen weiteten sich. Vor ihm kniete eine hochgewachsene, dunkle Gestalt mit langen Haaren und starrte ihn an.

Ein Mann.

Man erkannte nicht sofort, dass es ein Mann war, denn seine kühlen, forschen Züge hatten etwas seltsam Androgynes.

An seinen ebenmäßigen, hellhäutigen Wangen und seinem Hals wanden sich lange, schwarz glänzende Haarsträhnen entlang wie zahllose, dunkle Wasseradern und fielen weich über seine Schultern.

Der Blick seiner gelblichen Katzenaugen war bewegungslos und berechnend.

Seine Finger in seinem Haar fühlten sich kälter als Eis an.

Er spürte, dass er vor Furcht und Erwartung zu zittern begonnen hatte wie Espenlaub. Unwillkürlich verkrampfte er sich noch ein wenig mehr und verschränkte seine bleichen, bebenden Hände vor der Brust.

"Bitte-... b-bitte--"

"Keine Angst. Ich tu dir nichts", sagte der Fremde, als ob er Gedanken lesen könnte und nahm die Hand wieder aus seinem Haar.

Er schluckte und ließ seine verkrampften Fäuste sinken.

"Wie kommst du hierher?", fragte der schwarzhaarige Mann nach einer Weile des Schweigens. "Und wie heißt du?"

Er starrte den Fremdling verwirrt an. Seltsam, darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht.

Und als er anfing, darüber nachzudenken, merkte er voller Bestürzung, dass er nichts mehr wusste.

Gar nichts mehr.

Weder, wie er hierher gekommen war, noch woher er überhaupt kam. Wo er vorher gewesen war. Wer er war.

Ein steinharter Knoten setzte sich in seiner Kehle fest. Sein Herz setzte für zwei Schläge aus.

Wer bin ich?

Mit glasigen Augen hob er seine bleichen, zerkratzten Handflächen und starrte sie an. Er blickte auf zwei fremde Hände. Schmale Handgelenke. Lange, schlanke Finger. Auf seinem rechten Handgelenk prangte eine winzige, kreisrunde Wunde, als ob er sich an etwas aufgestochen hätte. Und je länger er fiebrig in seinem Gedächtnis nach einer Antwort wühlte, desto schmerzhafter wurde ihm klar, dass alles weg war.

Bis auf eins. Das einzige. Schwach wie ein dünner Nebelschleier schwebte es in seinem schmerzenden Kopf.

"I-ich... ich heiße Fye... de Flourite."

Die gelben Katzenaugen bekamen einen lauernden Ausdruck.

"Soso, du heißt also Fye de Flourite. Und mehr weißt du nicht?"

Sein Herz pochte so heftig gegen seine Rippen, dass es schmerzte.

"N-nein."

"Und ist Fye de Flourite auch dein wirklicher Name?"

"Ich... denke schon. Warum?"

Der Fremde lächelte ein wenig. Sein Lächeln war ebenso zwiespältig wie seine Stimme.

"Du solltest deinen echten Namen nur denjenigen sagen, denen du vertrauen willst. Willst du mir vertrauen? Einem Fremden, den du erst seit zwei Minuten kennst?"

Fye schluckte schwer. "Sch-schon."

"Ach? Bist du dir auch sicher? Ich könnte dich zum Beispiel hier und jetzt erwürgen oder niederstechen."

"Sie haben mir nichts angetan, Sir."

Der junge Mann wirkte äußerst amüsiert. "Stimmt, das habe ich nicht. Seinen Namen sagen ohne zu lügen und gutgläubig sein, hm?"

Schon wesentlich interessierter beugte er sich zu der zusammengekauerten, blonden Gestalt zu seinen Füßen hinab.

"Seltsam. Du siehst kaum älter aus als fünfzehn Jahre, Fye. Bist du verletzt? Hast du gerade Schmerzen?"

"J-ja. Sir. In der Schulter und am Arm."

"Aha..."

Ein Schweigen verging. Der Fremde schien zu über irgendetwas nachzudenken.

"Sir...?", getraute sich Fye schließlich zu fragen. "Wissen-... wissen Sie vielleicht, woher ich komme?"

Über das Gesicht seines älteren Gegenübers huschte ein leichtes Zucken.

"Nein. Ich weiß genauso wenig wie du. Vielleicht hattest du einen Gedächtnisverlust. Wenn es so ist, wird das, was du vergessen hast, irgendwann wiederkommen..."

"Aber wie, Sir?"

"Meistens durch Zahlen. Hast du gerade Zahlen im Kopf, Fye? Irgendeine Zahlenreihe? Erinnerst du dich da an etwas?"

In den gelben Katzenaugen funkelte es jäh auf, als er das sagte. Oder bildete Fye sich das nur sein?

"... N-nein, Sir. Tut mir leid."

Ein seltsamer Ausdruck breitete sich in dem Gesicht des Fremden aus. Bevor Fye jedoch weiter darüber nachdenken konnte, redete er weiter. "Also schön. Hör mir jetzt gut zu, Fye, ich mach dir ein faires Angebot- ich nehm dich mit. Wenn du mit mir mitkommst, kriegst du einen Platz zum Schlafen, was zu essen, und wenn du älter bist, einen Job."

Fyes Augen weiteten sich. Sein Herz setzte für zwei Schläge aus. Ich soll-... ?

"M-... mit Ihnen mitkommen? Aber warum?"

Der schwarzhaarige junge Mann starrte ihn abwartend an. "Na, warum wohl? Willst du etwa hier verrecken?"

"N-nein... aber dafür verlangen Sie doch sicher auch etwas von mir- oder?"

Der Fremdling sah abermals sehr amüsiert aus.

"Du bist nicht auf den Kopf gefallen. Ja, allerdings, ich erwarte eine Gegenleistung von dir- es ist aber ganz leicht. Du musst lediglich versuchen, dich zu erinnern."

"Erinnern... ?"

"Ja, an alles, was du vergessen hast. Dann können meine Freunde und ich dir sicher viel eher helfen. Na, worauf wartest du noch? Mach schon! Steh auf!"

Fye sah mit einem unschlüssigen Blick zu der Hand empor, die der Fremde ihm anbot.

Meine Freunde und ich können dir sicher helfen.

"Okay."

Unsicher erhob er sich auf die zerkratzten, wundgescheuerten Füße und legte seine kalte Hand in die des jungen Mannes.

Sein ganzer Körper rebellierte mit stechendem Schmerz auf seine Bewegungen, doch diesmal ignorierte er es.

"Komm mit. Das wird schon."

Fye nickte schwach. Neue Tränen wollten in seine Augen steigen, seine Kehle schmerzte, als hätte er glühende Kohlen verschluckt. War es Dankbarkeit?

"Und,-... und wie heißen Sie, Sir?"

Der Fremde wandte sich zu ihm um. Draußen am regengepeitschten Himmel flammte ein gezackter Blitz auf.

"Mein Name ist Ashura."

"Ihr Echter?"

Der junge Mann nickte.

Fyes Kehle verkrampfte sich noch mehr, seine Füße zitterten wie Espenlaub. Diesmal weinte er wirklich.

"Vielen Dank, Ashura."

Ashura blickte belustigt auf das blasse Gesicht seines neuen Schützlings hinab.

"Bedank dich lieber nicht. Wer weiß, was die Zukunft noch bringt?"

Fye nickte. Er konnte nur noch nicken. Eine trübe, diffuse Schwere erfüllte seinen Kopf, als er Ashura durch das Lagerhaus nach draußen folgte und der peitschende Regen sie beide verschlang.

Vielleicht würde er verletzt werden. Vielleicht würde er geschlagen werden, missbraucht, verhöhnt, geschunden, getreten--...

Doch auch diese Gedanken drängte der Blondling entschieden beiseite.

Was sollte ihm denn jetzt noch Schlimmes passieren?

Er hatte nichts zu verlieren außer seinem Leben.
 

~~
 

Nicken.

Nicken. Lächeln. Oder eher Mundwinkelzucken.

"... und man hat mir gesagt, McSanderson bildet nur die Besten der Besten bei sich aus... nicht wahr?"

"Das kam mir auch schon zu Ohren! In unserer Position hört man immer allerlei, wissen Sie; aber stimmt es denn?"

Nicken. Mundwinkelzucken.

"Oh, wie aufregend! Also, was ich nicht dafür gäbe, dass mein Sohn auch mal so ein Training absolviert! Dem würden einige Muskelpakete mehr als gut zu Gesichte stehen- 'Philipp, du solltest mehr Sport treiben', sag ich, aber nein, auf mich hört er nicht--"

"Ich sag es doch jedes Mal aufs Neue: das ist nur etwas für die wirklich harten Jungs. Hab ich nicht Recht?"

Nicken. Mundwinkelzucken. Hab's wohl doch verlernt.

"Auf jeden Fall kann ich mich nur wiederholen: willkommen an Bord, Kurogane!"

"Ganz meine Rede, jetzt geht es endlich wieder bergauf. Sie hätten mal den letzten führenden Einsatzleiter sehen sollen- eine Katastrophe, völlig verweichlicht! Mit Ihnen sind die Aussichten weit besser, wenn Sie mir dieses Kompliment gestatten."

Der junge, dunkelblonde Ministerialrat an seiner Seite strahlte zwar, als würden sämtliche Komplimente, die bis jetzt gefallen waren, ihm gelten und nicht seinem kostbaren neuen Schützling- aber als er den Gesichtsausdruck ebenjenes Schützlings bemerkte, hielt er es für besser, die Tratschrunde, in der sie beide schon seit zwanzig Minuten feststeckten, aufzulösen.

"Entschuldigen Sie, Stefanie, falls das jetzt ein wenig plötzlich kommt, aber Mr.Pantoliano erwartet uns; habe ihm nämlich versprochen, spätestens in fünf Minuten bei ihm reinzuschneien, und jetzt sind wir schon zwanzig Minuten überfällig... das geht doch in Ordnung? Bob? Pameroy?"

Salbungsvolle Lächelgrimassen von allen Seiten.

"Gehen Sie nur, Joshua. Wir wollen ja nicht, dass unser Neuling schon am ersten Tag zu spät kommt, hmm?"

"Haben Sie vielen Dank. Gehen wir, Kurogane."

Wieder ein Nicken, wobei er sich alle Mühe geben musste, um nicht allzu erleichtert auszusehen.

"Nett, Sie getroffen zu haben!", schallte es ihm noch hinterher.

"Sie können stolz auf sich sein, Kurogane, verdammt stolz!"

"Viel Erfolg noch! Sie werden ein großartiger führender Einsatzleiter sein, alter Junge!"

Nicken. Mundwinkelzucken. Diesmal im Laufen.

Innerlich ließ ihn all dieses künstliche Wohlwollen jedoch verdammt kalt. Sein neuer direkter Vorgesetzter, der sich ihm vor etwa zwei Stunden als Joshua O'Connor vorgestellt hatte, schien diesen Fakt allerdings nicht zu bemerken- kumpelig klopfte er dem großen Schwarzhaarigen auf die Schulter und lächelte dazu.

"Na? Hab ich's dir nicht gesagt, Kurogane? Lauter tolle Leute, lauter wunderbare Menschen mit Kompetenz und Sinn für Humor! Und alle sind sie gekommen, um deinen Amtsantritt hier im Dezernat zu feiern! Du kannst dich glücklich schätzen!"

"Das freut mich durchaus, Mr.O'Connor."

Kurogane hob die Augenbrauen und sah sich ein wenig in dem Raum um, um O'Connors forschenden Blicken zu entkommen.

Knappe eineinhalb Stunden hatte er bereits damit verbracht, hier im weitläufigen Empfangssaal des Dezernats rumzuhängen- roter Kokosläufer, riesige Fenster, Kronleuchter, das übliche Geplänkel eben- und tausend fremden Leuten die Hände zu schütteln, tausend fremden Leuten ins Gesicht zu lügen, dass er ja so entsetzlich froh war, ab heute hier arbeiten zu dürfen, und sich von tausend fremden Leuten schleimiges Rumgequake anzuhören und sein Amen dazu zu geben.

Und offenbar erwartete dieser Joshua O'Connor, dass er- er, Kurogane!- hier jetzt vor Freude durchdrehte wie ein Dackel, der endlich sein heißersehntes Leckerli bekam.

Diesen Gefallen hatte er ihm bis jetzt nicht getan, und er hatte es auch für den Rest dieser verdammten Feier nicht vor.

Lass dich nicht ablenken. Vergiss nicht, warum du hier bist.

"Wenn dich all das hier noch ein wenig überfordert, Kurogane, kannst du es ruhig sagen!", brach der Ministerialrat schließlich reichlich unbeholfen das unangenehme, um nicht zu sagen eisige Schweigen.

"Jeder ist zuerst mal überwältigt von allem, was hier täglich vonstatten geht- hier wird eben die wahre Machtpolitik ausgetragen, mein Freund, die wahre Machtpolitik!- aber keine Sorge, du wirst dich auch noch eingewöhnen. Und ich muss sagen, du machst einen ziemlich guten Eindruck auf die Leute!"

Ein Nicken. Sein neuer Vorgesetzter seufzte. Das mit dem Eindruck war eine glatte Lüge gewesen- viele der Angestellten, die zu der Feier geladen waren, hatten meist kaum zwanzig Worte direkt mit dem hochgewachsenen, schwarzhaarigen jungen Mann gewechselt, und hatten schnell angefangen, sich über seinen Kopf hinweg mit O'Connor zu unterhalten.

Was hatte dieser ungehobelte Kerl eigentlich für ein Problem? Schon seit er ihn am Hauptportal in Empfang genommen und in den Saal geführt hatte, zeigte er diesen seltsamen Gesichtsausdruck- weder war es direkte Feindseligkeit, noch war es direkte Toleranz.

Es war eher wie eine Wand. Eine unsichtbare, jedoch felsenharte Barriere des Schweigens.

Doch es war eigenartig- es war nicht dieses hohle, dümmliche Schweigen, das bei einem Menschen von mangelnder Sprachgewandtheit zeugte; nein, seltsamerweise kam man bei ihm nicht im Entferntesten auf die Idee, dass er es möglicherweise mehr in den Muskeln als im Hirn hatte.

Es war ein abpassendes, ja nahezu wohlerwogenes Schweigen. O'Connor war zwar kein großartiger Verhaltensforscher, doch auf eine seltsame Art und Weise spürte er, dass dieser Kerl, der ihn um fast zwei Köpfe überragte und die ganze Zeit nur ruhig geradeaus sah, auf irgendetwas zu warten schien. Er wartete nicht nur auf etwas- er gierte nach etwas.

Aber wonach?

"Wieviel Zeit haben wir noch? Wollte Mr.Pantoliano nicht etwas mit uns besprechen?"

O'Connor schluckte. Aha. Danach also.

"Ja, in der Tat. Keine Sorge, er muss hier irgendwo sein. Komm."

Schon deutlich reaktionsfreudiger setzte sich Kurogane in Trab und folgte O'Connor durch den weitläufigen Empfangssaal des Dezernats, wobei er zum wiederholten Mal seine dezente schwarze Krawatte zurechtrückte.

Endlich. Drei Jahre hab ich gewartet.

Er spürte deutlich, wie sich sein Bewusstsein schärfte, sich ballte und immer kälter und härter wurde, bis es einem völligen Vakuum der Konzentration wich. Er sah, fühlte und hörte nichts mehr- er nahm nur noch das wahr, was nun auf ihn zukam.

Auf diese Weise bemerkte er auch die ganzen Blicke in seinem Nacken nicht mehr; denn nicht wenige der zahllosen Gäste wandten sich interessiert nach dem hochgewachsenen, schwarzhaarigen jungen Mann um, und das nicht nur, weil sich die heutige Antrittsfeier ganz um ihn drehte.

Denn wenn er in diesem Zustand der absoluten Anspannung schwebte, schien er jedesmal einen seltsamen Effekt auf die Leute um sich herum zu haben; viele wussten allerdings nicht wirklich, was sie von diesem Mann denken sollten, dessen harten, offenbar über viele Stunden hinweg trainierten Körperbau man trotz dem schlichten schwarzen Sakko und der schwarzen Satinhose sehr gut erahnen konnte. Von seinen markanten, männlichen Gesichtszügen ging etwas aus, von dem die meisten nicht sagen konnten, was genau es war. Auf eine eigenartige, unterschwellige Weise wurde einem bewusst, dass in den Augen dieses Mannes eine Bestie lauerte; ja, so war es, er konnte nichts anderes sein als ein Ausbund an tödlichem Gift, ein unbezähmbares Biest, dem man schwere Ketten anlegen musste, um es zu bändigen; und doch umgab er sich mit einer Art kühlen, gelassenen Distanz, die die Gewalt, das Toxische seiner Präsenz in eine gewisse Ferne rückte- und genau dadurch aufforderte, sich ihm zu nähern, und sich bereitwillig von ihm vergiften und verschlingen zu lassen. Der Jäger und das Opfer.

Es war unheimlich, welche Wirkung dieser auf den ersten Blick so unscheinbare Mann auf sie alle hatte.

O'Connor bemerkte es ebenfalls und fühlte sich reichlich unwohl dabei; daher war er mehr als erleichtert, als er endlich den Mann im Menschengewühl erblickte, nach dem er schon die ganze Zeit über Ausschau gehalten hatte.

Dieser schien sie just auch wahrzunehmen.

"Aaah! Endlich! Hier drüben, Joshua, alter Junge!"

"Mr.Pantoliano! Komm, Kurogane!"

Die flammenden, zinnoberroten Augen verengten sich und fixierten mit starrer Aufmerksamkeit den Mann, der soeben mit einem salbungsvollen Lächeln auf sie beide zustolziert kam. Er war um einiges kleiner als er selbst, jedoch von aufrechter, selbstbewusster Haltung und stolzem Gang. Er schien die Vierzig bereits überschritten zu haben und besaß glattes, sorgfältig gescheiteltes graues Haar, als Dreingabe ein kleines, eisgraues Kinnbärtchen und aufs Sorgfältigste coiffierte Augenbrauen. An seinen Handgelenken und Fingern hing genug Schmuck, um das State Empire Building zu vergolden. Er trug eine hübsche Portion Studiobräune auf seinen leicht patriotisch wirkenden Zügen.

Um seine Mundwinkel kräuselten sich kleine Grübchen, als er sein Lächeln noch um einige Grade verbreiterte.

Kurogane erwiderte das Lächeln nicht.

"Kurogane. Mein lieber Freund! Wie bin ich froh, dass Sie endlich zu uns stoßen!"

"Die Freude ist ganz meinerseits."

"Wunderbar, ganz wunderbar! Ich hoffe, Ihnen gefällt die kleine Party, die ich für Sie arrangiert habe?"

Zwing mich nicht zu lügen, Alter.

"Ich habe Kurogane bereits einigen Leuten aus unserer engsten Crew vorgestellt!", ergänzte O'Connor rasch unter Hinzusetzung eines unterwürfigen Lächelns, mit dem vergeblichen Vorhaben, die Stimmung etwas aufzuhellen, "Stefanie, Bob, Pameroy, Hugh..."

Pantoliano lächelte O'Connor an, wie man einen kleinen Jungen anlächelte, der es endlich geschafft hatte, sich die Schuhe allein zuzubinden. Dat hattu aba guuut gemacht...

"Ach ja? Vortrefflich, Joshua, ein guter Gedanke, mein Placet haben Sie da stets! Schätzen Sie sich glücklich, Kurogane, nicht vielen ergeht es am Anfang gleich so gut, was die segensreichen Bekanntschaften anbelangt; doch denke ich ebenfalls, dass man bei der Position des führenden Einsatzleisters schon mal ein Auge zudrücken kann, nicht?"

"Dieses Umstandes bin ich mir durchaus bewusst, Mr.Pantoliano. Die Ausnahme bestätigt die Regel."

Ein gönnerhaftes Zucken huschte über Pantolianos Gesicht. "Soso, Ausnahme, hmm? Nicht schlecht, Kurogane, nicht schlecht- ich muss sagen, Sie sind ein ganz schön helles Köpfchen."

"Danke."

O'Connor, allmählich immer nervöser, blickte unschlüssig von einem Gesicht zum anderen.

Er wusste beim besten Willen nicht, ob das magmarote oder das kleegrüne Augenpaar in diesem Moment nachdrücklicher starrte.

"Nun, Sie können sich sicher vorstellen, warum ich noch einmal mit Ihnen sprechen wollte", fuhr Pantoliano schließlich fort, "Wir beiden Hübschen haben das Vergnügen zwar schon mehrmals gehabt, aber ich bezweifle, dass das bei unserem obersten Dezernatsrat bereits der Fall war! Alles erstklassige Leute, glauben Sie mir; und vor allem, freuen Sie sich! Denn Sie werden heute noch einige begnadete Menschen kennernlernen, darunter auch Ihre zukünftigen Kollegen und Untergebenen im Gefecht."

"Wie schön."

Stille. Ein seltsames Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Ratspräsidenten aus.

"Aaah... vorzüglich. Ich glaube, das ist der Anfang einer wunderbaren Zusammenarbeit, Kurogane. Was meinen Sie?"

"Dito."

Ein Händeschütteln. O'Connor fürchtete für einen Moment, sein neuer Untergebener könnte seinem Chef plötzlich die Finger brechen und sie anschließend auffressen. Giuseppe Girolamo Pantoliano jedoch lächelte wie ein Märchenonkel.

"Fein, fein... darf ich Sie dann darum bitten, einen Moment lang hier zu warten? Joshua und ich schicken schnell nach den Ratsvorsitzenden. Es dauert keine Minute. Seien Sie so frei, setzen Sie sich, trinken Sie! Alles ist für Sie arrangiert worden."

"Danke, Sir."

Der Ratspräsident und der Ministerialrat entfernten sich in zügigen Schritten von dem schwarzhaarigen Ungetüm, während dieses starr wie eine Salzsäule an der Stelle verharrte, an der sie die ganze Zeit über gestanden war.

Neugierig warf O'Connor einen Blick über die Schulter, bevor er seinen Chef fragend musterte.

"Und, Sir?"

"Was, und?", fragte der Italiener affektiert zurück, "Du meine Güte, der Junge kommt wohl geradewegs aus der Hölle. Na, das war vielleicht ein nettes kleines Déjà Vu."

Der blonde junge Mann schluckte. "Sie glauben also, er ist-- ...?"

Pantoliano schnaubte geringschätzig. "Du meine Güte, Joshua, haben Sie denn kein Langzeitgedächtnis? Haben Sie nicht gesehen, wie der mich angestarrt hat die ganze Zeit? Haben Sie Ihn nicht gehört? Das hätte sogar der letzte Trottel bemerkt! Er ist es. Rundheraus."

"Aber--... aber Sie werden ihm doch nicht--..."

Der Italiener in den Vierzigern lächelte. Es war ein völlig anderes Lächeln als das, das er bei seinem neuen Angestellten verwendet hatte. "Und wie ich das tun werde, Joshua. Wäre das nicht eine gelungene Ironie des Schicksals und dazu noch ein amüsanter kleiner Spaß für uns alle? Der Grund, warum er hier ist, wird zu seinem Lebensinhalt- das hätte etwas verdammt poetisches, finden Sie nicht auch?Ich liebe sie, diese simple, hirnlos brutale Poesie des Lebens... Wie lange, denken Sie, wird er brauchen? Wann kommt er auf den Trichter?"

"Äh, nun-... ich-... ein Monat vielleicht-..."

"Aaah, Joshua, Mathe ist wohl nicht Ihre Stärke! Wie wäre es mit einer kleinen Wette? Ich wette: er wird mindestens drei Jahre brauchen, dann kommt er endgültig auf den Trichter. Dann wird er gebrochen, und das sogar zum zweiten Mal, der arme kleine Haudegen mit dem pechschwarzen Haar... Sie verstehen?"

Der Ministerialrat schluckte.

"Selbstverständlich, Mr.Pantoliano."

"Wunderbar", meinte der Ratspräsident kreuzfidel, "Also: drei Jahre gegen einen Monat. Wir wetten um die übliche Summe, und um keinen Penny weniger. Das wird lustig."

Da O'Connor gern weiterhin in der Gunst des Italieners bleiben wollte, nickte er so beflissen als möglich.

"Gewiss, Mr.Pantoliano."

Pantoliano seufzte genießerisch. Es macht ja solchen Spaß, böse und gemein zu sein.

"Jaja, Sie mich auch. Und jetzt lassen Sie uns diese Heinis vom Rat holen. Ich will diese verdammte Feier endlich hinter mich bringen."

C'est Les Meilleurs Temps

-"Das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens wächst in den Seelen im gleichen Maße, als in ihnen die Vorstellung vom Wesen der Liebe entstellt worden ist."-

(Waldemar Bonsels)
 

~~
 

Tick. Tack. Tick. Tack.

Die große graue Uhr im Konferenzsaal tickte laut. Dabei ließ sie sich reichlich Zeit, so wie das Uhren nun einmal taten.

Gerade rückte der Minutenzeiger ein wenig weiter vor. Es war genau achtundzwanzig Minuten nach fünf.

Draußen wurde es bereits wieder dunkel. Im dichten, weißen Flockengestöber, das den nachtschwarzen Himmel und die Welt darunter erfüllte, wirkte sogar das graue, kahle Industriegebiet beinahe wie eine Malerei. Eine Momentaufnahme der Stille.

Im Inneren des Konferenzsaals ging es jedoch weitaus weniger friedlich zu.

"VERDAMMT NOCHMAL!!"

"Meine Güte, Joshua! Jetzt beruhigen Sie sich doch!"

"Wie soll ich mich da beruhigen?!"

Aufgebracht wie selten tigerte O'Connor unter den missbilligenden Blicken seines italienischstämmigen Vorgesetzten vor dem blankgewienerten Tischrondell in der Mitte des Saals schimpfend auf und ab, eine Seltenheit für seine Person.

Doch selbst Giuseppe Pantoliano, der wie üblich in dem gepolsterten, lakritzgrünen Bürosessel am Kopf des Rondells saß, wirkte nicht mehr wie ein fetter Kater, der gerade einen Käfig voller Kanarienvögel verschlungen hatte und nun zufrieden in seinem Körbchen schnurrte; ein leichter, zuckender Schatten hing zwischen seinen säuberlich gestutzten Augenbrauen.

"Wie wäre es, mein Guter, wenn Sie jetzt endlich mal die Liebenswürdigkeit besäßen, mir reinen Wein einzuschenken?", erkundigte er sich soeben pikiert und untersuchte nebenher seine manikürten Fingernägel auf eventuelle Mäkel, übrigens ein Prozess, den er alle zwei Minuten wiederholte.

"Sie hatten jetzt exakt eine Viertelstunde, um sich nach allen Regeln der Kunst auszukotzen, also kommen Sie gefälligst wieder auf den Teppich. Gut, bei uns ist eingebrochen worden, und das geradezu ekelhaft sauber, wir müssen die Medien und die Polizei raushalten, von mir aus- aber finden Sie nicht, dass Sie ein wenig übertrieben reagieren? Es läuft planmäßig! Ich hab alles im Griff!"

Der dunkelblonde Ministerialrat stöhnte nur und ließ sich wie ein Sack Zement auf den nächstbesten Stuhl fallen.

"So? Alles im Griff? Ich kenn da etwas, das Sie ganz und gar nicht im Griff haben!"

Pantoliano verdrehte die Augen. "Ach herrjemine. Lassen Sie mich raten- es gab schon wieder Diskrepanzen mit Kurogane, richtig?"

"Diskrepanz?!!", stieß O'Connor heftig hervor, "Diskrepanz ist gut! Er hat sich aufgeführt wie ein zweiter Godzilla! Ich schwöre Ihnen, noch nie bin ich so in meiner Menschenwürde erniedrigt worden wie heute, und ich bin nicht der einzige, dem es so ging!

Ich wurde zur Sau gemacht! In aller Öffentlichkeit! Mir ist, als wäre ich dreimal durch eine Kloake gezogen worden!"

Während sich sein Angestellter ganz dem neuralen Kollaps hingab, warf der Ratspräsident einen gelangweilten Blick auf seine Rolex.

Er war um sechs Uhr noch mit einem vielversprechenden Geschäftspartner zum Indoor-Golf verabredet und wollte sich nicht verspäten. Für Investitionen hatte man pünktlich zu sein.

"Aha. Und das ist schon der ganze Grund, weshalb Sie hier so einen Affentanz veranstalten?"

"Nein,das ist noch längst nicht der ganze!", gab O'Connor erregt zurück, "Das Beste kommt noch! Kurogane hat sich gewaltsam Zutritt zum ersten Planquadrat der Kerkerareale verschafft! Den Hauptschlüssel hatte er zwar von mir, aber nicht die zu den Aktenspeichern! Er hat fast sämtliche Türen zu den Archiven der letzten Jahre ohne Erlaubnis aufgebrochen! Wahrscheinlich hätte er das auch in den anderen Arealen gemacht, wenn ich nicht fünf Leute vom Wachpersonal runtergeschickt hätte! Und, bei Gott-- das war die wüsteste Schlägerei, die ich je gesehen habe! Diese armen Schweine waren nachher reif für die Intensivstation!"

Pantoliano merkte auf und hob seinen Blick von der Rolex. Nach fast zwanzig Jahren Ratspräsidentsschaft konnte er zwar durchaus von sich behaupten, dass ihn nichts so schnell aus dem Konzept brachte, doch jetzt schlugen alle seine inneren Sirenen Alarm.

"Wie bitte? Er hat die Archive aufgebrochen?"

"Ja! Genau das ist es ja!", stieß O'Connor hervor, "Er hat alles umgegraben, um nach Hinweisen auf den Einbrecher zu suchen! Von A bis Z, von Sodom bis Ghomorra! Und das war heute sicher erst der Anfang! Wenn er in diesem Maße weitermacht und alle Archive ohne Erlaubnis durchpflügt, dann-... dann findet er zum Schluss noch raus, dass-... dass wir seine--"

O'Connors Stimme versagte ihm den Dienst. Sein Herz flatterte angstverkrampft in seiner Brust.

"Ich will nicht von diesem, diesem-- Vieh umgebracht werden", stieß er schwach hervor.

"Vieh? Er ist das intelligenteste Vieh, das ich je gesehen habe. Beachtenswerte Vorgehensweise", bemerkte der Ratspräsident lediglich und legte bedächtig seine Fingerspitzen aneinander. Er bewunderte sich immer wieder selbst dafür, wie schnell er sich von Schocks aller Art erholen konnte. Wahrscheinlich italienisches Erbgut.

"Wie bitte? Haben Sie ihn schon einmal beim Töten beobachtet? Ich glaube nicht!", war die matte Antwort, "Das ist kein Mensch! Das ist eine Bestie, die in einen Menschenkörper eingesperrt wurde! Er wartet doch nur noch darauf, dass er an handfeste Beweise kommt und uns problemlos ans Messer liefern oder gleich selbst abschlachten kann! Und wir hatten ihn schon fast soweit, dass er alles vergisst! Weich wie Butter war er, völlig willenlos und starr, und sein ganzes verfaultes Inneres hätte so schön wegschlafen und wegsterben können! Aber dann-..."

"Oh, ich weiß, was Sie meinen", meinte Pantoliano mit einem Achselzucken, "Ich hab es ja selbst gesehen. Da ist wohl irgendetwas in sein Leben getreten, das ihn-... wie soll ich sagen? Das ihn wieder wachgeschüttelt hat. Und jetzt ist sein alter Zorn wieder gewaltig am Brodeln. Er bekam sozusagen einen mentalen Klaps mit dem Elektrostock", schloss er ironisch.

O'Connor jedoch schien keinen wirklichen Gefallen am Scherz seines Vorgesetzten zu finden. "Mr.Pantoliano! Verstehen Sie denn nicht, was diese ganze Geschichte an Auswirkungen mit sich bringen könnte?!", rief er, mittlerweile schon am Rande der Verzweiflung. Wieso musste sein Chef immer Gott spielen?

"Joshua, Joshua, Joshua ", seufzte der Italiener mit einem bemutternden Lächeln und stützte sein säuberlich rasiertes Kinn auf den linken Handteller, "Ich verstehe beim besten Willen nicht, warum Sie sich so aufregen! Lassen Sie mich doch erstmal rasch zusammenfassen. Also, wenn mich der Schein nicht trügt, ist unser lieber Kurogane zu unserem Sorgenkind Nummer eins avanciert. Das Biest in ihm ist aus tiefstem Winterschlaf aufgewacht und schlägt jetzt seine Krallen immer tiefer in unser Fleisch. Er handelt fast ausschließlich auf eigene Faust, und wenn man ihm Anweisungen erteilen will, läuft man Gefahr, mit dem Kopf unter dem Arm nach Hause torkeln zu müssen. Und zudem wird er uns bald endgültig in der Hand haben, wenn er noch weiter zwecks Informationsbeschaffung in die Archive vordringt. Soviel zu den schlechten Nachrichten. Aber Joshua, mein Lieber! Wir sind an der Spitze der Nationalregierung! Wieso suhlen wir uns hier im Selbstmitleid, wenn wir unseren kleinen Quälgeist doch auch ganz einfach vom Spielplatz schicken können?"

"Es wäre in der Tat das Vernünftigste, Mr.Pantoliano", sagte O'Connor mit deutlicher Erleichterung, "Jedenfalls hätten Sie hier meine vollste Zustimmung. Wir suspendieren ihn einfach wegen unverantwortlichen Verhaltens und tätlicher Beleidigung--..."

Der Ratspräsident hob nur in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen.

"Suspendierung?", fragte er amüsiert, "Mein lieber Joshua, Sie haben mich wohl nicht ganz verstanden. Ich will Kurogane nicht suspendieren, ich will ihn tot sehen."

Stille.

Genüsslich beobachtete Pantoliano, wie O'Connors Gesicht nach und nach die Farbe einer toten Elritze annahm.

"Ja-... ja, aber-- Mr.Pantoliano-..."

"Oh, ich verstehe Ihre Zweifel. Was ist denn bloß mit Pantoliano los, wird er auf seine alten Tage etwa zum Sadisten? Nun, Joshua, ich nenne es nicht Sadismus, ich nenne es schlichte Logik. Kurogane ist von hervorragender Arbeitskapazität und ein sehr dynamischer Mann, aber für meinen Geschmack übertreibt er's mittlerweile ziemlich. Er ist mir sozusagen lästig geworden. Extrem lästig. Ich kann diese egoistische, starrköpfige Existenz nicht mehr riechen. Bei seinem Anblick wird mir schlecht. Wäre es da nicht die galanteste Lösung, ihn abmurksen zu lassen, diesen Höhlenmann, bevor er uns an die Kehle springt?"

Es dauerte seine Zeit, bis O'Connor seine Spucke hinuntergewürgt hatte.

Das war Giuseppe Pantoliano, wie er leibte und lebte. Manchmal fragte er sich, ob sein Chef an der Stelle, wo bei anderen das Gewissen saß, möglicherweise nur ein Schild hatte, auf dem Außer Betrieb stand.

Nach zwei endlosen Minuten konnte er sich endlich zu einem Nicken zwingen.

Vermutlich das Nicken, das Kuroganes Schicksal endgültig besiegelte. Kinn hoch, Kinn runter für den Tod. Den Tod.

Mittlerweile wieder mehr an einen satten, zufriedenen Kater erinnernd lehnte sich Pantoliano in seinem Sessel zurück.

"Dann hier mein Vorschlag: in einer Viertelstunde habe ich einige Partien Indoor-Golf zu spielen und Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Und wenn das getan ist, gebe ich die notwendigen Anordnungen, um alles in die Wege zu leiten. Allerdings werde ich mir das kleine Vergnügen gönnen, Kurogane nicht einfach nur töten zu lassen, immerhin hat er noch Arbeit für uns zu erledigen, und er hat mich weiß Gott genügend Nerven gekostet. Am besten sollte ganz er qualvoll und elend krepieren, so wie er bereits innerlich krepiert ist, über Wochen und Monate hinweg. Erst soll sein Name sterben, dann seine Würde, und zum Schluss er selbst. Die perfekte Kettenreaktion! Geradezu originell!"

O'Connor versuchte vergeblich, den beklommenen Kloß in seinem Hals wegzuschlucken.

"Sie meinen also, wir sollten ihn runter in die-...?"

"Aber nein, Joshua! Schon wieder runter? Himmel, wäre das unkreativ, wir können doch nicht immer dasselbe machen! Neinnein, diesmal überlegen wir uns was Neues. Keine Sorge, mir wird schon was einfallen. Ach, wird das ein Spaß! Wir werden die große Ehre haben, Kurogane zum dritten und letzten Mal zu brechen!"

Der Ministerialrat fixierte seinen Chef mit einem starren Blick, bevor er sich zu einem Nicken zwingen konnte.

Der Italiener saß völlig entspannt und kregel in seinem Sessel und lächelte, als würde er gerade seinen Lieblingsneffen auf den Knien schaukeln und ihm bei Keksen und Kakao eine Geschichte vorlesen.

Wer nützlich ist, der lebt, wer lästig ist, der stirbt. Schöne, geordnete Welt.

Dann warf er einen weiteren Blick auf die Uhr, die mittlerweile dreiviertel sechs anzeigte. "Also schön, dann muss ich mich so langsam auf die Socken machen", erklärte er und erhob sich gemächlich, "Sie wissen gar nicht, in wievielen Läden ich schon nach einem passenden Geschenk für meine Frau gesucht habe. Dabei ist erst in zwei Wochen Heiligabend. Was denken Sie, was mögen Frauen als Weihnachtsgeschenk?"

"Ä-ähm-... ein-... ein Kleid?"

"Ah! Sehen Sie, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Verbindlichsten Dank, Sie sind mein Lebensretter!"

O'Connor nickte brav, und der Italiener wollte sich auch schon auf den Weg begeben, als ihm noch etwas einzufallen schien.

Schwungvoll drehte er sich zu seinem Untergebenen um. "Ach, und- Joshua?"

"Was gibt es, Mr.Pantoliano?"

Der Ratspräsident lächelte wohlwollend.

"Kein Wort davon zu Kurogane. Sein Tod wird unsere Weihnachtsüberraschung für ihn. Und Überraschungen haben zu gelingen, finden Sie nicht auch?"
 

Punkt sechs Uhr am Abend.

Es schneite immer noch in winzigen, pudrigen Flöckchen. Die steinernen Engel, die sich in ätherischer Geste vom Stuck der imposanten Sankt Amadeus-Kirche von Kingstonville gen Himmel reckten, hatten allesamt hohe weiße Hauben auf.

Die mächtigen, bronzeisernen Glocken im Turm hoben soeben zum Sechs Uhr- Geläute an.

Die beiden Gestalten, die im winterlichen Dunkel auf einer verschneiten Bank im Park vor der Kirche saßen, lauschten andächtig den schwingenden Intervallen dieses mächtigen, erhaben nachhallenden Klangs.

Ein leises Schniefen unterbrach die Stille.

"Willst du 'n Taschentuch, Sakura?"

Das zierlich gebaute Mädchen mit dem kurzen, fuchsrötlichen Haar schüttelte den Kopf und lächelte ein bisschen.

"Geht schon, Shaolan. Ich-... mir ist nur kalt."

"Warte, ich geb dir meinen Schal."

Kurzerhand band sich der schlaksige Brünette den gelb-weiß gemusterten Schal ab, den Fye ihm vor einigen Wochen gestrickt hatte, und legte ihn seiner bibbernden Freundin um die Schultern. Diese schaute jedoch nur bedrückt auf den Boden.

"Hey- Sakura! Was hast du?"

"Ach, du Iddi", sagte das Mädchen verbittert und gab ihrem Freund einen kleinen Knuff gegen die Schulter, bevor sie sich wieder an ihn lehnte, "Sei nicht so verdammt lieb zu mir! Du machst es mir immer so schwer!"

"Warum denn, Mann? Du hast dich doch schon vorhin für alles entschuldigt!"

"Ja, aber-- ach, Mist! Das reicht mir eben nicht, bei allem, was ich getan hab! Ich bin einfach abgehauen, ich hab dich beschimpft, ich hab dich behandelt wie den letzten Dreck, ich hab mich aufgeführt wie eine hysterische--..."

"Hey! Komm runter!", versuchte Shaolan seine aufgeregte Freundin zu beruhigen, "So schlimm war's nun auch wieder nicht! Ich bin ja nicht dran gestorben, oder? War halt nur ziemlich schwierig, dich wieder zu finden, ich hätt nicht gedacht, dass du hier so im Dunkeln vor der Kirche rumhockst--"

"Hallo? Ich hab dich Bananenfresse und Knastersack genannt! Einfach so!"

Der jugendliche Brünette grinste ein bisschen. Wie süß. Sie denkt echt, dass sie mich damit gekränkt hat.

"Wenn du hören könntest, was Desmond manchmal zu mir sagt..."

"Schön, dann lassen wir das mit der Bananenfresse eben außen vor! Der Punkt ist, dass ich dich ungerecht behandelt hab! Ich hab einfach alles vergessen, alles, und das nur, weil-... weil mein Vater ..."

"Hat er dich etwa schon wieder geschlagen?", fragte Shaolan entgeistert.

Das Schweigen seiner Freundin war schon Antwort genug. Mit einem bitteren Seufzen legte er ihr einen Arm um die Schulter.

"Ich wünschte, ich könnte diesen Bastard mitsamt Desmond in den Knast bringen."

"Meinen Segen hättest du", war die halblaute Antwort, "Warum schlägt er mich eigentlich noch, wenn's ihm doch gar nichts bringt? Mama kommt dadurch nicht wieder. Vielleicht fehlt ihm einfach das Hirn dafür. Hat sich Fye-San große Sorgen gemacht?"

"Wie man's nimmt", meinte Shaolan, "Sagt oft, dass er dich vermisst. Scheint ihm sonst aber ganz gut zu gehen. Seit 'n paar Tagen erzählt er ständig von so 'nem komischen Typen, den er vor 'ner knappen Woche getroffen hat. Er heißt Ku-... Kuro... Kuro. Irgendwas mit Kuro. Fye-San redet über fast nix anderes mehr. Scheint sein neues Hobby zu sein."

"Und was macht seine Übermüdung?"

"Missis Robinson hat mir erzählt, dass er gestern Nacht wieder so 'nen Anfall hatte. Draußen in der Stadt. Wieder an der alten Stelle, bei diesem Herrenhaus. Er selber hat nichts gesagt, wie immer. Dachte sicher, dass ich eh schon genug Plack am Hals hab."

Shaolan schluckte. Wenn Fye-San so gemutmaßt hatte, lag er damit gar nicht so daneben.

An die bevorstehenden Schulabschlussprüfungen, an die Chemie-Arbeit am nächsten Montag und an die Tatsache, dass ihn sein Vormund Desmond Blackaway heute mittag um ein Haar beim Rückweg von der Schule erwischt hätte, mochte er jetzt gar nicht denken. Ich hasse diesen Bastard. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn.

Er lächelte Sakura ein wenig kläglich an, als sie sich enger an ihn kuschelte.

"Ich denke, damit hat Fye-San wohl auch Recht, was?", fragte sie leise und sah ihn mit einem ruhigen Blick an.

"Jepp", seufzte Shaolan nur. Manchmal bekam er den Eindruck, dass seine Freundin ihm geradewegs ins Hirn schauen konnte.

Hartnäckig schüttelte er all diese düsteren Gedanken von sich ab. Nicht dran denken. Einfach nicht dran denken.

"Also, was ist? Wollen wir wieder heimgehen? Vielleicht ist Fye-San ja auch gerade zuhause."

"Zuhause", wiederholte Sakura leise und blickte gedankenverloren zum warm beleuchteten Kirchturm hoch.

"Als ich bei euch eingezogen bin, hat Fye-San gesagt 'Man ist immer dort zuhause, wo man gerade ist.'. Ich find, er hat Recht. Aber bei euch beiden bin ich am liebsten zuhause, glaub ich."

"Sag doch nicht immer 'euch', sag 'wir', Mann! Du gehörst doch dazu! Ich glaub, Fye-San hätte nie mehr bunte Klamotten angezogen, wenn du nicht mehr zurückgekommen wärst. Nichtmal zu Weihnachten. Ich auch nicht", setzte er hinzu.

Sakura kicherte ein bisschen und kniff ihren Freund in die Nase.

"Na, da bin ich aber erleichtert."

Ein Schweigen verging.

"Shaolan?"

"Ja?"

"Ich hab dich lieb."

Ihre Stimme schwankte. Shaolan rieb die Schulter seiner Freundin. "Hey...", sagte er leise, "Ich hab dich doch auch lieb. So lieb, dass ich's kaum aushalte. Woran denkst du?"

"An unser erstes Date", sagte Sakura und lächelte ihn aus tränenverschleierten Augen an, "Weißt du noch? Ich erinner mich heut noch daran, was du für ein Gesicht gemacht hast, als ich dich gefragt hab, ob du Lust hättest. Heut noch."

"Echt? Und, was hab ich für ein Gesicht gemacht?", fragte der Teenager mit einem Lächeln.

"Du warst ganz rot. Ich aber wohl auch. Ich weiß, ich kling jetzt wie eine Oma, aber-... aber... das war die erste Entscheidung in meinem Leben, glaub ich. Mit dir auszugehen. Dad hat mich grün und blau geprügelt, als er's rausgefunden hat, aber ich hatte mich entschieden. Es tut mir leid Shaolan, dass ich so unfair zu dir war. Ehrlich."

"Ich war doch auch unfair, Mann. Ich hatte schon die ganze Woche über die Hosen voll."

"Ich auch. Aber-... aber ich hab nur so Angst, dass wir uns wieder streiten."

Shaolan lächelte das Mädchen, das schon seit fast fünf Jahren das Zentrum seines Lebens war, warm an.

"Wenn wir immer nur glücklich wären, wär das doch total öde! Streiten gehört einfach zum Leben dazu! Aber weißt du was? Jeder gute Streit und jede gute Versöhnung braucht auch ein gutes Schlusswort."

"Okay, Mister Regisseur. Dann mal raus damit."

"Sag ganz einfach: 'Ich hab dich lieb, Shaolan. Von diesem Bastard, der sich mein Vater schimpft, lässt sich eine Sakura nicht unterkriegen. Wir schaffen das schon.' "

"Ich hab dich lieb, Shaolan. Von diesem Bastard, der sich mein Vater schimpft, lässt sich eine Sakura nicht unterkriegen. Wir schaffen das schon", antwortete das fuchsfarben beschopfte Mädchen mit einem Lächeln.

"Na also. Du bist 'ne Kämpferin, okay? Du bist immer eine gewesen! Wir sind Bonnie und Clyde! Gegen dich ist dein Vater doch die, die-... die größte fette Null, die man je aufs Blatt geklatscht hat, kapiert?"

Sakura lächelte. Shaolan...

"Kapiert."

Als Shaolan Sakuras Hände nahm, lächelte er zurück, und diesmal meinte er es auch so.

"Okay. Komm, lass uns heimgehen. Fye-San freut sich sicher."

Das Mädchen grinste ein wenig. "So sehr, wie wenn er von seinem neuen Freund erzählt?"

"Hoffen wir's. Vielleicht braucht er das ja einfach."

Sakura nickte nachdenklich. "Stimmt. Vielleicht braucht er es", meinte sie gedankenverloren und griff nach Shaolans Hand, bevor sie von der Parkbank aufstand.

Im Kirchturm verhallte das Läuten der mächtigen Glocken nach und nach, und ließ noch einen einzigen nachschwebenden, langsam verklingenden Ton in der verschneiten winterlichen Dunkelheit zurück.

"Gehn wir heim, Clyde."

"Okay, Bonnie."
 

Madeleine Delnatte.

Fünfundfünfzig Jahre alt. Im Besitz einer karmesinroten Perücke, die vermutlich aus Wischmopfransen bestand.

Spenderin einer leider etwas zu groß geratenen Diabetikerniere.

Im Betriebsrat des Konzerns "Ovid Kunsthandel", der einigen Ratsvorsitzenden des Dezernats, die ebenfalls im Kunstunternehmen arbeiteten, leider Gotts ein Dorn im Auge gewesen war, was sichere Investitionen anbelangte.

Hm. Hm. Hm. Sonst noch was?

Ach ja, seit zirka einer Dreiviertelstunde war sie tot. Ziemlich tot sogar. Toter ging's sozusagen nicht mehr.

Nur zu blöd, dass ihr Mann heute früher als sonst von der Arbeit nach Hause gekommen war. Und weil just jener Mann beim Anblick seiner lieben toten Frau Gemahlin in ein Gekreisch ausgebrochen war, das man wohl nur noch mit einem Frettchen im Küchenmixer vergleichen konnte, hatte er eben etwas unternehmen müssen, um ihm endlich das Maul zu stopfen.

Naja, vielleicht bekamen sie ja ein gemeinsames Grab auf irgendeinem schicken Friedhof. Ihn brauchte es nicht mehr zu kümmern. Was er jetzt brauchte, waren ein ordentlicher Drink, ein Ballerfilm und mindestens zwanzig Stunden Schlaf. Also dann.

Gedankenverloren schlenderte Kurogane die Straße entlang, die zu seinem Haus führte.

Es schneite mal wieder, und es war bereits stockdunkel. Kein Wunder, immerhin war es schon nach sechs Uhr.

Dieses Scheißwetter zu ertragen war aber immerhin besser, als immer noch im Dezernat vor sich hinzugammeln. Wahrscheinlich würde er sogar 'ne Million zahlen, damit er so schnell nicht wieder dorthin zurückmusste. Die Arbeit, der ganze Stress, und vor allem die Umgebung hatten ihn mehr mitgenommen, als er es sich eingestehen wollte; außerdem schien O'Connor ziemlich sauer gewesen zu sein, dass er mal wieder das Hackhuhn für seine sämtlichen aufgestauten Agressionen hatte spielen müssen.

Hoffentlich würde das keine Nachwehen haben. Wobei, wahrscheinlich würde sich dieser Depp nur ein wenig bei Giuseppe Froschschenkelfresser Pantoliano ausheulen und es dabei bewenden lassen, wie immer.

Hauptsache, er würde für den Rest des Abends seine Ruhe haben- die Aussichten waren jedenfalls gut. Offenbar waren Schnee, Dunkelheit und klirrender Wind das einzige Zaubermittel gegen die Tratschclans sämtlicher domestizierter Hausglucken aus seiner Nachbarschaft. Diese ungewohnte Stille hatte fast schon etwas Heiliges.

Dennoch hielt der Killer es für angebracht, eine Gangart einzuschlagen, bei der nicht einmal eine Hausglucke auf die Idee kommen konnte, dass er ein blutbesudeltes Katana unter seinem Mantel spazierenführte. Manchmal konnte die Länge seines Schwerts auch durchaus etwas sein, das man 'unpraktisch' zu nennen pflegte.

Als der Schwarzhaarige jedoch das Gartentörchen seines Grundstücks öffnete und es hinter sich wieder zuschlug, passierte das allabendliche kleine- und einzige- Wunder in seinem Leben: er sperrte alle Gedanken, die gesamte Welt, mit einem Schlag aus.

Die gesamte böse, hässliche Welt, wie sie langsam in ihrer eigenen Scheiße erstickte.

Spuckend und fluchend blieb sie am Gartenzaun hängen und gaffte ihm fauchend hinterher, wie er erleichtert in seine gedanklichen Gefilde entschwebte. Hier war er sicher. Vor allem. Vor jedem.

Jetzt gab es nur ihn, sein Katana, und Stille. Auf diese Weise so gut wie blind für seine Umwelt stapfte Kurogane den schneebedeckten, in der Dunkelheit gespenstisch glänzenden Weg durch seinen Garten entlang. In Gedanken war er längst entschwunden, verschollen in sich selbst.

So bemerkte er auch die helle, schlanke Gestalt nicht, die in etwa zehn Metern Entfernung wie angeklebt vor seiner Haustür stand, ohne sich zu rühren. Sie drehte sich mit einem Ruck zu ihm um, als sie seine im Schnee knirschenden Stiefel hinter sich hörte.

"Kuuurooogaaaneee!!"

Der Killer zuckte zusammen und starrte perplex Richtung Hauseingang, während er innerlich schmerzhaft aus allen Wolken fiel.

Sein erster Gedanke war, dass Satan bei ihm auf der Fußmatte stand, um Rechenschaft für diese peinliche Geschichte mit dem geklauten Napfkuchen vor zwei Wochen zu fordern. Vielleicht auch wegen den ganzen Morden. Keine Ahnung.

Aber etwas stimmte bei der Sache eindeutig nicht.

Seit wann ist Satan denn blo--... OH NEIN.

Sofort stand die Zeit still. Wenn man ein Soldatenhirn besaß wie seins, ignorierte man im Fall eines Gefechts automatisch alles an unwichtigen Details und konzentrierte sich ausschließlich auf die wesentlichsten Dinge, mit denen man konfrontiert wurde.

Und in diesem Fall waren das drei. Erstens: es war nicht Satan, der da vor seiner Tür gestanden war, sondern schon wieder dieser verdammte blonde Konditorlehrling. Zweitens: er hatte eine riesige, bis obenhin mit Zeug vollgestopfte Papptüte auf dem Arm.

Und drittens: er kam in voller Geschwindigkeit auf ihn zugeschlittert wie eine Bombe auf Schlittschuhen. Dabei jubilierte er, als hätte sich der Messias nach über zweitausend Jahren endlich dazu überreden können, mal auf der Erde vorbeizuschauen.

"Hallooo, Kuuroogaaneee!"

Kaum, dass der Killer diese drei Dinge realisiert hatte, schaltete das wenige an Energie, das nach seinem Arbeitstag noch in seinen Knochen hängengeblieben war, sofort auf Defensivstrategie um.

"Bleiben Sie stehen!! HALT!! Keinen Schritt weiter!! STEHENBLEIBEN!!"

"Ich denke gar nicht dran! Hihihi! Ich bin der große böse Wolf! Grrroahr, ich springe Sie an!"

"UNTERSTEHEN SIE SICH!!"

"Grrruwaaah, der blonde Wolf und das Schwarzkäppchen! Es- gibt- kein- Entkommeeen!!"

"Wenn Sie es noch EINMAL wagen, mich so zu--"

Doch leider war es bereits zu spät. Mit einem Satz kam sein ungebetener Gast vor ihm zum Stehen und stieß ihm mit triumphierender Miene einen Zeigefinger vor die Brust. "So, Sie so überaus schwarzes Schwarzkäppchen! Jetzt hab ich Sie!"

Die einzige Antwort war ein angenervtes Seufzen. Was für 'ne Todsünde hab ich bloß begangen?

Kurogane ließ seine Arme in einer müden Grazie herabhängen, die ein wenig an Botticelli erinnerte und stellte mit einigem Unbehagen fest, dass der sehnlichst erwartete Brüllkrampf ausblieb, den er zweifellos spätestens an dieser Stelle erlitten hätte.

Aber offenbar war seine Wut nach diesem knochenbrechenden Arbeitstag einfach in einem Meer der Frustration abgesoffen und würde sich nun für die nächsten Stunden nicht mehr einfach so herbeizaubern lassen.

"Sie?", fragte er deswegen nur lahm und starrte den mit Schnee bepuderten Eindringling unter gehobenen Augenbrauen an.

"Jepp!", erwiderte der Blondling fröhlich und schlug neckisch die Hacken zusammen, "Ich persönlich! Nicht zuviel Beifall, bitte!"

"Keine Sorge, von mir kriegen Sie keinen. Kommen Sie mich also schon wieder besuchen?"

"Naja, es sieht danach aus, oder? Warum fragen Sie?"

"Weil Sie gestern schon hier waren. Oder ich hab Alzheimer, das kann auch eine Option sein."

"Wenn Sie Alzheimer hätten, dann hätten Sie's doch schon längst wieder vergessen!"

"Das hätte mich nicht wirklich gestört", grollte der Schwarzhaarige vergrätzt und setzte seinen Weg Richtung Haus fort.

Wie erwartet heftete sich sein ungebetener Gast augenblicklich an seine Fersen.

"Sie sind fast noch fieser als Käpt'n Hook", quengelte er, "Haben Sie sich denn gar nicht gefreut?"

"Mmhm", brummte Kurogane nur halblaut und wühlte in den Tiefen seines Mantels nach seinem Hausschlüssel, "Was haben Sie überhaupt schon wieder hier zu suchen? Ich komme gerade von der Arbeit! Ich brauch meine Ruhe!"

Der Blondling senkte den Kopf.

"Naja, wissen Sie, ich hab mir halt Sorgen um Sie gemacht."

"Wozu das denn?"

"So eben. Heut morgen, wissen Sie noch? Als Sie so wie Darth Vader geatmet haben! Da hab ich gedacht, Sie sterben."

"So schnell sterb ich nicht."

"Das sagt jeder! Aber ehe man sich versieht, liegt man auf dem Rücken! Ich hab jedenfalls zwei Stunden geschlafen, und als ich aufgewacht bin, hab ich mich gefragt, wie's Ihnen geht. Und dann bin ich hergekommen!"

"Na, das ist ja rührend. Wer in aller Welt hat Sie bloß zum Schlafen gebracht? Der Totengräber?", fragte der Schwarzhaarige nur zurück und knipste im Hausflur das Licht an, um sich erstmal den ganzen Schnee von den Schuhen zu treten. Der Konditorlehrling schlüpfte behende hinterdrein und schloss die Türe hinter sich, bevor er unter zahllosen Verrenkungen aus seinen Stiefeln stieg und sich aus seinem hellen Mantel herauskämpfte wie eine Ringelnatter aus ihrer Eierschale.

"Das waren Sie. Glaub ich zumindest."

"Oh ja, natürlich", antwortete der Killer geistesabwesend und befreite sein vorsorglich mit schwarzem Stoff umwickeltes Katana aus seinem Mantel. Hoffentlich sah dieser Vollspinner wenigstens das ganze Blut nicht.

"Also schön", ächzte er schließlich, "Und wieder einmal haben Sie es geschafft, sich auf niederträchtige Weise in mein trautes Heim zu schmuggeln. Was wollen Sie heute für Mist bauen? Sagen Sie's mir besser gleich, ich hab heut Nerven wie Katzendärme."

Der Blondling lächelte sein älteres Gegenüber strahlend an.

"Mist bauen? Wieso Mist bauen? Ich möchte nur mit Ihnen reden! Außerdem hab ich Ihnen etwas mitgebracht!"

"Was, schon wieder?"

"Jawoll! Wissen Sie, ich bin ein überzeugter Anhänger der Lebenseinstellung von Lukullus, und-..."

"Lukull-... wer?"

"Lucius Licinius Lukullus. Ein römischer Feldherr! Er hat sehr viel Wert auf Gastronomie und gutes Essen gelegt! Seine Devise war: wenn du was Gutes isst, geht's dir automatisch auch gut!", erklärte der Konditorlehrling fröhlich, "Ich dachte mir: wenn Sie heute ein tolles Abendessen bekommen, wird's Ihnen sicher auch gleich viel besser gehen! Und deswegen hab ich bei meinem Weg hierher noch einen Umweg ins Saucisson d'Or gemacht und hab Zutaten für ein leckeres Essen besorgt!"

Kurogane hob skeptisch die Augenbrauen. Das Saucisson d'Or - 'die goldene Wurst' auf französisch, seiner Meinung nach kein Name, bei dem man sich vor Neid über soviel Kreativität die Kugel gab- war ein kleines Feinkostgeschäft in der Altstadt.

"Sie sind also erst in die Altstadt und dann ins Reichenviertel gelaufen."

"Ja! Das reinste Forest Gump-Feeling!"

"Und was sagt Ihr Arzt dazu?"

"Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß."

"Dann muss er aber frieren", meinte Kurogane trocken und schlüpfte aus seinen schwarzen Slippern, "Ich frag mich nur, was Sie ihm wohl schon alles verschwiegen haben. Sie rennen in der Stadt rum, obwohl Sie jeden Moment vor Übermüdung abkratzen könnten, Sie veranstalten Stunteinlagen und schleppen kiloschwere Tüten... vermutlich weiß er Ihren Namen auch nicht, oder, Mister Billray?"

Stille. Bis der Blondling wieder lächelte. "Ich hab doch bereits gesagt, dass ich Fye heiße! Außerdem verschweige ich meinem Arzt nicht viel. Höchstens die Farbe meiner Unterhose. Und wenn wir schon beim Namen sind, wieso sagen Sie nicht einfach Fye zu mir?"

"Weil ich mir nicht vorstellen kann, warum Sie gerade mir Ihren 'echten' Namen sagen sollten. Darf ich wissen, wozu dieses ganze Geplänkel dient, Mister Billray?"

Der Blondling grinste. Seine Kinnmuskeln traten für einige Momente hart hervor, als würde er sich auf die Zähne beißen.

Er grinste über beide Ohren hinauf und sagte kein Wort.

Kein. Einziges. Wort. Kurogane seufzte.

"Also gut. Von mir aus. Dann sagen Sie mir wenigstens, wer Ihnen dieses blaue Auge geschlagen hat."

Wieder Stille. Fye blinzelte und fasste an sein linkes Auge, das ganz blutunterlaufen und verschwollen war.

"Oh... Sie haben's bemerkt, was?"

"War nicht schwer. Also, raus damit, und zwar ein bisschen dalli. Ich will heute Nacht nicht von 'ner Bande desorientierter Fetischklub-Anhänger im Schlaf niedergestochen werden."

"Ach, keine Sorge, das war bloß mein Chef", erklärte der Blondling gutmütig, "Er mag es nicht, wenn ich nicht zur Arbeit komme. Eben ein Arsch mit Ohren. Sagen Sie mir dann im Gegenzug, warum Sie Ihr Schwert unter dem Mantel hatten?"

Kuroganes Kinn zuckte ein wenig. Erwischt.

"Mein Gott, Sie und Ihre Fragen. Ich hatte es auf der Arbeit dabei."

Das war noch nichtmal gelogen. Der Konditorlehrling grinste schief.

"Schon schade, dass wir so viele Geheimnisse voreinander haben, finden Sie nicht auch?"

"An mir allein liegt das nicht, mein Bester", war die eisige Antwort, während der Schwarzhaarige in seine Hausschuhe schlüpfte und sich auf den Weg in die Küche machte, "Und jetzt bewegen Sie Ihren Hintern, das Tor zur Salmonellenhölle öffnet sich."

"Salmellen? Salaminellen? Sardellen?"

"SALMONELLEN!!"

"Achsooo! Ich kenne nur einen fiesen Verbrecher namens Sal Monella, der den Leuten Gift ins Essen gemischt hat!"

"Bei Salmonellen läuft's aufs selbe raus. Was wollen Sie mir heute überhaupt wieder an Trendzeug vorsetzen?"

"Wieso Trendzeug? Hat Ihnen der Kuchen von gestern nicht geschmeckt?", fragte Fye blinzelnd, während sie die Küche betraten und der Schwarzhaarige das Licht einschaltete.

"Hab ihn weggeworfen. Hätten Sie eben auf mich gehört! Ich sagte doch, dass ich Süßigkeiten nicht leiden kann!"

"Puah! Wie fies! Dann haben Sie aber was verpasst, das kann ich Ihnen flüstern! Mögen Sie wenigstens Hähnchen?"

"Ich mag tote Menschen mehr. Aber 'ne Alternative wär's."

"Na wunderbar!", meinte Fye und strahlte wie auf Knopfdruck, "Dann wird Ihnen das Essen ganz sicher schmecken! Wir können ja gemeinsam kochen, dann lernen Sie bestimmt noch was dazu! Nichts ist spaßiger als zusammen kochen! Ich habe nämlich ein echtfranzösisches Menü für uns zusammengestellt!"

Mit diesen Worten wuchtete er die enorme Papptüte auf den Tisch und begann, auszupacken. Die gute Hälfte der Zutaten, die da ans Tageslicht geholt wurden, kannte Kurogane noch nicht, aber sein jüngeres Gegenüber sparte nicht an Erklärungen.

"Hier, schauen Sie! Ein Gruyère aus der Provence!", erläuterte er, wieder einmal ganz das personifizierte Glück, und deutete auf ein großes Stück reifen, saftig gelben Käse, "Béthuner Hähnchenkeulen! Schalotten aus Gascogne, noch ganz fest und mit grünen Trieben, so sind sie nämlich am besten! Und hier haben wir einen Dubonnet, Maraschino, späten Cointreau aus der Basse-Normandie und vor allem einen zwanzigjährigen Armagnac!"

Das hätte Kurogane nicht gedacht- ausgerechnet die Königin der französischen Weine wurde ihm hier aufgetischt!

"Aaah... Teufel nochmal", seufzte er und löste den Korken von der sepiafarbenen Flasche, um eine Probe aufs Exempel zu machen. Prüfend schnupperte er an dem Dufthauch, der aus den Tiefen des kühlen Flaschenhalses zu seiner Nase empordrang, und kam sich dabei ein wenig vor wie Jean-Baptiste Grenouille.

Der Blondling hatte Geschmack, das musste man ihm leider Gotts zugestehen.

"Teufel nochmal!", wiederholte er, "Haben Sie den wirklich aus diesem Irrenhaus in der Altstadt?!"

"Der Ladenbesitzer wohnt in meiner Nachbarschaft", erklärte Fye munter, "Den werden wir für den Aperitif brauchen!"

"Den Ladenbesitzer oder den Armagnac?"

"Wenn Sie Ihren Aperitif gerne mit toten Menschen drin trinken, kann ich ja nochmal zu dem Ladenbesitzer gehen, Sie müssten mir nur Ihren Cutter leihen, ich hab grad keine Mordwaffe dabei--"

"Es heißt Katana, und nicht Cutter!"

" 'tschuldigung. Würden Sie mir mal zeigen, wie man so einen Cut-... ähh, Katana benutzt?"

"Besser nicht. Meine Vorhänge sind jedenfalls schon futsch, ich weiß nicht, was Sie noch alles damit kaputtschlagen würden. Trinkt man einen Aperitif nicht vor dem Essen?"

"Japp, ein Aperitif ist dazu gedacht, den Apettit anzuregen, daher macht man ihn auch oft mit Tomatensaft oder Gemüse", erläuterte der Blondling und stellte einige Gläser nebst einem Shaker auf die Arbeitsplatte, "Und dann gibt's noch den sogenannten Digestif."

"Und was gibt's zum Essen selbst?", fragte Kurogane misstrauisch und sah dem Blondling dabei zu, wie er geschäftig in der Küche umherflatterte und eine Unzahl von Töpfen, Pfannen und Tiegeln auf den freistehenden Herd klatschte.

"Überbackene Zwiebelsuppe als Vorspeise, mit südfranzösischen Cébettes, das sind diese weißen Zwiebeln da, dann Hähnchen in Weißwein, und zum Nachttisch Crème Citronée! Na, klingt das nicht verdammt originell?"

"Fast so originell wie Elvis the Belvis on the Memphis. Sie stehen wohl auf Französisches aller Art?"

Fye lachte und krempelte sich die Ärmel hoch. "So kann man's nennen! Vor allem auf die französische Küche! Ich sag Ihnen, Kurogane, es gibt fast nichts Besseres als das!"

Argwöhnisch beobachtete Kurogane, wie das Lächeln des Blonden etwas Traumverlorenes bekam, wie er all die Zutaten, die auf der Arbeitsplatte ausgebreitet lagen, allein mit den Augen liebkoste, während er ein Messer zur Hand nahm und eine der beiden Packungen mit geräuchertem Speck aufschnitt.

"Wissen Sie, einmal hatte ich das große Glück, von einem wirklich guten Koch ein paar Kniffe zu lernen. Ein einziges Mal. Von ihm hab ich auch gelernt, dass es nichts Schöneres gibt, als seinen Mitmenschen auf diese Art eine Freude zu machen. Finden Sie nicht auch, dass es etwas Wunderbares sein kann, die Menschen um sich herum zu erfreuen?"

Etwas in dem Killer verkrampfte sich schmerzhaft als Reaktion auf Fyes Worte.

"Schon. Denke ich."

"Denken Sie?"

"Wie haben Sie erraten, dass ich aus Japan komme?", wechselte er das Thema.

"Oh... das..."

Wieder lächelte der Konditorlehring. Schnipp, schnipp, schnipp, zerteilte das Messer den Speck.

"Ich weiß es wirklich nicht. Es war nur eine idée fixe , verstehen Sie? Es ist schwer zu sagen."

Er hob den Blick, und Kurogane spürte, wie sich ein Paar hell glasblauer Augen an seinem Gesicht festhefteten

"Ich glaub, es war Ihr Gesicht, das mich draufgebracht hat. Es hat sowas-... ja, sowas Strenges. Hier, helfen Sie mir bei den Zwiebeln?"

"Von mir aus. Ich kann's aber nicht. Warum streng?"

"Keine Sorge, es ist ganz leicht. Man muss die Zwiebeln nur unter fließendem Wasser schälen und dabei durch den Mund atmen, damit einem nicht das Heulen kommt. Also bestreiten Sie's nicht?"

"Nein, wieso auch?"

Der Konditorlehrling lächelte freundlich und griff sich eine Baguettestange aus der Tüte, um sie in Scheiben zu schneiden.

"Sie gönnen sich nicht viel, oder?"

"Kommt drauf an."

"Naja, ich glaube jedenfalls, dass Sie was erlebt haben, und seitdem sind Sie sehr streng mit sich selbst."

Der Schwarzhaarige hob abschätzig die Augenbrauen, während er erfolglos versuchte, die Zwiebeln zu schälen, ohne sie dabei komplett zu verstümmeln. Offenbar war es mit Zwiebeln anders als mit Opfern.

"Und Sie, was sind Sie?"

Ein kleines Lachen ertönte. Schnipp, schnipp, schnipp, zerteilte das Messer das Baguette.

"Ach, ich ... das tut kaum was zur Sache. Ich bin ganz einfach da. Geben Sie mir mal eben die Butter?"

Während Kurogane das tat, musterte er seinen ungebetenen Gast aufmerksam. Wo hab ich ihn bloß schon mal gesehen...

"Sie lieben sich selbst bis ins Abgöttische hinein, kann das sein?"

Der Blondling kicherte amüsiert. "Na, abgöttisch vielleicht nicht. Ich liebe mich mehr als... als--... Cornflakes, sagen wir mal so."

Der Killer verdrehte die Augen.

"Wunderbar. Sie lieben sich mehr als Cornflakes. Ihr Moralverständnis will ich haben."

"Naja, ich kann immerhin Treppen fegen. Das können Cornflakes nicht. Lieben Sie sich denn?"

"Offen gestanden nein."

"Gibt es dafür Gründe?"

"Sie nennen mir Ihre ja auch nicht."

Stille. Kurogane hielt beim Zwiebelschälen seinem jüngeren Gegenüber den Rücken zugedreht, doch er konnte förmlich fühlen, dass dieses immer noch lächelte.

"Sind Sie mit den Zwiebeln fertig?"

"Fast. Ich hab noch nie Zwiebeln geschält."

Fye grinste gewitzt und stützte amüsiert die Hände in die Hüften. "Meine Güte, was haben die auf der Arbeit nur mit Ihnen gemacht? Gehirnwäsche? Sie schreien mich heute ja gar nicht an!"

"Es war halt anstrengend", knurrte Kurogane unwillig, "Hier sind Ihre Zwiebeln."

"Wuaaah!", entfuhr es dem Blondling unwillkürlich, als er die verstümmelten Leichen in Augenschein nahm, die ihm sein Gastgeber auf dem Hackbrettchen servierte, "Was soll das sein, Dreharbeiten von Saw im Miniformat?"

"Ich kann's nunmal nicht besser", grollte der Killer.

Der Konditorlehrling grinste breit. "Also gut. Wissen Sie was? Dann machen wir jetzt eine Arbeitsteilung, damit's schneller geht! Sie kümmern sich um die Töpfe, um die Pfannen und ums Öl, ich schnippel sämtliche Zutaten, solange können Sie auch die Lauch-Gruyère-Cébettes-Mischung anrühren, die wir für die Suppe brauchen, und--..."

"Moooment mal, nicht so schnell! Was jetzt?"

"Machen Sie einfach alles so, wie ich's Ihnen zeige, okay? Hey, und gucken Sie doch nicht so miesepetrig! Es gibt noch eine Menge vorzubereiten, also zeigen Sie mal ein bisschen mehr Schwung! Stellen Sie sich vor, Sie dürften Ihren Vorgesetzten töten!"

"Juppidu", gab Kurogane tonlos zur Antwort, "Ich warne Sie, das alles läuft jetzt auf Ihre Verantwortung. Wenn ich sterbe, dann bring ich Sie um!"

"Ihre Logik ist bewundernswert. Nur keine Sorge! Das wird sicher ein toller Spaß!"

Der Killer seufzte wie ein unseliger Geist und ergab sich damit in sein unausweichliches Schicksal.

Was den Spaß anbelangte, hatte er so seine gewissen Zweifel. Aber wie sagte man so schön?

Erst schauen, dann sehen.
 

Später Abend.

In Haus Nummer fünf war fast alles still, doch diesmal war es nicht die übliche Totenstille.

Im Erdgeschoss brannte noch Licht. Weiches, angenehmes Flackern von Kerzen erfüllte die Küche und warf sanfte Schatten an die gekachelten Wände. Im Radio über der Spüle lief leise Ta P'tite Flamme .

Ein wohltuender Duft lag in der Luft des weitläufigen Raums und umhüllte einen wie ein unsichtbarer, warmer Schleier.

"Aaah!", rief Fye überglücklich aus, "Ich kann nicht mehr! War das vielleicht köstlich!"

"Ausnahmsweise kann ich Ihnen nicht widersprechen", gab Kurogane zurück und tupfte sich den Mund mit einer seiner Lieblingsservietten den Mund ab, "Auf den Kitsch mit den Kerzen hätte ich allerdings verzichten können."

"Hey, bei 'nem schicken Abendessen gehört das Kerzenlicht einfach dazu! Das ist wie bei Bonanza: ohne Schießereien, massenweise ungesunden Päriestaub und zusammengekniffene Augen läuft da auch nichts! Hat es Ihnen denn geschmeckt?"

"Hm. War jedenfalls mal was anderes, als irgendeine sterbenskranke Kuh in Steaksoße zu ersäufen."

Der Blondling lächelte und stützte sein Kinn auf den linken Handteller, nachdem er seinen Teller von sich geschoben hatte.

"Sehen Sie? Es gibt einfach nichts Besseres als gemeinsam zu kochen und nachher gemeinsam zu essen. Und Sie haben sich fürs erste Mal wirklich wacker geschlagen! Nichtmal die Küche ist explodiert!"

"Von mir aus."

Fye musterte seinen Gastgeber für einige schweigende Momente von der Seite. "Wissen Sie, Sie sehen jetzt nämlich viel entspannter aus als vorher. Hat Ihnen das Essen gutgetan? Geht's Ihnen besser?"

Der Schwarzhaarige legte gedankenverloren die Serviette zur Seite und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, um die Arme hinter dem Kopf zu verschränken und den Blick ins Unbestimmte zu richten.

Eine gute Frage- ging es ihm jetzt eigentlich besser?

Hmm. Ziemlich schwierig. Erstmal vergewissern. Mit gehobenen Augenbrauen ließ er seinen Blick schweifen. Über die schlanken, weißen Kerzen, die mit ihrem Licht den ganzen Raum in warmen, weichen Schein tauchten, und von denen das Wachs in glanzhellen Tropfen herabperlte. Über den Tisch, auf dem nur noch einige wenige Überreste all der Köstlichkeiten standen, die sie sich vor wenigen Stunden gemeinsam einverleibt hatten. Über das glänzende Geschirr, über ihre beiden Cocktailgläser, in denen noch einige, vom Kerzenschein burgunderrot angehauchte Tropfen des Digestifs an den Glaswänden verblieben waren.

Über das Radio, aus dem leise die Töne des Liedes von Amélie-les-Crayons drangen.

Y a quelque chose de la vie dans tes yeux qui rient, y a cette p'tite flamme qui rit, qui brûle et qui brille...

"Möglich", sagte er.

Fye lächelte, und diesmal lächelten seine Augen mit. "Das freut mich. Ehrlich."

Ein Schweigen verging, in denen beide nur ihren Gedanken nachhingen und der rieselnden Musik lauschten.

"Sie quasseln mich ja gar nicht mehr voll", bemerkte Kurogane nach einer Weile.

"Und Sie schreien mich ja gar nicht mehr an", war die belustigte Antwort.

"Hmhm", brummte der Schwarzhaarige dumpf, "Stimmt. Vielleicht werde ich ja krank."

"Ich denke nicht."

Der Blondling sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck in den glasblauen Augen an.

Sein Veilchen war mittlerweile aufs Löblichste abgeschwollen.

"Wer weiß, Kurogane... das klingt zwar jetzt verrückt, aber vielleicht fühlen wir uns beide gerade wohl."

"Wohl?! Woran würden Sie das denn bitteschön festmachen?"

"Na, daran, dass wir nichts sagen. Wohlbefinden lässt sich eben am besten schweigend genießen. Warum muss man dieses gute Gefühl auch durch Worte kaputtmachen?"

Der Schwarzhaarige musterte seinen Gast mit einem abschätzigen Blick.

Wie er so dasaß, behaglich in seinem Stuhl zurückgelehnt und mit verschränkten Händen, wirkte er auf merkwürdige Weise anders als sonst. All das Zittrige, die Nervosität und diese Ruhelosigkeit, die Kurogane schon die ganze Zeit bei seinem Gast hatte beobachten können, schienen nun auf seltsame Weise von ihm abgefallen zu sein und hatten einer stillen Zufriedenheit Platz gemacht.

"Fühlen Sie sich denn nicht wohl, Kurogane?"

"Keine Ahnung. Heute weiß ich gar nichts mehr. Mir scheint, ich hätte Sie schon längst rauswerfen müssen, mein Bester. Es muss Ihnen ja wirklich Spaß zu machen, in meine Privatsphäre einzudringen, mich auszuquetschen wie 'ne arthrosekranke Birne und dabei selbst kein Wort über sich zu verlieren..."

"Wieso denn? Ich erzähle Ihnen doch ständig von mir!"

Geistesabwesend ließ Kurogane seine Halssehnen knacken und schluckte ein herzhaftes Gähnen hinunter.

"Nein, tun Sie nicht. Man könnte meinen, Sie hätten mindestens schon zwanzig Minderjährige vergewaltigt, fünfzig Großjuweliere ausgeraubt und mehrere Präsidenten ermordet. Wie kommt das?"

Stille. Der Schwarzhaarige starrte sein jüngeres Gegenüber abwartend an.

"Mein Leben ist kein Romanstoff, wenn Sie das erwarten", meinte dieser schließlich mit einem Grinsen.

"Meins auch nicht. Aber wessen Leben war schon Romanstoff? Haben Sie's schon mal so betrachtet?"

Der Blondling schüttelte den Kopf und streckte sich mit einem genüsslichen Ächzen von oben bis unten durch.

"Nein, hab ich noch nicht. Aber es gab doch bereits einige sehr bedeutende Menschen? Und man hat Bücher über sie geschrieben. Gandhi, Martin Luther King, Napoleon, Hitler, Caesar..."

Kurogane zuckte die Achseln.

"Meinetwegen. Aber was verstehen Sie unter 'bedeutend' ? Wann ist ein Mensch 'bedeutend'? Ich hab drei Jahre mit meiner Ausbildung zum Kadetten zugebracht, und ich weiß es heute immer noch nicht. So ist nunmal der Lauf der Welt."

"Sie sind ein Kadett?", fragte der Hilfswicht neugierig, "Einer dieser Elitekämpfer für die nationale Sicherheit?"

Der Killer starrte bewegungslos an die Decke. "Nein. Ein Spielzeugsoldat. Ein verdammter Spielzeugsoldat."

"Was?"

"Schon gut. Wer von uns kann schon etwas leisten, das Zeit und Raum für immer verändern würde? Die Welt dreht sich langsam, und wir wissen immer noch fast gar nichts. Das Leben ist ein einziger Lernprozess. Gab es je 'den' weisen Menschen? Man kann gar nicht genug Weisheit erlangen, wenn man auf dieser verfluchten Welt lebt."

Fye beobachtete seinen Gastgeber aufmerksam. "Möglich. Wer hatte noch nie den Wunsch, 'weise' zu sein? Oder etwas 'bedeutendes' zu vollbringen? Etwas, woran man sich erinnert und zu den Leuten sagt: Mann, das war vielleicht 'ne großartige Sache. Aber wenn man sich umsieht, muss man feststellen, dass die Zeit nicht stehenbleibt. Die Welt dreht sich immer weiter."

"Allerdings. Deswegen ist es auch Stuss, von den Leuten verlangen zu wollen, dass sie aus der Vergangenheit lernen sollen. Krieg, Gehaltserhöhung, Sex, Politik- im Endeffekt alles dasselbe. Der Mensch ist egozentrisch."

"Naja", meinte Fye mit einem belustigten Funkeln in den Augen, "Vielleicht ist der Mensch gar nicht so egozentrisch. Er will möglicherweise nur nicht in Vergessenheit geraten. Haben Sie sich umgesehen? Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Mensch ersetzlich geworden ist, und das ist traurig genug. Man will jemand Besonderes sein, und nicht nur irgendjemand."

"Klar", erwiderte Kurogane abfällig, "Man will nicht übergangen werden. Man will nicht nur ein Sandkorn an einem Strand sein."

Fye nickte. Die friedfertige Ruhe auf seinem hellhäutigen Gesicht wich einem ein kleinen, seltsam bekümmerten Lächeln.

"Stimmt. Jeder lebt in seiner eigenen kleinen Welt und hofft, irgendwo da draußen eine verwandte Seele zu finden."

"Genauso sinnlos wie der Mensch selbst", merkte der Schwarzhaarige geringschätzig an und gähnte herzhaft.

Der Hilfswicht zuckte die Achseln. "Kann sein. Aber wer weiß, vielleicht steckt auch hinter diesem Verhalten der Menschen ein-... nun ja, ein Wunsch? Ein Wunsch nach besseren Zeiten? Möglicherweise ist das das einzige, woran sich die Menschen klammern. Die Hoffnung auf bessere Zeiten."

"Ah ja? Und wenn sie endlich da sind, diese besseren Zeiten?"

Die Finger des Blondlings zuckten fahrig. "Dann empfindet man nichts als Schmerzen, weil man weiß, dass diese Zeit irgendwann vorbei sein wird. Es sind die besseren Zeiten, die sich der Mensch wünscht, Kurogane, finden Sie nicht auch?"

Der Schwarzhaarige schluckte. Da war es wieder, dieses Stechen in der Brust.

"Kann sein. Keine Ahnung."

"Was, nur so eine vage Antwort auf diesen tollen philosophischen Disput, den wir bisher hatten?"

"Sie können mich auch mal kreuzweise", war die halb geknurrte, halb gegähnte Antwort.

Fye kicherte ein wenig und legte mit einem Lächeln den Kopf schief.

Stille.

"Wissen Sie was, Kurogane?"

"Hm?"

"Es war ein schöner Abend. Ein so richtig schöner Abend. Und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie dabei waren."

"Aha."

"In so einem Fall sagt man 'gerngeschehen' ",witzelte der Blondling.

"Mein Gott, immer dieser scheiß Floskelzwang! Dann bittesehr: gerngeschehen."

"Vielen Dank. Hey, das war ja fast filmreif! Wir hätten irgendwo 'ne Kamera aufstellen müssen, das hätte uns mindestens fünf Oscars, einen Jahresvorrat an Flanellpyjamas und zahllose Gratisbiere eingebracht!"

"Pah! Diesen schäbigen Oscar hätte ich höchstens eingeschmolzen!"

"Und dann?"

Der Schwarzhaarige schluckte nur mühsam ein weiteres Gähnen hinunter, bevor er sich mit einem Zeigefinger an die Stirn tippte.

"Und dann hätte ich mir einen goldenen Kochlöffel draus gegossen, wissen Sie."

Der Blondling schüttelte sich kichernd. "Wirklich praktisch! Ihren Ordnungssinn hätte ich gerne! Und wenn wir schon beim Ordnungssinn sind: wollen Sie nicht so langsam mal schlafen gehen? Anständige Leute gehören um diese Uhrzeit längst ins Bett!"

Abrupt hielt der Killer in einem herzhaften Gähner inne.

"Bitte was?"

"Na, schlafen gehen! Bettzeit!"

Wie zur Unterstreichung warf der Blondling einen Blick auf die Uhr. "Es ist schon fast halb zwölf! Und Sie sind doch sicher müde von der Arbeit, oder? Wollen Sie sich nicht hinlegen?"

"Und Sie unbeaufsichtigt in meinem Haus lassen? Dann kann ich ja gleich das Unfallkommando anrufen."

Fye lächelte. "Keine Sorge. Ich hab weder vor, Sie zu auszurauben, noch will ich Ihnen Hassparolen auf die Stirn schreiben oder über Ihre Adresse Pornobestellungen im Internet machen. Und Ihr Katana benutzen werd ich auch nicht."

"Was dann?", fauchte der Schwarzhaarige ungeduldig.

"Hmm... wie wär's, wenn ich hier noch den Abwasch mache und ein wenig aufräume?", schlug der Hilfswicht schließlich vor, "In der Spüle sieht's nämlich aus wie beim Grafen von Montechristo. Und Sie können sich's solange bequem machen und versuchen, ein wenig zu schlafen, ist das kein Vorschlag?"

"Vergessen Sie's, ich tue keinen Schritt in den ersten Stock, solange Sie unter meinem Dach sind. Womöglich krieg ich noch über Nacht Wahnvorstellungen, dass mir ein blonder Sandmann im Schlaf den Kopf abreißt."

"Soll ich dann vielleicht auch hier schlafen, wenn Sie sich fürchten? Ich schlafe in der Spüle und Sie auf dem Küchentisch."

"WAAAS?!!"

"War doch nur ein kleiner Scherz. Kommen Sie schon, wieso tun Sie sich nicht einfach den Gefallen? Sie kriegen ja vor lauter Gähnen den Mund kaum mehr zu. Ich hab so meine Erfahrungen mit Übermüdung gemacht, wissen Sie."

"Ist nur schwer zu übersehen", kam es grollend und gähnend zurück. "Also schön, dann schlaf ich eben. Aber ich geh nicht hoch in mein Bett, ich leg mich aufs Sofa im Wohnzimmer, dann höre ich wenigstens rechtzeitig, wenn Sie Scheiße bauen."

Der Blondling strahlte. "Na also, sehen Sie! Wieso denn nicht gleich so? Sie schlafen sich ordentlich aus, ich erledige den Abwasch, und wenn ich fertig bin, mach ich mich gleich vom Acker. Keine Sorge, spätestens um viertel nach zwölf sind Sie mich los."

"Jawohl, Mama", brummte der Killer angeödet und stapfte ohne viel weiteres Palaver auf den Flur, Richtung Wohnzimmer.

"Soll ich Ihnen vielleicht ein Schlaflied vorsingen?", rief sein ungebetener Gast ihm noch hinterher.

"NAIEN!!", brüllte Kurogane gereizt zurück, während er sich auf sein mit schwarzem Leder bezogenes Sofa fallenließ und in den Ritzen nach seiner schwarzen Fleecedecke wühlte, "Ich schau mir einen dieser alten, geschmacklosen Rambostreifen an! Dann kann ich immer exzellent einschlafen!"

"Sie Glücklicher! Tun Sie sich keinen Zwang an!"

"Bah! Ich doch nicht!"

Mit diesen Worten wälzten sich der Schwarzhaarige kopfschüttelnd auf seinem Sofa ein Stück vorwärts, um an den Korb mit den DVDs zu kommen, der immer am Fußteil lehnte, und suchte sich den billigsten Ballerstreifen heraus, den er auf Lager hatte.

Klick, Fach auf, DVD rein, klick, Fach zu, Fernseher an, Kissen zurechtgerückt, Decke ausgebreitet, Beine ausgestreckt.

Nichts leichter als das.

Nicht sonderlich interessiert beobachtete Kurogane Rambo, wie er mit irgendeiner Riesenkalaschnikov durch die Gegend rannte und alles umballerte, was sich bewegte, während in der Küche allmählich die Teller und Töpfe zu klappern begannen.

Diesem Frieden traute er jedoch nicht- dieser Hilfswicht heckte garantiert etwas aus, garantiert! Womöglich wachte er am nächsten Morgen auf und musste feststellen, dass sich sein gesamtes Haus über Nacht in eine Blaue-Elefäntchen-Hölle verwandelt hatte.

Ihm wollten zwar bereits die Augen zufallen, doch er schwor er sich felsenfest, dass er solange wachbleiben würde, bis sich dieser blonde Idiot endlich aus dem Staub gemacht hatte. Auf keinen Fall würde er auch nur eine Sekunde eher wegpennen.

Auf keinen Fall.
 

Viertel nach zwölf in der Nacht.

Hochzufrieden putzte sich Fye am Geschirrhandtuch die Hände ab und stellte, auf äußerste Lautlosigkeit bedacht, den letzten Teller in den Geschirrschrank zurück, bevor er noch schnell die leere Papptüte entsorgte und den letzten Rest der nicht verwendeten Zutaten in den Kühlschrank stellte.

Schließlich löschte er alle Lichter in der Küche, schlich sich auf Zehenspitzen auf den Flur und zog sich rasch Mantel und Stiefel an, bevor er einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer riskierte.

Von Rambos Gebrüll und Rumgeballer auf dem Bildschirm mal abgesehen war alles ruhig.

"Kurogane?", flüsterte er fragend in die Dunkelheit hinein, die allein vom trüben Flimmerlicht der Glotze erhellt wurde.

Keine Antwort. Neugierig geworden lehnte sich der Blonde ein wenig weiter ins finstere Zimmer. Sein Blick schweifte suchend umher und schließlich fand er, was er suchte.

Sein Gastgeber lag halb versteckt unter einer dunklen Fleecedecke auf dem Sofa, beide Arme und Beine weit von sich gestreckt und mit halb offenem Mund. Er schlief wie ein Stein.

Wenn man ihm ein wenig länger zusah, kam man irgendwie auf den Gedanken, dass er möglicherweise tot sein könnte, doch zum Glück konnte man gerade noch erkennen, wie sich die Decke unter seinen Atemzügen hob und senkte.

Fye gestattete sich ein Grinsen und trippelte vorsichtig zu dem kleinen Glastisch vor der Flimmerkiste, auf dem die Fernbedienung lag, und drehte Rambo kurzerhand den Saft ab. Angenehme Stille legte sich über den dunklen Raum.

Mit schief gelegtem Kopf betrachtete der Konditorlehrling den schwarzhaarigen jungen Mann noch für eine Weile.

Seltsam- jetzt, wo er schlief, wirkte er gar nicht mehr so angespannt und gereizt wie sonst.

Denn obwohl seine körperliche Präsenz immer noch einen Eindruck ungebrochener Kraft vermittelte, ging nun eine tiefe Aura der Ruhe von ihm aus. Innere und äußere Ruhe.

So ruhig.

Fye lächelte und zog die Decke ein wenig zurecht, damit Kurogane am Rücken nicht kalt werden konnte.

"Schlafen Sie gut, Kurogane."

Draußen stand eine bleiche, silbrige Mondsichel am sternenübersprenkelten Nachthimmel, als er sich auf den Weg machte.

Ein kalter Wind kam auf und trug den Lärm der Stadt sanft mit sich fort.

Die knorrigen, schneebepuderten Zweige der Bäume begannen, ganz leise zu rauschen, als wollten sie ein Schlaflied für die Menschen singen.

Alles war still.

Across The Volcano

-"Die Entbehrung erzeugt Macht der Seele und des Geistes."-

(Victor Hugo)
 

~~
 

Der Gestank war widerwärtig.

Als der Gerichtsmediziner Dr. Robert Johansen die Plastikplane lüftete, stieg der faulige Dunst von verwesendem Fleisch in die Nasen der anwesenden Polizisten wie Aladins Geist aus der Lampe. Ein kollektives Aufstöhnen ging durch die Runde, und die etwas zarter Besaiteten pressten sich hustend entweder ihre Hand oder ein Taschentuch vor den Mund.

Der schlanke, ein wenig spillerig wirkende junge Mann neben Johansen räusperte sich dezent und rückte seine Brille zurecht.

"Ist ja ekelig."

Johansen schüttelte verständnislos den Kopf.

"Was denn, Tsukishiro? Sind doch nur zwei Leichen, du meine Güte aber auch! Jetzt sind Sie schon ein Jahr unter meinen Fittichen und vertragen diesen apettitanregenden Duft immer noch nicht? Stellen Sie sich einfach vor, Sie sitzen im Restaurant!"

Yukito Tsukishiro hob skeptisch die Augenbrauen.

"Na lecker. Der Küchenchef empfiehlt heute: totes Ehepaar im Gemüsebett. Und die rote Soße gibt es gratis dazu."

Bei diesen Worten schaute er auf den tadellos mit Blut besprenkelten Wohnzimmerboden. Johansen, der wie üblich nur mit halbem Ohr zuhörte, vernahm die immer noch andauernden angewiderten Laute vonseiten der Polizisten hinter seinem Rücken, und verdrehte die Augen wie ein Kindergärtner, dessen Schützlinge mal wieder gar nichts kapierten.

"Sehen Sie, das haben Sie jetzt davon. Typisch Polizisten! Erst unbedingt die Leichen sehen wollen und dann gleich wegen nichts und wieder nichts 'nen Kotzanfall kriegen. Die Toilette ist übrigens dort drüben."

Die einzige Antwort, die der hagere Frühfünfziger mit dem ausrangierten Bürstenhaarschnitt bekam, waren übermüdete, genervte Bullenblicke aus rotgeriebenen Bullenaugen. Okay, das mit dem übermüdet konnte er zumindest nachvollziehen- dienstags, um fünf Uhr morgens, bei einer Temperatur, bei der einem der Arsch am Autositz festfror und mit Aspirin plus Automatenkaffee als Frühstück konnte man von Durchschnittsbullen keine Luftsprünge erwarten. Und wenn man's doch tat, war man hinterher selbst schuld.

"Leute! Kameraden! Brüder!", sagte der Pathologe schließlich genervt, "Wie wäre es mal mit ein paar Informationen für den schrulligen Gerichtsmediziner und seinen durchgeknallten Handlanger? Wieso sind Sie überhaupt noch hier?"

Einer der Detectives wollte schon den Mund aufmachen, als vom Eingang her plötzlich eine energetische Stimme laut wurde.

"Um den Tatort abzusichern, Johansen! Und um auf mich zu warten. Also stecken Sie ihre Häme für einen Moment zurück!"

Sämtliche Polizisten am Ort nebst Yukito und Johansen fuhren herum und blickten dem Kommissar ins Gesicht, der mit langen Schritten und allen Anzeichen eines arbeitsneurotischen Polizeibeamten ins blutverzierte Wohnzimmer gehastet kam.

"Also, was haben wir?"

"Noch nicht viel, Chef", meldete sich einer der Detectives zu Wort, "Die anderen Räume zeigen nichts Verdächtiges. Anscheinend hat sich alles im Wohnzimmer abgespielt."

"Vortrefflich, das schränkt wenigstens den Untersuchungsbereich ein. Ich hoffe, Sie haben nichts angedatscht? Fullright und die Typen von der Spusi kommen erst gegen Nachmittag, die wühlen noch am Navras-Tatort in allen Ecken nach Hinweisen."

"Keine Sorge, Chef, alles unberührt."

"Guter Mann. Ich würde sagen, Sie kontrollieren das Gebiet noch, bis die Spusi kommt und gehen dann zurück aufs Revier."

"Wird gemacht."

Johansen, der dieser Unterhaltung bis jetzt ohne Zwischenkommentar gelauscht hatte, musste grinsen.

"Typisch Kinomoto. Fünf Uhr morgens, und unser Bullenboss hat wie immer nur die Arbeit vor Augen."

"Jaja, Johansen, Sie mich auch. Sagen Sie mir lieber, was Sie beide rausgefunden haben."

Mit einem ernsten Ausdruck in den tiefblauen Augen ging Toya Kinomoto vor den zwei Leichen in die Hocke und musterte die tiefen Wunden an beiden Körpern, die sich wie hässliche, blutverkrustete Blitze über Brustkorb und Arme zogen.

Madeleine und Ludwig Delnatte. Verheiratet. Organspender. Zumindest stand das so in der Akte. Die Bibel aller Polizeibeamten.

"Also? Yukito?"

"Also", begann der bebrillte junge Mann, "Hier haben wir's mit einem K.O zu tun. Irgendetwas Langes, Scharfkantiges hat eine größere Anzahl tiefer Schnitte an einigen heiklen Körperzonen angebracht, zum Beispiel Schlagaderzentren, Brustbein, Halspartie."

"Meiner Meinung nach war das allerdings Absicht", ergänzte Johansen, "Die Stöße sind total sauber geführt, soweit ich das jetzt erkennen kann. Und die Einschneidespuren gehen sehr tief, das erkennt man an diesen Blutrinnseln. Offenbar war der Angreifer unseren beiden weit überlegen. Zumindest, was körperliche Kraft und Ausdauer anbelangt."

"Wie lange hat es gedauert, bis sie tot waren?", fragte Toya weiter.

"Genau kann man das jetzt noch nicht sagen. Aber lange hat's auf jeden Fall nicht gedauert. Der Mörder wusste offenbar, wie er die Hiebe anbringen musste, damit beide sofort ihr Lichtlein ausknipsen."

"Heilige Scheiße", murmelte der Kommissar, bevor er sich schließlich wieder vom Boden erhob. In seinen Augen flackerte es.

"Kommissar? Denken Sie, wir haben es hier mit einem Serienkiller zu tun?", fragte Yukito.

"Sicher mit einem dieser Psychos", meldete sich einer der Detectives vom anderen Ende des Raums, "So 'n kranker, asozialer Spinner, der sich im Blut seiner Feinde herumsuhlen muss, um glücklich zu sein."

Zustimmendes Gemurmel ertönte unter den anderen Beamten- Toya jedoch schüttelte entschieden den Kopf.

"Nein! Nein, auf keinen Fall. Jemanden ermorden, das kann jeder Depp. Und gerade diese "Spinner", wie Sie's so schön formuliert haben, würden es sicher nicht bei so wenigen Schnitten bewenden lassen. Psychisch beeinträchtigte Mörder töten, um zu existieren. Dieser Killer hier wusste ganz genau, was er tat. Jedenfalls genauer als ein kleiner Psycho, der nur mal auf den Putz hauen wollte."

Eine Weile lang sagte niemand etwas. Jeder versuchte sich vorzustellen, wie es war, von einem kleinen Psycho abgestochen zu werden. Kein allzu berauschender Gedanke.

"Ich will, dass hier jeder Quadratmillimeter auf Hinweise untersucht wird!", brach der Kommissar schließlich das Schweigen, "Machen Sie sich an die Arbeit! Schaffen Sie Zeugen ran! Befragen Sie die ganze Nachbarschaft auf verdächtige Vorkommnisse, stellen Sie fest, wo die Delnattes gearbeitet haben, suchen Sie nach Familienangehörigen, prüfen Sie, ob es irgendwelche Feindschaften in ihrem Leben gab, horchen Sie ihr soziales Umfeld aus! Stellen Sie alles unter polizeiliche Untersuchung, was Sie zu fassen kriegen! Ich will Ergebnisse! Johansen, Yukito", wandte er sich schließlich an die beiden Gerichtsmediziner, "Von Ihnen verlange ich, dass Sie alles über den Tod von Mister und Missis Delnatte herausfinden. Alles, verstanden?"

"Alles?", fragte Johansen mit einem ziemlich obszönen Grinsen.

"Ja, alles! Von mir aus auch, wie oft sie gepoppt haben, bevor sie umgelegt wurden!"

"Aye, mi Käpt'n. Dazu müssten wir unser schmuckes Pärchen allerdings in die Pathologie einladen."

"Von allein werden die wohl kaum mitkommen."

"Dann stecken wir sie halt ins Auto und kutschieren sie. Sind eben zu faul zum Aufstehen."

"Das riecht man."

"Sie Scherzkeks. Also gut, dann nehmen wir sie ins Institut mit."

"Wie sieht's mit diesen Geschäftsleuten aus? Yamazawa und Navras, oder wie die auch hießen?"

"Sind schon vor Ort. Aufgespießt wie Sardellen. Tsukishiro, bei Fuß! Holen Sie die Bahre und sagen Sie dem Fahrer bescheid!"

"Geht klar, Chef. Bis dann, Kommiss-- eh, ich meine, Toya!"

Die beiden Arbeitstiere sahen dem jungen Handlanger nach, wie er den Hausflur verließ und die Auffahrt des kostspieligen Grundstücks hinunterrannte.

"Ich dachte, Sie hätten Yukito diesen Floskelzwang abgewöhnt, Johansen?"

"Warum denn immer ich? Mich muss er berufshalber Johansen nennen!"

"Wir sind Freunde. Mir wurde beigebracht, dass sich Freunde mit Vornamen anreden."

"Hm. Gar nicht so unlogisch, der Gedanke. Ihre Mutter muss ein heller Kopf gewesen sein."

"Bitte, Johansen. Keine Privatgespräche."

Der Pathologe zuckte die Achseln. Das war auch ein typisches Merkmal seines Chefs- immer, wenn die Rede auf privatere Themen wie Familie oder Freunde kam, blockte er sofort ab. Naja. Hatte vielleicht 'ne unglückliche Liebschaft gehabt oder so.

"Denken Sie, wir fassen diesen Scheißkerl?", fragte er schließlich.

"Gute Frage. Aber man kann schon anhand der Leichen erkennen, dass er offenbar weiß, wo er dran ist. Es würde mich nicht wundern, wenn zwischen diesen Toten und den beiden letzten ein gewisser Zusammenhang besteht. Das waren sicher nicht die letzten Morde. Könnte sich unter einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu 'ner längeren Geschichte entwickeln."

Lähmende Stille breitete sich in dem Wohnzimmer aus.

Johansen schluckte. Wenn der Kommissar seine Jargonvokabel "unter einer gewissen Wahrscheinlichkeit" benutzte, dann kam es hundertprozentig so, wie er es sagte. Und da er ein eingefleischter Pessimist war, bedeutete das selten etwas Gutes.

Nie, um genau zu sein.

Wenn das mal gutging.
 

~~
 

Das Telefon in der Zentrale schellte in einer Tour.

In regelmäßigen Abständen schepperte das antike Drehding so heftig, dass der Hörer jedesmal nachzitterte.

Sergeant Dick Burns zollte diesem Fakt ungefähr so viel Interesse wie ein Sack voller Runkelrüben.

Mit der Ruhe eines Stoikers tat er einfach weiterhin das, was er schon den ganzen Morgen über gemacht hatte- Stuhlkippeln.

Das Telefon ließ sich seinerseits ebenfalls nicht beirren.

Seufzend spürte Burns, wie sich hinter seinen Schläfen schon wieder dieser Schmerz zu melden begann, der ihn bereits die ganze letzte Woche über geplagt hatte. Die stoische Ruhe ging so schnell, wie sie gekommen war. Bitte nicht schon wieder.

"JOE!! Geh endlich ans Telefon, ich krieg noch die Krätze hier!!", brüllte der Sergeant schließlich am Ende seiner Nerven nach draußen auf den Gang, wo gerade sein Kollege Joe Prader mit einer Riesenkiste voller Lamettaband im Schlepptau vorbeitappte.

"Jesus, geh doch einfach selbst! Ich muss den Eingangsschalter dekorieren!"

"Verdammter Lamettapisser! Wofür wirst du eigentlich bezahlt?!"

"Heute fürs Schalterdekorieren! Herrgott nochmal, es wird dich ja wohl nicht umbringen, wenn ausnahmsweise du gehst!"

Burns stieß ein Stöhnen aus wie eine gebärende Seekuh und griff nach dem Telefonhörer.

"Feuerwehrzentrale Kingstonville, Bezirk zwanzig bis dreißig, Sergeant Dick Burns am Apparat, kann ich Ihnen behilflich sein?", leierte er angeödet den Spruch runter, den er schon seit zehn Jahren jedesmal herbeten musste, wenn er einen Anruf aufnahm.

"Seien Sie mir gegrüßt, Dick. Na, alles frisch? Wie geht's der Familie?"

Burns riss die Augen auf und wurde binnen weniger Sekunden kreidebleich, als er die Stimme am anderen Ende der Leitung wiedererkannte. Dann stand er hastig auf, warf einen Blick auf den Gang und schloss vorsorglich die Tür zu seinem Büro, bevor er sich wieder auf seinen Stuhl fallenließ. Plötzlich fühlte er sich um mindestens zehn Kilo schwerer.

"Ahm-... g-guten Tag, Sir. Mir geht's gut. Der Familie auch."

"Das hört man gern. Doch nun zum Geschäftlichen. Hören Sie, Dick, es gibt Arbeit für Sie."

"G-gern. Es freut mich jedesmal, mit Ihnen zusammen zu arbeiten, Sir. Ich-... i-ich nehme doch an, dass alles legal ist?"

"Aber Dick, ich würde doch niemals etwas von Ihnen verlangen, das nicht vollkommen legitim wäre. Und darüber hinaus wird das Honorar gewiss Ihren Vorstellungen entsprechen."

Burns versuchte vergeblich, den steinernen Kloß in seiner Kehle runterzuwürgen.

Du selbstverliebter, kommerzgeiler alter Arsch. Ich mach das schließlich nur wegen des Geldes!

"Und was genau müsste ich tun, Sir?"

Die Stimme am anderen Ende der Leitung ließ ein amüsiertes Kichern hören.

"Oh, heute geht es nicht um etwas, das Sie tun müssen, sondern um etwas, das Sie nicht tun müssen. Passen Sie auf..."

Während der Sergeant seinem Auftraggeber lauschte, verfärbte sich sein Gesicht nach und nach immer mehr ins Weiße.

Verdammte Scheiße nochmal. Das kann der nicht von mir verlangen!

"A-aha. Aber-... wissen Sie, es besteht die Gefahr, dass andere aus meiner Sparte oder die Polizei-..."

Wieder kicherte es an seinem Ohr.

"Keine Sorge, diese Stümper Kinomoto und Fullright haben wir ganz fest im Griff. Niemand wird Ihnen etwas nachweisen können. Also, denken Sie, Sie könnten das für uns einrichten? Wir wären Ihnen mehr als dankbar."

Burns wischte sich den kalten Schweiß von den Stirn, obwohl er gar nicht schwitzte.

Oh Allmächtiger.

"A-also... also schön. In Ordnung. Ich kümmere mich drum."

"Ausgezeichnet. Sie sind ein guter Junge, Dick."

Klick. Stille.

Mit einem Gefühl, als ob er mit einem Schlag um zwanzig Jahre gealtert wäre, starrte Burns das Telefon an.

Eine Mischung aus Ärger und Hilflosigkeit überkam ihn, und ehe er sich versah, knallte er den Hörer so heftig wieder auf die Gabel, als wolle er etwas Widerwärtiges, Beschmutztes von seinen Händen schütteln.

Mieses Italienerschwein.
 

Zehn Uhr in der Früh.

Ein neuer Morgen brach an. Draußen auf den Straßen erwachte das Leben, wie es das jeden Tag aufs Neue tat- und ebenso bewies sich wieder, dass es sogar im Hippieviertel von Kingstonville sowas wie einen Alltag gab, wenn auch nur auf seine eigene Art.

Eine Handvoll Kinder spielte auf dem Bürgersteig der Beethovenstraße johlend Ball. Missis Robinson und ihr Mann versuchten vergeblich, ihr altersschwaches Auto zu reparieren, das wohl nur noch durch eine göttliche Fügung des Schicksals zusammengehalten wurde.

Im Badezimmer von Haus Nummer dreiunddreißig starrte Shaolan unwillig auf das randvoll gefüllte Waschbecken.

"Muss ich wirklich, Mann?"

"Jetzt stell dich doch nicht so an, Shaolan!", trällerte Fye fröhlich, während er seinen klitschnassen Nacken ein wenig per Ein-Hand-Massage zu entspannen versuchte, "Denk doch an, an-... an Benjamin Blümchen! Der musste seinen Heldenmut auch mal beweisen, indem er ins kalte Wasser gesprungen ist!"

"Ich mag den aber nicht, Mann", erklärte der Teenager ohne große Umschweife, "Dieser elende Zuckerstückchen-Vergewaltiger!"

"Gottchen, hast du 'ne Elefantenphobie? Und wie in aller Welt vergewaltigt man ein Zuckerstückchen?"

"Indem man es isst", erklärte Sakura von der Badewanne aus, bevor sie ein wenig heißes Wasser nachlaufen ließ.

"Dann tötet man es doch! Hast du schon mal 'nen Vergewaltiger gesehen, der sein Opfer aufisst?"

"Ja, in Vendetta Bitch, Teil drei. Der Hauptdarsteller verspeist seine Geliebte noch während dem Sex. Stimmt's, Shaolan?"

"Jepp. Nach dem Film musste ich fast kotzen. Also ein guter Vergleich zu Benjamin Blümchen."

"Dann schauen wir uns eben mal einen intelligenteren Film an! Zum Beispiel King Kong oder Godzilla! Oder Rambo!", schlug Fye emsig vor, während er seine Halssehnen knacken ließ, "Kurogane hat gesagt, dass man nach Rambofilmen gut einschlafen kann! Ich hab ihn übrigens gestern abend gefragt, ob er uns nicht mal besuchen kommen will!"

Sakura drehte den Wasserhahn ab und warf Shaolan einen fragenden Blick zu, der als Antwort nur die Achseln zuckte.

"Hör mal, Fye-San... was ist dieser Kurogane eigentlich für ein Mensch, dass du fast nur noch von ihm redest?"

"Er ist total lustig!", legte der Blondling sofort los, "Er ist ungewöhnlich! Er hat ein Cut-... äh, Katana! Und er will mich ständig töten! Das ist richtig spannend, im Ernst jetzt! Er würde euch ganz bestimmt gefallen!"

"Wie sieht er aus? Hat er Muckis? Ist er ein Sweetie oder sexy?"

"Mann, Sakura!", rief Shaolan empört.

"Er ist hoch gewachsen und schwarzhaarig", erklärte Fye fröhlich, "Und er kommt aus Japan, auch wenn man's ihm kaum ansieht. Ich würde ihn ja eher unter sexy einstufen, aber er hasst es, sexy zu sein. Er will nie heiraten, hat er mir mal erzählt."

"Okay, Fye-San, wenn er Muckis hat und sexy ist, kann er ruhig mal zu Besuch kommen."

"EY!! Mensch!!", maulte Shaolan und warf ein Badelaken nach seiner Freundin.

"Mann, Shaolan, krieg dich ein", lachte Sakura, "Ich würd ihm schon nichts weggucken! Oder soll ich wieder Karaoke zu Der Mann in meinem Leben singen, damit du mir glaubst?"

"Schon okay, ich glaub dir doch alles", seufzte der Teenager, "Machen wir lieber hinne, es ist schon fast viertel nach zehn."

"Hey, chill mal! Miss Garfield ist doch viel zu idealistisch, um einen Schüler zu töten!"

"Hey, vergiss nicht: tote Menschen, Folge: steigende Petroleumpreise, hat sie doch gesagt!"

"Im Ernst?", lachte Fye und gab es auf, diesen stechenden Schmerz aus seinem Hinterkopf wegkneten zu wollen, der ihn mal wieder die ganze Nacht hindurch geplagt hatte, "Na, dann gehe ich schon mal runter und setze den Tee auf, damit die Petroleumpreise niedrig bleiben, okay?"

"Das wär super, Fye-San! Und vergiss nicht, diesen Kurogane mal einzuladen."

"Keine Sorge, irgendwann überrede ich ihn schon noch!"

Der Blondling verabschiedete sich noch mit einem Lächeln und zog die Tür hinter sich zu.

Kaum, dass er draußen war, klammerte er sich an der Klinke fest und holte tief Luft, während der Schmerz immer noch wie tausende zuckende, glühende Blitze durch seinen Hinterkopf schoss. Seine Knie zitterten.

"Sie verkraften nicht viel, kann das sein?"

Fye lächelte schief und musste all seine inneren Selbstüberredungskünste aufbringen, um die Klinke loszulassen und in unbeholfenen Schritten durch den Flur in Richtung Treppe zu stolpern.

Hoffentlich würde er es schaffen, ohne kotzen zu müssen. Wenigstens heute.

Mann, was war er doch für ein Weichei.

Schätze, Sie hatten Recht, Kurogane.
 

Halb fünf Uhr am Nachmittag.

Die vermummte Gestalt hatte sich hinter einem schweren Geländewagen versteckt, der wohl nur einem dieser reichen Oberfutzis gehören konnte. Naja, reiche Oberfutzis wuchsen in diesem Viertel ohnehin auf den Bäumen.

Argwöhnisch schielte die Gestalt um die Motorhaube herum und beobachtete den Fußweg, der ihn noch von seinem Ziel trennte.

Die Luft war rein.

In einem lautlosen Sprint überquerte sie die Straße, sprang behende über den Zaun, der das Grundstück des Hauses Nummer fünf säumte und verschwand im Hinterhof.

Mit einem lautlosen Ächzen stellte sie die beiden enormen Tanks ab, die sie bis jetzt mit sich herumgeschleppt hatte.

Na dann mal los.
 

Wenige Minuten nach fünf Uhr.

Fye trällerte gut gelaunt den Refrain des Liedes aus dem Radio mit, während er Zucker, Butter und Sahne in einer großen Plastikschüssel verrührte. Er hatte ewig keine Sahnekaramellen mehr gemacht und wollte schon mal für Weihnachten üben.

Sein Hinterkopf schmerzte zwar immer noch, aber immerhin nicht mehr so unerträglich wie heute morgen.

Munter summte der Blondling noch die letzten Töne des populären italienischen Schlagers gemeinsam mit dem Sänger.

"... sooo, und das war Dipinto Felice mit 'Viva Viva'! Auch heute ist dieses nette kleine Stückchen Musik im ganzen Land beliebt, und das nicht nur bei unseren Itakern! Doch bevor wir mit dem nächsten Hit weitermachen, kommen wir noch rasch zu den Blitznachrichten! Lass uns hören, Tom! Was geht heute so in Kingstonville ab?"

"Oh, einiges, Aidan. Vor wenigen Minuten ist ein ganz ungewöhnlicher Anruf bei uns eingegangen: im Reichenviertel ist offenbar ein Vesuv am Ausbrechen, und zwar in der Schillerstraße! Mensch Leute, ruft einfach doch den Notdienst an, damit wäre doch alles--..."

Noch bevor der Radiosprecher zu Ende berichtet hatte, fiel die Schüssel.

Fyes Augen weiteten sich.

"Kurogane", flüsterte er und stürzte Hals über Kopf zur Garderobe.
 

"Äh, entschuldigen Sie, Sir, würden Sie mich bitte durchlassen? Es ist dringend!"

Der hochgewachsene Schwarzhaarige würdigte das magere, rothaarige Männlein keines einzigen Blickes.

"Gehen Sie um mich rum. Da ist genug Platz."

"Aber ich muss--"

"GEH UM MICH RUM, NATZKOPF!!"

Der leicht eingetrocknet wirkende Rotschopf in den Sechzigern schien für einige Sekunden nicht genau zu wissen, wie er reagieren sollte- empört darüber, wegen nichts und wieder nichts derartig angekeift zu werden, oder verwirrt über dieses seltsame Schimpfwort. Schließlich entschied er sich ungefährlichsten Zwischenweg und lief um das schwarzhaarige Ungeheuer herum, um in einem meisterhaften Sprint die Straße hinunter zu spurten und zwischen den Wohnblocks und Villen zu verschwinden.

Kopfschüttelnd sah Kurogane ihm hinterher.

Was war denn heute bloß wieder los? Das war jetzt schon dritte gewesen, der auf seinem Weg durchs Reichenviertel an ihm vorbeigefußelt war wie eine Sau auf der Flucht vor dem Schlachtmesser,

Normalerweise hätte er sich spätestens jetzt darüber aufregen müssen, nicht einmal auf seinem Heimweg in Ruhe gelassen zu werden; die erwartete Wut jedoch wollte und wollte sich nicht einstellen.

Naja, kein Wunder eigentlich. Er war eh den ganzen Tag über völlig längs der Kappe gewesen.

Schon seit er an diesem Morgen aus komatösem Schlaf erwacht war wie ein Untoter aus seinem Grab, hatte er sich seltsam unstet gefühlt, beinahe schon leblos, wie einer dieser Tiefkühlpizza fressenden Zombies aus der Werbung.

Stundenlang war er in seinem Haus umhergewandert, um sich wieder auf die Beine zu bringen. Hatte den Telefonhörer abgenommen und wieder aufgelegt. Hatte gedankenverloren mit seinem Katana herumgespielt. Hatte seine Hände angestarrt, seine japanischen Hände. Unschlüssig. Ratlos. Als würde er nach etwas suchen.

Aber nach was?

Was diesen blonden Volldepp betraf, nach dem sehnte er sich nun wirklich nicht- er hatte jeden Winkel der Küche durchkämmt, um auch wirklich sicher zu gehen, dass sich sein ungebetener Gast nicht etwa über Nacht in seinem Küchenschrank eingenistet hatte. Aber er war längst weg gewesen. Vermutlich schon seit gestern Nacht.

Trotzdem, seltsam war es trotz allem gewesen. Dieses Gefühl, als ob ihm plötzlich irgendetwas abhanden gekommen wäre.

Und weil ihm die totengleiche Stille in seinem Haus zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gehörig auf die Nieren gegangen war, und er zudem auch keine rechte Lust gehabt hatte, seinen Mantel schon wieder mit dem Blut eines Opfers zu besudeln, hatte er sein Äußeres auf ein halbwegs gesellschaftsfähiges Niveau gebracht und war in die Innenstadt abgewandert, um sich in die erstbeste Bar zu hocken, in der die Drinks noch zu Preisen angeboten wurden, die das Portemonnaie nicht beleidigten. Tja, und dann hatte er gesoffen, und das stundenlang. Unter den verwirrten Blicken des Barkeepers hatte er Glas um Glas, Whisky um Whisky und Gin um Gin gestürzt- bis hin zu jenem Punkt, an dem er immer begann, sich elend zu fühlen.

Elend wie ein Lumpensack, elend wie ein Opa, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte und jetzt doch ohne Rente klarkommen musste. So elend war ihm schon ewig nicht mehr zumute gewesen.

Allerdings war das auch nicht verwunderlich- denn während er in dieser Bar gesessen war, war ihm seit langer Zeit wieder klargeworden, was für ein armer Tropf er doch eigentlich war.

Ja, das war's. Ein armer Tropf. Der Witz der Woche. Ein Japsenwitz für die Bild am Sonntag.

Was macht ein Japaner, wenn er sich gottverlassen fühlt und es sich nicht eingestehen will? -Er geht sich besaufen!

Schade nur, dass er nicht besoffen war. Jedenfalls nicht wirklich.

Verdammt nochmal, nicht einmal ordentlich besaufen konnte er sich! War das denn so schwer?

"Entschuldigen Sie, Sir--?"

Zwei weitere Passanten ließ den Schwarzhaarigen aus seinen Gedanken hochschrecken. Er knurrte.

"Lassen Sie mich raten, Sie wollen an mir vorbei, was?"

Die beiden Orgelpfeifen nickten. Kurogane hob geringschätzig die Augenbrauen.

"Darf ich dann zunächst fragen, was sich schon wieder in diesem verdammten Viertel abspielt, dass hier eine derartige Völkerwanderung im Gange ist? Verteilt die Caritas heute Gratis-Gehirne?"

Mit dieser rhetorischen Frage hatte er gar nicht so Unrecht- es waren für diese Tageszeit verdächtig viele Leute unterwegs, und alle liefen sie in die gleiche Richtung, fast wie eine Schar von Lemmingen. Die beiden Orgelpfeifen tauschten einen Blick aus.

"Haben Sie's noch nicht in den Kurznachrichten gehört? Dort vorne soll irgendwo etwas gewaltig am Kochen sein!"

"Am Kochen? Werden Sie doch bitte deutlicher, bei diesen bekloppten Standard-Floskeln versteht ja kein Mensch--..."

"Dort", sagte Orgelpfeife eins und deutete unter heftigem Nicken von Orgelpfeife zwei nach vorne.

Argwöhnisch hob der Killer den Blick.

"Wo dort? Ich sehe kein--..."

Doch noch während des Redens versagte Kuroganes Stimme ihm plötzlich den Dienst.

Automatisch blieb er mitten auf dem Gehweg stehen. Seine Augen weiteten sich.

Entgeistert blickte er nach oben, Richtung Himmel. Und sein Herz setzte unwillkürlich für einige Schläge aus, als er den Rauch sah.

Schwarzer Rauch. Ein Himmel voll schwerem, pechschwarzen Rauch.

In kaum vierzig Metern Entfernung kroch er langsam zwischen den Wohnblocks zu den Wolken empor.

"Was zum-... was--..."

Die zwei Orgelpfeifen warfen sich abermals einen Blick zu, diesmal deutlich beunruhigter.

"Sir-... ? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?"

Der Schwarzhaarige rührte sich nicht. Als Orgelpfeife eins ihm jedoch auf die Schulter tippte, fuhr er wild herum, packte ihn am Kragen und riss ihn in die Luft, sodass diesem ein fassungsloses Würgen entwich.

"WAS IST DORT LOS?!!", brüllte Kurogane sein heftig nach Atem ringendes Gegenüber an.

"D-... dort hat jemand-... ein, -... ein Haus-..."

"EIN HAUS WAS?!!"

"E-... ein Haus-... bitte, hören Sie auf, Sie tun mir ja weh!"

Gerade wollte der Killer ausholen und seinem Opfer den vermutlich gesalzensten Faustschlag ins Gesicht verpassen, den er je in seinem Leben abbekommen hatte-- als plötzlich ein seltsames Geräusch hinter ihnen laut wurde.

Es klang wie das Wimmern und Keuchen eines schmerzgequälten Tiers, das von regelmäßigem Scheppern unterbrochen wurde.

Allen dreien blieb glatt der Mund offenstehen, als sie sahen, was es war.

Es war ein Auto- oder besser gesagt, kaum mehr als das altersschwache Gerippe eines Autos-, das unter rasselndem Hulchen und Ächzen um die Ecke gedonnert kam und eine hysterisch kreischende Vollbremsung mitten auf der Straße einlegte, wobei es zwei seiner rostigen Radkappen verlor. Unter ekligem Knacken wurde die Fahrertür aufgestoßen, und aus seinem Innenraum stieg--

"Kurogane!", rief Fye schon von weitem und rannte wie vom Teufel gejagt auf ihn zu, "Kurogane, kommen Sie, schnell!"

Da wurde Kurogane mit einem Schlag bewusst, was geschehen war.

Ohne ein weiteres Wort wirbelte er herum und rannte los.

NEIN. Nein, das darf nicht wahr sein!!

Rennen, rennen, rennen, Kreuzung, Fußgängerweg, Häuserblock--...

"Warten Sie auf mich!", keuchte Fye, der ihm sofort auf seinem Weg gefolgt war und mehr schlecht als recht versuchte, mit ihm Schritt zu halten, "Ich kann nicht so schnell--"

"HALTEN SIE DEN MUND!!"

Mit einem Gefühl, als müsste sein Herz jede Sekunde einfach zu schlagen aufhören, rannte der Schwarzhaarige weiter, ohne sein Tempo zu drosseln- bis er auf die Straße kam, in der er wohnte. Wild wühlte er sich in die vielköpfige Schar der anderen Anwohner hinein, die von Meter zu Meter dichter wurde, kämpfte sich verbissen zwischen zahllosen störenden, lästigen Gaffern hindurch, wobei er sich nicht scheute, auch von seinen Ellenbogen Gebrauch zu machen, spurtete den Weg zu seinem Haus hinunter--

und blieb augenblicklich stehen.

Alles in ihm wurde starr.

Das Blut schoss ihm in Wangen und Ohren wie gärendes Gift. Der kalte Schweiß brach ihm aus.

Denn nun sah er das Feuer. Das Feuer, das sein Haus in einem tödlichen Klammergriff umschlungen hielt.

Ungestüm. Verheerend.

Unter ohrenbetäubendem Krachen und Fauchen loderte es in den Himmel hinein, verschlang und vernichtete alles, was es zu fassen bekam. Rings um seine Wohnung war die gesamte Erde verglüht und kohlrabenschwarz, blutrotes Licht flackerte, wirbelte und tanzte auf dem wenigen Schnee in der Nähe, der noch nicht geschmolzen war.

Fassungslos blieb Kurogane stehen und ließ den Kopf langsam in den Nacken sinken.

Ein Himmel voller Flammen offenbarte sich ihm, eine Straße, ein Himmel, eine Welt voller Flammen.

Flammen. Bei diesem Wort schien sich ein seltsamer Mechanismus in seinem Kopf in Gang zu setzen.

"Wenn wir sterben, gehen wir mit den Flammen."

"Willst du sie aufbewahren oder ausstreuen?"

Blindlings stieß der Schwarzhaarige seinen Vordermann zur Seite und wollte auf sein Grundstück zurennen--

"Kurogane! HALT!!"

Eine helle Hand schoss hervor wie aus dem Nichts und krallte sich in seinen Ärmel, riss ihn in die aufgehetzte Masse zurück.

"Lassen Sie mich los!!"

Fyes Gesicht war blass wie der Tod, aber seine Finger vergruben sich so fest in den Ärmel des Killers, als wolle er ihn abreißen.

"Sind Sie verrückt? Wieso wollen Sie dort rein?"

Der Killer blinzelte irritiert. Sein Herz hämmerte wie ein Presslufthammer in seiner Brust.

"Na, weil-... weil--..."

Es wollte ihm nicht einfallen. Waren sie nicht noch im Feuer?

Nein. Nicht die beiden. Es ist etwas anderes.

Ja! Einen einzigen Gegenstand gab es noch in seinem Haus, der es wert war, vor den Flammen gerettet zu werden, bevor es von ihnen verschlungen und zerfressen wurde--... einen, einen einzigen Gegenstand--...

Mein-... mein Kata-...

Augenblicklich verkrampfte sich Kuroganes gesamtes Inneres wie von einem Peitschenhieb getroffen.

Ein Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem Leben gespürt hatte, schoss seine Wirbelsäule hinauf wie glühende Lava, raste durch seine Venen, in seinen Kopf hinauf, und schien dort tausend tiefe Wunden zu reißen.

"NEIIIIIN!!!"

Ein nackter Irrsinn flammte in seinen Augen auf, und wie von Todesangst getrieben rannte er los.

Preschte auf sein Grundstück zu, zu den Flammen, zum Inferno, rannte, rannte, rannte--

Nicht du. NICHT DU!!

Er überquerte die Straße und setzte über seinen Gartenzaun hinweg.

Es war soweit. Das Tor zur Hölle wurde ihm aufgestoßen, hinter weit geöffneten Pforten peitschte ihm das Inferno entgegen, groß und glühend heiß wie die Sonne, die Flammen wollten ihn verschlingen, fressen, vertilgen--

"HALT!!"

Noch während der Killer auf sein Haus zugestürmt war, war eine helle, schlanke Gestalt aus der Gafferschar hervorgeschossen wie ein Blitz. In riesigen Sätzen spurtete sie hinter ihm her, warf sich mit aller Gewalt, die ihrem Körper innewohnte, nach vorne und umschlang sein linkes Knie mit beiden Armen.

"Tun Sie's nicht, Kurogane!! HÖREN SIE AUF!!"

Doch es war vergeblich. Der Killer reagierte in keinster Weise auf diesen verzweifelten Rettungsversuch- mit der Kraft eines Wahnsinnigen riss er den jungen Mann auf seinem Weg mit und schleifte ihn mit sich durch den schwarz verfärbten Schnee wie einen kraftlosen Lumpensack.

"Kurogane, bleiben Sie stehen! Sie werden sich verletzen, wenn Sie da reingehen! BITTE!!"

"LASSEN SIE MICH LOS!!", brüllte Kurogane mit sich überschlagender Stimme, während er vergeblich versuchte, dieses lästige blonde Etwas wieder von seinem Knie wegzuschütteln, "ODER ICH BRING SIE UM!!"

"Das ist mir egal!", rief Fye verzweifelt und umschlang sein Knie so fest, dass es ihn in beiden Armen schmerzte, "Sie gehen da nicht rein! Und wenn, dann gehe ich mit Ihnen!"

"SIE WERDEN GAR NICHTS TUN!! ICH HOLE MEIN KATANA ALLEIN!"

Die Augen des Blondlings weiteten sich.

"Ihr Katana-... ?"

Ohne eine weitere Sekunde der Verzögerung ließ er das Knie des Killers los, sodass dieser durch diese plötzliche Befreiung unwillkürlich mehrere Meter nach vorne schoss, rappelte sich auf, stürmte die wenigen Meter, die ihn noch von der Feuersbrunst trennte, auf das Haus zu- und warf sich geradewegs in die tosenden Flammen hinein.

"Was-... WAS TUN SIE DA?!!"

"Kommen Sie!", rief der Hilfswicht nur und schlug sich die Kaputze seines Wintermantels über den Kopf, damit ihm keine der wild umherstiebenden Feuerzungen ins Gesicht peitschen konnten, "Vielleicht schaffen wir es noch!"

Schnell zog sich der Schwarzhaarige ebenfalls seinen Mantel über den Nacken und stolperte blindlings auf das Feuer zu und ließ sich von ihm verschlingen. Das Flammenmeer schlug wild nach ihm aus, wollte ihn packen und in seine Arme reißen, in seine todbringende Umarmung. Mit ohrenbetäubendem Getöse donnerte die Fassade der Nordwand zu Boden und zermalmte alles unter sich. In blinder Hast packte Kurogane das erstbeste Trümmerstück, das er zu fassen bekam und riss es nach oben, wühlte sich mit der Kraft des Verzweifelten durch das versprengte, brennende Feld hindurch, das einst seine Wohnung gewesen war, suchte das Katana, sein Katana, der einzige Gegenstand, der es noch wert war, suchte es, suchte es-...

Wo bist du, wo bist du nur hin, wo, wo, wo, wo, wo--

Ein plötzlicher Ruf ließ ihn aus seiner kalten Angst hochschrecken.

"Kurogane!! Schnell-... schnell, kommen Sie! Hier drüben! Ich glaube, dort drüben ist es!"

Die Silhouette des blonden jungen Manns wirkte beinahe wie eine dämonische Erscheinung- Flammen umkränzten seine schon zur Hälfte geschmolzenen Schuhe, sein Gesicht war schwarz von der Asche, er hustete rasselnd- doch einer seiner rußverschmierten Finger zeigte nach vorne.

Und dort war es tatsächlich. Unnatürlich aufrecht stand sein Katana mitten in der Feuersbrunst in den verbrannten Boden gespießt, als hätte es jemand eigens in diese Position gebracht, und schien auf ihn zu warten.

Ein eigenartiges Klingen durchzuckte seinen Kopf. Sein Soldatensinn schaltete sich ein.

Noch eine Minute bis zur endgültigen Detonation. Ein Feuer dieses Ausmaßes bewirkt immer eine Explosion. Ihnen bleiben, den Fluchtweg nicht mit eingerechnet, noch knappe dreißig Sekunden.

In einem gewaltigen Satz warf sich Fye zur Seite, als Kurogane Anlauf nahm und mitten durch das Flammenmeer preschte wie eine Raubkatze im Sprung--

Das Schwert kam näher, es kam zu ihm, wie in einem Alptraum geisterte es auf ihn zu, drei Meter, zwei Meter, ein Meter,--...

JA!

"LOS, RAUS HIER!!", brüllte der Killer, nachdem er es mit einem heftigen Ruck geschafft hatte, sein Katana aus dem Boden zu lösen und es an sich zu reißen. Der Ledergriff war völlig verkohlt, und das Heft fühlte sich glühend heiß an.

Die beiden verschwendeten keine einzige Sekunde. Hinter ihnen schien die Erde aufzureißen und regelrecht in die Luft zu gehen, während sie hintereinander zu der Flammenwand rannten, die sie von der Außenwelt trennte.

In einem letzten, verzweifelten Satz warfen sie sich in den Garten des Grundstücks, und Kurogane schaffte es gerade noch, den blond beschopften Kopf des Jüngeren in den Schnee zu drücken, bevor das Haus hinter ihnen unter trommelfellzerfetzendem Dröhnen endgültig in sich kollabierte.

Ein rasch abschwächelndes, träge tänzelndes Meer aus kleinen, zuckenden Feuerzungen blieb zurück. In seinen letzten Zügen griff es mit unzähligen, dünnen Fingerchen nach etwas, das es noch umklammern konnte, schwächer und schwächer mit jeder Sekunde.

Die Masse der anderen Anwohner war nun endgültig in Hysterie verfallen, man schrie nach einem Krankenwagen, man schrie nach der Feuerwehr, man schrie nach der Polizei, man schrie nach Gott.

Kuroganes Gesicht fühlte sich an wie mit heißem Wachs übergossen, seine Augenbrauen waren versengt, sein Herz polterte in seiner Brust, als müsse es jede Sekunde explodieren, und der blonde Hilfswichtel neben ihm gab merkwürdige Geräusche von sich, als würde er sich gerade übergeben--

Doch alles, was er in diesem Moment noch spürte, war der Griff seines Katanas zwischen seinen rußgeschwärzten Händen.

Sein Katana. Gerettet. Um ein Haar verbrannt. Verbrannt im Inferno. Verbrannt, so wie-...

Nicht sentimental werden, dachte der Killer und biss die Zähne zusammen, weil ihm der Griff seines Schwertes glühend in die Hände schnitt und sich wie eine Zecke in seine Haut verbiss.

Nicht jetzt, wo ich tot bin. Nicht jetzt.

Und auf einmal wusste er, warum er sich schon den ganzen Morgen so seltsam gefühlt hatte.

Er war gebrochen worden. Heute, genau heute an seinem Jahrestag, war etwas in ihm gestorben.

Und es würde nie wieder zurückkehren.

Nie wieder.
 

Nacht.

Ein fahlsilbriger Halbmond stand am sternenklaren Himmel.

Mit seinem bleichen, unirdischen Schein verwandelte er die Welt unter sich in eine bizarre Landschaft aus gespenstischen Licht- und Schattensilhouetten.

Doch hier unten auf der Erde war alles war schwarz. Schwarz, schwarz, soweit sein Auge nur reichte.

Ein Geschmack von vertrocknetem Blut erfüllte seinen Mund. Sein Kopf schmerzte. Es stank nach Asche und verbranntem Holz.

Mit unsicheren Schritten stolperte Fye durch die Dunkelheit, wobei er sich mit einer rußverschmierten Hand an den kärglichen Resten der Nordwand abstützte, um nicht plötzlich einfach umfallen zu müssen.

Vor einigen Stunden war das Feuer endgültig erstorben. Kein einziger der Anwohner hatte sich auch nur im Ansatz dazu aufraffen können, in irgendeiner Weise zu helfen. Sie waren regelrecht in ihre Häuser geflüchtet, als die Flammen sich endlich geduckt hatten und verraucht waren, und von Kuroganes Haus nur noch ein teerschwarzes, qualmendes Gerippe übrig geblieben war.

Doch Kurogane selbst schien das egal gewesen zu sein.

Mittlerweile war ihm wohl alles egal, so wie er sich in den letzten Stunden verhalten hatte.

Der Blondling seufzte und blieb mit zittrigen Knien stehen, als er am gänzlich niedergebrannten Hauseingang zum Stehen kam.

Eine mächtige Gestalt, die auf unheimliche Weise mit den pechschwarzen Schatten der Nacht zu verschmelzen schien, kauerte völlig in sich zusammengesunken auf den Stufen- oder besser gesagt auf dem Wenigen, das noch von den Stufen übrig war- und starrte mit glasigem Blick auf den rußgeschwärzten, totgebrannten Boden.

"Kurogane?"

Keine Antwort. Fyes Kehle verkrampfte sich, und er ließ sich mit einem unterdrückten Seufzen einige Meter von der schwarzen Gestalt entfernt auf einem Trümmerstück nieder.

"Kurogane, ich- ich wollte--..."

Hilflos brach der Blondling abermals ab. Es hatte keinen Sinn- die Worte wollten ihm einfach nicht nahtlos über die Lippen kommen.

Seine Eingeweide fühlten sich an, als ob er lebende Schlangen verschluckt hätte. Gequält biss der Blondling die Zähne zusammen.

Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt.

Er wusste mittlerweile nicht mehr, was er noch tun sollte. Seit das Feuer erloschen war, saß Kurogane auf den Stufen, starrte ins Nichts und reagierte auf keinen seiner Versuche, ein Gespräch zu beginnen. Er wirkte völlig in sich zurückgezogen.

Verkapselt und verschollen im eigenen Ich.

"Hören Sie, ich-...", stotterte Fye wieder unbeholfen drauflos, "Ich hab mich vorhin bei einigen der anderen Anwohner erkundigt, was diesen, diesen-- diesen Vorfall anbelangt. Sie haben gesagt, dass sie die Feuerwehrzentrale, die für diesen Bezirk zuständig ist, sogar mehrmals angerufen hätten, aber es habe niemand abgenommen. Und weil das nicht geklappt hat, hätten sie nach fünf Versuchen schließlich die Zentrale in der Vorstadt benachrichtigt, aber die Leute dort hätten nur gesagt, dass dieses Viertel hier schon außerhalb ihres Rettungsbereiches liegt, und ihnen die Befugnis fehlen würde, hier einzugreifen, und-... und deswegen--..."

Wieder versagte ihm die Stimme. Wieder kam keine Antwort.

Die einzige Reaktion vonseiten des schwarzhaarigen Riesen war, dass er den Griff des Schwerts, an dem er sich schon seit über zwei Stunden festgehalten hatte wie ein Ertrinkender an einem Stück Treibholz, nur noch fester umklammerte.

Hilflos starrte Fye auf die markanten Gesichtszüge seines älteren Gegenübers.

Es lag ein seltsamer Ausdruck in diesen zinnoberroten Augen. Als ob an diesem Abend irgendetwas in ihm auf schmerzhafte Weise zersplittert wäre. Gebrochen. Kraftlos.

"Kurogane, bitte--..."

"Es ist sinnlos."

Der Blondling zuckte leicht zusammen. Ein schmerzhafter Stich schoss durch seinen Hinterkopf.

"Siehst du es denn nicht ein? Du bist völlig unfähig! Du kannst gar nichts!"

Fast schon reflexartig stand der junge Mann auf und griff sich mit verkrampften Fingern an den Nacken.

"Ich--.. Kurogane, ich, ich--..."

"Bei deinem Anblick weiß ich nicht, ob ich kotzen oder heulen soll."

"Was ist schon wieder los?", meldete sich plötzlich eine heisere, tonlose Stimme zu Wort, die klang, als käme sie geradewegs aus der Unterwelt. Nervös schreckte Fye hoch.

"Ich-... ich werde-..."

"Du bist völlig unfähig. Du kannst gar nichts."

Verzweifelt presste Fye die Augenlider zusammen.

"Kurogane-... ich werde Ihnen helfen!", stieß er schließlich hervor und starrte den Killer aus großen, glasigen Augen an, "Ich mein's ernst! Es tut mir leid, dass Ihnen so etwas passiert ist, und ich weiß, dass Ihnen Unrecht getan wurde! Ich werd Ihnen helfen! Ich mache mich nützlich! Ich versprech's Ihnen!"

"Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können", kam die mehr gekrächzte als gesprochene Antwort.

"Ich will es aber versprechen!"

Stille. Langsam, unendlich langsam, kam Bewegung in die dunkle Gestalt des hochgewachsenen Mannes. Zwei starre, dunkelrote Augen hoben ihren Blick vom kohlschwarzen Boden und fixierten bewegungslos das schneeweiße, unsichere Gesicht über sich.

"Woher wollen Sie das eigentlich wissen?"

"Ich weiß es ganz einfach! Ich bin der einzige, der Ihnen helfen kann!"

"Mir kann keiner helfen."

Mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck wandte der blonde Hilfswicht den Kopf ab und starrte auf die Straße hinaus, von der sich selbst die hartnäckigsten Gaffer schon längst verzogen hatten.

Als er wieder zu reden begann, klang seine Stimme, als käme sie von weit her.

"Wissen Sie--... vorhin im Feuer, als-... als Sie Ihr Schwert aus den Trümmern rausgeholt haben, und wir nach draußen gerannt sind-... da habe ich gemerkt dass Sie leben wollen."

"Na und?", kam es verbittert zurück.

"Nein, es ist nur so, dass ich das bewundere. Ihnen liegt sehr viel an diesem Schwert, nicht? Es gibt nicht mehr viele Leute, denen etwas soviel bedeutet, dass sie sich dem Teufel auf dem Silbertablett servieren würden, nur um es retten zu können."

Als Fye sich wieder umdrehte, lächelte er.

"Ich werde Ihnen helfen."

Kurogane starrte sein jüngeres Gegenüber verständnislos an.

"Ach ja?"

"Ja! Wir arbeiten zusammen, wir finden den Irren, der Ihr Haus angezündet hat, und wir machen diesen Feuerwehrheinis so gehörig Dampf unterm Hintern, dass sie nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist! Wir schaffen das schon, Kurogane!"

Stille. Bis Kurogane einen Seufzer ausstieß. Tiefer, tiefer, tiefer Seufzer.

"Nennen Sie mir auch nur einen Grund, warum ich mein Amen dazu geben sollte."

Der Blick des jungen Mannes bekam etwas schwer zu Entschlüsselndes.

"Ganz einfach, Kurogane. Weil Sie ein Ziel haben. Wollen Sie das etwa einfach aufgeben?"

Der Killer brauchte einige Sekunden, um seine Irritation runterzuschlucken.

Was-...

"Ich..."

Gedankenverloren senkte er den Blick und starrte er sein Schwert an.

Der Griff fühlte sich rau und hornig unter seinen Handflächen an.

Verbrannt. So wie-...

Ich habe also ein Ziel.

"Sie machen ja eh, was Sie wollen", sagte er schließlich tonlos.

Fye strahlte. "Na also! Wir kriegen das hin, Sie werden sehen! Ich bin schließlich nicht unfähig!"

Von seinem älteren Gegenüber kam nichts als ein halblautes Brummen. Mit einem Lächeln blickte der Konditorlehrling gen Himmel.

Der Mond schien und verteilte sein silbriges Licht am Horizont.

Hier unten war immer noch alles schwarz- doch in diesem Moment schien es ihm, als wäre die Umgebung um sie beide herum ein winziges bisschen heller geworden. Ein winzig kleines bisschen.

Behutsam lehnte sich der junge Mann gegen die verstümmelte Wand.

Langsam schwanden ihm die Sinne. Filmriss.

Interlude: Property / Revolt

-"Wer Hass und Verachtung in der Seele trägt, ist schwer belastet und kann nie frei aus sich atmen."-

(Bernard de Fontenelle)
 

~~
 

Arme.

Arme, Arme.

Sie wanden sich um seinen wehrlosen, aschfahlen Körper wie die dornigen Ranken einer Schlingpflanze.

"Ashura-... ASHURA!! ASHURA!! Hilf-... h-hilf mi--..."

Große, grobe Hände packten ihn am Genick wie eine junge Katze, zerrten ihn, schleiften ihn, und schmetterten ihn wie ein Bündel Lumpen auf den kalten Betonboden.

Zusammengekauerte, gekrümmte Gestalt, in Igelmanier eingerollt. Die vier Schläger über ihm.

Trübes Licht stach ihm wie eine Messerspitze in die verschwollenen Augen.

"Ashuraaaa--...."

"SAGST DU'S UNS JETZT BALD?!!"

Ein schwerer Lederstiefel sauste von oben herab und trat ihn mit der Spitze voran in den Unterbauch.

Der Schmerz fraß sich wie Feuer durch all seine Blutbahnen. Keuchend würgte er einen Mund voll Blut hervor.

"Ich hab mit dir geredet! Dreckige kleine Kanalratte!!"

Einer seiner Angreifer holte aus.

Wie in Zeitlupe sah Fye die lange, kalt glänzende Metallstange auf sich zukommen. Der Schlag explodierte grell vor seinen Augen, als sie ihn aufs Brustbein traf und ihm nicht einmal Luft zum Schreien übrig ließ.

Schmutzige, klobige Finger gruben sich in sein zerzaustes Haar und zwangen seinen Kopf nach oben.

Seine Kehle wurde eng, und heiße Tränen stiegen ihm in die Augen, als er in das vor Wahnsinn gerötete Gesicht über sich blickte.

"A-ashura-... b- bitte-... bitte, sag ihnen, sie sollen aufhören, mich zu--..."

"HALT'S MAUL!!"

Faustschlag, mitten ins Gesicht. Mit einem erstickten Laut stürzte Fye vor die Füße des bulligen Kerls, und rollte sich einem plötzlichen Reflex folgend zusammen, zog sich in sich zurück wie eine Schnecke in ihr Haus und verschränkte beide bebenden Hände über dem Kopf.

"Bitte, lasst mich! Lasst mich!", stieß er winselnd hervor und zuckte panisch zusammen, als einer der Kerle wieder ausholen wollte, "Ich-... ich weiß nicht, was ihr meint! Ich k-kann euch nicht helfen!"

"LÜG NICHT!! Du mickrige Missgeburt weißt ganz genau, was wir wollen!!"

"Ich, a-aber ich-... Ashura, bitte-..."

Hilflos spürte der Fye, wie ihm heiße Tränen in die Augen stiegen, als sich Ashura immer noch nicht vom hinteren Ende des Raumes herbequemte, in der er seit Beginn der Prozedur verharrt war.

Bewegungs- und mimiklos beobachtete er, wie sie den Blondling nun schon zum dritten Mal in dieser Woche zusammenschlugen, bis er nur noch wie ein blutverschmiertes, durchgeprügeltes Häufchen Elend zu ihren Füßen lag.

Hiebe und Fußtritte prasselten von allen Seiten auf ihn ein, irgendjemand packte ihn an den Haaren und riss ihn zu sich hoch.

Eine Stahlstange knallte schwer gegen seinen Hinterkopf. Brennende Ohrfeigen auf seinen Wangen, eine fester als die andere, sodass sein Kopf immer wieder zur Seite gerissen wurde. Hin und her, hin und her.

Jemand packte ihn bei den Schultern und warf ihn gegen die gegenüberliegende Wand.

"Mieser Bastard! Schon seit drei Jahren bist du hier und verpestest uns mit deiner stinkenden Haut die Luft! Aber um endlich diese beschissenen Zahlen rauszurücken, dafür bist du zu blöd, was?! Ich schlag dich win-del-weich!!"

Jede Silbe wurde von einer weiteren Ohrfeige unterstrichen.

Wieder tropfte Blut auf den Boden.

"SPUCK DIE ZAHLEN ENDLICH AUS!!"

Tritt in die Magengegend. Box. Schlag auf den Hinterkopf.

"Ashuraaahh--...", flehte Fye dem Wahnsinn nahe und versuchte verzweifelt, sich wenigstens die Arme zum Schutz vors Gesicht zu heben, doch beide wurden gepackt und ihm unter lauten Knacken auf den Rücken gedreht, sodass er aufschrie.

"DIE ZAHLEN, wann kapierst du's endlich?!"

Schlag. Tritt. Ohrfeige.

In den gelblich funkelnden Augen des schlanken, schwarzhaarigen Mannes am anderen Ende des Raumes flackerte es lauernd auf, während sie registrierten, wie Fye endlich gequält in sich zusammensackte. Leblos wie ein abgestochenes Tier lag er am Boden und reagierte halb ohnmächtig vor Schmerz kaum mehr auf die Tritte und Schläge, die noch von oben auf ihn eindrangen.

"Okay, das reicht", drang Ashuras Stimme plötzlich unerwartet aus seiner Ecke hervor. "Verzieht euch."

Kaum mehr bei Bewusstsein spürte der Blondling, wie ihm noch jemand ins Gesicht spuckte und ihn schließlich fallen ließ.

Schritte entfernten sich.

Die Echos türmten und verloren sich zu tausenden in seinem heißen, heftig pochenden Kopf.

Ziellos irrten seine zerkratzten Finger auf dem nackten, kalten Betonboden des Bandenverstecks umher, auf der vergeblichen Suche nach irgendetwas, das sie umklammern konnten.

Er schrie vor Schmerz leise auf, als Ashura, der mittlerweile lautlos wie ein Alptraum nähergekommen war, ihm mitleidlos mit einem seiner derben Stiefel auf die Finger trat und seine Sohle langsam nach rechts drehte, was ein widerwärtiges Knirschen verursachte.

"Ashura-... bitte-... bitte, ich--..."

"Halt dein Maul", sagte Ashura ruhig und ließ seinen Stiefel dort, wo er war. "Oder ich bringe dich um. Sei einfach so gut und verschon mich für ein paar Minuten von deinem erbärmlichen Gewinsel, ja? Ich kann es nicht mehr hören."

Behutsam, beinahe zärtlich drehte er seine Sohle wieder nach links und versetzte seinem 'Freund' einen derben Tritt gegen die Schulter, um ihn herumzudrehen.

Taube, milchtrübe Augen starrten ihn wie betäubt zwischen schmutzigen, blonden Haarsträhnen hervor an.

"Was siehst du mich so an?", fragte Ashura leise und sah dem zerdroschenen, blutüberströmten Etwas zu seinen Füßen gelassen ins Gesicht, "Was hättest du denn von mir erwartet? Dass ich heldenhaft dazwischenschreite, die Arme ausbreite und sage 'Lasst Fye gefälligst in Ruhe, oder ihr kriegt es mit mir zu tun!' ? War es das, was du wolltest? Tja, dann tut's mir leid für dich."

Der Mann lächelte und ging vor dem elenden Wesen in die Hocke, das er seit bald drei unerträglichen Jahren in seinem Bandenversteck hielt und durchfüttern musste wie einen jungen Hund.

"Ich habe dir damals gesagt, wie du dir deine Unterkunft bei uns auf ehrliche Weise verdienen kannst. Du hättest dich bloß an das erinnern müssen, was du vor zwei Jahren vergessen hast. Die Zahlenreihe, Fye. Nur das. Bist du wirklich so saudumm?"

Durch den leblosen, spindeldürren Körper vor ihm liefen fiebrige, mit dem bloßen Auge kaum wahrnehmbare Zuckungen.

"I-ich-... ich weiß nichts von Zahlen", stöhnte der Blondling halb ohnmächtig vor Schmerz, "Ich-...ich, ich will mich erinnern, ich will es wirklich, aber-- aber ich kann nicht! Ich hab alles vergessen, Ashura, und die Erinnerungen werden nicht zurückkommen!"

"Das müssen sie aber, wenn du nicht totgeschlagen werden willst", war die ruhige Antwort, "Denn lange verkrafte ich deinen Anblick einfach nicht mehr, verstehst du? Du widerst mich an. Es kostet mich immer mehr Nerven, deine jämmerliche Haut unter meinem Dach zu dulden. Du bist so erbärmlich, dass man dich nur noch abknallen und im Abguss versenken will."

Die eisblauen Iriden zitterten wie von einem Krampf durchzogen. Helle Tränen stiegen in ihnen empor.

"Du hast gesagt, ihr würdet mir helfen", wisperte das Etwas am Boden heiser.

"Ach ja? Das tun wir doch auch! Wir versuchen jeden Tag, deinem lendenlahmen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen! Aber du tust nichts im Gegenzug, Fye. Du bringst mir keinen nennenswerten Nutzen, siehst du es denn nicht ein? Du kannst keine Pistole halten, du stehst auf Raubzügen nur im Weg herum, und hier im Lager will dich auch niemand haben. Du bist ganz einfach unfähig! Du kannst rein gar nichts!"

"Du hast mich belogen", war die mehr gewinselte als gesprochene Antwort, "D-du-... du hast mir nicht gesagt, dass ihr--..."

"Dass wir was? Dass wir böse, böse Ganoven sind, die hilflose alte Damen ausrauben und in Banken einbrechen?"

"... dass ihr tötet."

Mit einem hässlichen Grinsen stieß Ashura Fyes wehrlose Gestalt wieder von sich und stand auf.

"Ja, nicht wahr? Wir töten tatsächlich. Aber was soll man denn sonst mit Menschen machen, die einem unnötig im Weg herumstehen? Ich befürchte, das übersteigt deinen Intellekt bereits. Und ich befürchte ebenfalls, dass du für unsere Organisation auch zu solch einem Menschen werden wirst, wenn du dein armseliges Hirn nicht bald dazu bringst, die Zahlen zu liefern, die du uns versprochen hast. Denn immerhin ist das der einzige Sinn deines Lebens, nicht? Ansonsten bist du völlig nutzlos. Sozusagen... wie heißt es doch gleich? Ach ja: überflüssig."

In den gelben Katzenaugen flackerte es hämisch, während er jede einzelne Silbe des Satzes genüsslich betonte.

Fyes geschundene Hände verkrampften sich mit jedem Wort mehr.

Die Zuckungen rollten wie Anwandlungen eines Fiebers durch seinen wehrlosen Körper.

"Ich hasse dich", stieß er in einem halblauten, gebrochenen Winseln hervor und starrte den Mann über sich aus tränengeblendeten Augen an, "Ich hasse dich--..."

Ashura hob die Augenbrauen. Eine schlankgliedrige, kühle Hand senkte sich zu Fyes verschwollenem, zerkratzten Gesicht herab und strich sanft darüber.

"Gern. Hass mich, Fye. Hass mich, so sehr du kannst. Einige plausible Gründe hättest du jedenfalls. Jeden Tag schlage ich dich oder sehe zu, wie andere dich fertigmachen... allerdings muss ich sagen, dass ich diese kleine Genugtuung bitter nötig habe, nach zweieinhalb Jahren unnötiger Plackerei."

Die Hand an seiner Wange glitt ein Stück höher und packte ihn unvermutet bei den Haaren, um ihn unerbittlich zu sich hochzuzerren. In den gebrochenen, glasigen Augen des Blondlings flackerte die nackte Urangst auf, als Ashura seinen Mund auf sein linkes Ohr senkte. Sein Atem floss widerwärtig nass und feucht über seine zerkratzte Haut.

"Ich mach dir einen Vorschlag", flüsterte der Verbrecher leise und spürte die panische Verkrampfung im Körper seines Opfers, "Entweder erinnerst du dich, oder du stirbst in spätestens drei Wochen. Ich habe es so satt mit dir. Und glaub mir... ich werde dich dazu bringen, vor mir auf den Knien herumzurutschen und mir die Schuhe zu lecken... und noch, bevor es soweit ist, wirst du um den Tod betteln. Also überleg es dir besser nochmal, du armer kleiner Fehlgriff..."

Mit diesen Worten stieß er sein Gegenüber wieder von sich, zog beide Füße vorsorglich aus der Reichweite seiner Hände, wandte sich um und ging.

Wie ein in Todesstarre gelähmtes Tier lag Fye auf dem Boden und starrte mit stumpfen Augen ins Nichts.

Ashuras Schritte verhallten am Ende des Raumes. Aber er hörte sie nicht.

Seine Kehle schmerzte von Sekunde zu Sekunde mehr, als hätte er ein Stück glühende Kohle verschluckt.

Lautlos begann er zu weinen.

Er weinte, bis ihn endlich die erlösende Ohnmacht nach und nach umfing und ihren trügerisch warmen, stillen Schleier aus Schwärze um ihn herum herabsenkte.

Nie hatte er so etwas Schönes gespürt.
 

"Fye?"

Stimme. Flüsternde, helle Stimme.

Kleine, weiche Hände, die zögernd seine Schultern betasteten.

"Fye-... ich bin's!"

Weißes Licht. Kühler Wind. Er fröstelte.

Ein schwacher, süßer Duft offenbarte sich ihm wie ein vertrautes Omen. Patschuli. Rosenblüten.

Langsam, unendlich langsam kehrte Fye ins bewusste Sein zurück wie ein Taucher aus einer finsteren, schlammigen Wassergrotte.

Nach und nach klärte sich der trübe, schmerzdurchzuckte Schleier hinter seinen Lidern, und er blickte in ein Paar weicher, haselnussfarbener Augen.

"Chi-... ?"

Ein Nicken.

"Wie bist du-...", fing er mühsam an und wollte sich aufrichten, aber das Mädchen über ihm hielt ihn zurück.

"Bleib liegen. Ich hab dich nach draußen gebracht, als er weg war."

Der junge Mann ächzte gebrochen und fuhr sich mit einer zittrigen Hand über die blutverkrusteten Lippen.

"Man wird dich umbringen, wenn du nicht damit aufhörst."

"Meinst du, dass das nach drei Jahren noch eine Rolle für mich spielt?", war die geflüsterte Antwort.

Fye versuchte erneut, sich aufzusetzen, aber sein zerschlagener Körper schien mit glühenden Schmerzen bis obenhin angefüllt zu sein, sodass er sich hilflos wieder auf den kalten Asphaltboden sinken ließ.

Die junge Frau mit dem langen, elfenbeinhellen Haar und den weichen Gesichtszügen blickte ihn besorgt an.

"Haben sie dich wieder geschlagen?"

"Weißt du etwas darüber, Chi?", fragte der Blondling nur zurück und starrte sie ausdruckslos an, "Weißt du, wer ich bin? Oder woher ich komme? Oder warum sie unbedingt Zahlen von mir haben wollen und mich jeden Tag dafür schlagen?"

Das Mädchen seufzte bitter und ließ sich zu dem jungen Mann auf den Boden nieder.

"Noch lebst du, Fye, nicht?", fragte sie leise. "Glaub mir, wenn du auch weiterhin leben willst, ist es besser, wenn du erst gar nicht erfährst, woher du kommst."

"Warum nicht?"

"Weil es manchmal einfach sinnvoller ist, zu vergessen!"

Entgeistert starrte Fye das junge Mädchen an.

"Ich glaube nicht, dass ich leben will", flüsterte er schließlich heiser, "Ich kann nichts tun. Mein Leben ist kein Leben. Ashura hat-... e-er hat es völlig in der Hand."

"Meins auch, Fye", sagte Chi mit leiser, aber fester Stimme. "Denkst du etwa, dieses Leben, wie ich es hier in diesem Drecksloch führe, hätte ich mir selbst ausgewählt? Es bereitet mir keine Freude, hier jeden Tag auf den Strich zu gehen oder die Ratte für Ashura zu spielen. Aber ich hatte keine Wahl, ebenso wie du."

Die Kehle des jungen Mannes meldete sich mit pochendem Schmerz.

"Wieso bringt er mich nicht einfach um? Wieso beendet er es nicht?"

Schweigen. Das Mädchen lächelte ein wenig.

"Das würde er gerne tun, aber er bringt es nicht fertig. Ashura hat dich zerstört, er zerstört dich jeden Tag, das weiß er, aber-... aber da ist etwas in dir, das wird er nie zerstören können, und das macht ihn wahnsinnig. Und grausam, wie du weißt."

Eine kleine Hand mit weichen, parfümduftenden Fingern fasste seinen Kopf behutsam am Kinn und zog es ein wenig nach oben.

Hinauf ans Licht.

"Ich glaube, du bist sehr rein, Fye. Im Inneren. Immer, wenn-... wenn ich dein Gesicht sehe... dann sagt mir jedesmal eine innere Stimme, dass es irgendwo auf dieser Welt noch einen Platz gibt, an dem es schön ist."

Fyes Hals fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit einem langen Strick zugeschnürt.

"Wo-... wo gibt es diesen Platz?", hörte er etwas in sich mit brüchiger Stimme fragen.

Chi stutzte.

"In-... in Frankreich", nannte sie schließlich das erste Land, das ihr einfiel.

"Frankreich... ?"

Die Stimme des Blondlings klang bitter.

"Ja! Frankreich!", bemühte Chi sich und fasste die zerkratzten Hände des jungen Mannes, um sie zu drücken und festzuhalten, "Wirklich, glaub mir! Ich hab mal einen Film darüber gesehen, und dort ist dieser Platz! Dort haben alle Menschen schöne Kleider an. Es scheint den ganzen Tag die Sonne. Es gibt Flüsse, auf denen Boote fahren. Überall wird zusammen gesungen und Musik gemacht. Jeder trägt ein Lächeln auf dem Gesicht, und es gibt ganz viele leckere Sachen zu essen und zu trinken, und schönen Schmuck."

"Das-... das gibt es dort alles?", fragte das Etwas in Fye ungläubig, und er starrte Chi aus großen, fassungslosen Augen an.

Sie nickte heftig.

"Ja, das alles. Siehst du meine Brosche? Die ist auch von dort."

Mit einer raschen Handbewegung löste Chi die Verschlussnadel ihrer Brosche, die sie eines Tages wahllos von der Beute eines Raubzuges gestohlen hatte und seitdem jeden Tag an ihrer Bluse trug, weil ihr das rote Leuchten des Steins so sehr gefiel.

"Hier, siehst du?"

Das Mädchen musterte Fyes Gesicht, und sie spürte, wie ihr die Brust zugeschnürt wurde, als sie den Blick des jungen Mannes sah, mit dem er das Schmuckstück betrachtete.

Soviel verlorene Hoffnung glitzerte in diesen eisblauen Augen. Wie ein Meer von tausend Glasscherben.

Einer plötzlichen Regung folgend öffnete Chi seine Hände und legte die Brosche hinein.

"Hier. Die schenke ich dir."

"Ja, a-aber-... aber die ist doch viel zu wertvoll!"

"Nein, nimm sie ruhig. Sie hat mal einem Menschen aus Frankreich gehört, dann hat sie Ashura gehört. Aber jetzt gehört sie dir."

"M-... mir?"

Chi lächelte unwillkürlich.

"Ja. Und ich möchte, dass du immer, wenn du sie ansiehst, daran denkst, dass sie nur dir gehört, und sonst keinem. Ashura wird niemals Gewalt über dich haben. Du bist du, und daran kann er nichts ändern. Egal wie sehr er dich dafür hasst, dass du ihm nicht gibst, was er will, egal wie oft er dich zusammenschlagen lässt, er wird dich nicht brechen können. Okay?"

"Okay."

"Würdest du es mir schwören?"

Mit einem leeren, glasigen Blick starrte Fye die Brosche an.

Sie fühlte sich glatt und kühl in seinen Händen an, während in seinem ganzen Körper immer noch ein einziges Inferno aus Schmerzen am Toben war.

Glatt. Kühl.

Er wird niemals-... Gewalt über mich--...

Eine unheimliche Schauer überrieselte den zerdroschenen Rücken des jungen Mannes.

Impulsiv schloss er die Brosche so fest in seine Faust, dass es ihn schmerzte.

"Ich schwör's dir."
 

~~
 

"Kurogane-chan? Wieso hast du denn ein blaues Auge? Ist etwas in der Schule passiert?"

"Rick und Mitsuru haben mich geärgert! Die haben gesagt, ich könnte niemals ein Schwert halten!"

Ein kleines Lächeln.

"War das denn ein Grund, dich gleich mit ihnen zu hauen?"

Beschämter Blick zur Seite.

"Ja-... ja aber, Papa hat doch gesagt--...

"Er hat gesagt, dass du mit dem Katana unserer Familie niemals etwas Böses tun darfst. Stimmt's?"

"In unserer Familie hat jeder mit dem Schwert nur Gutes getan, und ich soll es auch so machen", leierte er das herunter, was ihm sein Vater schon so oft gepredigt hatte, "Ich soll damit alle Leute beschützen, die ich liebhabe."

Sie nickte.

"Ja. Papa und ich haben gestern mit Munashii-sensei gesprochen, und er hat gesagt, er würde sich sehr freuen, dich als Schüler zu haben. Aber da ist etwas, dass du dir unbedingt merken musst, wenn du wirklich lernen willst, wie man mit einem Katana kämpft. Sonst wird es dir nicht gelingen."

Er sah sie unsicher an.

"Und-... und was ist das?"

Wieder ein Lächeln.

"Ein Katana ist wie ein Stück der Seele. Noch bist du klein, Kurogane-chan, aber irgendwann wirst du ein starker, junger Mann sein. Du wirst vielen Menschen begegnen, und einige davon wirst du ins Herz schließen. Vielleicht viele. Vielleicht nur einen einzigen. Aber egal, wieviele es sein werden, dein Katana wird dir zur Seite stehen. Es wird dir helfen, damit du diesen Menschen mit deinen eigenen Händen beschützen kannst. Findest du nicht auch, dass das wunderschön wäre?"

"Ich-... ich weiß nicht."

Sie streichelte ihm über den Kopf und nahm ihn bei der Hand.

"Wer weiß, vielleicht weißt du es eines Tages besser als wir alle."
 

"Commander? Hey-... Commander!"

Stille. Keine Reaktion.

Die zinnoberfarbenen Augen starrten teilnahmslos ins Nichts.

Private Hektor Greenaway seufzte. Schon seit der gepanzerte Einsatzwagen den Untergrundparkplatz des Dezernats verlassen hatte, versuchte er vergeblich, die Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten auf sich zu lenken, der jedoch nach wie vor mit diesem seltsamen, leeren Blick Löcher in die Luft bohrte. Sogar die anderen sechs Privates, die im Laderaum des Wagens auf ihren Plätzen saßen, schienen schon bemerkt zu haben, dass ihr Commander im Moment wohl nur körperlich anwesend war.

"Commander?", versuchte Hektor es erneut.

Wieder kam keine Antwort, bis der hochgewachsene Schwarzhaarige endlich durch ein Rumpeln des Wagens, der sie zum Ort ihres Auftrags bringen sollte, aus seiner Starre hochgerissen wurde.

"Hektor?", fragte er mechanisch zurück und sah seinen Untergebenen an.

"Wir sind bereits seit zehn Minuten unterwegs. Wollen Sie uns nun Anweisungen erteilen?"

Stille.

"Irgendetwas stimmt mit diesem bekloppten Auftrag nicht, Hektor", war die halblaute, aber harte Antwort, "Diesmal ist etwas so anders, dass ich kotzen könnte! Dieser Pantoliano liebt es wohl, verkorkste Instruktionen zu geben!"

"Das bilden Sie sich sicher nur ein, Commander."

Kurogane stieß einen bodenlosen Seufzer aus und rieb sich kräftig über die Nasenwurzel, um sich wieder zu beruhigen.

Er und sich etwas einbilden? Zu schön, um wahr zu sein. Er war Sklave seiner überschärften Wahrnehmung.

Also schön. Komm runter. Bring den Auftrag einfach zu Ende, und dann kannst du dich beschweren.

Schließlich stand er auf und wandte sich zu seinen sieben Untergebenen um, die ihm bei dem heutigen Auftrag in der Innenstadt zur Seite stehen sollten. Seine Mannschaft, und das schon fast seit drei Jahren.

"Gentlemen? Es ist so weit. Wenn ihr mir für fünf Minuten euer Gehör leihen könntet?"

Das klang schon bedeutend anders.

Die Privates richteten sich erwartungsvoll in ihren Sitzen auf. Das war ihr Commander in seinem Element.

Einhundert Prozent bloße Kampf-, Entscheidungs- und Muskelkraft. Ein Vakuum der völligen Konzentration.

Seine Stimme war kaum lauter als ein Murmeln, aber sie durchschnitt die stickige Luft präzise und mühelos wie ein Messer, sodass keiner der jungen Männer seine Ohren anstrengen musste.

"Also, wie ihr vielleicht schon gehört habt, ist in der Innenstadt ein ziemlich gewichtiges Ding am Laufen. Ein etwa fünfzehnköpfiger Einbrecherpulk ist in das Büro von einem unserer besten Großarchitekten eingebrochen, tätig bei der Builders of Tomorrow, ziemlich erfolgreicher Kerl. Bei der ganzen Aktion scheint's aber um mehr als nur Bares zu gehen. Er besitzt offenbar auch Aktien bei mehreren Firmen, Dokumente, die den Gesamtbauplan von vielen öffentlichen Gebäuden in Kingstonville beschreiben, und noch ein paar andere ziemlich heiße Sachen, die besser dort bleiben sollten, wo sie gerade sind. Er und seine Frau- Patrick und Silvia Lordegrance- werden heute also unsere Prinzipalien sein. Der Spähertrupp hat klargestellt, dass beide noch am Leben sind, aber wie lange noch, kann keiner sagen. Vielleicht fungieren sie mittlerweile als Geiseln."

Mit einem kühlen, berechnenden Blick musterte Kurogane seine sieben Untergebenen im Gefecht. Es war essentiell, bei der Auftragseinführung kein Blatt vor den Mund zu nehmen- sie alle waren über die Jahre hinweg regelmäßig mit dem Härtesten konfrontiert worden, denn anders ging es nicht.

Doch dieses eigenartige Gefühl, das ihn schon seit dem Moment befallen hatte, in welchem er von Mr. Pantoliano alle nötigen Instruktionen erhalten hatte, wollte immer noch nicht weichen.

Der Ratspräsident des Dezernats hatte auf eine seltsam unangenehme Art und Weise wie eine fette, zufriedene Katze ausgesehen, die wusste, dass ihr schon sehr bald ein saftiges Sahnehäppchen auf dem Silbertablett kredenzt werden würde.

Etwas stimmte nicht, etwas lief hier ganz und gar falsch, er wusste es, er sah es förmlich--...

"Also muss ich von euch allen verlangen, mit Fingerspitzengefühl an die Sache ranzugehen", fuhr er schließlich fort, um das unangenehme Kribbeln in seinem Nacken zu vertreiben, "Keiner ballert unnötig rum, es wird absolute Konzentration bewahrt. Wir lassen alles da, was nicht gebraucht wird. Keine Vollautomatik, keine Weitzielgewehre, keine Schallgranaten. Es ist sehr gut möglich, dass man die Prinzipalien bereits in irgendeine Scheiße hineinmanövriert hat, und tot nützen uns weder die beiden noch die Galgenvögel nichts. Der Auftrag lautet schlicht und einfach, die Typen vollzählig einzusacken und die Prinzipalien in Sicherheit zu bringen. Wir tun, was wir tun müssen- denn das ist es, was man von uns erwartet, und damit basta. Die Prinzipalien sind unser Alles. Verstanden?"

"Verstanden", war die einstimmige Antwort.

Jeder von den sieben Privates wusste, dass ein führender Einsatzleiter die Personen, die es zu retten galt, immer als 'Prinzipalien' zu bezeichnen hatte. Eine engere oder sogar emotionale Bindung war gefährlich und erschwerte den Einsatz nur unnötig.

"Rüsten Sie auf", entschied Kurogane schließlich, "Wir sind bald da. Lagebesprechung vor Ort."

Während in den Laderaum gehörig Leben kam, als die Privates ihre schweren Ledertaschen unter den Stahlsitzen hervorzerrten und, wie man es im Fachjargon so schön sagte, 'aufrüsteten', wandte sich der Schwarzhaarige wieder nach vorne zur Fahrtrichtung und fuhr sich zerstreut durch das schwarze Haar. Wenn ich doch nur wüsste--...

Hektor, der nur einen einen Platz weiter weg saß, hob skeptisch die Augenbrauen.

"Ist alles in Ordnung, Sir?"

Kurogane drehte sich zu dem drahtigen Rotschopf um und klopfte ihm ein wenig auf die Schulter.

"Hektor. Jetzt arbeiten wir schon seit fast drei Jahren zusammen, und es hat fast bei jedem Einsatz geklappt, ohne dass wir Menschenleben für die Sicherheit dieser Stadt opfern mussten. Diese Zusammenarbeit macht uns zu Freunden, oder nicht?"

"Ich-... ich denke schon, Commander!"

Der Schwarzhaarige zwang sich zu einem dünnlippigen Lächeln.

"Also, dann sei ganz einfach mein Freund und hör auf zu fragen. Wir machen unsere Arbeit, retten die Prinzipalien, erstellen zum Schluss ein schönes Protokoll, und der Rest wandert zu den Akten, wie immer."

Hektor seufzte. Er hatte es von Anfang an geahnt, und mit jedem Tag, mit dem er an der Seite dieses Mannes gekämpft, Menschen gerettet und Blut vergossen hatte, war es offensichtlicher geworden.

Diesem Kerl konnte man einfach nichts vormachen.

Dabei hatte Pantoliano doch versichert, dass er nichts von all dem mitbekommen und ahnungslos in die Fall-...

Hektisch unterdrückte der Private die Gedanken, die ihn überkommen wollten.

Lieber nicht. Womöglich konnte sein Vorgesetzter auch noch Gedanken lesen.

"Verstanden, Sir."
 

"LOS, LOS, LOS!!"

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen flog die Stahltür zu dem Bürokomplex auf.

Hektisches Getrappel von schweren Armeestiefeln wurde laut, Waffenläufe klickten, Funksprecher rauschten, die fünf oder auch sechs Galgenvögel, die bis jetzt in der sterilen Eingangshalle herumgehangen hatten, fuhren augenblicklich herum und eröffneten das Feuer, wobei sie es natürlich nicht versäumten, ihre Hassparolen zu brüllen.

"Scheißbullen! Haut ab!!"

Kurogane nickte Hektor kurz zu, bevor er nach vorne sprintete.

"Gebt mir Feuerschutz!"

Unter lautstarkem Knattern und Prasseln zischten die Kugeln durch die Luft und bohrten sich in alles, was sie erreichen konnten, während sich Kurogane wie eine Schlange haarscharf zwischen ihre Flugbahnen hindurchmanövrierte und zwei der Jungs, die das Feuer mit allem, was sie hatten erwiderten, mithilfe zwei schneller Stöße unter die Rippen außer Gefecht setzte, während die anderen drei wie die Hasen auseinanderflohen und in die höhergelegenen Stockwerke rannten.

In schnellen, geübten Manövern unternahmen vier der sieben Privates einen Rundumblick, während ihr Commander und seine restlichen drei Kampfesgefährten mit geladenen Gewehren- beziehungsweise mit gezogenem Schwert- den Feuerschutz gaben, falls es zu einem weiteren Gefecht kommen sollte.

"Alles sauber, Commander! Sollen wir in die anderen Stockwerke ausschwärmen?"

"Einer bleibt hier und sorgt dafür, dass die beiden Gammler nicht wieder abhauen!", entschied er, "Ihr anderen verteilt euch und durchkämmt die höheren Stockwerke, ich kümmere mich solange um die Prinzipalien! Haltet untereinander Kontakt, und wenn es Schwierigkeiten gibt, funkt mich an!"

"Verstanden!"

Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf. Hektor blieb bei den beiden bedauernswerten Bewusstlosen.

Während Kurogane ins Treppenhaus rannte, rief er sich noch einmal die Worte des Chefs der Spähertruppe in Erinnerung.

"Gleich nach der Eingangshalle gibt es ein Treppenhaus. Es gibt auch einen Lift, der ist jedoch knapp unterhalb des vierten Stocks stehengeblieben. Ist zwar nur 'ne Vermutung, aber es ist möglich, dass die Prinzipalien da drin festgehalten werden."

Wenn die Spähertruppe eine 'Vermutung' machte, lag sie in neunzig Prozent aller Fälle näher dran als der Rest.

Also ab in den vierten Stock.

Mensch wurde zu Maschine und schaltete mittels Zielsetzung auf volle Beseitigung um.

Jeden Galgenvogel, der dem Einsatzleiter auf seinem Weg begegnete, erwartete nichts als ein harter Schlag unter die Rippen und dann die Ohnmacht; bald war das Treppenhaus erfüllt von Waffengeknatter, dem Klirren eines Schwertes und lautem Geschrei.

Zwei der armen Schufte wurden von der Menschenmaschine mitleidlos unter den Achseln gepackt und ins tiefergelegene Stockwerk befördert- man konnte förmlich die Knochen krachen hören-, andere hatten mehr Glück und bekamen nur einen kräftigen Hieb auf den Hinterkopf oder aufs Brustbein, bevor sie völlig weggetreten in eine bleierne Ohnmacht sanken.

Kurogane gelangte so gut wie unbehelligt in den vierten Stock, ohne länger als zwei Minuten am Stück aufgehalten zu werden.

Atemlos rannte er auf den Flur, und- tatsächlich! Der Lift war dort im Aufzugsschacht, man sah noch einen halben Meter seiner aufgeklemmten Tür- und diese war von genau vier Gammlern bewacht.

"HE!!", brüllte der Schwarzhaarige, und abrupt fuhren alle Köpfe hoch, vier Hände zerrten hastig jeweils einen Revolver hervor, vier Augenpaare hefteten sich skeptisch an der mächtigen Gestalt des Einsatzleiters fest, als dieser mit angriffsbereit gezogenem Schwert vor ihnen im Gang verharrte.

"B-... bleib bloß stehen, Bulle! Wir haben Pistolen, und du hast nur ein Museumsrequisit!"

"Was soll das, Jungs?", fragte Kurogane nur zurück, "Wisst ihr denn gar nicht, wie blöd ihr euch gerade anstellt? Ihr dürft euch sechs Jahre im Knast den Arsch platthocken, wenn ihr eure Toystory-Knarren nicht wieder einpackt! Also Flossen in die Luft!"

Es war eine althergebrachte Kunst, den Feind noch im Gefecht zu verspotten- nur zu schade, dass die vier Galgenvögel ohne ein weiteres Zeichen des Widerstands kehrtmachten und den Gang hinunterflohen, um zur Notausgangstreppe zu kommen.

Für einige Augenblicke überlegte der Commander noch, ob es vielleicht besser wäre, sie zu verfolgen; aber weit kommen würde er ohnehin nicht, außerdem musste er die beiden Prinzipalien finden, auch wenn es ihn mehr als stutzig machte, warum die Banditen heute allesamt so kompromisslos abhauten, ohne auch nur eine Hand zum Gegenfeuer zu erheben.

Kopfschüttelnd lief Kurogane wieder los, Richtung Aufzugsschacht. Heute ist wohl der Wurm drin.

Mit einem tiefen Einatmen legte er sein Schwert auf den kalten Marmorboden und spähte forschend in den finsteren Schacht.

"Mr. und Mrs. Lordegrance?", rief er vorsichtshalber, "Falls Sie da drin sind, kommen Sie bitte nach vorne! Sie müssen keine Angst haben, ich bin gekommen, um Sie hier rauszuholen!"

Stille.

Kurogane lauschte konzentriert auf ein etwaiges Geräusch aus dem Inneren des Lifts im Schacht.

Verunsichertes, zitterndes Luftholen. Ein Scharren. Finger, die sich in den Stoff eines Sakkos vergruben.

"W-... wirklich?", drang plötzlich eine halblaute, schwankende Stimme aus der Finsternis hervor.

"Ja, wirklich! Das Gebäude ist bald sichergestellt, und ich glaube kaum, dass Sie hier in diesem Schacht versauern wollen! Also kommen Sie einfach zur Tür! Der Spalt ist breit genug, ich ziehe Sie hoch!"

Wieder verstrichen einige Minuten, bis sich in der Dunkelheit des Schachtinneren etwas zu bewegen begann, und die beleibte, jedoch unsichere Gestalt eines bärtigen Mannes mit randloser Brille im trüben Licht sichtbar wurde, das in den Aufzug fiel.

Er sah etwa Ende dreißig aus, und obwohl auf seinen Geheimratsecken der kalte Schweiß glänzte, musterte er Kurogane genau.

"Sie schickt Gott", seufzte er schließlich und er fuhr sich mit einem Arm über seine Stirn, "Bitte holen Sie uns hier raus."

"Deswegen bin ich hier. Ich weiß nicht, wie lange der Lift noch in der Schwebe bleiben kann. Also geben Sie mir Ihre Hand."

Eins musste man dem Architekten lassen- er fasste schnell Vertrauen. Er reichte Kurogane seine hagere Hand und ließ sich mit einem kräftigen Ruck durch den schmalen Spalt nach oben auf den Gang ziehen.

"Meine Frau ist noch da drin-... Silvia! Silvia, komm! Wir sind gerettet!"

"Kommen Sie, Mrs. Lordegrance!", sagte Kurogane und beugte sich tiefer in den Spalt, wo die in Angst zusammengekrümmte Silhouette einer zierlichen, dunkelblonden Frau sichtbar wurde.

"Sie müssen keine Angst haben, Sie sind außer Gefahr!", versicherte er ihr und verlagerte sein Gewicht auf die Knie, um eine Hand nach ihrer bleichen, verunsicherten Gestalt auszustrecken, "Kommen Sie schon, nehmen Sie einfach meine Hand! Ich hol Sie raus!"

"Bitte, Silvia!", hörte er die Stimme des Architekten hinter seinem Rücken, "Du kannst diesem Mann wirklich vertrauen!"

Nach zwei endlosen Sekunden erhob sich das wie Espenlaub bebende Fräulein endlich und stolperte durch den engen, stickigen Liftschacht auf ihren Retter zu, um sich um nur wenige Sekunden später von ihm ans Tageslicht hochziehen zu lassen.

Kaum, dass sie wieder aufrecht stand, überkamen sie die Tränen, und sie ließ sich schluchzend in die Arme ihres Mannes sinken.

"Oh, Patrick-..."

"Es ist gut", beruhigte er seine Frau und rieb beruhigend über ihre kreideweißen, zitternden Arme, "Jetzt ist alles wieder gut. Wir sind in Sicherheit. Wir verdanken Ihnen unser Leben, junger Mann!", wandte er sich schließlich an Kurogane, "Sie machen sich keine Vorstellung, was wir hier alles durchmachen mussten. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?"

"Kurogane. Hören Sie, Mr. Lordegrance, meine Mannschaft und ich sind gerade dabei, die Männer zu finden, die an Ihre Finanzen und Baupläne wollten, aber vorerst sind Sie beide hier nicht mehr sicher. Es wäre das Beste, wenn Sie sich von uns vorübergehend unter Schutzhaft stellen lassen, oder sich nach einem anderen Wohnsitz umsehen, während meine Einheit sicherstellt, dass Sie nicht mehr angegriffen werden können."

"Wenn es nicht anders geht, werden wir natürlich die notwendigen Vorkehrungen treffen, Kurogane."

In diesem Moment wurden Schritte auf dem Gang laut, und alle drei fuhren herum, als eine völlig atemlose, mit einem schweren Hightech-Gewehr beladene Gestalt herangekeucht kam.

"Hektor!", entfuhr es Kurogane überrascht und er winkte seinen jungen Untergebenen zu sich her, "Du hier? Habt ihr schon das ganze Gebäude durchsucht? Wie geht's den anderen?"

Der drahtige Rotschopf brauchte eine Weile, bis er wieder zu Atem gekommen war.

"Ich wollte Ihnen das Protokoll bringen, Commander, Direktorder von Mr. Pantoliano. Den anderen geht's gut, doch so wie's aussieht, sind alle ausgeflogen. Wir haben jedoch die unter Haft gestellt, die wir noch gekriegt haben."

"Guter Mann", sagte Kurogane und klopfte seinem Private auf die Schulter, "Die restlichen kriegen wir schon noch. Übrigens, das sind unsere beiden Prinzipalien. Mr. und Mrs. Lordegrance? Das ist Hektor Greenaway, er ist im Einsatzteam dabei."

"Es ist uns eine große Freude!"

"Nichts zu danken, Madam", wehrte Hektor bescheiden ab, "Wir sind schließlich zu Ihrem Schutz angeheuert worden. Bevor wir Sie beide aber ins Dezernat mitnehmen können, muss ich Ihnen noch einige Fragen stellen. Keine Sorge, nur ein paar Kleinigkeiten."

Fragendes Schweigen von seiten der Prinzipalien.

"Hektor, das Protokoll wird erst aufgenommen, wenn die beiden in Sicherheit sind", maßregelte Kurogane seinen Private.

Dieser jedoch schüttelte den Kopf.

"Tut mir leid, Commander. Wie gesagt, es ist ein Direktbefehl über Funk von Mr. Pantoliano, dass wir das Protokoll jetzt schon aufnehmen sollen. Ich hab alles dabei."

Hektors Commander hob misstrauisch die Augenbrauen.

"Bist du dir auch wirklich sicher, dass er das befohlen hat, Hektor?"

Der Private lachte laut auf.

"Seh ich aus, als wäre ich taub, Commander? Ich kann's nunmal nicht ändern, Befehl bleibt Befehl! Also", wandte er sich schließlich direkt an die beiden Lordegrances, um dem zweifelnden Blick seines Vorgesetzten zu entkommen, "Wie gesagt, es sind nur drei-vier ganz harmlose Fragen. Das ist in zwei Minuten erledigt, glauben Sie mir."

"In Ordnung", willigte der Architekt schließlich ein.

"Gut... also, Ihr Name ist Lordegrance, nicht?"

"Ja. Silvia und Patrick Lordegrance."

Sean nickte und kritzelte mit konzentrierter Miene die beiden Namen auf das vorsorglich gezückte Protokoll.

"Beide tätig als Architekten bei der 'Builders Of Tomorrow'- Corporation?"

"Richtig."

Während der Private emsig weiterschrieb, bückte sich Kurogane und angelte sich sein Katana vom Boden. Dieses seltsame Gefühl jedoch, das ihn schon wieder überkommen hatte, wollte nach wie vor nicht weichen.

Was hatte dieser Pantoliano da nur wieder für eine Laune geschoben, als er diesen Befehl gegeben hatte?

Ihre beiden Prinzipalien befanden sich immer noch in der Gefahrenzone! Sie mussten weggebracht werden!

"Sie hatten Ihre Wertpapiere bei-... ?"

Der Architekt merkte verwundert auf.

"Ist das denn von Bedeutung für Ihre Organisation?"

"Aber ja doch. Wenn Sie weiterhin sicher investieren wollen, wäre es nicht unpraktisch, uns daran teilhaben zu lassen."

"Na dann... nun ja, wir hatten hauptsächlich Aktien bei unserem Unternehmen, aber teilweise auch bei Daimler und Porsche."

Hastig flog der Kugelschreiber über das Papier.

Kurogane musterte stirnrunzelnd das Gesicht seines Privates.

"Fein, das wäre dann fast alles... eins noch, Mr. Lordegrance- Sie wissen doch, dass Sie Ihrer Finanzen und Wertpapiere wegen angegriffen worden sind?"

"Ja, einen anderen Grund könnte ich mir ohnehin nicht vorstellen. Wieso fragen Sie?"

"Um diese Dinge effektiv schützen zu können, muss ich Sie bitten, mir den Ort zu nennen, an dem Sie sie aufbewahren."

"Nun ja, hinter dem Van Gogh im Korridor des zweiten Stocks ist ein Tresor, darin liegt alles unter Verschluss."

"Wenn Sie mir dann verraten würden, wie man ihn öffnet?"

Stille. Mr. Lordegrance wirkte mehr als irritiert. Das Kribbeln in Kuroganes Hinterkopf wurde immer stärker.

"W-wieso denn das? Fällt das nicht bereits unter vertraulichen Informationsaustausch? Hören Sie, Mr. Greenaway, meine Frau und ich fühlen uns hier alles andere als wohl, kann ich es Ihnen nicht sagen, wenn wir im Dezernat sind?"

Hektor schüttelte den Kopf.

"Ich bedaure, Sir, aber das sind alles essentielle Informationen, die wir schnellstmöglich sichern müssen."

Mit einem Seufzen schulterte der junge Rotschopf sein Hightech-Gewehr, um getrockneten Blutschorf vom Lauf zu entfernen und neue Patronen in das Magazin zu füllen. "Vertrauen Sie mir einfach, Mr. Lordegrance."

Etwas an dem Tonfall, in dem er das sagte, ließ Kuroganes Soldatensinn hinter seinen Schläfen summen wie ein Wespennest.

Irgendetwas lief hier schief, und zwar gewaltig.

"Hektor?"

"Anordnung von Mr. Pantoliano, Commander", war die schlichte Antwort.

Nach einem reichlich unangenehmen Schweigen raffte sich der Architekt schließlich auf.

"Also schön... eigentlich haben Sie ja Recht. Lieber gebe ich Ihnen die Information als einem dieser entsetzlichen Schlägertypen, immerhin haben Sie ja nur das Beste im Sinn, nicht? Nun, was das System anbelangt, es ist ein Hebelmechanismus. Hinter dem Van Gogh sind vier Hebel, die in einer bestimmten Reihenfolge gedreht werden müssen. Die Reihenfolge ist links oben- links unten- rechts unten- links unten- rechts oben."

Bedächtig wanderte der Kugelschreiber über das Papier.

"Links oben- links unten- rechts unten- links unten- rechts oben", wiederholte Hektor und klemmte sein Gewehr während des Schreibens unter den linken Arm, "Stimmt das?"

"Vollstens. Nehmen Sie uns nun mit?"

"Aber ja, Sir. Jetzt gleich. Keine Sorge, wir bringen Sie an einen besseren Ort."

"Wunderbar", sagte Mr. Lordegrance deutlich erleichtert und sah Hektor abwartend an, "Von uns aus können wir gehen!"

Stille. Hektor lächelte.

"Tja, dann schnallen Sie sich an", sagte er, richtete das Gewehr auf die beiden Eheleute und drückte ab.

Mit trommelfellzerfetzendem Krachen explodierten zwei metallische Schüsse in der stickigen Luft.

Zwei Schüsse, die die Zeit mit einem Schlag zum absoluten Stillstand brachten.

Filmriss. Alles zerlief vor Kuroganes Augen.

Noch während eine Welle paradoxer Informationen wie ein glühend heißer Blitz durch seine in Grauen aufgerissenen Augen seine Hirnwindungen hinaufraste und dort den völligen Tilt auslöste, war die ganze Welt für ihn nur noch ein Alptraum aus Schatten, Schreien und Blut.

Er stürzte in eiskalte, bodenlose Tiefen, noch während er wie in Trance mit einem Schrei auf die Füße sprang, der sich gleich dem Echo eines Toten seiner sandtrockenen Kehle entrang.

"NEIIIIN!!"

Bilderkette. Eine sich ewig wiederholende Bilderkette. Die beiden Prinzipalien, Patrick und Silvia Lordegrance, die wie ohnmächtig auf dem Boden aufschlugen, und denen die Entgeisterung noch in den qualvollen Augenblicken des Todeskampfes für immer auf den Gesichtern festfror.

Und er sah das Blut. Rotes. Spritzendes. Blut.

Die Prinzipalien sind tot! Man hat gegen Sie gemeutert! Man hat Sie belogen! SIE SIND GESCHEITERT!

Völlig im Fieberwahn gefesselt nahm Kurogane kaum mehr als unterbewusst wahr, wie er binnen weniger Sekunden die Kontrolle über seinen gesamten Körper verlor. Sein Katana fiel mit stechendem Klingen zu Boden. Alles rauschte an ihm vorbei.

Von weiter Ferne spürte er, dass er wie von Sinnen schrie.

Er schrie immer wieder Hektors Namen. Stürzte sich mit dem Wahnsinn einer Bestie auf ihn.

Fühlte, wie seine Fäuste hart auf fremde Wangenknochen krachten.

Hörte einen fremden Schrei seine betäubten Ohren erreichen.

Roch das Blut, als flösse es aus seinen leibeigenen Venen, fühlte den vergeblichen Widerstand seines Opfers.

"Wieso, Hektor? Wieso hast du das--... WIESO?!!! ANTWORTE MIR!!"

Er hörte diese Antwort nicht. Er würde sie niemals hören. Er fühlte nur noch, dass er im Kampf mit seinem Gegenüber hart auf dem Boden aufkam. Nur noch, dass seine Hand wie in Ohnmacht über den Boden kroch, bis sie schließlich etwas Schweres, Metallenes zu fassen bekam.

Ein bebender Zeigefinger, der Richtung Abzug glitt, während er halb blind vor Hass und Wut auf das blutbeschmierte, schreckensbleiche Gesicht unter sich stierte.

Einen Schmerz, der seine Kehle wie ein offenes Krebsgeschwür in einen eiskalten Würgegriff schloss.

"Hektor--.. du hast mich--..."

Ein blutgenetzter Mund, der sich mühsam öffnete.

"Es musste sein, Commander. An diesem Weg bin ich nicht vorbeigekommen. Und Sie werden es auch nicht."

Alles in Kurogane erstarrte.

"VERFLUCHT SOLLST DU SEIN!!"

Stille. Der Gewehrlauf presste sich gegen die bebende Brust des jungen Mannes.

Ein Schuss. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Es verlor sich ins Unendliche. Mit jedem Mal zuckte der wehrlose Körper unter ihm schwächer, mit jedem Mal erstarb das krampfhafte Keuchen und Würgen rascher, mit jedem Mal ersoff er kläglicher in den gärenden, stinkenden Fluten seines eigenen Hasses.

Und mit jedem Mal spürte Kurogane, dass er verloren war.

"Diese Zusammenarbeit macht uns zu Freunden, oder nicht?"

"Du hast mich verraten."

Die leeren Patronenhülsen prasselten in endloser, lähmend langsamer Abfolge auf den Boden.

auf Wie ein Alpdrücken türmte sich das Echo der Explosionen in seinem leeren Kopf, türmte sich und verlor sich wieder, während er mit stumpfem, ausdruckslosem Gesicht immer wieder abdrückte.

Auf diese Weise nahm er weder die Schritte auf der Treppe wahr, noch hörte er, wie sie den Gang entlangkamen und sich ihm hastig näherten, bis die Urheber dieser Schritte direkt hinter ihm standen.

Alles, was er noch spürte, war, wie ihm jemand mit einem schweren, hölzernen Gegenstand einen scharfen Hieb auf den Hinterkopf versetzte und der Schmerz in grellen Farben vor seinen Augen explodierte.

Dann wurde alles schwarz um ihn, und ihm schwanden die Sinne.

Ich habe versagt.
 

"Aah, exzellent", sagte der Ratspräsident des Dezernats mit genüsslichem Unterton.

Nicht ohne Staunen musterte er die bewusstlose Gestalt des Einsatzleiters, als die sechs Privates ihn aus dem Einsatzwagen zerrten. "Endlich. Ich nehme doch an, dass alles nach Plan verlaufen ist?"

"Er hat Private Greenaway erschossen, Sir", erklärte einer der Privates sachlich, "Wir waren nicht schnell genug."

O'Connor neben seinem Vorgesetzten schluckte schwer, als dieser nur kurz abwinkte.

"Ach was, das ist doch nichts! Von der Bande haben hoffentlich alle überlebt?"

"Ja, es gab nur ein paar Ohnmächtige."

"Vortrefflich."

Auf dem sonnengebräunten Gesicht des Italieners breitete sich ein breites, leutseliges Lächeln aus.

"Drei Jahre, Joshua. Sieht so aus, als hätte ich die Wette gewonnen, was? Ich sollte wirklich öfter zur Börse gehen!"

Der Ministerialrat zuckte nur hilflos mit den Achseln, sodass Pantoliano missbilligend aufseufzte.

"Sie alter Schwerenöter verderben einem wirklich alles! Na egal, was soll's."

Mit jovialem Schwung wandte er sich wieder seinen sechs Privates zu.

"Gentlemen? Es ist soweit. Bitte bringen Sie unser Ungeheuer nach unten, damit wir es endlich dressieren können."

"N-... nach unten?", fragte O'Connor skeptisch.

"Aber ja!"

Pantolianos Lächeln wurde zu einer widerwärtigen Grinsgrimasse.

Mit einem gehässigen Funkeln in den Augen senkte er seine Stimme zu einem vertrauensvollen Flüstern.

"In Kerker siebzehn..."

It's You

-"Mancher Mensch hat ein großes Feuer in seiner Seele, und niemand kommt, um sich daran zu wärmen."-

(Vincent Van Gogh)
 

~~
 

"WAS?! Sie haben also absolut nichts Nennenswertes gefunden, Johansen?!"

Johansen seufzte verärgert, bevor er sich wieder seinem Salatsandwich widmete.

"Mein Gott, Kinomoto, ich bin schließlich nicht das Jesuskind!"

Toya stieß einen Laut der Frustration aus und knallte seine halbvolle Kaffeetasse auf die Bahre.

"Ich glaube, sogar das Jesuskind hätte in der Zwischenzeit schon mehr rausgefunden! Werden Sie etwa senil?"

"Senil ist gut! Diese dumme Nuss von Geschäftsfrau bereitet mir ernsthaftes Kopfzerbrechen, mein Lieber!", verteidigte sich der biedere Gerichtsmediziner, "Die Autopsie beweist zwar, dass sie eindeutig nicht ihre Tage hatte, sondern getötet wurde, und das von einem Rechtshänder mit sehr kräftigen Extremitäten, und vielleicht noch, dass ihr Todeskampf kaum mehr als eine halbe Minute in Anspruch genommen hat--..."

"Eine halbe Minute?! Da hatte es aber jemand eilig."

"Blieb ihr leider auch gar nichts anderes übrig", meldete sich Yukito beflissen, der bis eben noch damit beschäftigt war, die tadellos zersäbelte Lunge der Unternehmerin in eine Plastiktüte zu verfrachten, "Ich hätte da nämlich eine Theorie-..."

"Gott, Tsukishiro, verschonen Sie uns bloß mit Ihren Theorien", schmatzte Johansen und legte sein Sandwich auf Nobuhikos Brust ab, um für die drohende Debatte beide Hände frei zu haben, "Die letzte hätte mich fast umgebracht!"

"Nein! Er soll es uns erzählen!", unterbrach Toya den Gerichtsmediziner bestimmt. "Was hast du herausgefunden, Yukito?"

"Naja-... gestern nacht habe ich mir noch einmal die Wunde angesehen", erklärte Yukito, "Und das hat mich an diesen Fall vor zwei Jahren erinnert- ihr wisst doch, die Geschichte mit dieser narzisstischen Hausfrau, die ihren Mann mit dem Tranchiermesser--..."

"Schon gut, schon gut, keine Details bitte", brummte Johansen, "Und was war damit?"

Yukito deutete auf die lange, hässliche Stoßwunde im Torso des toten Fräuleins. "Die Schnitte von dem Tranchiermesser erinnern mich stark an diese Wunde hier. Es sind fast die gleichen Merkmale. Geriffelte Haut. Kollabierte Aorta."

"Du meinst also im Ernst, dass-... dass es ein Tranchiermesser gewesen ist?"

Die rechte Hand des Gerichtmediziners schüttelte den Kopf. Als er den Blick hob, funkelten seine Brillengläser im kalten Licht der Neonröhren.

"Nicht ganz. Der Stich geht durch den Rücken durch. Es muss also etwas viel größeres und schärferes gewesen sein, mit einer leicht nach oben gekrümmten Klinge, weil die Wunde noch einen Ausläufer nach oben aufweist."

Schweigen. Toya warf Johansen einen bedeutsamen Seitenblick zu, worauf dieser nur entnervt ächzte.

"Sieht so aus, als hätten wir das neue Jesuskind gefunden, Johansen."

"Bah! Sind wir hier im Mittelalter oder was? Welcher Idiot nimmt denn noch ein Riesenmesser als Mordwaffe?"

"Jedem das seine. Unsere Nobuhiko war da nicht weniger exaltiert. Die reinste Sexfanatikerin."

"Aber das muss doch nicht gleich heißen, dass sie von einem Samurai oder sonst wem gekillt wurde!", rief Johansen aus und hieb mit der Faust auf die Bahre. Dies bewirkte jedoch nur, dass sein Sandwich geradewegs in Nobuhikos Torso hineinflutschte.

"Scheiße!!"

"Sie gehören wirklich ins Catering-Gewerbe, Johansen...", begann Toya kopfschüttelnd. Bevor sich jedoch der nächste zweifelhafte Disput anbahnen wollte, meldete sich plötzlich sein Handy mit einem nervtötendem Frolic-Klingelton zu Wort.

"Einen Moment bitte."

"Sie sind der arbeitsbesessenste Mensch, den ich kenne, Kinomoto", erklärte Johansen sichtlich angewidert, "Seit wann pflegen Sie eigentlich diese Macke, jeden Anruf vom Präsidium auf Ihr Handy umzuleiten?"

"Ich will eben auf dem neuesten Stand bleiben, sparen Sie sich also Ihr Rumgequake, Johansen!", war die gebellte Antwort.

"Oohhahaha, natüüürlich... wetten wir um ein Salatsandwich, dass auch dieser Anruf Ihre Arbeitspsychose nicht kaltlassen wird?"

"Also schön, Johansen, bittesehr!", knurrte der Kommissar ungehalten, bevor er sich das Handy ans Ohr hielt, "Dann wette ich eben dagegen, dass sich dieser Anruf in keinste Weise auf etwas auswirken wird, was mich auch nur irgendwie betreffen sollte! Weder in Sachen Arbeit noch Leben noch Tod! Und jetzt Si-len-ti-um, okay?"

"Ja, ja, Hasselhoff! Und vergessen Sie nicht: ich mag mein Salatsandwich am liebsten mit viel Tomate und ohne Essiggurken."

Toya ächzte nur enerviert. Dann nahm er den Anruf auf.

"Kommissar Toya Kinomoto am Apparat. Kann ich Ihnen helfen?"
 

Sonnenaufgang über Kingstonville.

Kurogane erwachte so plötzlich, als hätte ihm jemand eins mit der Peitsche übergezogen.

Heftig atmend fuhr er hoch. Fast schon reflexartig begannen seine Hände nach seinem Katana zu wühlen.

Erst, als er endlich wieder den rissigen, vom Feuer versengten Ledergriff zwischen seinen Fingern spürte, beruhigte sich sein fliegender Herzschlag allmählich wieder.

Mit einem lautlosen Ächzen ließ er sich nach hinten in den über Nacht gefallenen Schnee sinken.

Der leere Blick seiner zinnoberfarbenen Augen wanderte langsam über das schwarze, teilweise vom Schnee verdeckte Skelett, das einst sein Haus gewesen war. Die Straßen waren wie ausgestorben. Als er sich bewegen wollte, spürte er, dass außer seiner eigenen Jacke noch ein fremder, angenehm warmer Wintermantel über seinen schmerzenden Schultern lag.

Er stieß einen bodenlosen Seufzer aus. Hat's also immer noch nicht aufgegeben.

Als er jedoch den Blick hob, merkte er, dass zwar der Mantel seines selbsternannten Helferleins präsent war, das Helferlein selbst jedoch nicht. Mit einem weiteren Seufzen wuchtete sich Kurogane von dem Treppenabsatz hoch, auf dem er die Nacht verbracht hatte und sah sich nach dem Blondling um. Da die kärglichen Überreste seiner Wohnung keine reellen Hindernisse mehr darstellen, dauerte es auch nicht lange, bis er ihn schließlich gefunden hatte.

Er stand an der Straße.

Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen lehnte er am Laternenmast und hielt die blaugefrorene Nase in den Wind. Der kühle Winterswind fuhr durch seine zerzausten, schneebepuderten blonden Haare.

An seinen Wangen, den Händen und seinem dicken, blauweiß gemusterten Pullover klebte immer noch ein wenig Ruß, gegen den sich seine helle, von der Kälte leicht bläulich wirkende Haut abhob wie dünne Milch.

Kurogane blinzelte. In seinen Händen begann es zu kribbeln.

Voller Befremden spürte er, wie die Welt um ihn herum immer stiller zu werden schien. Für einige Augenblicke meinte er sogar, seinen eigenen Herzschlag so deutlich wahrzunehmen, als hätte er sein Ohr an jemandes Brust gedrückt und lausche nun. Lausche. Wie es Kinder immer bei anderen taten.

Denn dieser junge Mann wirkte, wie er so an der Straße stand und mit aufmerksamen, aber gleichzeitig leeren Augen in die Ferne sah, auf eine sehr beklemmende Weise wie ein--... ja, wie ein Kind.

Ein gebranntes Kind.

Augenblicklich fühlte Kurogane, wie ihm ein plötzlicher Impuls nach vorne gegeben wurde.

"He-... HE! Was tun Sie da?!", rief er misstrauisch und machte sich unverzüglich auf den Weg Richtung Grenze, wo das versprengte Schlachtfeld aufhörte und die Welt begann. "HE!!"

Endlich reagierte der junge Mann und wandte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu ihm um.

"Oh! Guten Morgen, Kurogane!", sagte er fröhlich und lächelte, als der Killer vor ihm zum Stehen kam, "Wie geht's Ihnen?"

"Auf so eine blöde Frage gebe ich keine Antwort", war die bittere Antwort, "Sagen Sie mir lieber, was das mit der Jacke sollte."

"Oh... ja also, ich--..."

Der Konditorlehrling senkte den Blick und starrte unbeholfen auf den Schnee zu seinen Füßen.

Wie ein Kind, dachte Kurogane wütend und spürte, wie ihm die Kehle zugeschnürt wurde. Wie ein kleines Kind.

"Nun ja, Sie sind gestern nacht auf einmal eingeschlafen. Und im Winter holt man sich draußen schnell eine Erkältung."

"Sieh an. Und Sie?"

"Ach, ich halt das schon aus. Ich war ja wach. Außerdem", setzte er leise hinzu, "Hab ich es gern gemacht."

Kurogane runzelte die Stirn und musterte das blasse, übermüdete Gesicht seines Gegenübers, bevor er diesem schroff den Mantel in die Hand drückte. "Darf ich mich dann erkundigen, was Sie die ganze Nacht über gemacht haben, während ich im Delirium lag?"

"Oh, eine ganze Menge!", ereiferte sich der Blondling sofort, "Ich hab mir Gedanken gemacht, wie es jetzt weitergehen soll! Und ein paar Ideen hatte ich auch schon! Das ist wie im Fernsehen: wir können ja zuerst eine Anzeige erstatten, dann erkundigen wir uns bei Ihrer Feuerversicherung wegen Schadenersatz, und zur Feuerwehr können wir auch fahren! Und Sie selbst könnten ja bei-... ähh-... naja, ich meine, Sie haben keinen Zweitwohnsitz, oder?"

"Nein. Was geht Sie das überhaupt an?"

"T-tja, es ist nämlich so, wissen Sie", stotterte der Blondling aufgeregt, "Ich hatte nämlich die Idee, dass Sie, nun ja, dass Sie ja bei mir einziehen könnten! Bis Sie eine neue Wohngelegenheit haben, meine ich! Meine Mitbewohner würden Sie gerne ken--..."

"WAS?!!", stieß Kurogane fassungslos hervor, "Sie-... Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mir das antun-... ja sagen Sie mal, geht's Ihnen noch gut?!! Nach Ihren Beschreibungen muss das ja das reinste Irrenhaus sein! Nein, vergessen Sie's!"

"Aber wo würden Sie denn sonst wohnen wollen?", verteidigte sich Fye sofort, "In einem Blumentopf? Mein Haus ist zwar kein Edelschuppen, aber man kann drin leben! Und ich hab brilliante Nachbarn! Ach, kommen Sie schon, bitte!"

"Ach ja?!! Und warum sollte ich das tun, häh?!! Seh ich aus, als wäre ich lebensmüde?!"

"Meine Mitbewohner würden Sie aber wahnsinnig gerne kennenlernen! Und dann hätten Sie sogar schon drei freiwillige Helfer in spe! Wie beim 'dreckigen Dutzend'! Eben nur, dass wir dann die, die-... ähm-... die 'fetten Vier' sind!"

Kurogane starrte sein jüngeres Gegenüber unter geschwollener Zornesader an. Der ersehnte Brüllanfall blieb schon wieder aus, also musste er es wohl oder übel bei einem zentnerschweren Ächzen belassen.

"Hören Sie-... ich weiß, Sie wollen ganz furchtbar viel Nettes tun und so. Aber ich habe nun mal keinen blassen Schimmer, warum Sie sich das jetzt in den Kopf gesetzt haben. Könnten Sie mir auch nur einen plausiblen Grund nennen?"

Fye lächelte ein wenig. In seinen Augen glomm ein kleines Funkeln auf, wie ein schwacher Schein von Licht auf hellem Wasser.

"Ich glaube, weil mein Herz früher schlägt, als mein Kopf denkt", sagte er mit leiser Stimme und legte Kurogane die Hände auf die Schultern, "Ich habe kein Fünkchen Vernunft, ich weiß. Aber gestern habe ich gemerkt, dass ich dafür einen guten Willen habe."

"Ach ja?", gab der Schwarzhaarige nur lahm zurück, weil ihm beim besten Willen keine geistreichere Antwort einfallen wollte.

"Ja. Ich glaube, dieser Brand hat uns beiden einen Anstoß gegeben, den wir auf andere Weise nicht bekommen hätten."

Kurogane schluckte und starrte auf Fyes Hand auf seiner Schulter. Sehr weiß sah sie aus, sehr weiß und schmalgliedrig.

Was wäre, raste es ihm plötzlich durch den Kopf, Was wäre, wenn die plötzlich brechen würde? Was dann?

Augenblicklich schoss ihm das Blut in die Ohren. Sein Puls rebellierte, und plötzlich schämte er sich, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden, sodass er nur noch die Flucht nach vorne antreten konnte.

"Ich glaube einfach nicht, dass das eine sinnvolle Lösung wäre!", stieß er hart hervor.

"Es wäre auch keine sinnvolle Lösung, wenn Sie weiterhin in Ihrem inneren Koma vor sich hindümpeln, Kurogane", war die ruhige Antwort, "Denken Sie nicht, ich hätt's nicht bemerkt. Ich bin ein totaler Knallkopf, ich weiß, aber-... aber irgendwie glaube ich, dass es da etwas gibt, das wir beide haben. Gemeinsam haben, meine ich."

Der Blick des Blondlings wurde weich, sehr weich.

"Lassen Sie sich von mir helfen, Kurogane. Bitte. Ich-... ich will nicht nutzlos sein."

Kurogane stutzte. Seine Kiefermuskeln schmerzten. Er wollte antworten, er wollte einfach nur irgendetwas sagen, um nicht weiter diesem Blick ausgesetzt zu sein, diesem unerträglich ruhigen, unerträglich freundlichen Bl--

"Ah!", sagte Fye plötzlich und wandte sich ab, um nach vorne zu deuten, "Sehen Sie mal da!"

Der Killer fuhr herum und erblickte nach einigem Hin- und Herstarren ein einzelnes Auto, das in flottem Tempo die Straße hinaufgebraust kam. Es war ein Streifenwagen.

"Wer in aller Welt ist--..."

Der junge Mann strahlte. "Das müssen die zwei Polizisten sein, die ich angerufen habe!"
 

"Sind das die beiden Saubermänner?", fragte Yukito mit einem unterdrückten Seufzen in der Stimme.

Er hatte es doch gewusst. Auf Toyas Arbeitswut konnte man getrost Kopf, Hintern und Rente verwetten.

"Mhmm", nickte Toya und gab dem wie verrückt winkenden Blondling ein Zeichen, "Offenbar noch zwei, die der liebe Gott nicht ohne Knacks hingekriegt hat. Wer weiß, vielleicht gehört denen ja auch diese Schrottlaube vorne bei der Kreuzung..."

"Vergiss beim Rückweg nicht das Salatsandwich für Johansen."

Toya seufzte. "Ja, ja, ja... später. Ich habe eigentlich genug zu tun, wie du weißt."

"Immer noch keine Ahnung, wo sie stecken könnte?", fragte Yukito mit blassen Wangen.

"Nein." Mit einem schwungvollen Dreh am Lenkrad navigierte Toya den ausrangierten Streifenwagen in eine Parklücke. "Also, knöpfen wir uns die beiden mal vor. Die werden uns schon nicht fressen, so wie die aussehen."

Ohne auf eine Antwort seines Gehilfen zu warten stieß der Kommissar die Autotür auf. Der fremde Blondling wirkte, als hätte er gerade den Jackpot seines Lebens gewonnen. "Kommissar! Endlich! Ich bin ja so froh, dass Sie so schnell gekommen sind! Mein Name ist Ray Flückiger, freut mich, Sie kennenzulernen!", zwitscherte er und kam eilends auf Toya zugestolpert, um ihm die Hand zu schütteln, "Sagen Sie, heißen Sie denn jetzt ganz wirklich Kinomoto?"

"Das haben Sie mich schon sechzehnmal gefragt, aber ich heiße immer noch eindeutig Kinomoto", erwiderte Toya trocken.

"Na, dann ist es ja gut! Und Sie, mein Herr?"

"Yukito Tsukishiro. Angenehm."

"Haaach!", trällerte Fye überglücklich und riss auch Yukito mittels überschwänglicher, schüttelnder Bewegungen fast die Hand ab, "Sie wissen ja gar nicht, wie erleichtert mein Freund und ich sind! Wir haben eine fürrrchterliche Nacht hinter uns, aber sicher!"

"Ähh-... klar doch", sagte Toya ein wenig stutzig, "Darf ich mich erkundigen, wer von Ihnen beiden betroffen ist?"

"Mein Freund hier!", erklärte Fye fröhlich und deutete auf Kurogane, als wolle er einen Zombiekönig vorstellen, "Kurogane!"

" 'n Tag", sagte Kurogane einsilbig und nickte den beiden Gesetzeshütern kurz zu.

Toya spürte, wie sein Herzschlag einen kurzen Höhenflug in seinen Hals unternahm, als er in die wilden, flammend roten Augen des Schwarzhaarigen starrte.

"Kommissar Toya Kinomoto. Uns kam zu Ohren, dass Ihr Haus einen schweren Brandschaden erlitten hat, ohne dass die Feuerwehr hierauf reagiert hat. In solchen Fällen ist es am empfehlenswertesten, dass Sie zunächst Anzeige gegen Unbekannt erstatten und den Sachschaden von einem Gutachter feststellen lassen, bevor Sie bei Ihrer Versicherung Schadensersatz erlangen."

"Oh ja, natürlich, das machen wir!", plapperte der Blondling eifrig, "Könnten Sie das Feststellen auch unternehmen? Ich hab mal im Fernsehen gesehen, dass die Polizei das auch macht! Und zur Versicherung gehen wir natürlich auch! Übrigens, Kommissar, ich hab im Radio gehört, dass Sie gerade an einer Mordserie bedeutender Politiker dran sind? Haben Sie schon was rausgefunden? Laufen die Ermittlungen gut? Wie finden Sie denn da noch Zeit für solche Quizquilien wie Hausbrände?"

"Nichts für ungut. Diese Stadt ist wie Miami", erwiderte Toya, regelrecht plattgedrückt von dem Geschwätz des Blonden, der sich Ray Flückiger nannte, "Man kümmert sich um alles, was man kriegen kann. Darf ich erfahren, wie das passiert ist?"

"Keine Ahnung", war die träge Antwort des seltsamen, schwarzhaarigen Kerls, "Ich kam nach Hause und da stand schon alles in Flammen. Meine Nachbarn haben behauptet, die Feuerwehr hätte auf ihre Anrufe nicht reagiert."

"Ah... in Ordnung. Keine Sorge, wir sehen, was wir tun können. Und es ist wirklich nichts übrig geblieben?"

"Nein, es ist alles futsch, Kommissar, überzeugen Sie sich selbst", erklärte Fye, "Alles, was wir retten konnten, war sein Katana!"

Toya blinzelte. Irgendetwas in ihm begann zu ticken. "Ah?"

"Gut, dann wollen wir uns mal dranmachen", unterbrach Yukito ihn jedoch schnell in seinen verkorksten Gedankengängen, "Das ist in zwei Minuten erledigt."

"Exzellent!"

Toya wandte sich mit einem Seufzen um und wollte sich auch schon Richtung Brandplatz begeben, als ihm noch etwas einzufallen schien. Schwungvoll drehte er sich wieder zu dem dubiosen Männerduett um.

"Ach, und... bevor ich's vergesse... gehört Ihnen dieser halb verschrottete Bentley da vorne an der Kreuzung?"

Fyes Kichern bekam etwas leicht Nervöses. "Ähhehehe, ja, er gehört mir... ich habe ihn gestern gebraucht. Warum?"

Toya hob die Augenbrauen.

"Wenn Sie mich fragen, sollten Sie das Teil abschleppen lassen... das macht keinen Kilometer mehr. Wenn Sie wollen, können wir Ihnen noch helfen, einen halbwegs preisgünstigen Abschleppdienst zu Rate zu ziehen."

"Alles klar!", trällerte der Blondling strahlend, "Haben Sie vielen Dank! Wie schön, dass es Polizisten gibt, nicht, Kurogane?"

"Hmmh", brummte der Killer nur und warf Toya einen gefährlichen Seitenblick zu. "Kann sein."
 

"Mit diesen Typen stimmt etwas nicht", sagte der Kommissar mit tonloser Stimme, kaum dass er den Streifenwagen in die erstbeste Kurve gelenkt hatte.

"Ach Toya, das bildest du dir doch sicher wieder nur ein."

Der junge Mann seufzte tief. "Ich wünschte, dem wäre so, Yukito. Dieser schwarzhaarige Kerl lässt mich nicht mehr los."

"Was? Bist du etwa schwul?"

"Ach, hör doch auf damit", schnappte Toya gereizt, "Hast du nicht gemerkt, wie der mich angestarrt hat?"

"Mich doch auch. Als ob ich ein Insekt wäre."

"Und dieser Blonde erst... die ganze Zeit hat er gefragt, ob ich auch wirklich Kinom--... was ist überhaupt ein Katana?"

"Keine Ahnung. Ich kann ja mal in einem Wörterbuch nachsehen."

"Aha."

Als Toya spürte, wie er schon wieder rettungslos in seinen paranoiden Gedanken versank, schüttelte er mehrmals heftig den Kopf.

"Na, auch egal. Sie haben Anzeige erstattet, wir haben den Schaden geschätzt, ihnen empfohlen, wie man am besten weitermachen sollte, und ihnen geholfen, einen Abschleppdienst für diese klapprige Kamelle zu besorgen. Und damit basta. Die sehen wir wohl nie wieder. Lass uns zurück ins Institut fahren."

"Okay."
 

"... Un-... u-und die war wieder sssooo g-... hick!-... gemeeeinn su mir..."

Yuzuriha heulte Rotz und Wasser. Mit jedem Hicksen schwappte das halbvolle Sektglas ein wenig über.

"Hey-...Yuzuriha-chan!", bemühte sich Sakura ein wenig hilflos um ihre Freundin und streichelte ihre Schultern, "Komm schon! Miss Garfield hasst dich nicht, nur weil sie dir 'ne Scheißnote verpasst hat!"

"D-... doooch", heulte Yuzuriha und schmiegte sich schniefend an Sakuras Schulter, "Die hast m-... hick! die hast mich! A-ale hasen mich! W-weil ich so bl-... bllllöd bin-... hick!"

"Wer hat dir denn das ins Ohr gepustet, Yuzu-chan?", seufzte Ryo und bediente sich an den Chips.

Shaolan starrte geistesabwesend ins Leere. "Emo, Mann. Total emo, diese Feier. Wir hätten sie morgen machen sollen, Ryo."

"Schon klar. Eigentlich eine Scheißidee, die Party nach der Mathearbeit zu machen... naja, dann ist wenigstens Miss Garfield die Schuld. Mann, wieso musste mir diese Bitch auch eine Fünf vor den Latz knallen?! "

"Hey, jetzt kriegt euch doch wieder ein!", empörte sich Sakura, "Mann Ryo, heute ist dein Geburtstag, und was macht ihr? Ihr regt euch über eine schlechte Note auf! Weißt du was, nimm dir einfach 'n Stück Kuchen und vergiss den Rest, okay?"

Ryo lächelte ein wenig kläglich und nahm das Riesenstück Marmorkuchen von Shaolans Freundin entgegen.

"Danke. Ich weiß, ich benehm mich mal wieder wie der totale Arsch, aber-..."

"Wir doch auch", konstatierte Shaolan tonlos und schielte in sein Cocktailglas, "Emo, Mann. Alles emo."

"Was für eine stimmungsvolle Geburtstagsparty", frotzelte Sakura und setzte sich neben ihren Freund auf das knuddelige, hellrote Sofa im Wohnzimmer von Ryos Wohnung. Noch am Vortag hatten sie und Shaolan ihrem langjährigen Schulkumpel bei der Dekoration und Organisation seines siebzehnten Geburtstags geholfen. Heute waren sie alle gemeinsam, kaum dass der Schlussgong ertönt war, von der Schule zum Haus von Ryos Eltern abgewandert und hatten die Party offiziell eröffnet. Insgesamt waren sie nur acht Gäste, denn Ryo hasste Massenparties, trotzdem hatten sie es aufgrund ihrer Frustration über diese Mathearbeit bereits geschafft, fast alle Alkoholika aufzubrauchen und waren nun in dementsprechender körperlicher und geistiger Verfassung.

"Oh ja. Emo, Mann."

"Vielleicht ist's ja normal, dass man ständig emo sein muss, wenn man jugendlich ist...", seufzte Ryo und winkte Yumi und Jack zu, die draußen auf dem Balkon zu Hit Me With Your Rhythm Stick tanzten.

"Hallo? Natürlich ist das so! Die ganze Welt zwingt einen doch richtig dazu, vor allem, wenn man noch jugendlich ist... das ist irgendwie so: als Kind ist noch alles total klasse. Schön und so. Und dann kommt die Welt und macht dich emo."

"Alllleeee sin ja so eeemooo", schluchzte Yuzuriha hicksend und rieb ihre Wange an Sakuras linker Schulter. "A-aba-... hick! ich sag euch was-... wir müsn imer was- hick!-... was gudes aus unserm Leiden ziehen-..."

"Ja, das müssen wir", sagte Sakura geistesabwesend und streichelte Yuzurihas Rücken, "Mann, Leute, wir werden erwachsen."

"Erwachsen", sagte Shaolan mit leeren Augen. "Ich hab keinen Bock auf erwachsen sein."

Noch während der junge Brünette mit einem Kopfschütteln sein Cocktailglas endgültig trank, klingelte plötzlich sein Handy.

Der Teenager wurde augenblicklich kreidebleich. "Scheiße! Hat Desmond jetzt doch meine Handynummer?"

"Nimm einfach den Anruf auf, dann merkst du's ja", erklärte Ryo und stopfte sich eine Handvoll Chips in den Mund.

Zögernd kramte Shaolan sein Handy aus der Tasche seiner Jeans hervor.

"Hallo?... J-ja-... ahhhh, Fye-san! Mann, Alter, erschreck mich doch nicht so! ... Jepp, wir sind gerade auf Ryos Feier-... ja, ich richt's ihm aus. Wie? Emo, sag ich dir! Ja!... Wie? Du hast was getan?!! ... Ach sooo... okay, Sekunde-..."

Shaolan deckte die Sprechmuschel des antiken Alcatel-Handys für einen Augenblick ab und wandte sich an seine Freundin.

"Sakura? Fye-san ist dran. Stell dir vor, er hat's endlich geschafft, Missis Robinsons Auto zu Schrott zu fahren!"

"Na, da freut sie sich garantiert, sie wollte doch schon seit Jahrzehnten mal 'n neues ranschaffen! Und sonst?"

"Naja, er war beim Abschleppdienst und ist jetzt gerade mit diesem Kurogane an einer Telefonzelle in der Innenstadt. Da scheint was richtig Fettes für ihn am Laufen zu sein. Fällt völlig aus der Rolle. Bin mal eben draußen und besprech das mit ihm, okay?"

"Geht klar. Richt ihm Grüße aus!"

"Wer ist denn dieser Kurogane?", erkundigte sich Ryo, während Shaolan auf äußerste Vorsicht bedacht über Yuzurihas mittlerweile schnarchende Gestalt hinwegkraxelte und mit dem Handy am Ohr auf den Korridor stolperte.

"Da weiß ich genauso wenig wie du", gestand Sakura achselzuckend, "Ich weiß nur, dass er ein großer Japaner ist, der nie heiraten will. Aber Fye-san scheint total begeistert von diesem Typen zu sein. Seit 'ner knappen Woche redet er fast nur noch über ihn."

Der Blick des fuchshaarigen Mädchens wurde nachdenklich.

"Man könnte meinen, er wäre dem Messias in Menschengestalt begegnet."

"Na, wer weiß, vielleicht ist er für ihn ja auch so etwas wie der Messias", witzelte Ryo. Sakura lachte nicht.

"Das ist nicht witzig, Ryo."

"Warum denn nicht?"

Shaolans Freundin starrte gedankenverloren ins Leere.

"Fye-san hat uns früher oft erzählt, dass er mal Gott begegnet wäre. Ein einziges Mal. Und-... und jetzt kommt's mir fast so vor, als ob er denkt, dass dieser K-... weißt du, man merkt, wenn er über etwas spricht, das er für heilig hält."

Ryo starrte das Mädel perplex an. Ein Schweigen verging, in dem nur Yuzurihas Schnarchen und die Musik von draußen zu hören war, bis Shaolan wieder ins Zimmer kam. "Mann."

"Was ist denn los, Shaolan?", fragte Sakura besorgt, als sie bemerkte, dass ihr Freund blass wie Rübenkraut war. Dieser jedoch setzte sich nur mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck auf das Sofa zurück. Man konnte glatt denken, es hätte ihm jemand eine Ananas in den Hintern geschoben. "Mann."

"Wie wär's, wenn du uns ganz einfach mal erzählst, was los ist?", bot Ryo an. Shaolan biss sich auf die Unterlippe.

"Mann. Ihr werdet mir's ja doch nicht glauben. Fye-san hat-... oh Mann."

"Versuch's doch wenigstens", bat Sakura ihren langjährigen Freund, "Fye-san ist ja bekannt für seine Geschichten, oder?"

Shaolan stieß ein Ächzen aus. "Also gut, ich probier's. Ich hab aber selber kaum mehr als die Hälfte kapiert."

"Gibt es 'ne Konstante bei der Sache? Also, etwas, das schon mal auf jeden Fall feststeht?"

Der brünette Teenager kratzte sich ein wenig überfragt am Hinterkopf.

"Naja. Auf jeden Fall steht schon mal fest, dass wir bald einen neuen Mitbewohner haben."
 

"Okay", verkündete Fye feierlich und blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, "Hier ist die Grenze."

Kurogane blieb schweigend neben seinem selbsternannten Begleiter stehen und hob den Blick.

Vor ihnen erhob sich das Hippieviertel von Kingstonville- und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn all seine Häuser, kleinen Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen schmiegten sich in eine künstliche Erhebung des Landstrichs, die schon bei der Gründung der Stadt gebaut worden war, um den Anschein eines mäßigeren Albhügels zu erwecken. Es lag feinflockiger Schnee in der Luft, und es lag ein schweigender Frieden über der Landschaft, obwohl die zahllosen Gebäude und Wohnhäuser nicht immer auf neuesten Stand zu sein schienen. Einige wenige Leute waren auf den Straßen als ferne, graue Schemen erkennbar.

Kurogane stieß ein bodenloses Seufzen aus und wollte sich in Bewegung setzen, als ihn der Blondling am Arm zurückhielt.

"Noch nicht."

"Was ist denn jetzt schon wieder los?! Sind wir hier auf 'nem Bombenteppich oder was?!"

"Nein. Aber wie gesagt, hier ist die Grenze. Hier im Hippieviertel gelten ein paar Regeln, die man besser einhalten sollte."

Der Schwarzhaarige nickte nachdrücklich vor sich hin. Hatte er's doch gewusst- ein Stadtviertel voller Verrückter, Vergewaltiger, Möchtegern-Mafiabosse und Zuhälter, die man offenbar ständig mit irgendwelchen Parolen ansprechen musste.

"Oha, ich zittere ja schon. Und was sind das für Regeln?"

Fye lächelte ein wenig bei so viel Starrsinn und nahm seinen unfreiwilligen Gast am Arm.

"Es ist das du, Kurogane. Nicht mehr und nicht weniger. Hier gibt's keine Förmlichkeiten, an denen man ständig festhalten muss. Das 'Sie' benutzt man eigentlich nur bei älteren Personen. Egal von welcher Nationalität. Außerdem", setzte er mit einem warmen Ausdruck in den Augen hinzu, "Würde es auch mich sehr freuen, wenn wir diese Floskeln endlich ablegen würden."

Kurogane blinzelte irritiert. Und das ist etwa schon alles?

"Wollen Sie mich verarschen?"

"Oh, keineswegs. Ich sage nur wie's ist. Also, Kurogane. Was hältst du davon?", fragte Fye lächelnd.

"Wenn's denn unbedingt sein muss, bitteschön, wie S--... du willst", war die lustlos gebrummte Antwort.

Der Killer hob abschätzig die Augenbrauen und wartete darauf, dass sich das Lächeln seines Gegenübers zu dem breiten, doofen Grinsen ausweitete, das ihm schon allzu bekannt war; es passierte jedoch nicht.

Im Gegenteil sogar- Fyes Lächeln schien in diesem Augenblick allein von seinen Augen auszugehen.

Nicht breiter, sondern tiefer. Von-... ja, von innen.

"Schön! Also, dann komm mal mit, Kuro-nyan! Ganz oben hat man einen tollen Ausblick auf die restliche Stadt!", erklärte er schließlich fröhlich, "Shaolan und Sakura-chan sind zwar noch nicht zu Hause, aber vielleicht kann ich Ih--..."

"Halt", setzte Kurogane plötzlich patzig dazwischen und packte den Blondling hart bei der Schulter.

"Wie", fragte er langsam, "Hast du mich eben genannt?"

"N-naja, ich dachte mir, wenn wir jetzt schon einmal beim Du sind, kann ich dir ja auch einen Spitznamen geben!", war die fröhliche Antwort, "Kuro-nyan, klingt doch drollig! Und dazu tausendmal besser als Kurogane! Kurogane ist so ewig lang!"

Er warf einen fragenden Blick zum Gesicht seines schwarzhaarigen Kompagnons empor.

Da ihn dieser nur aus Augen anglotzte, deren Ausdruck im Moment einfach nicht zu entschlüsseln war, machte er weiter.

"Wobei... es muss ja nicht immer Kuro-nyan sein! Wie wär's zur Abwechslung mit Schwarzkopf? Blackman? Kuro-pyon? Kuro-wan? Kuro-chii? Kuro-rin? Kuro-wanko? Blacky? Kuro-ne? Kuro-ronron? Kuro-kuro? Kuro-mek--..."

"SIE MACH ICH FEEEEERTIIIIIIG!!"

Fye stieß einen überraschten Laut aus und schaffte es gerade noch, sich unter einem gepfefferten Faustschlag wegzuducken.

Johlend vor Lachen ergriff er die Flucht, als Kurogane mit einem schrecklichen, wutschnaubenden Geräusch die Arme hob und hinter ihm herpflügte wie Kingkong auf einem LSD-Trip der abartigsten Sorte.

"Juuuuuuuuhuuuuh!! Sie sind ja richtig cholerisch, Kuro-myu!", quietschte er entzückt und drehte sich auf dem zugefrorenen Asphalt wie ein verrücktgewordener Kreisel, "Das hätte ich ja niemals von Ihnen erwartet, Sie olle Beruhigungspille!"

"ICH BIN KEINE BERUHIGUNGSPILLE!!", war die gebrüllte Antwort, "UND NENNEN SIE MICH NIE WIEDER SO!!!"

"Wie denn nicht mehr? Kuro-chii? Kuro-persil? Kuro-asango? Black Jack?"

"AAAAAAAAARRRRRGH!!!"

Die wenigen Leute, die bei diesem Schneefall noch draußen waren, drehten sich fragend um, als zwei weißbepuderte Gestalten an ihnen vorbei den Weg zur Beethovenstraße hochpreschten, die eine wie verrückt lachend, die andere wie verrückt schreiend.

"Wuiiiiiiii! Das wird eine schööööne Zeiiiiiiit! Eine schööööne Zeit!", jubilierte Fye und schlug im Laufen die Hacken zusammen.

"ICH GEB DIR GLEICH SCHÖNE ZEIT!!"

"Nimmst du's mir etwa krumm, dass ich dir helfen will, Kuro-wan?"

"Das geht dich 'nen verdammten Dreck an!!"

Der Konditorlehrling grinste breit über die Schulter und verlangsamte seinen Schritt.

"Okay! Übrigens, ein toller Einfall von dir, diese irre Hetzjagd! Jetzt sind wir schon bei meinem und Missis Robinsons Haus angekommen! Da vorne, siehst du? Nummer dreiunddreißig!"

Mit einem weiteren Lächeln wandte er sich wieder um. Auf diese Weise bemerkte er auch nicht die leise Verwirrung, die sich in den Blick seines neuen Mitbewohners gestohlen hatte, bevor ihm dieser rasch folgte.

Kurogane biss sich auf die Unterlippe. Wieso hakte dieser verdammte Blondschopf nie nach, kreuzkruzifix nochmal?

Es wäre viel leichter, sich aufzuregen.

Ja aber-... warum? Warum will ich mich überhaupt aufregen?

Mit einem zentnerschweren Seufzen räumte Kurogane seine Wut beiseite und überredete sich dazu, einen Blick auf das vom Schnee überpuderte Häuschen mit dem blass dotterfarbenen Verputz, der schlicht überdachten Veranda und dem kleinen Vorgarten vor ihnen zu werfen. Mhhm. Er hatte sich das Haus von diesem Typen irgendwie anders vorgestellt.

"Es ist nicht gerade der Palast von Zamunda, ich weiß", gab Fye zu, der dem Blick seines Begleiters gefolgt war, "Aber du wirst sehen, es lässt sich durchaus darin leben. Missis Robinson wohnt gleich nebenan in Nummer vierunddreißig. Komm!"

Widerwillig ließ sich der Killer am Arm durch den zugeschneiten Vorgarten zur Eingangstür des Nachbarhauses zerren.

"Wieso konnten S-... du nicht einfach vom Abschleppdienst aus anrufen? Die haben sich ja schier in die Hosen gemacht, als sie diese abgetakelte Schindkarre zu Gesicht bekommen haben!"

"Weil man so etwas persönlich macht", erklärte Fye nachdrücklich, während er den Klingelknopf betätigte, "Das nennt man gute Kinderstube! Außerdem ist Missis Robinson sehr nett, du wirst sie sicher mögen!"

"Bah", war die gebrummte Antwort, "Ich hasse breitbusige Altsommerweiber..."

"Woher willst du denn wissen, dass sie ein breitbusiges Altsommerweib ist? Und wo hast du nur diese Bezeichnungen her?"

"Jetzt klingst du schon wie ein breitbusiges Altsommerweib!"

"Und wie klingt ein breitbusiges Altsommerw-...", fing Fye zweifelnd an, er blieb jedoch mitten im Satz stecken, als die Eingangstür zu Nummer vierunddreißig mit einem Knall aufflog, ein damenhafter Juchzer erklang, zwei Hände sich ausstreckten und ihn geradewegs an eine überdimensionale Brust pressten. Kurogane machte unwillkürlich einen Satz nach hinten.

Jesus! Also doch!

"Fye-kun! Mein lieber, lieber Fye-kuuuun!! Gott, komm an mein Herz, Junge, komm an mein Herz! Ich hab mir solche Sorgen gemacht, mein lieber Junge, solche Sorgen, solche grässlichen Sorgen! Mein Junge!"

"Viiielmmpfdnkmssspffhh-... isrobnnnsnnn", keuchte Fye mühsam zwischen den Massen aus Brust, Hauskittel, schottengemustertem Fleeceschal und damenduftigen Armen hervor, in denen er soeben versunken war, "Mmmpfichhh-...wlllltnnnurr-...."

"Oh-... natürlich", antwortete Missis Marjory Robinson, eine wahrhaft pompöse Frau in den Fünfzigern, schuldbewusst und ließ den blonden, jungen Mann sofort wieder aus ihren Armen, "Tut mir leid! Ich habe mir nur solche Sorgen gemacht! Mein Douglas sagt natürlich, es wäre lächerlich, mich ständig zu sorgen, aber ich habe ja solche Ängste durchlitten! Solche Ängste!"

"Das geht völlig in Ordnung, Missis Robinson", sagte Fye und lächelte seine beflissene Nachbarin an, "Wie geht's Ihnen und Ihrem Mann? Geht das Graffiti immer noch nicht weg?"

"Wahrscheinlich werden sogar meine Urgroßenkel noch flüssig sein, bis das endlich abgeht", erwiderte die beleibte Hausfrau achselzuckend, "Aber keine Sorge, mein Douglas und ich machen das schon. Also, was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?"

"Zwei Sachen. Zuerst möchte ich Ihnen gerne jemanden vorstellen!", erklärte Fye fröhlich und zerrte Kurogane am Arm nach vorne.

Dieser blinzelte skeptisch und musste mit sich ringen, um nicht ständig auf die massige Brust seiner neuen Nachbarin zu starren.

"Ach?", fragte diese soeben erfreut und strahlte den Schwarzhaarigen herzlich an, "Wie nett! Ist das ein Freund von dir, Fye-kun?"

"Ja!", antwortete Fye stolz und tätschelte Kurogane die Schulter, als wäre er das Ei des Kolumbus, "Das ist Kurogane! Er wird ab heute bei Shaolan, Sakura-chan und mir im Haus wohnen! Kuro-chii, das ist Missis Marjory Robinson, meine Nachbarin!"

"A-... angenehm", gab Kurogane zögernd zurück und starrte Fyes Nachbarin krampfhaft auf die Stirn.

"Das ist ja nett! Was für eine Freude!", erwiderte diese herzlich und konnte anscheinend nicht umhin, auch ihren neuen Nachbarn in die Arme zu schließen, obwohl sie sich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste. Kurogane japste innerlich auf, als er unwillkürlich nach unten gezogen wurde, und versuchte verzweifelt, nicht mit der Nase auf dieser Riesenbrust zu landen.

"Wir haben noch eine Menge vor, Missis Robinson", fiel Fye vorsorglich ein, dem es nicht schwer fiel zu erkennen, worin Kuroganes Problem bei seiner neuen Nachbarin bestand, "Wir sind eigentlich gekommen, um Ihnen Aufklärung bezüglich Ihres Autos zu geben, Sie wissen ja, ich hatte es mir gestern ausgeliehen--..."

"Ach so, stimmt ja! Du hast es hoffentlich zu Schrott gefahren? Ich will mir endlich diesen superscharfen neuen Ferrari leisten-...", setzte die pompöse Hausfrau hoffnungsvoll an, als vom Hausflur aus eine Stimme ertönte.

"Missis Robinson? Wo haben Sie eigentlich-... oh!"

Diesem überraschten Ausruf folgte eine junge, hell rothaarige Frau, die mit einem Lächeln in den Eingang trat.

Kurogane wurde es fast schwarz vor Augen, als sein Blick auf den enormen Bauch fiel, den sie vor sich herschob.

Verdammt nochmal! Erst Riesentitten, dann ein Riesenbauch! Was kommt als Nächstes, ein Riesenarsch?

"Bist du's, Fye-kun?"

"Wer soll ich denn sonst sein, Claire?", fragte Fye lachend und schloss das schwangere Mädchen in die Arme, obwohl sie ihm nur bis knapp an die Schultern reichte, "Wie geht's euch beiden?"

"Ach, uns geht es gut", war die vergnügte Antwort, "Man will noch ein paar Tage warten, bis es ins Krankenhaus geht. Hey, wer ist denn der Gast, den du uns da mitgebracht hast? Machst du uns bekannt?"

"Aber gern! Claire, ich hab das Vergnügen, dir Kurogane vorzustellen, er wohnt ab heute bei mir im Haus! Kuro-pyon, das ist Claire Leeds, sie wohnt die Straße runter in Haus Nummer fünfundzwanzig. Ach, und das ist Kyle!", rundete Fye ab und deutete auf den Babybauch der jungen Frau, was diese jedoch lediglich zu einem Lachen animierte.

"Nett, dich kennen zu lernen, Kurogane! Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, ab heute bei Fye-kun zu wohnen!"

"Hey, was soll das werden, ein 'Wer zuerst rot wird, verliert'-Spiel?", fragte Fye kichernd.

"Wieso kommt ihr beiden nicht auf einen Tee rein und erzählt, wie ihr euch kennengelernt habt?", fragte Missis Robinson gutgelaunt, "Mr. Cortez, Mitsuru und Patrick sind auch gerade da, dann können wir auch gleich die Sache mit dem Auto bereinigen!"

"Klar! Gern!", entzückte sich der Blondling und nahm seinen unfreiwilligen Gast am Arm, "Komm schon, Kuro-pi!"

Kurogane stieß einen unterdrückten Seufzer aus und ergab sich bereitwillig in sein unausweichliches Schicksal, als er sich von Fye in Missis Robinsons Wohnung zerren ließ.

Ein altes Weib mit Riesentitten, eine Schwangere, drei Schrullväter und ein ewig quatschender Blondschopf.

Wie werd ich das bloß überstehen?
 

"Auf Wiederseeeeeeeeehn! Und vielen Dank für den Tee, es war ganz ausgezeichnet!"

"Gerngeschehen! Bis dahaaaaann!"

Kurogane schnaubte ungeduldig. "Jetzt machen Sie schon hinne! Verdammt, war das peinlich!"

"Warum denn?", fragte Fye mit großen Augen, als er sich endlich vom Nachbarhaus abgewandt hatte und nun gemeinsam mit seinem neuen Mitbewohner den Weg zu Haus Nummer dreiunddreißig hochschlenderte, "Hat der Tee dir denn nicht geschmeckt?"

"Ach, darum geht's doch gar nicht!", keifte der Killer gereizt, "Mit-... mit diesen Riesentitten könnte man ja ganz Afrika ernähren!"

"Mit einem Wort, du störst dich an schwangeren Frauen", stellte Fye simpel fest. Augenblicklich nahm Kuroganes Gesicht die Farbe eines frisch gescheuerten Kupferkessels an.

"WAS?!! V-... von wegen! Ich störe mich nicht an schw-... an schwangeren-..."

"Ist das niedlich, Kuro-chii wird verlegen, wenn er eine schwangere Frau sieht", kicherte der Blondling fröhlich und förderte einen leicht eingedellt wirkenden Hausschlüssel aus seiner linken Manteltasche zutage.

"Nenn mich nicht so", kam es fauchend zurück.

"Tut mir leid, ich werde in Zukunft drauf achten, Kuro-wan", meinte Fye mit einem Zwinkern, "Ich bin ja nur froh, dass Missis Robinson die Sache mit ihrem Auto so gut aufgenommen hat!"

"Wenn sie eh schon ein neues wollte", erwiderte der Schwarzhaarige achselzuckend, "Sind Ih-... deine Mitbewohner überhaupt schon da? Ich will dieses ewige Herumgevorstelle schleunigst hinter mich bringen..."

"Nein, da muss ich dich enttäuschen. Sakura-chan und Shaolan sind noch auf der Party eines Freundes und kommen erst heute nacht zurück. Morgen beim Frühstück werdet ihr aber sicher Gelegenheit haben, euch bekannt zu machen."

Argwöhnisch beobachtete der Killer, wie das Lächeln seines Gegenübers etwas Traumverlorenes bekam.

"Die zwei sind einfach wunderbare Menschen. Du wirst sehen, sie werden dir ganz sicher gefallen!"

"Das hast du auch schon gesagt, als du bei der Robinson geklingelt hast", erwiderte Kurogane trocken.

Fye beobachtete aufmerksam das Gesicht seines Gasts. "Wieso willst du eigentlich jeden sofort hassen, wenn du ihn kennenlernst?"

"Weil das-...", fing er an, brach jedoch abrupt ab und starrte den Konditorlehrling irritiert an.

Weil das so viel einfacher ist. Fyes Blick bekam wieder dieses Weiche.

"Kurogane. Glaubst du an Gott?"

"WAS?!"

"Naja, ich wollte dich das schon immer fragen. Glaubst du an Gott? Hast du ihn schon mal getroffen?"

"Nein. Du etwa?"

Fye lächelte ein bisschen. "Ja. Einmal. Und ich mag seinen Stil, weißt du? Ich würde ihn dir gerne eines Tages vorstellen."

"Ach ja? Wo ist er denn, dein Gott, dass ich ihn noch nie getroffen hab?", schnappte Kurogane gereizt.

"Ich glaube, er wohnt in der Kirche. Vor einer knappen Woche hab ich mich das letzte Mal mit ihm unterhalten, und ich denke, er würde sich sicher sehr freuen, dich kennenzulernen."

Der Blondling legte wieder seine Hand auf Kuroganes Schulter.

"Bald ist Weihnachten, Kuro-chii. Christi Geburt. Und wenn man dieses Fest feiert, sollte man es mit reinem Gewissen tun. Würdest du-... würdest du mal mit mir zur Kirche gehen wollen?"

Der Killer runzelte skeptisch die Stirn. Was soll das werden, eine Missionierung?

Nach einem langen Schweigen stieß er schließlich ein Seufzen aus.

"Du willst dich unbedingt ändern, stimmt's? Und ich soll mich auch ändern", sagte er leise und starrte sein Gegenüber an.

Dieses lächelte. Seine Augen lächelten nicht mit.

"Wieso denn nicht? Veränderung ist nichts Schlechtes. Veränderung ist was Gutes."

"Ach ja?", fragte Kurogane. Als Fye nicht reagierte, trat er unwillkürlich einen Schritt näher an ihn heran.

"Ich denke allerdings, dass sich in meiner ständigen Gegenwart zuviel für dich ändern würde. Ich hasse es zum Beispiel, wenn man mich belügt. Hinzu kommt, dass ich es immer merke. Stell dir das bloß vor: du müsstest aufhören zu lügen."

In Fyes Augen flackerte ein seltsamer Ausdruck auf. Sein Mund lächelte jedoch immer noch.

"Und du müsstest aufhören zu morden."

Schweigen.

Kurogane spürte, wie sich alles in ihm als Reaktion auf diese schlichte Feststellung zu verkrampfen und zu versteinern begann.

Seine Kehle schmerzte. Er konnte sein Herz dumpf und beharrlich in seiner Brust hämmern fühlen.

Er weiß es.

Er starrte den Blondling aus tauben, fassungslosen Augen an. Für einen Moment spürte er einen plötzlich einsetzenden, heftigen Reflex, seine Hände um diesen hellen, wehrlosen Hals zu legen und so lange zuzudrücken, bis der andere sein Lichtlein aushauchte. Im nächsten Moment fühlte er einen steinharten Kloß im Hals. Sämtliche Kraft schien aus seinen Händen zu entweichen.

Und plötzlich schämte er sich unglaublich.

Er schämte sich so sehr, dass er sich nur noch in eine Ecke verkriechen und die Augen zuhalten wollte, um nicht gesehen zu werden.

"I-ich--..."

Fye lächelte immer noch.

Nach einer langen Stille klopfte er ihm auf die Schulter.

Dann steckte er den Schlüssel ein und drehte ihn herum.

"Schon gut. Komm, ich geb dir eine exklusive Führung durchs Haus!"
 

Später Abend.

Der Schnee auf den Dächern der Häuser im Hippieviertel glänzte vom Licht des Mondes wie verzaubert.

Ein eiskalter, grimmiger Wind fauchte durch die Straßen und wirbelte den Schneestaub hoch, ließ die dürren Äste der Bäume am Bürgersteig rascheln und zittern, als könnten auch sie die Kälte fühlen.

Kurogane spürte, wie seine Haut zu beben begann und zog den Mantel, den er sich vorsorglich übergeworfen hatte, ein wenig enger um seine Schultern. Obwohl er mittlerweile schon das Gefühl hatte, dass ihm jeden Moment der Arsch am Treppenabsatz festfrieren musste, auf dem er schon seit Beginn des Abends herumgesessen war, konnte er sich nicht überreden, aufzustehen und wieder ins Haus zu gehen. In der Ferne glänzten die Lichter von Kingstonville wie ein Handwurf Diamantensplitter.

Die ganze Welt um ihn herum war still. Aber es war nicht das Gleiche als ob er mal wieder in seiner Wohnung vor sich hinvegetieren würde- nicht dieses totengleiche, trübe Schweigen. Diese Stille konnte man greifen und fühlen, denn sie war lebendig.

Man wusste, dass es noch andere Menschen auf diesem Planeten gab, weil sie so nahe waren.

Kurogane stieß ein Seufzen aus und spürte resigniert, wie schon wieder Bilder der vergangenen Nacht in seinem Kopf emporsteigen wollten. Scheiße. Die ganze Geschichte hatte ihn wohl doch mehr mitgenommen, als er es sich eingestehen wollte.

Und es war lästig, immer wieder daran denken zu müssen, denn es bereitete Schmerzen. Diese Art des Denkens war völlig anders als dieses stumpfe Vor-sich-Hindämmern von früher. Es war, als hätte der Brand auch dieses Vakuum in seinem Kopf zerstört.

Der Killer spürte die Verkrampfung in sich und wollte auch schon aufstehen, als er plötzlich eine unerwartete, flüsterleise Stimme hinter seinem Rücken hörte. "Kuro-chii?"

Ein tiefes Seufzen.

"Ich hab Ihn-... dir doch gesagt, du sollst mich nicht so nennen."

Als keine Antwort kam, drehte er sich zu seinem ungeladenen Besucher um.

Fye hatte seinen hellen Morgenmantel an und trug zwei dicke Wolldecken auf dem Arm. Mit einem fragenden Ausdruck in den Augen legte er den Kopf schief und kam ein paar kleine Schritte näher heran.

"Bitte", fragte er leise, "Darf ich?"

"Hmhh", brummte Kurogane bloß und ließ es geschehen, dass ihm der Blondling eine der beiden Decken um die Schultern legte und sich neben ihn auf den Treppenabsatz setzte.

"Möchtest du nicht reinkommen?"

Mit einigem Befremden spürte der Schwarzhaarige, dass sich nicht die übliche Wut über das Gesabbel seines selbsterklärten Begleiters einstellte. Vielleicht, weil es diesmal kein Gesabbel war. Das ganze Gebaren des Blondlings hatte sich geändert.

"Ich glaube nicht", gab er schließlich mit rauer Stimme zur Antwort, "Ich muss nachdenken."

Fye sah sein älteres Gegenüber nur mit einem schweigenden Blick an. Kurogane blinzelte irritiert.

"Ich, ich meine-... über den Brand und alles", stieß er schnell hervor, um die ungewohnte Stille zwischen ihnen zu überbrücken, "Das beschäftigt mich immer noch ziemlich, und tja, deswegen will ich es mir lieber von der Seele denken, bevor ich ins Bett gehe-... daran zu denken strengt sehr an, desha--... Mann, ich frage mich, seit wann ich dir eigentlich Erklärungen schulde", schloss er schließlich verbittert und ließ die Schultern heruntersacken.

"Ich bin froh, dass du es mir sagst. Denken strengt mich manchmal auch an."

"Schätze, damit muss man leben, wenn man kein großer Denker ist", versuchte Kurogane einen halbherzigen Scherz.

Fye lachte nicht.

"Nein, das ist es nicht. Du bist mit deinen Gedanken allein. Deshalb."

Der junge Mann hob den Blick und starrte sein jüngeres Gegenüber wortlos an.

"Wenn man immer alleine denken muss, kann man sich nicht dagegen wehren", sagte dieser leise, "Dein Kopf ist so voll, dass er platzen könnte, aber man muss immer weiterdenken. Mit der Zeit tut es sogar weh."

Stille. Der Blick des Blondling wurde weich.

"Würdest du mir die Hälfte von deinem abgeben? Bitte, Kuro-chii."

Kurogane spürte, wie sein Herz in seinem Brustkorb kleine, pochende Aussetzer machte.

"Ich will einfach nicht glauben, dass es ein Unfall war", flüsterte er heiser, "Ich bin mir schon seit gestern sicher, dass das jemand mit Absicht getan hat. Mein Haus ist mit Absicht angezündet worden. Aber wenn ich das denke, denke ich auch, dass-... dass ich vielleicht jetzt schon total spinne. Ist das normal? Wenn ein Unfall passiert, und man sofort denkt, dass es jemand anders mit Absicht getan hat? Denn wenn es jetzt doch--... ich will nicht spinnen. Ich bin doch jetzt schon so verdammt kaputt."

"Was würdest du tun, wenn es jemand mit Absicht getan hat?"

"Ich würde nach ihm suchen, ihn fragen, warum er das gemacht hat, und ihn dann umlegen."

"Und dann?"

Etwas in Kurogane verkrampfte sich schmerzhaft auf diese Frage.

"Und dann würde ich wahrscheinlich weiterleben wie vorher."

"Ohne Änderung?"

"Ohne Änderung. Ich bin so kaputt, Mann. Ich hab's gestern nacht bemerkt."

"Und ich konnte nicht schlafen, weil ich Alpträume hatte. Vielleicht spinne ich ja auch. Vielleicht spinnen wir beide, Kuro-myu, und haben es erst seit gestern bemerkt."

Fye hob den Blick und sah zur fernen, silbrig glänzenden Scheibe des Mondes empor, bevor er weiterredete.

"Vielleicht spinnen wir aber auch nicht und sind einfach nur zwei Menschen, die sich Sorgen machen."

"Ja. Vielleicht."

Ein langes Schweigen verging, in dem die beiden jungen Männer nur die kalt funkelnden Sternen am Nachthimmel betrachteten.

Als Kurogane flüchtig Fyes Gesicht mit den Augen streifte, merkte er, dass er lächelte.

"Danke, dass du mit mir geteilt hast, Kurogane."

Der Schwarzhaarige deutete ein Nicken an. Der kühle Nachtwind strich über sein Gesicht, und mit einem Schaudern spürte er, wie seltsam real er auf einmal zu sein schien. Die Luft war noch luftiger geworden, der Schnee noch weißer. Die Wolldecke greifbarer.

Er lebte und war hier. Hier und genau jetzt.

Viel zu spät quoll auf einmal die Überrumpelung ob all dieser fremden Eindrücke in ihm hoch.

"Ich-... ich denke, ich geh jetzt ins Bett-...", stieß er zu plötzlich und zu patzig hervor und stand zu schnell auf.

"Ich bin müde, und die ganze Nacht mit Gequatsche zu verschleudern bringt's ja wohl auch nicht-... wegen morgen eben--..."

Fye nickte und lächelte freundlich zu ihm hinauf. Das blasse Mondlicht ließ seine schlanke Gestalt wie eine Erscheinung wirken.

"In Ordnung. Geh ruhig. Wenn du Durst bekommst, Wasser steht neben der Treppe. Morgen muss ich wieder zur Arbeit, jetzt hab ich schon fast drei Tage am Stück gefehlt, mein Chef wird mich vierteilen. Aber wenn ich wieder da bin, können wir alles machen, was wir vorhatten! Zur Feuerwehr, zur Versicherung, zur Bank, und so. Musst du morgen früh auch noch wohin?"

"Auch zur Arbeit", hörte er sich sagen, "Und jemanden besuchen. Aber bis zum Frühstück bin ich wieder da."

Der Blondschopf nickte abermals. "Okay. Frühstück gibt es morgen um acht, weil Shaolan und Sakura-chan zur Schule müssen. Magst du Spiegeleier mit Speck?"

Kurogane wurde es heiß in den Ohren, und er spürte, wie es sich ihm elend im Magen ballte.

"Ja, geht so-... ich... ich bin dann oben."

Fye legte immer noch lächelnd den Kopf schief.

"Schlaf gut. Wenn was los ist, weck mich einfach. Ich schlafe in der Küche."

"G-gut--..."

Der Killer flüchtete regelrecht ins Hausinnere.

Sein Herzschlag ging wie das Rattern eines Presslufthammers, und sein fliegender Atem beruhigte sich erst, nachdem er die Treppe zum ersten Stock hochgepoltert war, seine Zimmertür hinter sich zugeknallt und den Schlüssel im Schloss umgedreht hatte.

Keuchend presste er sich eine Hand vor die Augen. Hilflos spürte er, wie sich seine gesamte Gedankenwelt wie besessen kreisend nur noch um eine einzige Frage drehte.

Wieso-... wieso ist er nur so--...

Langsam löste er sich vom Türrahmen und starrte zum Fenster hinaus. Richtung Schwelle, auf der immer noch Fye saß.

Seine dick in Decken eingepackte Gestalt wirkte seltsam unstet.

Sein blondes, vom Mondlicht leicht silbern angehauchtes Haar zauste sich im kühlen Nachtwind.

Wie ein Kind. Wie ein kleines Kind.

Es war fast Mitternacht, als sich Kurogane endlich dazu überreden konnte, ins Bett zu gehen.

Betäubt wie ein Ohnmächtiger sank er zwischen die Kissen und fiel in einen unruhigen, traumverworrenen Schlaf.

Rich Mens' World

-"Eine Seele nährt sich von dem, an dem sie sich erfreut."-

(Aurelius Augustinus)
 

~~
 

Nacht. Auf dem Flur in Haus Nummer dreiunddreißig herrschte Grabesstille.

Im Haus selbst hörte man nur das leise Ticken der Kuckucksuhr im unteren Hausflur. Und als sich das Uhrwerk in Bewegung setzte und fünfmal asthmatisch Kuhh-... huck! quäkte, wurde im ersten Stock ein Geräusch laut.

Kurogane zischte einen gotteslästerlichen Fluch zwischen den Zähnen hervor, als der Holzboden vor seinem Zimmer beim Betreten einen quietschenden Schmerzensschrei in die Stille der Wohnung hinauskrächzte.

Verdammt noch eins! Dem Haus würde 'ne Generalrenovierung mal guttun!

Hoffentlich hatte er jetzt niemanden aufgeweckt! Er wollte nicht schon in der ersten Nacht Probleme mit seinen neuen Mitbewohnern kriegen, noch dazu mit Mitbewohnern, die er nur zum Teil kannte. Das Frühstück heute konnte ja 'ne heitere Nummer werden.

Zähneknirschend schlich sich der große Schwarzhaarige auf Zehenspitzen über den Flur und dann die Treppe runter- ein wenig wirkte es, als würde ein Grizzlybär versuchen, mit Spitzenschuhen über ein Drahtseil zu laufen.

Okay. Jetzt nur noch im Hausflur Mantel und Schuhe anziehen und dann schnell seinen Jaguar holen gehen.

Doch plötzlich wurde der Killer schmerzhaft aus seinen Gedanken gerissen, als er unvermutet mit dem Fuß an ein seltsames, sackähnliches Bündel stieß, das auf der vorletzten Stufe lag, und ins Fallen kam.

"UAAARGHHMPFF--..."

Sein Gebrüll ging in einem ohrenbetäubenden Rumpeln unter, als er Hals über Kopf die restlichen Stufen hinunterpolterte und platt auf der Nase landete, sodass es ihm in den Ohren klingelte. Mit einem Stöhnen wälzte er sich herum.

Als er endlich erkennen konnte, was dieses Bündel auf der Treppe war, blieb ihm für einige Sekunden die Luft weg.

"Du?!!"

Zwei weit aufgerissene, panisch flackernde Augen starrten ihn statt einer Erwiderung an.

Es war der Blondschopf. Sein leichenblasses Gesicht war in Schweiß gebadet, und seine Brust unter dem Bademantel hob und senkte sich, als wäre er spontan einen Marathon gelaufen. Langsam beruhigte er sich wieder.

"Du... bist es... Kuro-ne... ?"

Schweigen. Als hätte jemand ein lautloses Signal gegeben, schossen beide wieder in die Höhe wie angezündete Knallfrösche.

"Was zum Teufel machst du hier mitten in der Nacht?", fragte Kurogane schroff, während er sich den Staub runterklopfte.

Fye schlug die Augen nieder. "Ich-... ich glaube, ich war so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Ich wollte auf dich warten."

Mit einem Seufzen rieb sich der Killer kräftig über die Nasenwurzel, um sich wieder zu beruhigen.

"Du hast also die ganze Nacht damit verbracht, hier auf dieser Treppe herumzusitzen."

"Nun ja, nicht ganz, gegen zwei Uhr hab ich noch ein Bad genommen. Hast du gut geschlafen? Ist mein Bett okay?"

"Es ist-... noch ungewohnt", ging Kurogane tonlos auf den Themawechsel ein, "Ich hab das letzte Mal vor fünfzehn Jahren freiwillig mit jemandem zusammengewohnt, und-... eh, ich meine, ich muss jetzt zur Arbeit."

Fye fiel das Lächeln aus dem Gesicht. "Was? Aber du hast doch noch gar nichts im Magen! Ich mach dir schnell was!"

Die Augen des Schwarzhaarigen verengten sich. Er starrte seinen Gastgeber eisig an.

"Ich hab dir gestern was gesagt. Spiel mir nichts vor. Du kannst ja kaum mehr aufrecht stehen."

Schweigen. Plötzlich wirkten diese glasblauen Augen wächsern wie die eines Toten.

"K-... kuroga--..."

Ehe sich Kurogane versah, kam sein jüngeres Gegenüber näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie war schneeweiß.

Und auf einmal wurde ihm bewusst, wie ausgebrannt Fye sein musste. Er war so müde, dass man unter seinen Augenlidern die Adern hindurchschimmern sehen konnte. Seine bleichen, schmalen Finger zitterten.

"Hör mich jetzt an. Ich werd es dir nur einmal sagen, okay? Gestern nacht ist etwas in uns beiden zerbrochen. Wir haben ein, ein-... ein Stück von uns selbst verloren. Und als ich das bemerkt habe--... da habe ich gespürt, dass ich den Rest auch loswerden will."

Fyes Kehlmuskeln verkrampften sich, als würde ihm ein steinharter Kloß im Hals stecken.

"Ich klinge, als wäre ich auf LSD, ich weiß! Aber du inspirierst mich, Kurogane, verstehst du? Du inspirierst mich, ein besserer Mensch zu werden als bisher! Deine Gegenwart rüttelt mich total auf! Sie ist eine riesige Herausforderung für mich!"

Kuroganes rechte Hand zuckte. Ein mächtiges Stechen legte sich auf seine Brust.

"Und ich habe gemerkt, dass ich so eine Herausforderung schon viel zu lange gebraucht hab", presste Fye hervor, "Ich bin eine Memme, ich mache kaum etwas richtig, und ich habe nicht einmal genug Kraft, um mit mir selbst zu leben! Aber das bisschen an Kraft, das ich habe-... das will ich benutzen, um mich um dich zu kümmern, Kuro-chii. "

Die Augen des Blondlings flackerten. "Und wenn ich dabei verrecke."

Schweigen. Ein beklemmendes Gefühl stieg in Kuroganes Magengegend empor. Und plötzlich fühlte er sich hundeelend.

Wenn ich ihn jetzt nur anschreien könnte. Wenn ich das bloß könnte.

"Würdest du nur verrecken wollen, um mir das zu beweisen?", fragte er ruhig.

Fye ließ die Schulter seines neuen Mitbewohners los. Sein Lachen klang mehr nach halblautem Krächzen.

"Gott. Was für eine Frage. Darüber sollten wir auch dringend mal eine Oscar-Diskussion halten."

Da war er wieder, diese warme Ausdruck in seinen Augen. Ein Lächeln, das von innen kam.

Schweigend ging er in die Diele und kam mit Kuroganes Mantel, einem Schal, Mütze und Fäustlingen zurück.

"Komm", sagte er leise, "Lass mich dir helfen."

Dann nahm er das rechte Handgelenk des Schwarzhaarigen und zog ihm einen der Fäustlinge an. Kurogane sah ihm wortlos dabei zu.

"Behalt sie an. Heute nacht hat's draußen ziemlich heftig geschneit, und die Wolle ist richtig schön warm."

Kurogane blinzelte, ohne einen blassen Schimmer, was er jetzt denn bloß antworten solle. Fye störte sich nicht daran, sondern stülpte ihm noch die Mütze über die struppigen schwarzen Haare und wickelte ihm den Schal um.

"Okay", sagte er und sah mit einem Schmunzeln zu ihm hoch, "Jetzt ist es gut. Lass dich nicht unterkriegen, ja?"

"Ist gut", erwiderte der Killer unschlüssig. "Ich-... ich komm schon klar."

Der Blondling lächelte.

Seine Finger schlossen sich fest um das, was er schon die ganze Nacht über in der Hand gehalten hatte.

"Pass auf dich auf..."
 

"... und hier haben wir die einzige Videoaufzeichnung, die uns von ihm gelungen ist. Kaum mehr als fünf Sekunden."

"Zeig sie schon her." Mit leeren, glasigen Augen starrte Kurogane auf den kalt glänzenden Überwachungsbildschirm.

Die übliche nächtliche Gegend im vordersten Kellerareal. Zwei einsame Nachtwächter auf biederen Klappstühlen. Der eine war über seiner Zeitung eingeschlafen, der andere wähnte sich im Begriff, dem Beispiel seines Kollegen zu folgen. Plötzlich ertönte ein Knacken auf dem nur sehr diffus erleuchteten Gang. Wächterlein Nummer zwei fuhr mit einem Grunzen aus seinem Fast-Koma hoch und schwenkte seine Taschenlampe herum.

Es passierte unglaublich schnell. Eine schwarz gekleidete Gestalt stürzte ins Bild. Wächterlein Nummer zwei griff bereits nach seinem Schlagstock, doch der Einbrecher war schneller- mit einem verzweifelten Satz warf er sich auf seinen Gegner, rang ihn zu Boden und stieß ihm ein Messer in die Gurgel. Sowohl er als auch sein Kollege gaben ohne großen Sermon den Löffel ab. Der Eindringling jedoch verschwendete keine Zeit- hastig griff er in die Tasche, zog etwas hervor, das wie eine billige Spielzeugpistole aussah, und drückte ab. Ein Strahl aus dickem, schaumig weißem Zeug schoss Richtung Kameralinse. Das Bild wurde schwarz.

Kurogane starrte O'Connor teilnahmslos von der Seite an. "Und das war schon alles, oder wie?"

Der Ministerialrat seufzte. "Wir mussten weiß Gott wieviele Technikfritzen dransetzen, um die versauten Aufnahmen wieder flott zu kriegen, also beschwer dich nicht! Was kannst du dir daraus entnehmen?"

Keine Antwort. "Aber das bisschen an Kraft, das ich habe-... das will ich benutzen, um mich um dich zu kümmern.

Das bisschen Kraft. Dieses winzige bisschen Kraft. Was wäre gewesen, wenn er ihn angeschrien hätte?

Irritiert merkte der Schwarzhaarige auf, als er O'Connors Hand bemerkte, die vor seinem Gesicht herumfuchtelte.

"He! Kurogane! Sag mal, was ist heute eigentlich los mit dir?"

"Frag nicht so blöd", fauchte Kurogane zurück und schlug die Hand seines Vorgesetzten weg, "Ich hab genug Sorgen!"

Diese Keckheit, die sich sein Vorgesetzter seit kurzem angeeignet hatte, gefiel ihm überhaupt nicht. Etwas war faul in diesem Dezernat- sollte heißen, noch fauler als ohnehin schon. Sein Soldatensinn summte unter seiner Schädeldecke wie ein Wespennest.

"Aaah, wen haben wir denn da?", meldete sich plötzlich eine süffisante Stimme von der Tür aus zu Wort.

"Mr.Pantoliano!", entfuhr es O'Connor, und er sank automatisch in eine halbe Verbeugung, bei der er wirkte wie ein Buckliger.

"Schon gut, Joshua, setzen Sie sich." Die üppigen Augenbrauen des Italieners hoben sich in spöttischer Aufmerksamkeit.

"Was für eine exquisite Wintergarderobe! Ist also doch endlich eine Frau in Ihr Leben getreten, hmmh?"

In Kuroganes Augen flackerte es gereizt auf. Verdammtes Arschgesicht!

"Ich glaube weniger, dass Sie das interessieren dürfte, Mr.Pantoliano", gab er zur Antwort, während er nur sehr mühsam den wilden Drang unterdrückte, seinem Chef die Hände um den Hals zu legen, "Ich nehme an, dass es Ihnen eher um diesen Einbrecher geht."

"Schlaues Kerlchen. Also, was haben Sie erkannt?"

"Fest steht, dass er körperlich gesehen sehr schwach ist- er hat seine ganze Kraft gebraucht, um die Nachtwächter-Type zu überwältigen. Außerdem hat er keine Ahnung, wie man einen Angriff aufbaut oder eine Waffe führt. Und diese billige Pistole sagt auch genug aus. Es kann nicht mehr als ein sehr mutiger- oder sehr blöder- Laie gewesen sein."

Pantoliano stieß ein Seufzen aus. "Old Boy, Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich Ihnen das abkaufen kann? Das wäre ja der Knall im All! Sie bringen das schnellstmöglich in Ordnung, haben Sie mich verstanden?"

"Ich kann Ihnen nichts versprechen."

"Ich dulde keinen Widerspruch, mein Bester! Tun Sie einfach das, was Sie am besten können!"

Der Blick des Schwarzhaarigen bekam etwas Eisiges. "Ja? Dann wären Sie jetzt beide tot."

Schweigen. Der Ratspräsident wirkte nur für einige wenige Sekunden irritiert, bevor er seinen Faden wieder aufnahm.

"Nun bleiben Sie doch auf dem Teppich! So schwer dürfte es auch wieder nicht sein, einen Laien aufzuspüren!"

"Wir haben dir auch schon Material besorgt", ergänzte O'Connor, "Im ersten Stock steht alles bereit, was du noch brauchen könntest... eine Kopie des Videos, Beweismaterial, Berichte, die Autopsie der Nachtwächter--..."

"... und eine neue Liste", ergänzte Pantoliano und sah seinen Auftragskiller nachdrücklich an.

Dieser starrte nicht minder kalt zurück. "Mr.Pantoliano, ist Ihnen überhaupt bewusst, was Sie da verlangen?"

"Sechs. Nicht mehr und nicht weniger. Diesmal meistens Vertreter aus konkurrierenden Filmbranchen, zehntausend pro Kopf."

"Es wäre Wahnsinn, noch mehr abzuschlachten. Jedenfalls zu diesem Zeitpunkt."

Pantoliano machte eine wegwerfende Handbewegung. "Mein Gott, habe ich Ihnen das nicht schon hundertmal gepredigt? Ich habe diese beiden Hornochsen von der Polizei vollstens im Griff!"

"Ach ja? Gestern habe ich einen davon getroffen! Die Ermittlungen sind im vollsten Gange!"

"Da kennen Sie mich schlecht. Ich habe Mittel, mein Guter- wohl ganz im Gegensatz zu Ihnen."

Der Pfeil saß, und man merkte auch, dass Kurogane getroffen war. Der Italiener lächelte zufrieden.

"Vor drei Jahren haben Sie eine kluge Entscheidung getroffen, mein Junge. Sie haben sich entschieden, mir Ihren Willen zu unterwerfen, nicht? Also, dann tun Sie einfach, wofür ich Sie bezahle: meucheln. Und nicht denken."

Da war er wieder. Der Ausdruck der Bestie, den er vor Jahren schon einmal bei Kurogane hatte beobachten können.

Für nur wenige Sekunden flammte er in diesen wilden Augen auf, um nur wenig später einer kalten Resignation Platz zu machen.

Aussichtslosigkeit besiegte Wahnsinn. Wie so oft.

Wortlos verließ der Killer den Raum und schlug die Tür hinter sich zu, dass die Wände nachzitterten.

Nach einer langen Weile des Schweigens warf Pantoliano O'Connor einen mehr als bedeutsamen Blick zu.

"Na, das war mal hochinteressant. Ob das wohl unter 'weihnachtlicher Liebeszauber' läuft?"

"Sie meinen also, er hat--... ?", fragte der Ministerialrat mit gehobenen Brauen. Seit Kurogane zu einem von Pantolianos persönlichen Todeskandidaten avanciert war, hatte er sein altes Selbstbewusstsein zurückgewonnen.

"Joshua, Sie lernen's aber auch nie! Dabei springt es einem doch förmlich ins Gesicht! Bei Gott, welche Sorte Mensch würde ihn denn sonst dazu bringen können, einen Schal anzuziehen? Was für einer könnte das sein außer so einem?"

Wieder breitete sich dieser satte, selbstzufriedene Ausdruck auf Pantolianos Gesicht aus.

"Es gehört zu meinem Beruf, Menschen einzuschätzen, Joshua, das sollten Sie am besten wissen. Vor einem Jahr wurde dieser Mann zum Tier, Sie haben es selbst gesehen- wir haben ihn zur Bestie gemacht, und er hätte besser daran getan, eine zu bleiben..."

O'Connors nickte, immer noch ein wenig skeptisch, während sich der Italiener wie so oft ganz der Beobachtung seiner Fingernägel widmete. Mehrere Minuten vergingen, bevor er wieder zu sprechen anhob.

"Wenn unser Kurogane-chan das Gelände verlassen hat, schicken Sie ihm einen Wagen hinterher. Ich will wissen, wer diese Person ist, die sich auf einmal so liebevoll um ihn kümmert."

"Sollen wir sie beseitigen?"

Pantoliano stöhnte. "Mein Gott, Joshua, verstehen Sie das denn immer noch nicht? Wir wissen doch noch nicht einmal, ob es sich überhaupt lohnt, diesen Menschen umzubringen! Ich habe keine Lust, mir unnötig Schmutz auf die Hände zu laden!"

"Aber es würde um einiges schneller gehen!"

"Joshua", sagte der Italiener fast schon in zärtlichem Mitleid, "Beantworten Sie mir eine Frage. Nur eine, ja? Also: stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Müllbeutel in der einen Hand, und Ihre Lieblingskrawatte in der anderen Hand. Wenn ich Ihnen jetzt eines von diesen beiden Dingen wegnehmen würde, über welchen Verlust würden Sie mehr Bedauern empfinden?"

"Über-... über den der Lieblingskrawa--... ach so..."

Der Italiener grinste gehässig. "Exakt. Mein Lieber, ich bezweifle schwerlich, dass Kuroganes verkrüppelte Seele es überleben würde, noch einmal ans grimmige Tageslicht gezogen zu werden. Aber falls das im Angesicht dieser uns unbekannten Person doch passieren sollte, dann wird das ihr Todesurteil sein. Wie sehr muss es schmerzen, etwas sterben zu sehen, das man liebt?"

"Dann warte ich noch."

Pantoliano nickte zufrieden. "Sehr gut. Warten Sie in aller Ruhe, bis unser Kurogane-chan ein wenig in den Gefühlstaumel kommt, der süße kleine Schnuddelwutz. Und wenn wir uns ganz sicher sein können, dass dieser Mensch einen gewissen Stellenwert bei ihm hat, dann geben Sie den Befehl. Ach, und sorgen Sie dafür, dass er dabei ist, wenn es passiert."

Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über den Hals, und O'Connor verstand.

"Jawohl. Und ansonsten? Keine weiteren Unternehmungen mehr in der Angelegenheit?"

"Doch. Beschaffen Sie sich ein Telefon und rufen Sie bei der Bank an. Zeit für ein kleines Spiel."
 

Acht Uhr und sechs Minuten.

"Bin da!", rief Kurogane knapp Richtung Diele, wobei er den heißen Salsa-Rhytmus aus dem Wohnzimmer nur schwer übertönte.

Augenblicklich wurden in der Küche Stimmen laut. Ein Stuhl rückte. Übermütig trappelnde Schritte näherten sich.

"Kuro-chiiiiii!", jubelte Fye schon von weitem, "Kuro-chiiiii! Willkommen zu Hauuuseee!"

"Ahm-... ja", erwiderte Kurogane, ein wenig ratlos, weil ihm keine geistreichere Antwort einfiel.

"Brrrr, du bist ja ganz kalt! Hat es doll geschneit draußen? Komm, gib mir deinen Mantel! Wie war's auf der Arbeit?"

"Ganz gut", meinte er achselzuckend, während sein Gastgeber geschäftig um ihn herumflatterte.

"Ich wusste, dass du das packst! Hier, die Hausschuhe hab ich heute morgen für dich besorgt!"

Dann brach er plötzlich ab und sah seinen neuen Mitbewohner warm an.

"Lass uns diesen verpatzten Start von heute morgen vergessen, ja? Ich freu mich so, dass du wieder da bist."

"Naja, ich-... hab mich beeilt."

"Du bist wunderbar", sagte Fye gutmütig, "Komm, lass uns in die Küche gehen, hier im Eingang erfrieren wir ja noch, und das Frühstück ist auch fertig! Sakura-chan und Shaolan freuen sich schon!"

Zu brummkreiselig im Kopf um Widerstand zu leisten, ließ sich Kurogane von Fye am Handgelenk durch den Hausflur zerren.

"Sakura-chaaahaaan! Shaolaaahaaan!", jubilierte der Blondling überglücklich, während er den Schwarzhaarigen hinter sich her in die Küche schleifte, "Ratet mal, wer nach Hause gekommen ist!"

"Super, Mann!"

"Immer rein mit ihm!"

Als sich Kurogane umdrehte, hatte er zwei kumpelig lächelnde Teenagergesichter vor sich. Ein zierliches, hübsches Mädchen mit fuchsfarbenen Haaren und einen aufgeräumt wirkenden Brünetten. "Hallo", sagte er unschlüssig, und die zwei grinsten.

"Okay", kündigte Fye erwartungsvoll an und tätschelte übermütig die Schulter seines Gasts, "Shaolan, Sakura-chan, jetzt hab ich endlich das milliontastische Vergnügen, euch Kurogane vorzustellen! Er wird jetzt für die nächste Zeit bei uns wohnen! Kuro-pyon, das sind Sakura Kinomoto und Shaolan Li, meine Mitbewohner!"

"Yo! Freut mich, Mann!", kam es von Shaolan, und er schüttelte die Hand seines erwachsenen Gegenübers.

"Schön, dich kennenzulernen, Kurogane-san", sagte Sakura freundlich und ergriff kurzerhand die andere Hand des Killers, da Shaolan Hände grundsätzlich sehr gründlich zu schütteln pflegte, "Fye-san hat uns eine ganze Menge von dir erzählt!"

"F-freut mich auch", erwiderte Kurogane verdutzt, während er über Kreuz Hände schüttelte.

"Na los, setzen wir uns!", sagte Fye, bevor sie sich an dem Tisch niederließen, der sich unter einem Frühstück bog, das alle Kurogane bisher bekannte Rahmen sprengte. Man konnte meinen, Jesus wäre auf die Erde zurückgekehrt.

"Aaaalso, hier haben wir Rührei, gebratenen Speck, Toast, selbstgemachte Weizenbrötchen, Marmorkuchen, Honig, Milch, Kakao, und Kaffee!", erklärte Fye fröhlich, "Ein bisschen mehr als sonst, aber heute ist ja auch ein ganz besonderer Tag!"

"Na... dann guten", murmelte Kurogane geistesabwesend und wollte sich auch schon einen Teller holen- er war am Verhungern-, als ihm sein blonder Mitbewohner jedoch Einhalt gebietend einen Zeigefinger unter die Nase hielt.

"Haaaaalt! Bevor wir essen, wird gebetet! Das ist die Regel!"

Der Schwarzhaarige machte Augen wie Pfannkuchen. "Beten?!!"

"Ja klar! Du weißt doch! Gott bitten, unser Frühstück zu segnen!"

"Man stirbt doch nicht dran, wenn es ungesegnet ist--... ist ja gut, schon okay, dann betet von mir aus", schloss er ächzend, als den dreien schier die Kinnladen runtersacken wollten. "Betest du denn nicht mit, Kurogane-san?"

"Ich komm aus Japan", erklärte der Schwarzhaarige nüchtern, "Da beten die nicht."

"Aber du hast doch 'Um Gotteswillen' gesagt!", äußerte sich Fye erstaunt.

"JA, ABER--..."

"Ah, ich hab's, Mann!", fiel Shaolan ein, "Du weißt noch gar nicht, wie wir beten, stimmt's? Dann guck uns doch erst mal zu!"

Der Blondschopf ließ seinem neuen Mitbewohner gar nicht erst die Zeit zum Widersprechen, sondern zeigte auf Sakura.

"Okay, Sakura-chan, weil heute Dienstag ist, fängst du mit Beten an!"

Die drei schlossen feierlich die Augen und falteten die Hände. "Gut. Also: lieber Gott...", begann das Mädchen.

"... im Himmel!", ergänzte Fye beschwichtigend.

"Achso. Danke. Lieber Gott im Himmel. Wir danken dir für--... eh, für was danken wir ihm heute? Shaolan?"

Kurogane fiel es von Sekunde zu Sekunde schwerer, seinen Mund wieder zuzukriegen. Der Teenager richtete sich währenddessen- ganz die personifizierte Ernsthaftigkeit- in seinem Stuhl auf und schwellte die Brust.

"Okay, heute bedanken wir uns für mehrere Sachen, Mann. Zum Beispiel für die Erfindung von... Wohngemeinschaften."

"Und für die Erfindung von Mathe-Ausgleichsarbeiten", knüpfte Sakura an.

"Und für den Willen, sich zu ändern", ergänzte Fye noch mit andächtig geschlossenen Augen, "Und jetzt du, Kuro-rin!"

"Was soll das, ich hab keine Ahnung, wie man betet--"

"Komm schon, Kurogane-san! Das macht irre Bock, Mann!"

"Ja! Es ist ganz leicht! Wir haben's dir doch vorgemacht!"

"Schon gut, schon gut, schon gut!! Ich mach's ja!"

Völlig am Ende seiner Nerven faltete der Killer seine Hände, als wolle er jemanden erwürgen und atmete einmal kurz durch.

"Okay, also. Lieber Gott im Himmel, der du da bist, obwohl dich kein Mensch sehen kann. Ich muss dir was sagen. Aber meinen Namen muss ich dir wohl nicht verraten, denn du bist ja allmächtig und weißt ihn sicher schon."

"Wow, er ist gut!", raunte Fye seinen beiden Mitbewohnern zu und erntete eifriges Kopfnicken.

"... und ich will dir heute Dank sagen für... ehh-..."

"Du musst ihm für etwas danken, das bei dir eine Rolle spielt!", gab der Blondling flüsternd Hilfestellung.

Kurogane blinzelte ein wenig. Das bei mir eine Rolle spielt. Mhm. Sein Blick wurde geistesabwesend.

"Dann danke ich dir für die Erfindung vom Katana. Schusswaffen-... sind scheiße."

"Wunderbar!", trällerte Fye, "Also, für all diese Sachen bedanken wir uns heute bei dir. Und wir bitten dich, dass du uns für dieses farbmittel- und konservierungsstofffreie Frühstück deinen Segen gibst. Das wäre nett. Amen!"

"Amen, Mann! Das war mal ein geiles Gebet!", grinste Shaolan, und Sakura nickte fröhlich.

"Ganz meine Rede! Okay, dann lasst es euch mal schmecken!"

"Dankeee gleiiichfaaalls!", krähten die beiden Teenies einträchtig im Chor und schnappten sich jeweils einen Teller.

"Greift tüchtig zu! Ach, übrigens, habt ihr Yuuko-san gestern nacht auch brüllen gehört?", quasselte der Blondling munter, während er sich ebenfalls einen Teller nahm, um auf ihm eine Mount Everest-Miniatur aus Frühstückszutaten anzuhäufen, "Ich hatte jedenfalls den Eindruck! Und um halb vier haben James und Soledad eine Einladung zu ihrem nächsten philosophischen Vorlesen bei uns eingeworfen: Lebensweisheiten aus Der Traum des Propheten von Khalil Gibran! Wollen wir hin?"

"Aber klar, Mann! Lebensweisheiten rocken! Und ich glaub, Yuuko-san hab ich auch gehört... Yuuko Ichihara-san", erklärte er auf Kuroganes fragenden Blick hin, "Eigentlich ist sie Anwältin, aber sie ist schon seit Jahren arbeitslos. Wenn sie getrunken hat, hält sie sich immer für eine tragische Vertreterin der Weltgeschichte. Ich glaube, letzte Nacht war's Johanna von Orléans."

Mit diesen Worten setzte er den nahezu überladenen Teller vor Kurogane ab. Dieser starrte ihn ungläubig an.

"Das ist doch viel zuvie--"

"Komm schon, du warst so früh auf der Arbeit, jetzt kannst du dir doch auch mal ein ordentliches Frühstück gönnen!"

"Wo arbeitest du denn, Kurogane-san?", erkundigte sich Sakura, während sie ihr Toast mit Marmelade bestrich.

"Im Dezernat für nationale Sicherheit", ergab sich der Schwarzhaarige in sein Schicksal und schenkte sich Kaffee ein.

"Boah!", japsten die beiden Teenager einstimmig, "Im Ernst jetzt?"

"Ich meine immer alles ernst..."

"Und wie lange?"

"Knappe fünf Jahre."

"Und warum?"

"Ich will was für die Sicherheit tun."

"Hey ihr zwei, jetzt fragt ihm doch keine Löcher in den Bauch!", kicherte der Blondschopf belustigt und kratzte mit antrainierter Präzision die Rinde von seiner Brotscheibe, "Schließlich müssen wir uns alle noch aneinander gewöhnen, nicht? Und vor allem müssen wir eine ganze Riesenmenge planen! Vor Weihnachten gibt es noch viel zu tun! Ich würde sagen, das Sternchenthema ist unser Weihnachtsfest! Und die Weihnachtseinkäufe! Und der Weihnachtsbaum! Und die Beichte! Ach ja, und wir müssen auch noch besprechen, wie wir das mit der Arbeitseinteilung im Haus machen! Shaolan, Sakura-chan, seid ihr heute abend da?"

"Jepp, Mann. Sollen wir uns ums Abendessen kümmern?"

"Das wäre toll! Wok?"

"Mhm, zu aufwändig für vier Personen. Spaghetti?"

"Hatten wir schon letzte Woche. Pizza mit Sardellen und Artischocken?"

"Gebongt, Mann."

"Prima! Dann machen Kuro-wan und ich morgen das Mittagessen! Wie steht's mit dem Müll?"

"Hab ihn gestern rausgebracht!", meldete sich Sakura stolz, und Fye strahlte.

Kurogane stützte sein Kinn in den linken Handteller und hörte wortlos zu, wie seine drei neuen Mitbewohner so glücklich über Haushaltspflichten und anfallende Termine debattierten, als würden sie eine Weltreise planen.

Fast, als ob sie dieses alltägliche Leben als eine Art Geschenk ansahen.

Wie einfach und-... ja, wie zerstreuend sowas sein musste. Tröstlich.

Der Schwarzhaarige merkte ein wenig auf, als er spürte, wie ruhig ihm auf einmal zumute war. Er senkte den Blick.

"... auch noch einige wichtige Sachen erledigen!", erklärte Fye soeben hochmotiviert und tätschelte seine Schulter, "Zur Bank zum Beispiel, das wollen wir gleich heute machen! Wie wär's, wenn wir dann übermorgen alle gemeinsam in die Kirche gehen?"

"Klar, Mann! Aber willst du nicht noch mit Mayonès sprechen? Der wird dich kreuzigen, wenn du noch länger fehlst!"

"Ich weiß", sagte Fye mit einem breiten Grinsen und klatschte unternehmungslustig in die Hände, "Aber darüber mach ich mir jetzt keine Sorgen! Ihr zwei müsst gleich zur Schule und wir in die Stadt, also lasst uns essen!"

Die Zeit schien zu drängen, denn die beiden Teenies stürzten sich auf ihre Teller wie hungrige Krähen. Gegen seinen Willen verzerrten sich die Mundwinkel des Schwarzhaarigen zu einem schwachen Grinsen.

Als er unvermutet eine Hand vorsichtig auf seinem Arm fühlte, hob er verwundert den Blick und sah in Fyes Gesicht.

Er lächelte ihn an und nickte ihm zu, leicht nur und kurz- doch er verstand.

Gedankenverloren nickte er zurück. Scheint wohl nicht nur für die drei tröstlich zu sein.
 

"Na, wie findest du ihn?"

"Hmh", überlegte Sakura mit gerunzelter Stirn und kickte einen erfrorenen Zweig über den Bürgersteig, der sie zur Schule führen sollte, "Er ist ungewöhnlich. Wie Fye-san gesagt hat."

"Anders als die anderen?"

"Anders als die anderen."

Nachdenklich warf der braunhaarige Junge einen Blick zum immer noch dunklen, schneewolkenverhangenen Himmel empor.

"Hast du dieses-... Etwas in seinen Augen gesehen?", fragte er halblaut, und seine Freundin nickte.

"Er gibt sich Mühe, es zu verbergen, aber es ist da. Und es sticht raus."

"Jepp. Wie Glasscherben. Als ob er Schmerzen gehabt hätte. "

Schweigen. Die beiden hoben zaghaft den Blick und sahen sich einander in die Augen, bevor Sakura mit einem kleinen gequälten Lächeln das aussprach, was sie beide dachten.

"Dann passt er perfekt zu uns."
 

"Na, wie findest du sie?"

"Eh?", fragte Kurogane verständnislos, "Ist das so 'ne Art Fangfrage, oder was?"

"Das war keine Fangfrage!", erklärte Fye beschwichtigend, während sie den Zebrastreifen über die Hauptverkehrsader Richtung Johannesplatz überquerten, "Eine Fangfrage wäre zum Beispiel: 'Was war in dem Karton, den du im Eingang abgestellt hast?' "

Augenblicklich wirbelte der Schwarzhaarige herum. "Wieso interessiert dich das, häh?!!"

"Siehst du", meinte dieser achselzuckend, "So reagiert man auf eine Fangfrage, deswegen stelle ich dir keine. Ich weiß es übrigens ohnehin schon, es waren eine Videokassette, ein Ordner mit jeder Menge Blättern und eine Dose mit komischem Zeug drin."

"Du hast einfach reinges-... du bist ja abgefeimt!", stieß Kurogane fassungslos hervor, und Fye lachte.

"Tja, ich bin eben ein schlimmer Finger! Aber jetzt sag, wie findest du sie?"

"Nhm. Ich hab mir euer-... Zusammenleben irgendwie anders vorgestellt. Heißt die Kleine wirklich Kinomoto?"

"Ja, wieso?"

Er starrte sein blondes Gegenüber ernst an. "Einer der beiden Bullen von gestern hieß auch so."

"... J-ja, das stimmt schon. Ich-... hatte nur keine Gelegenheit, sie danach zu fragen."

"Lüg mich nicht an."

Es flackerte in diesen eisblauen Augen. "Es fällt mir eben schwer, Fragen auf diesem Gebiet zu stellen, Kurogane! Sakura-chan würde es sicher kaum witzig finden, wenn ich zu ihr sage 'Hey, Sakura-chan, ich glaub, ich hab gestern deinen Bruder getroffen!' "

Kurogane seufzte. Hier würde er nicht weit kommen, das erkannte er sofort. Dieser Blondschopf war stur wie ein Bock.

"Wieso konnten wir nicht zuerst zur Feuerwehr gehen?", wechselte er schließlich das Thema.

"Geld ist 'ne wichtige Sache, vor allem, wenn ein Unfall passiert ist!", beschwichtigte Fye seinen missgelaunten Kompagnon, "Es ist nötig, dass man es richtig verwaltet, für den Fall, dass die Versicherung-... ah! Guck mal, da vorne ist es schon!""

Mit diesen Worten deutete er nach vorne auf ein stattliches, zur Hälfte verglastes Marmorgebäude. Auf dem dreieckigen Giebel über dem Portal war der große, vergoldete Schriftzug 'Kingstonville City Deposit' eingelassen.

"Also, dann wollen wir mal! Ich glaube, es wäre gut, etwas Asche abzuheben, falls Schadensersatz-Rechnungen anfallen!"

"Du kennst dich ja aus."

"Fernsehen", erklärte der Blondling verschmitzt, während sie nebeneinander die Treppe hochstiegen, "In Krimis erfährt man das meiste, vor allem, wenn schon jemand gestorben ist, und-- huuuuuuuuch!"

Letzteres stieß der junge Mann überrascht hervor, als plötzlich ein untersetztes, pummeliges Etwas vom Eingang der Bank herangesaust kam und volle Kanone mit ihm zusammenprallte, sodass es ihn beinahe kopfüber die Stufen hinunterfetzte.

"Aaahhh aha aha aha!!", keuchte er und schaffte es gerade noch, sich an Kuroganes Jackenkragen festzuhalten, sodass dieser augenblicklich von dem Gewicht nach unten gezogen wurde. "ARGH!! Pass doch auf, du Depp--"

Sein Wegbegleiter jedoch antwortete nicht- er starrte mit einem fragenden Blick auf die Gestalt, die sie soeben fast umgerannt hätte.

Es war ein pummeliges, schmächtig anmutendes Männlein mit Halbglatze und einer schweren Tasche auf dem Rücken.

Er keuchte und glotzte die beiden, die da immer noch in dieser zweifelhaften Halsklammer-Pose vor ihm standen, skeptisch an.

"Ähh-... äh-- 'tschuldigung!"

"Was sind Sie denn?", gab Kurogane nur schnaubend zurück, während er sich seinen Mitbewohner vom Hals schüttelte.

"Ahhh... j-ja also, mein Name ist Kazuki Eishaki", stotterte das Dickerchen sichtlich nervös zurück.

"Ray Flückiger", erwiderte Fye automatisch, "Und das hier ist Kurogane, doch er will immer nur Kuro-ron genannt we--"

"Nein, das will er nicht", setzte Kurogane nachdrücklich hinzu, "Und ich hab Sie nicht nach Ihrem Namen gefragt."

"Ähh, ähh--..."

"Du bist so unhöflich, Kuro-chii!", empörte sich der Konditorlehrling, "Was soll man denn auf die Frage, was man ist, antworten? Soll man seine Hautfarbe sagen? Sein Geschlecht? Seine Gattung? Seinen Beruf?"

"Such dir halt was aus, Blödian!", feuerte der Schwarzhaarige zurück, während Eishaki leicht irritiert blinzelte.

"Okay! Der Beruf! Was machen Sie, Eishaki-san?", fragte Fye freundlich.

"Es ist mir furchtbar peinlich, aber ich bin Coproduzent bei Masterpiece Pictures."

"Waaaaaas?", stieß Fye sofort mit ungläubig aufgerissenen Augen hervor, "Sie sind ein Coproduzent?? D-das-... ist ja oberscharf! Wie lange sind Sie schon Coproduzent?? Bei welchen Filmen haben Sie mitgemacht?? Haben Sie schon Preise gewonnen??"

Das pummelige Männlein machte ein Gesicht wie ein Ochsenfrosch. Offenbar überforderte ihn eine Begeisterung diesen Grades.

"N-nun ja... vielleicht haben Sie in letzter Zeit ferngesehen... dort müsste jetzt eigentlich schon die Vorschau von dem Film laufen... es ist die Verfilmung von dem Bestseller Baltasar, Fritz und ich."

"Aahh huuuuuuuuh! Ich glaub das ja nicht!", trällerte Fye entzückt, "Baltasar, Fritz und ich ist mein absolutes Lieblingsbuch! Ich liiiiebe das! All die Abenteuer, und vor allem diese mit Missverständnissen und versteckter Leidenschaft gewürzte Liebesgeschichte! Schade, dass die Hauptfiguren nie Sex miteinander hatten, bevor sie starben! Ein echter Page-Turner!"

"Aah--... ?", erwiderte der Geschäftsmann mit einer Art hilflosem Amüsement und warf Kurogane einen fragenden Blick zu.

"Bevor Sie fragen, ich kenne ihn nicht", erwiderte dieser eisig.

"Hören Sie gar nicht auf den, Eishaki-san!", fuhr ihm der Blondling fröhlich in die Parade, "Der ist immer so schmolllippig!"

"DEPP!! Nimm lieber deine Anti-Idiotika!", war die gefauchte Antwort.

"Eh, also... wenn Sie das unter sich ausmachen wollen, kann ich auch gehen-..."

"Wieso sind Sie dann überhaupt hergekommen, wenn Sie doch sehen, dass wir gerade streiten, häh?!!"

Auf diese doch ein wenig rüde formulierte Frage sah sich Eishaki ein wenig nervös nach allen Seiten um, bevor er weiterredete.

"Nun ja, es ist folgendermaßen-... ich bin auf der Suche nach Gesellschaft... jetzt gucken Sie mich doch bitte nicht so an, es ist dringend! Es ist so, dass ich gerade fast alle Filmrollen von der Endfassung der Kinoversion bei mir habe... ich muss sie in einer knappen Stunde bei meinem Vorgesetzten abliefern! Und ich wurde schon vorhin von einigen Schlägern verfolgt!"

Er hielt für einige Sekunden inne, um das Gesagte sacken zu lassen.

"Ach du heiliger Bimbam!", sagte Fye vollends überwältigt, "Im Ernst? Oh jemine! Kuro-chuu! Wir müssen unbedingt etwas unternehmen! Eishaki-san, können wir Ihnen irgendwie helfen?"

"In der Tat, das können Sie", sagte der Coproduzent sichtlich hoffnungsvoll, "Sehen Sie, diese Rowdies sind letztendlich doch alle gleich: sie trauen sich nur an einen ran, wenn dieser allein ist! Also, eh-... es würde mir daher schon reichen, wenn ich für fünf Minuten Ihr Anhängsel sein darf, ich hab nämlich das ungute Gefühl, diese Kerle sind noch hier irgendwo--..."

"Aber gar keine Frage!", trällerte der Blondling überschwänglich und klopfte dem schmächtigen Geschäftsmann auf die Schultern, "Fühlen Sie sich ganz willkommen! Wenn man sich helfen kann, dann soll man sich auch helfen, stimmt's, Kuro-nyan?"

Der Geschäftsmann sah Fye aus ungläubigen Augen an, während Kurogane nur etwas Unverständliches brummte.

"Aber wehe, Sie nerven mich ebenso sehr wie dieser ewig quatschende blonde Springfloh da!"

"Keiiiin Problem, keiiiiiiiin Problem", versicherte Eishaki eilends, bevor er sich den beiden anschloss und ihnen die Treppe zum Bankportal hochfolgte, "Ich finde es wunderbar, noch Menschen zu treffen, die einem helfen wollen!"

Sie betraten nun zu dritt den Hauptraum des Kingstonville City Deposit, eine weitläufige Halle, die größtenteils mit großen, marmornen Fliesen ausgelegt war. Es herrschte emsiges Treiben, Leute kamen und gingen, und vor vielen der etwa zwanzig Bankschalter standen lange Schlangen von diversen Politburschen, sparsamen Bürgerlein und allen Arten von Businesshaien.

Als sie im Nordende der Halle angekommen waren, drehte sich Kurogane mit einem Schnauben zu seinen Begleitern um.

"Okay. Ihr beiden wartet jetzt hier, kapiert?! Genau hier! Und ihr wartet, bis ich mit dem Geld zurück bin!"

"Geht klar", sagte der Blondling brav, was seinem neuen Mitbewohner jedoch nur ein entnervtes Ächzen entlockte.

"Was führt Sie hierher ins City Deposit?", fragte der Coproduzent interessiert, nachdem er Kurogane außer Hörweite wähnte.

"Ach, vor einigen Tagen gab es bei Kurogane einen Zwischenfall, und wir haben uns entschieden, kurz nach seinen finanziellen Anlagen zu sehen, nur für den Fall. Und Sie?"

"Naja, offen gestanden wollte ich mich hier nur vor diesen Schlägern verstecken."

Er reckte ein wenig den faltigen Hals. "Sagen Sie, ist er Ihr Freund? Oder Ihr Bruder? "

"Ohoohohoooh", kicherte der junge Mann amüsiert, "Sehen wir uns denn so ähnlich?"

Eishaki schüttelte den Kopf.

"Nein, Sie sehen sich nicht ähnlich- Sie gleichen sich. Auf gewisse Weise. Das sind zwei Paar Stiefel."

Die Pupillen des Blondlings wurden rund. "Wir-... gleichen uns?"

Sein älteres Gegenüber lächelte entschuldigend. "Ach, verzeihen Sie mir, es-... überkam mich eben einfach so. Wissen Sie, als alter Hase im Filmgeschäft entwickelt man ein geschultes Auge für das Verhalten von Gefährten."

"Gefährten... ?"

"Na klar! Sind sie etwa keine?"

"Er vertraut mir kein Stück weit, wissen Sie", erklärte Fye fröhlich.

"Ohhh-... achso. Schade! Dabei dachte ich, ich hätte immer noch dieses Augenmerk--"

Der Coproduzent wurde in seinen Worten abrupt unterbrochen, als in der Halle plötzlich ein Krachen laut wurde.

"AAARRGH-- neiiin!! Hören Sie auf, bitte, ich-... was hab ich denn-..."

"MAUL HALTEN!!"

Fye schaltete sofort. Wortlos wirbelte er herum und rannte los, sodass Eishaki nur mühsam Schritt halten konnte.

Es war nicht schwer, die Quelle des Krachs ausfindig zu machen- es hatte sich bereits eine Menschentraube darum gebildet.

Und als sich der Blondling und der Geschäftsmann einen Weg hindurchgewühlt hatten, sahen sie, was es war- es war Kurogane, der einen völlig hilflosen Bankangestellten am Kragen gepackt und über den Thresen gezerrt hatte, und ihn nun in die Luft hielt wie eine Katze, der jeden Moment das Genick gebrochen werden sollte.

"WAS SOLL DAS HEISSEN, KONTO GELÖSCHT?!!", brüllte er sein Opfer an, das wie ein halb zerquetschtes Insekt zwischen seinen Pranken hing und den Tränen nahe nach Luft japste. Offenbar hatte er bereits einen Faustschlag von dem aufgebrachten Schwarzhaarigen einstecken müssen, denn sein rechtes Auge war blutunterlaufen und begann bereits anzuschwellen.

"Kurogane, was-... was tust du da?!!", stieß Fye fassungslos hervor und stürzte nach vorne, "Lass ihn los!"

Er versuchte, den Ellenbogen seines Gefährten zu greifen, dieser entriss ihm jedoch mitleidlos seinen Arm und stieß ihn von sich.

"Dieser Bastard sagt, mein Konto wäre gelöscht!!"

"Es ist doch aber auch wahr!", keuchte der wehrlose Mann und riss seine Arme hoch, als Kurogane wieder ausholen wollte, "Sie sind es selbst gewesen! Sie haben-... angerufen, und haben uns aufgetragen, Ihren Bankbetrag unter Vertraulichkeit umzuleiten, und-... nein! Nicht schlagen, bitte, schlagen Sie mich nicht--"

"Ich schlag Sie so oft, wie ich das wi-..."

"Lass den Mann sofort los, Kurogane!!"

Der Killer hielt irritiert inne. Dann wandte er sich um.

In Fyes Augen flackerte es. Seine Fäuste waren geballt.

"Lass ihn los", wiederholte er leise, wobei er jedes einzelne Wort zwischen den Zähnen hervorpresste.

Wie konnte eine Stimme, die sonst immer nur am Glucksen und Kichern war, ihn so--...

Wortlos lockerte Kurogane seinen Griff, sodass der Kragen des Bankbeamten zwischen seinen Fingern hindurchglitt, und der vor Angst völlig gelähmte Mann hart auf dem Boden aufkam. Sofort kroch er hastig außer Reichweite des schwarzen Ungetüms.

In den Augen der Zuschauer spiegelte sich das Entsetzen.

Niemand von ihnen wusste, ob dieser Mann ein Mensch oder ein Tier war. Ich könnte der Nächste sein.

Und diese Erkenntnis war es, die sie in Bewegung setzte. Man rannte blindlings durcheinander, stieß sich an, machte, dass man wegkam, weg von diesem Ungeheuer, weg von diesem Tier--

Fye jedoch blieb regungslos. Die Stille zwischen ihm und Kurogane war ohrenbetäubend, ein bleiernes Schweigen, das nur vom unterdrückten Wimmern des Bankangestellten durchbrochen wurde.

Bis plötzlich Eishaki-san vortrat. Er sah blass und elend aus, und er schien sich überwinden zu müssen, näher zu treten.

Doch dann legte er Fye eine Hand auf die Schulter und nickte Richtung Ausgang.

"Kommen Sie. Wir müssen reden."
 

Der Espressoautomat zischte.

"Ihre Bestellung, mein Herr."

"Haben Sie vielen Dank", sagte Eishaki mit einem flüchtigen Lächeln zu der Kellnerin, die soeben eine große Tasse Cafè con leche auf einen der Dreiertische im Jardin D'Hiver abgesetzt hatte, bevor sie sich bescheidentlich wieder von dannen machte.

"Sie sind viel zu freundlich, Eishaki-san", sagte Fye und bemühte sich vergeblich, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.

"Lassen Sie's gut sein", erwiderte der Coproduzent achselzuckend, "Sie haben mir vorhin geholfen, also helfe ich jetzt Ihnen. Was hat der junge Mann von vorhin gesagt? Konnten Sie ihn aushorchen?"

"E-er... hat gemeint, Kurogane hätte heute morgen persönlich beim City Deposit angerufen, um sein Konto aufzulösen", berichtete Fye tonlos, "Und er hätte ihn unter Vertraulichkeit an ein anderes Konto weitergeleitet. Das bedeutet, die Bank steht unter Schweigepflicht, an wen der Betrag übermittelt wurde. Und ich-... ich konnte ihn davon abbringen, uns anzuzeigen."

Mit einem glasigen Ausdruck in den Augen verschränkte der Blondling seine Hände auf dem Tisch. Dann wandte er seinen Blick Kurogane zu, der die letzte Viertelstunde über kein Wort gesagt hatte und teilnahmslos ins Nichts starrte. Man konnte förmlich sehen, wie hinter seiner Stirn alle Rädchen am Rumoren waren. Wer hat das getan?

Eishaki seufzte. "Ich weiß, es ist hart. Aber alles, was ich Ihnen geben kann, sind Informationen."

"Informationen? Wir brauchen den Täter, und keine zweitklassigen Kontoratschläge", kam es verächtlich von Kurogane.

"Kurogane!", sagte Fye schockiert, "Wie kannst du nur so etwas sagen? Eishaki-san will uns helfen!"

Schweigen. Der Coproduzent starrte den besorgten jungen Mann vor sich für einige Momente perplex an.

"Ahh-...", sagte er dann unvermutet und patschte sich eine Hand vor die Stirn, "Was bin ich doch blöd! Mr. Flückiger, hören Sie- würde es Ihnen was ausmachen, schnell an der Kasse nachzuschauen, ob dort mein Geldbeutel liegt? Ich muss ihn vergessen haben!"

Der Blondling wirkte verwundert, dennoch nickte er. "Okay, ich geh nachsehen."

Schweigen. Nachdem sein Kompagnon einigermaßen außer Hörweite war, starrte Kurogane Eishaki eisig an.

"Was sollte die Nummer denn?"

Der Coproduzent legte einen Zeigefinger auf den Mund. "Still jetzt. Dass ich ihn weggeschickt habe, hat seinen guten Grund."

Kuroganes Augen verengten sich. "Warum zum Teufel sollte ich Ihnen vertrauen, häh?"

Eishaki lächelte ein wenig. "Stimmt, wieso sollten Sie das? Ich bin ein Wildfremder, der dazu noch von sich behauptet, Ihnen helfen zu wollen- Ihr Misstrauen ist ausreichend begründet."

Er reckte ein wenig den Hals, wie um zu sehen, ob sie eventuell beobachtet wurden, und zuckte ein wenig mit den Schultern.

"Aber es ist nun einmal wahr, ich will Ihnen wirklich nur helfen. Lassen Sie mich Ihnen also sagen, was ich weiß. Hören Sie, ist Ihnen auch schon vorher etwas Vergleichbares passiert? Ich meine, Dinge wie Diebstahl? Unfälle ohne plausible Erklärungen?"

Unfälle ohne plausible Erklärungen. Der Schwarzhaarige spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog.

"Nun ja. Vor zwei Tagen wurde mein Haus abgebrannt, ohne dass die Feuerwehr reagiert hat. Nun wurde mein Konto gelöscht...", seine dunklen Brauen senkten sich tief über seine Augen, "... und auf dem Rückweg von der Arbeit ist mir ein fremder Wagen gefolgt. Er hat sich Mühe gegeben, Abstand zu halten, aber-... es war zu offensichtlich. Er verhielt sich zu auffällig."

Eishaki starrte nachdenklich in Kuroganes markant geformtes Gesicht. "Verstehe. Haben Sie schon in Erwägung gezogen, dass da möglicherweise eine Art-... Intention dahintersteckt? Eventuell von jemandem, den Sie kennen?"

Das Gesicht des Killers verriet keinerlei Regung. Die Luft zwischen den beiden Männern war zum Zerreißen gespannt.

"Sie glauben also, jemand hat es auf mein Leben abgesehen."

"Nicht nur auf Ihres, mein Bester."

Der Coproduzent wandte den Blick ab, bevor er weiterredete. "Diese Art von 'Unfällen', wie Sie Ihnen widerfahren sein könnten, halten sich mit der Zeit nicht mehr nur an Geld oder Besitz. Sondern an wirklich wertvolle Dinge."

Kurogane schluckte. Als er dem Blick des Geschäftsmannes folgte, sah er, dass er zu Fye hinübersah, der gerade unter den verwirrten Blicken der Kellnerinnen den gesamten Kassierschalter nach Eishakis Geldbörse absuchte.

Und er verstand. Das Etwas in ihm verkrampfte sich noch mehr.

"So?"

Eishaki starrte auf seine Hände. "Ich hoffe, Sie verstehen nun, warum ich Ihren Freund weggeschickt habe."

"Er ist nicht mein--..."

"Wie nett! Ist das ein Freund von dir, Fye-kun?"

"Ja!"

"... W-was schlagen Sie dann vor?"

"Gehen Sie zur Polizei und melden Sie diese Vorfälle. Und vor allem: besorgen Sie sich einen Anwalt."

"Wie soll das gehen? Finanziell sind uns jedenfalls die Hände gebunden."

"Das ist kein Problem, ich leihe Ihnen etwas. Nein, Sie brauchen jetzt nicht den Kopf zu schütteln! Die Welt, in der wir heute leben, ist eine Welt der Reichen. Frei nach Charles Darwin- nur die Reichsten werden überleben. Traurig, das."

Noch während des Sprechens wurstelte Eishaki unter dem Tisch herum und hielt Kurogane schließlich einen dezenten weißen Umschlag unter die Nase. "Ich bitte Sie herzlich, es anzunehmen. Wenn der Film in die Kinos kommt, ersäuft meine Abteilung sowieso wieder im Geld."

Als der Killer keine Anstalten machte, den Umschlag an sich zu nehmen, legte Eishaki ihn kurzerhand auf die Tischplatte.

"Und was sagt Ihre Frau zu sowas?"

Eishaki musste lachen. "Frau? Ich habe weder Frau noch Kinder. Die Welt weiß nicht, dass ich da bin. Aber jetzt wird mir diese Eigenschaft zugute kommen. Ich werde sehen, was ich an Informationen im Archiv unserer rechtlichen Fälle finde, dann kontaktiere ich Sie, und dann werden wir weitersehen. Und jetzt fragen Sie nicht schon wieder warum. Das bringt Unglück", erklärte er freundlich, während er sich von seinem Platz erhob.

"Sie gehen?"

"Wir werden voneinander hören."

"Sie wissen, dass wir uns niemals revanchieren können."

Eishaki warf einen kurzen Blick Richtung Thresen. Offenbar hatte Fye sein Suchrevier Richtung Toilette ausgeweitet.

"Es ist mir Revanche genug, wenn Sie sich um die wertvollen Dinge kümmern, Kurogane. Er ist froh, Sie zu haben, falls Sie's noch nicht bemerkt haben. So, und jetzt muss ich diese Filmrollen abliefern..."

"Was soll-...", setzte der Schwarzhaarige noch an, der Coproduzent war jedoch schneller- er nahm einfach seine Tasche hoch und rauschte für seine pummelige Gestalt erstaunlich behende von dannen.

Mit zusammengebissenen Zähnen sah ihm Kurogane nach, sodass er erst spät bemerkte, dass Fye wieder an den Tisch zurückkam.

"Oh nein! Ist er etwa weggegangen?", fragte er mit blassem Gesicht, "Dabei ist sein Geldbeutel--..."

"Er war noch in seiner Tasche."

Mit einem seltsam müde anmutenden Gesichtsausdruck ließ sich der Blondling neben ihn auf seinen Platz sinken.

"Hat er was gesagt?"

"Er wird uns kontaktieren."

"Und-... und was machen wir jetzt?"

Der Blick der zinnoberroten Augen wurde geistesabwesend. Er ist froh, Sie zu haben, falls Sie's noch nicht bemerkt haben.

"Keine Ahnung."

Das Schweigen zwischen den beiden jungen Männern lastete tonnenschwer.

Bis Fye schließlich ein wenig seufzte und wieder von seinem Stuhl aufstand.

"Gehen wir."
 

Genau eine Minute nach halb neun am Abend.

In Haus Nummer dreiunddreißig fiel die Tür krachend ins Schloss.

"Oh Gott, was für ein Tag", ächzte Kurogane zwischen gefletschten Zähnen hervor. Mehr ohnmächtig als bei Sinnen stampfte er in die nur schwach erleuchtete Küche und ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen, der ihm über den Weg lief.

Das ist nicht wahr. Das ist alles nicht wahr.

Er merkte gereizt auf, als Fye verunsichert in die Küche geschlichen kam wie ein geprügelter Hund.

"K-kuro-chii... ich--"

"WAS?!!", blaffte der Schwarzhaarige wütend und starrte den Blondling wild an, "Lass mich jetzt bloß in Frieden, kapiert?!!"

Aus dem Gesicht des Blondlings wich jegliche Farbe. "Aber-... aber ich wollte nur sagen, dass es mir lei--"

"Halt's Maul!! Ich will jetzt keine Mitleidsbezeugungen hören, kapiert?!", fiel ihm der Killer respektlos fauchend ins Wort, "Ich kann es schon nicht mehr hören! Damit eins klar ist, ich brauch dein verdammtes Mitleid nicht!!"

"Aber--"

"NICHTS ABER!!! HALT EINFACH DEIN MAUL!!"

Fyes Hände bebten wie von einem Krampf durchzogen. "Schrei mich nicht an", stieß er hilflos hervor und starrte Kurogane aus gequälten Augen an. Seine Hand krallte sich wie besessen am Ärmel von seinem Pullover fest.

Der Killer fixierte sein jüngeres Gegenüber irritiert. Dann stieß er ein bodenloses Stöhnen aus und stützte seine Stirn auf seine Handfläche. "Okay, okay, ist ja schon gut... was willst du jetzt dafür hören?"

Fye sagte nichts. Er hatte seine Finger so fest in Kuroganes Ärmel vergraben, dass dieser eine halbe Ewigkeit brauchte, um seine helle Hand wieder aus dem schwarzen Stoff zu lösen, ohne ihm dabei die Finger brechen zu müssen.

"Was ist los?", fragte er in möglichst beherrschtem Tonfall. Der Blondling senkte den Blick.

"Eishaki-san hat es dir gesagt, nicht wahr?"

Entgeistert merkte der Killer auf. "W-... was soll er mir gesagt haben?"

"Dass es möglicherweise jemand auf dich abgesehen hat. Der Geldbeutel-Trick ist steinalt", fügte er leise hinzu.

"Und was wäre, wenn er das zu mir gesagt hat?"

Die hellen Brauen des jungen Mannes zogen sich zusammen. "Dann könnte ich es nicht glauben. Du bist ein guter Mensch."

Da war er schon wieder, dieser Schmerz. Kurogane schluckte.

"Bist du wirklich so naiv?", fragte er tonlos, "Ich bin noch nie ein guter Mensch gewesen. Ich habe mehr als genug Feinde."

"Du glaubst es also?"

"Alles, was ich glaube, ist, dass ich euer verdammtes Todesurteil sein werde! Kapierst du das denn nicht?"

Fyes Kinnmuskeln traten hart hervor, als er die Zähne aufeinander biss.

"Erzähl mir nichts über den Tod! Der Tod war in diesem Haus schon öfter zu Gast, als ich Finger habe!"

Kuroganes Puls unternahm einen kurzen Höhenflug, als er die Bitterkeit aus der Stimme seines Gegenübers heraushörte.

"Also schließ Shaolan, Sakura und mich nicht aus. Und Eishaki-san auch nicht. Er hat uns sogar Geld gegeben! Er will helfen!"

"Wieso bist du dir nur so sicher, dass uns dieser Produzentenwichtel helfen will?"

"Hast du es denn nicht gesehen? Er ist einsam, Kurogane. Er war uns so dankbar, dass er fünf Minuten bei uns sein konnte! Wahrscheinlich wäre er sogar bereit gewesen, uns Christus vom Kreuz zu kaufen!"

Schweigen. Der Schwarzhaarige ließ mit einem unterdrückten Ächzen seinen Kopf nach hinten sinken.

"Ihr seid alle miteinander so-... so... ich hab mir die Leute hier so anders vorgestellt."

"Ach ja, und wie?"

"Dümmer. Ich weiß nicht, wie die das alle machen, aber-... irgendwie verstehen sie."

Er hob den Blick und sah Fye bewegungslos an. "Ebenso wie du."

Der junge Mann lächelte ein wenig.

"Hast du gestern nacht nicht gesagt, du seist kaputt? Vielleicht verstehen wir nur, weil wir ebenso kaputt sind."

Kurogane musterte seinen neuen Weggefährten misstrauisch.

"Ach ja? Und was hat euch kaputt gemacht?"

"Dasselbe, das dich kaputt gemacht hat, Kurogane."

Schon wieder dieser Ausdruck in seinen glasblauen Augen. Ich verstehe dich, denn meine Seele ist ebenso hässlich wie deine.

Kurogane spürte, wie sich seine Kehle zusammenkrampfte. "Und wieso, bitteschön, wollt ihr mir alle helfen?"

"Das ist das Gute an diesem Viertel, glaube ich. Hier leben keine großen Geister. Jeder hat Zeit für den anderen. Und vor allem musst du dich hier nicht schämen, wenn du bereits was auf dem Kerbholz hast, denn hier gibt es keinen einzigen Heiligen. Mister und Missis Robinson zum Beispiel sind Kriegsflüchtlinge. Claire Leeds- du weißt ja, das Mädchen von gestern- hat bereits eine Fehlgeburt hinter sich. Sakura-chan und Shaolan verstecken sich hier vor ihren Eltern, weil sie einfach in Ruhe gelassen werden wollen."

Na hervorragend. Ein Viertel voller Krimineller.

"... Und deswegen versucht hier jeder noch einmal einen Neustart, und jeder hilft jedem dabei, denn er weiß, dass er nicht unschuldiger, besser oder wertvoller als der andere ist. Hier glaubt man an die zweite Chance."

Kurogane sah sein jüngeres Gegenüber ruhig an. "Und du?", fragte er, "Glaubst du an die zweite Chance?"

"Tja", sagte Fye leise und streifte seinen Mitbewohner mit einem weichen Seitenblick, "Seit kurzem schon."

Der Schwarzhaarige schluckte schwer. Sein Herz flatterte wie ein verletzter Vogel, und er hörte irritiert das Blut in seinen Ohren rauschen, als der Jüngere auf ihn zukam und ihm die Hände auf die Schultern legte.

Komisch. Seine Hände sind ganz warm, obwohl er vorhin noch so--...

"T-tut mir leid, das von eben", presste er schnell hervor und wandte hastig den Blick ab.

Er blinzelte irritiert, als er statt einer Antwort plötzlich einen Zeigefinger des Blondlings auf seinem Nasenbein spürte.

"Vor langer Zeit kannte ich mal jemanden ", sagte Fye leise, "Und wir hatten einander sehr gern. Immer, wenn wir traurig waren, haben wir uns gesagt: 'Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist.' Damals hab ich das für leeren Optimismus gehalten."

"Und heute?"

"Heute denke ich, sie hatte Recht. Was auch passiert, halte die Nase in den Wind und lächle! Das hat sie mir immer gesagt."

"Sie? War es ein Mädchen?"

"Ja. Sie hieß Chi."

"Wo ist sie jetzt?"

"Sie ist tot."

Schweigen.

Schweigend beobachtete Kurogane die Mimik seines jüngeren Gegenübers.

Fixierte mit wortloser Aufmerksamkeit, wie dieses kleine Schmunzeln für den Bruchteil eines einzigen Augenblicks leicht bebte.

Ein Augenblick, in dem der Teich dieser eisblauen Iriden von einem Zittern erfüllt wurde, und der Schmerz aus ihnen emportauchte wie eine Perle- eine Perle, die weiß und unberührt war, aber gleichzeitig mit ihrem stechenden Schein in den Augen schmerzte.

Ein Schein, der alles in das Nichts auflöste. Die Gesetze der Zeit galten nicht mehr. Ein Lidschlag wurde zu einer Ewigkeit.

Auf einmal fanden sich Fyes Fingerspitzen in Kuroganes Nackenhaar wieder. Dieser zuckte zusammen.

"Bemitleidest du mich jetzt, Kuro-chan?", fragte der Blondling leise, er flüsterte es beinahe, "Bin ich bemitleidenswert?"

Der Schwarzhaarige schluckte. Sie kribbelten, diese schmalgliedrigen Finger in seinem Nacken. Kitzelten. Wärmten.

"Nein", erwiderte er mit kaum hörbarer Stimme, "Kein Leben sollte auf diese Weise beurteilt werden."

"Hat man deins auf diese Weise beurteilt?"

"... Früher. Aber deins wohl auch?"

Die Finger seines Mitbewohners verkrampften sich auf diese Frage, und das war Kurogane Hinweis genug.

"Deins also auch."

Fye schmunzelte ein wenig und nahm seine Hände von den Schultern seines Mitbewohners.

"Ich glaube, wenn ich dich nicht so mögen würde, würde ich dich hassen."

Kurogane merkte auf und hob irritiert den Blick. "Wie--...?"

Die Antwort jedoch sollte wohl nie kommen, denn just in diesem Moment erklang vom Flur her ein lautes Johlen und Türklopfen. "OY!! Fye-san, Kurogane-san!!"

Wie auf Knopfdruck wirbelte Fye fröhlich herum. "Jahaaaa?? Sakura-chan, Shaolan, seid ihr's?"

"Wer sonst, Mann? Mach uns auf, Mann, wir haben was bombiges fürs Abendessen besorgt!"

"He, verdammt! Ich will gefälligst 'ne Antwort!", äußerte sich Kurogane empört, als der Blondling in den Flur abrauschte.

"Papperlapapp! Du bist doch ein heller Kopf?", kam es wohlgemut trällernd zurück, "Das Abendessen geht vor!"

"Aber--"

"Keine Widerrede! Denk daran, was Eishaki-san gesagt hat! Wir sind ihm was schuldig! Morgen hauen wir rein!"

"Aber--"

"Sei doch so gut und deck schon mal den Tiiiihiiiiiiiiiisch!"

"ARGH!!!"

Wütend haute der Killer mit der flachen Hand auf den Tisch.

Nichts zu machen. Einfach nichts zu machen.

Er stieß ein lang gezogenes Ächzen aus, während im Eingang bereits fröhliche Stimmen und Gelächter laut wurden.

Wieso gibt mir dieser Kerl nur so viele Rätsel auf?

Ein langes Schweigen verging, bevor er sich schließlich erhob und das Besteck suchen ging.

Das Abendessen geht vor.

Interlude: Slaughter / Rook

-"Schädlich ist es, wenn deine Seele ermüdet, bevor der Leib ermüdet ist."-

(Marcus Aurelius)
 

~~
 

"Fye!"

Fröhliche Stimme. Ihre fröhliche Stimme, die ihn rief.

Sein Kopf ruckte sofort fieberhaft hoch.

"Chi-..."

Sie kam auf ihn zugelaufen und umarmte ihn, obwohl sie sich dafür auf die Zehenspitzen recken musste.

"Bin ich froh, dich zu sehen!"

Er nickte nur und schloss müde die Augen, um ihren warmen, süßen Duft einzuatmen.

Ihr Blick streifte besorgt seine zerschundenen Handflächen, seine blassen, von Metallsplittern zerkratzten Wangen.

"Hat Ashura wieder... ?"

"Das ist doch jetzt egal", gab Fye tonlos zurück. Chi lächelte ein wenig und nahm ihn beim Arm.

"Okay. Komm, wollen wir uns etwas zu essen besorgen? Ich habe für heute keine Kunden mehr!"

Der Blondling schluckte schwer.

Kunden. Allein schon dieses Wort genügte, um in seinem Hals einen schmerzhaften Knoten entstehen zu lassen.

Er hob den Blick und sah in Chis Gesicht. Es fiel ihm nicht schwer, darin die Spuren dessen zu erkennen, was Chi bis eben noch hatte über sich ergehen lassen müssen. Von groben Fingern verwischte Schminke. Zerzaustes, schwitzig glänzendes Haar.

Und ein Bruch, ein Bruch in diesen haselnussbraunen Augen, der einem ins Gesicht sprang wie eine hässliche Narbe.

Wie schmerzhaft musste es sein, so etwas zu tun, und dazu mit jemandem, den man noch nie vorher gesehen hatte?

Chi bemerkte den leeren, aber gleichzeitig bohrenden Blick ihres einzigen Freundes.

Verunsichert sah sie zu ihm hoch.

"Fye... ?"

Dann seufzte sie. "Hey, er-... er war nicht schlimm. Er war nicht brutal oder so. Ich hatte schon schlimmere, ehrlich!"

Als er darauf nicht reagierte, umarmte sie ihn erneut.

"Fye-... hey, ich habe dir doch gesagt, ich komme klar, hmh? Ach, jetzt komm schon..."

"Wie hältst du das nur aus?", stieß Fye als Antwort hervor und krampfte seine Hände um Chis schlanke Schultern, "Wie zum Henker erträgst du einfach, dass man dich so-... dass man so etwas mit dir--"

Er brach verbittert ab. Das Mädchen lächelte traurig.

"Wenn man verzweifelt genug ist, erträgt man mit der Zeit alles. Du müsstest das doch auch wissen, oder?"

"Aber-... !!"

"Es geht mir gut, Fye", sagte Chi ernst, "Ich will, dass du mehr auf dich selbst achtest."

Keine Antwort. Wortlos ließ sich Fye auf die Bank zurücksinken, auf der er schon seit Stunden apathisch herumgesessen war.

"Ein Alptraum", sagte er leise zu niemandem bestimmten, "Wir leben in einem Alptraum."

Chi seufzte schwer. Dann setzte sie sich zu ihm auf die Bank und lehnte sich sanft an seine Schulter.

Fye schloss die Augen, als er ihre weichen, duftenden Finger in dem feinen Haar hinter seinem linken Ohr spürte.

"Glaubst du denn nicht, dass es auch noch ein anderes Leben gibt außer dem, das wir hier führen?"

"Wieso sollte ich? Ein anderes Leben kenne ich nicht."

"Vielleicht kommt eines Tages jemand und bringt dich von hier weg. Dann würdest du ein anderes Leben leben können."

"Wer würde das schon machen", erwiderte Fye tonlos. Das Mädchen lächelte.

"Einen Menschen gibt es sicher, der es zumindest versuchen würde. Einen gibt es ganz bestimmt."

Der Blondling sah sie irritiert an. "Aber-... was wäre das für ein Mensch, der so etwas wagen würde?"

"Der Mensch, der dich liebt. Glaube ich zumindest."

Fye spürte ungläubig, wie sich seine Brust auf diesen Satz schmerzhaft verengte.

"Ein Mensch... der mich liebt? Gibt es so einen Menschen denn für-... für jeden auf der Welt?"

"Ja, so einen Menschen gibt es für jeden auf der Welt", flüsterte Chi leise und zauste mit den Fingern behutsam sein Nackenhaar, "Jemand hat mir mal erzählt, dass der Mensch früher aus zwei Teilen bestanden hat, die auseinandergerissen wurden. Und nun sind die Menschen pausenlos auf der Suche nach ihren früheren Gegenstücken. Sie kommen zusammen, umschlingen einander mit den Armen und suchen gegenseitige Verbundenheit, nur weil sie sich wieder so nahe sein wollen, wie sie es mal gewesen sind."

"Ja, aber-...", stieß Fye hervor, "... Aber du bist doch schon mein Gegenstück! Ich-... wir haben uns doch gefunden!"

Er starrte Chi ausdruckslos an, als diese nur den Kopf schüttelte.

"Nein, Fye. Dieser Mensch bin ich nie für dich gewesen. Und ich werde es auch niemals sein. Ich bin nichts besonderes."

"Ich doch auch nicht!", sagte er wütend.

Diese weichen, nussbraunen Augen musterten ihn so voller Wärme und Hochachtung, dass es ihm elend zumute wurde.

"Sollen wir uns wirklich darüber streiten?", fragte Chi leise.

"Ich-... will aber nicht glauben, dass du es nicht bist", wisperte er kläglich, "Wer sollte es denn sonst sein?"

Seine Freundin lächelte.

"Spätestens im Moment deiner größten Blöße wirst du es erkennen", sagte sie und bettete ihre Hände an sein blasses Gesicht, "Wenn sich deine Seele in ihrer ganzen Nacktheit offenbart. Du wirst Angst haben, Angst, dass die Welt deine Seele entdeckt und zerbricht, wenn sie erst so rein und wehrlos daliegt und sich nicht mehr verstecken kann... aber in diesem Augenblick wird dieser Mensch bei dir sein. Er wird deine Seele sehen. Und er wird sie auf Händen tragen."

Sie streichelte mit beiden Händen sein Gesicht. Etwas Nasses tropfte dabei auf ihre Fingerspitzen.

"So muss es sein, wenn man Gott begegnet."

"Gott gibt es nicht", stammelte Fye schwach und schaffte es einfach nicht, seine Tränen wegzublinzeln.

Chi zuckte die Achseln. "Das ist deine Ansicht. Ich glaube jedenfalls, dass es ihn gibt."

"Aber wo ist er dann?"

"Ich glaube, er ist in den Menschen."

Der Blondling starrte sie ungläubig an. "War Gott denn-... schon einmal für dich in einem Menschen?"

Schweigen. Chi konnte ihr Gegenüber für einige Momente nur verwirrt ansehen, bevor sie mit einem Lächeln den Kopf senkte.

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.

Denn wie sollte man einem Menschen nur erklären, was sich schon vor Jahren im eigenen Herzen verwurzelt hatte?

Wie sollte man ihm erklären, dass man bei dem Anblick seiner sanften, schmerzdurchwobenen Augen nicht mehr wusste, ob man Trauer oder Bewunderung fühlen sollte? Dass einen das Glänzen seiner Haarspitzen, die leise Stimme, mit der er sprach, seine scheuen Handbewegungen, von etwas träumen ließen, das man selbst mit Worten nicht benennen konnte?

Dass man auf einmal wieder an-... an so etwas wie Engel glaubte?

Chi wusste es nicht, doch in ihrer Hilflosigkeit war es ein einzelner Gedanke, der sie ergriff und festhielt- und der für sie die Ungewissheit in Gewissheit umkehrte.

Die Gewissheit, dass das, was sie schon seit Wochen und Monaten wusste, nichts anderes als die Wahrheit sein konnte.

Ich habe Gott in dir gefunden.

"Tja", sagte sie schließlich leise und sah ihm mit einem warmen Blick in die Augen, "Schätze, ja."

Fye lächelte flüchtig. "Dann will ich es auch versuchen."

Er hob verwundert den Blick, als er sah, dass es in Chis Augen verdächtig zu glänzen anfing.

"Chi... ?"

Das Mädchen schüttelte nur lächelnd den Kopf. Dann barg sie sein Gesicht in ihre Hände und streichelte darüber, befühlte und liebkoste seine blassen Wangen, als wären sie das höchste Gut.

"Er hat es so gut", flüsterte sie leise, "Dieser Mensch für dich allein hat es so gut."
 

Dunkelheit.

Das fahle Mondlicht fiel durch die gesplitterten Fenster des Bandenverstecks und tauchte alles in diffuses, schemenhaftes Halbdunkel. Mehr ohnmächtig als bei Sinnen tastete Fye sich durch die Finsternis.

Seine Beine schmerzten immer noch von den Metallsplittern. Die Narbe auf seiner linken Wange brannte.

Lautes, hässliches Geschrei und Gepolter hatten ihn aus einem nervösen Schlaf hochfahren lassen.

Eine halbe Ewigkeit war er mit angehaltenem Atem in dem einzigen Winkel gekauert, in dem er noch halbwegs sicher vor Ashuras Anhängern war, bevor er seine letzten, kläglichen Überbleibsel an Mut zusammengekratzt hatte und aufgestanden war, um zu sehen, was los war- denn der Krach war aus den nördlichen Barracken gekommen.

Den Barracken, in denen auch Chi immer schlief.

"Chi..."

Seine kalten, zerkratzten Füße trugen ihn unsicher stolpernd durch die Dunkelheit.

Fiebrig lauschte er auf das ferne Stimmengewirr, das er hörte- oder zumindest zu hören glaubte, denn für gewöhnlich war das Lager nachts in eine Stille getaucht, die wohl nur noch der eines Friedhofs gleichkam.

Als es plötzlich unvermutet näherkam, hielt er sofort den Atem an.

"... wieso kannst du ihm nicht endlich-..."

"Ach ja? Nenn mir nur einen Grund, warum ich..."

"Er hat genug gelitten! Wie lange willst du ihn noch..."

Fyes Puls schoss schmerzhaft bis in seinen Hals hinauf und hinterließ dort ein Prickeln wie von tausenden Nadelspitzen.

Chi. Es war Chis Stimme, die er da reden hörte. Sie konnte nicht allzu weit weg sein.

Doch-... doch wenn die eine Stimme Chi gehörte, und die andere-... die andere Stimme konnte nur die von-...

NEIN.

Ohne eine weitere Sekunde zu zögern, rannte Fye los. Angst wurde zu Wirklichkeit.

Seine ganze Umgebung schien unter seinen Füßen zu donnern wie ein Erdbeben, alles verschwamm und verwackelte vor seinen weit aufgerissenen Augen, er rannte und stolperte und strauchelte, so wie damals, so wie damals, als--...

"NEIIIIIIIIIIIIIIIIN!!"

Er zuckte schmerzhaft zusammen, als plötzlich ein schriller Aufschrei die Totenstille durchriss wie Papier.

"CHI!!"

Angst, nackte Angst trieb ihn wie einen Wahnsinnigen, hilflos rannte er weiter, wühlte sich durch einen Stapel alter Kartons, warf einen alten Container zur Seite, schlitterte um die Ecke, und--

"Aahhh. Da bist du ja endlich."

Ashuras Augen funkelten so zwiespältig wie eh und je.

In Fyes Kopf kam alles zum Stillstand. Sein Herz pochte rebellisch gegen seine schmerzenden Rippen.

Eine eiskalte Lähmung kroch langsam seine Kniekehlen empor.

"A-... a-ashu-... ?"

Der junge Mann mit den langen, schwarzen Haaren stand direkt vor ihm.

Bis auf sein Gesicht konnte Fye in der Dunkelheit nichts von ihm erkennen.

Und doch war er sich sicher, dass da noch irgendetwas anderes war.

"W-was hast du mit Chi gemacht?", presste er mit leiser, erbärmlicher Stimme zwischen den Zähnen hervor.

"Du willst wissen, was ich mit deiner Chi gemacht habe? Ich zeig's dir."

Mit diesen Worten trat er einige wenige Schritte vorwärts. Unsicher stolperte Fye zurück.

Ashura trug Chi zwischen seinen Armen. Es sah aus, als würde sie schlafen.

Doch etwas stimmte nicht. Etwas konnte nicht stimmen, etwas störte dieses Bild-...

Alles in dem Blondling verkrampfte sich. Ein plötzlicher Brechreiz kroch seine Kehle empor. Ashura schien dieser Anblick sehr zu amüsieren. Wortlos richtete er das Mädchen in seinen Armen auf, sodass sie nun auf groteske Weise zu stehen schien.

"Pass auf. Ich zeige dir was lustiges."

Während er das sagte, setzte er eine Hand vor Chis Brust.

Eine Weile lang schien gar nichts zu passieren. Bis Fye plötzlich etwas an ihrem Rücken auffiel.

Die Haut ihres Rückens schien sich plötzlich auf bizarre Weise zu-... ja, sie wölbte sich.

Sie wölbte sich nach außen.

Als würde sich irgendetwas in ihrem Körper einen Weg nach außen suchen.

Sie wölbte sich immer weiter, sie dehnte und weitete sich, sodass alles an Farbe aus ihr wich, bis dann--...

Fye zuckte unwillkürlich ein wenig zurück. Seine Augen weiteten sich in nicht zu beschreibendem Grauen.

Denn nun sah er das Blut.

Das Blut, das sich von einem Punkt ausgehend seine Spuren über Chis Gewand suchte.

Es tropfte und rann in dicken Perlen an ihrer Haut herab, durchweichte den Stoff ihres Kleides, bahnte sich seinen Weg nach unten.

Ein grässlich organisches Schmatzen und Knirschen wie von zerreißendem Fleisch und brechenden Knochen erfüllte den schmalen Körper des Mädchens, der immer noch bewegungslos wie eine Puppe zwischen Ashuras Armen hing.

Und dann brach die Wölbung auf.

Sie riss einfach auf wie die Oberfläche eines Vulkankrater. Ganze Bäche aus Blut quollen daraus hervor.

Und inmitten dieses Gewühls aus Blut und Fleisch ragte eine einzelne Messerspitze heraus.

Fyes Herzschlag explodierte in seinem Kopf.

Ein Messer. Er hat ihr ein Messer durch den Rücken getrieben.

Mit einem fassungslosen Kehllaut stolperte er noch weiter zurück, als Ashura Chis Körper wie einen Sack vor seine Füße fallen ließ.

"Ha! Hahaha! Na? Das ist doch lustig, oder nicht?"

Fye hörte es nicht. Er sah auch nichts mehr.

Auf einmal war es ihm, als sei er von Geburt an blind gewesen.

Alles zerfloss unter seinen Füßen zu einem einzigen Strudel aus Rot, Weiß und Schwarz. Sein Inneres löste sich zu einem träge umherwabernden Sumpf aus einzelnen Gedankenfetzen auf. Er bewegte sich in keine bestimmte Richtung mehr. Einzelne Gedanken blitzten immer wieder aus dieser Masse hervor und bohrten sich wie Nadeln in sein Fleisch.

Chi. Tot.

Wie in Zeitlupe ließ er sich auf die Knie sinken.

Seine klammen, krampfhaft zitternden Hände irrten über den blutbenetzten Boden und fanden schließlich, was sie suchten.

Chis Gesicht.

Ohnmächtig strichen seine Finger durch die weichen, elfenbeinfarbenen Haare, schlossen sich um die fahlen, erkalteten Wangen und zogen ihren Kopf nach oben.

Blicklose, nussbraune Augen starrten ihn an. Schön. Friedlich. Tot.

Mit einem kleinen, klumpigen Würglaut presste er den Kopf seiner einzigen Freundin an seine Wange und weinte.

In erbärmlichen, abgehackt keuchenden Stößen sickerte das Winseln und Heulen aus ihm heraus wie die letzten Tropfen aus einem Wasserfass. "Gottloser... Bastard--..."

Ashuras Grinsen sprang ihm entgegen wie die Züge einer Horrormaske.

"Gottlos mag ja stimmen", meinte er und warf ihm das Messer vor die Füße, "Aber der Bastard ist eine andere von uns dreien."

In Fyes Augen flackerte der nackte Irrsinn auf.

"WARUM HAST DU SIE UMGEBRACHT?!!", kreischte er aus vollem Halse. Saurer Speichel tropfte von seinem Kinn.

"Sie hat es selbst provoziert. Wollte, dass ich dir nach fünf Jahren endlich mal die Wahrheit sage."

"WAR DAS EIN GRUND, SIE ZU TÖTEN?!!"

Das Gesicht seines 'Freundes' wurde von einer gehässigen Grimasse überzogen.

Gelassen kniete er sich zu Fyes krampfhaft bebender Gestalt hinab, die sich abwehrend über Chis Leiche zusammenkauerte. Mit einer langsamen Handbewegung zog er einen langen Streifen Blut über diese totenblassen Wangen.

"Ja, war es. Und weißt du auch, warum?"

Fyes Kinn zitterte. Ein Hass, wie er ihn noch nie in seinem Leben gespürt hatte, durchströmte seine Venen wie Gift.

Er krallte seine Finger so fest in Chis erkaltetes Gesicht, dass ihre feinen Wangen völlig verzerrt wurden.

Ashura schien das sehr zu amüsieren. Mit einem Lächeln fasste er den Blondling ins Auge.

"Weil ihr beide nichts seid", flüsterte er leise, "Ihr seid keine Menschen... euch hat man hingekotzt, verstehst du? Ihr seid wie der Staub, der die Straßen bedeckt, ihr seid sogar noch viel weniger... man kann euresgleichen abschlachten, so oft man will, ohne dass sich dadurch etwas verändern würde... fast, als hätte man... Luft durchstochen."

In Fyes Brustkorb fraß sich ein zermalmender Schmerz immer tiefer wie eine Zecke im Fleisch ihres Wirts.

"Nur leider fand die liebe Chi es wohl angebrachter, dir Flausen in den Kopf zu setzen, anstatt dir einfach die reinen Tatsachen vor Augen zu halten... na, wer weiß, vielleicht hat es dir ja sogar auch gefallen, stundenlang Honig ins Ohr geschmiert zu bekommen? Aber ich fürchte, damit ist jetzt Schluss..."

Fye rang entgeistert rasselnd nach Luft, als er als Folge auf diese Worte plötzlich die blutbeschmierte Hand seines 'Freundes' unter seinem schmutzigen Hemd spürte. Seine Finger waren kälter als Eis und bahnten sich über seine Haut wie Schlangen, bevor sie blitzartig nach dem einzigen griffen, was dort noch war--...

"Was haben wir denn da?"

Meine-... er hat meine Bro-...

"GIB SIE MIR WIEDER!!", schrie er augenblicklich, "Das ist meine!!!"

Ashura lachte, als würde er ein kleines Kind auslachen.

"Oooch... ja? Ist das deine?", sagte er und schwenkte den schönen, rot glänzenden Stein vor Fyes Nase langsam hin und her, "Tja, Pech gehabt! Jetzt ist es meine!"

Fyes Rippen fühlten sich an, als würden sie ihm in diesem Moment mit einer Zange einzeln aus dem Körper gerissen werden.

"Gib-... sie mir wieder", krächzte er mit in Wahnsinn weit aufgerissenen Augen, in denen die Tränen schwammen, "Gib sie mir wieder, sonst-... sonst bring ich dich um ... ich--... ich bring dich um, ich bring dich um, ich BRING DICH UM!!!"

Ehe er sich versah, hatten seine bebenden Hände auch schon das Messer gepackt.

Mit einem wilden Satz sprang er auf die Füße und stürzte sich mit seiner ganzen Kraft auf Ashura.

Rang wie von Sinnen mit ihm, versuchte mit hilfloser Gewalt, die Hand seines 'Freundes', in der die Brosche war, zu öffnen.

Er hatte keine Chance.

Sein 'Freund' war es mehr als gewohnt, täglich Leute niederzuringen und zu erstechen.

Ein hässliches Knacken war zu hören, als er den Blondling mühelos am Nacken packte und sofort zudrückte.

"So, wirst du das... ?"

Fye antwortete nicht.

Er konnte nur noch weinen. Er weinte laut und mit offenen Augen.

Ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wurde.

Und so konnte er, als eine Stahlstange gegen seinen Hinterkopf geschmettert wurde und er mit einem fassungslosen Kehllaut zu Boden sank, nur noch einen einzigen Gedanken in seinem Kopf festhalten.

Ich werde ihn töten. Diesen einen Menschen werde ich töten.
 

~~
 

Dinng.

"Aah! Der Tee ist fertig!"

Geschäftig vor sich hinsummend erhob sich Giuseppe Pantoliano aus dem üppigen Ledersessel des Konferenzsaales, in dem er bis eben gesessen hatte und machte sich beflissen am Teekocher auf einem der Nebentische zu schaffen.

O'Connor hingegen konnte kaum noch die Augen offenhalten.

"Tee, Joshua? Mit einem Schuss Rum, das weckt die Lebensgeister!"

Der Ministerialrat runzelte die Stirn und sah ein wenig überfragt zu seinem Vorgesetzten hoch.

Also, wenn ihm Pantoliano schon Tee servierte, konnte es nicht mehr lange dauern, bis der ganze Laden hier absaufen würde.

Denn heute nacht hegte er mehr denn je das Gefühl, dass man in diesem Dezernat der Hölle einen Schritt näher war.

Man spürte es. Man sah es. Aber vor allem hörte man es.

"Mr.Pantoliano", sagte er schließlich matt, "Ich... ich halt das nicht mehr aus."

Der Ratspräsident runzelte verständnislos die Stirn. Und während sich die beiden Männer anschwiegen, wurde mit der Zeit auch das hörbar, was O'Connor als so degutant erachtete.

Man wusste nicht, ob es das an Irrsinn grenzende Gebrüll eines Menschen oder ganz einfach das Fauchen und Keifen eines Tiers war. In schaurigen, geisterhaften Intervallen drang es aus den Kerkern wie das dumpfe, ohrenmarternde Heulen einer Bestie über eigens zu diesem Zweck montierten Lautsprechern direkt in den Hörsaal.

Schreien. Krachende Knochen. Keuchen. Stöhnen.

"Ich verstehe Sie ja, mein Junge", meinte Pantoliano achselzuckend, "Für mich ist es genauso wenig amüsant."

"Und warum müssen wir uns dann die ganze Prozedur über Lautsprecher anhören??"

Gelassen stellte der Italiener die Teetasse wieder zur Seite und legte die Fingerspitzen aneinander.

"Das hat einen guten Zweck: Details, mein Lieber. Wissen und Einblick verleihen einem ungeheure Macht. Und je tiefer dieses Wissen geht, desto wehrloser wird uns zum Schluss das zu Füßen liegen, was wir noch in ihm brechen müssen."

Ein schleichendes Unbehagen kroch langsam in O'Connors Kehle empor, als hätte er einen Tausendfüßler verschluckt.

Eine kleine Stimme, die immer noch in Frage stellen wollte, was er hier tat, wisperte im hintersten Winkel seines Kopfes.

Ist es richtig, einen unschuldigen Mann zu foltern, bis er zu einem gedankenlosen Killer wird?

"Und was ist, wenn er sich rächt?", wandte er mit matter Stimme ein, "Was ist, wenn alles aus dem Ruder läuft?"

Pantoliano seufzte. "Joshua, Sie scheinen denn Sinn, der hinter dieser ganzen Prozedur steht, nicht zu verstehen. Ein Tier rächt sich nicht. Es bleibt brav an der Leine, tut, was man ihm sagt und beißt nur dann zu, wenn wir es so wünschen. Für seinen neuen Job wird unser Kurogane-chan kein menschliches Denken mehr brauchen. Und ich will nur ihn für diesen Job."

Als O'Connor statt einer Antwort nur beklommen seine Tasse musterte, klatschte der Italiener unternehmungslustig in die Hände.

"Also schön, wissen Sie was? Wenn Sie Ihre Zweifel nicht ablegen können, dann gehen wir jetzt nach unten und sehen uns die Fortschritte an. Nach einer Woche dürften die sich so langsam auch mal einstellen, was?"

Der Ministerialrat verschluckte sich gehörig und rang mit sich, um den Tee nicht quer über den Tisch zu spucken.

"Was?!! Mr.Pantoliano, bei allem Respekt-... Sie wollen im Ernst da runter gehen? In-... Kerker siebzehn?"

Sein Vorgesetzter gab keine Antwort, sondern griff nach dem Telefonhörer.

"... Roy? Ja, ich bin's. Sagen Sie Ihren Jungs, sie sollen doch mal für einen Moment innehalten. Joshua und ich wollen unserem Kurogane-chan eine kleine Stippvisite abstatten. ... Natürlich ist das mein Ernst. Ja, jetzt gleich."

Langsam breitete sich auf dem Gesicht des Ratspräsidenten ein Grinsen aus.

"Ausgezeichnet."
 

Pitsch. Pitsch. Pitsch.

Das Geräusch von Blut, das in einem monotonen Rhytmus von seiner Haut herabtropfte, hallte von den betonenen Wänden des Kerkers wider.

Der stockdunkle, enge Raum stank nach Schweiß, Blut und Erbrochenem.

Das Blut rann in zahllosen, schmutzigen Rinnseln aus den tiefen Reißwunden seines beschmutzten, schweißüberströmten Körpers.

Bewegungslos hing Kurogane in einer Ganzkörperaufhängung, deren Schellringe bereits ausnahmslos von Blut benetzt waren, von der Decke herab.

Arme und Hände waren ihm verbunden worden, an seinen Handgelenken glänzten zwei breite Streifen aus zerrissener Haut.

Sein gesamter Oberkörper war ein Schlachtfeld aus Spuren von Schlagringen, glühenden Eisen und Stahlscheren, sein Atem kaum mehr als ein schwach gehendes, rasselndes Pfeifen.

Ein Paar flammend roter Augen starrte O'Connor und Pantoliano aus der Dunkelheit heraus an.

Ein Biest. Ein Biest in Ketten.

Dem Ministerialrat wurde es vor Angst und Aufregung schlecht, während Pantoliano nur sichtlich befriedigt lächeln konnte.

"Sehen Sie, Joshua?", fragte er laut über seinen Rücken, "Ich sagte doch, wir kommen voran. Gentlemen?", wandte er sich jovial an die drei Männer im Kerkereingang, deren Aufgabe es schon seit einer knappen Woche gewesen war, ihren ehemaligen führenden Einsatzleiter über Stunden hinweg zu foltern, "Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns drei allein zu lassen?"

Gehorsam, will heißen wortlos, trollten sich die drei Privates auf den Gang und schlossen die Tür hinter sich.

Mit einem gehässigen Funkeln in den Augen wandte sich der Ratspräsident Kurogane zu.

"Tja, Kurogane. So sehen wir uns wieder, nicht wahr? Joshua und ich haben uns gelangweilt und dachten, wir schauen mal wieder bei Ihnen rein. Gemütlich haben Sie's hier!"

Keine Antwort. Man konnte meinen, hinter diesen gläsernen Augen begann das Nichts. Ein einzelner Blutstropfen bahnte sich aus Kuroganes Haaransätzen einen Weg über seine linke Wange und tropfte sein Kinn hinab.

"Sie wollen also immer noch nicht reden?"

Wieder keine Antwort. In den ausdruckslosen Gesichtszügen des jungen Mannes war keinerlei Regung zu beobachten.

Der Italiener seufzte missbilligend.

"Mein Junge, Sie haben wohl immer noch nichts begriffen!", meinte er bedauernd, während er begann, um sein kopfüber hängendes Gegenüber herumzulaufen wie ein Geier, der darauf wartete, dass seine potenzielle Beute endlich vor Erschöpfung zusammenbrach, "Was mich betrifft, so könnte ich noch monatelang weiterwarten. Ihre Verstocktheit stellt für mich nur einen Umstand der Zeit dar. Derjenige, dem Ihr Schweigen am meisten Schaden bringen wird, sind eindeutig Sie selbst."

Keinerlei Reaktion. Es war, als würde er gegen eine schwarze Wand reden. O'Connor schluckte schwer.

Pantoliano hielt in seinen Spazierbahnen inne und fixierte sein Opfer nun von nahem.

"Immer noch nichts, nein?", fragte er leise. "Nun ja, ansatzweise kann ich Sie auch verstehen. 'Was bildet sich dieser Idiot eigentlich ein, schleift mich einfach in diesen Kerker und lässt das Blut tropfenweise aus mir rauspressen?' Man kann es Ihnen förmlich von der Stirn ablesen. Ich an Ihrer Stelle würde mich allerdings freuen, nicht jedem in diesem Dezernat ist es vergönnt, seinen Tag nur mit Rumhängen zu verbringen. Hahahaha! Sie verstehen?"

Der Ratspräsident lachte laut und herzlich. In den flammend roten Augen flackerte es als Antwort jäh auf, und das gefiel ihm schon wesentlich besser.

Auch der dickste Panzer hat seine wunden Stellen. Zeit, diesen Umstand zu nutzen.

"Mein Junge", sagte er, während sich seine Mundwinkel zu einem sadistischen Grinsen verzerrten, "Überlegen Sie doch erst mal, bevor Sie sich einfach dafür entscheiden, mich zu hassen. Das wäre lediglich der Weg des geringsten Widerstandes, und Ihres Kalibers eindeutig nicht würdig. Bedenken Sie lieber zuerst, was sich für Sie mit der neuen Rolle, die Sie in diesem Schachspiel einnehmen werden, alles ändern könnte. Zum Guten ändern könnte."

Als der Schwarzhaarige immer noch stoisch in seiner Haltung verharrte, schob Pantoliano sein Gesicht so nahe an das seines jüngeren Gegenübers heran, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten.

"Sie wundern sich? Nun, vielleicht habe ich Ihnen es verschwiegen- aber Politik ist tatsächlich nicht mehr als ein Schachspiel. In diesem Falle bin ich eindeutig der König- die wichtigste Figur, die geschützt werden muss. Er wird flankiert von der Königin- seiner engsten Verbündeten-, den Läufern- seinen Untergebenen- und dem Turm."

Diese roten Augen schienen so gläsern, dass er sich darin spiegeln konnte. Leer, leer, leer.

"Und hier kommen Sie ins Spiel. Der Turm steht ganz am Rande des Spielbretts- stoisch, und scheinbar unbeteiligt an dem ganzen Treiben. Doch sobald der Ruf des Königs ihn erreicht, schießt er aus seinem toten Winkel hervor und beseitigt alles, was für seinen König eine Gefahr darstellen könnte, mit einem einzigen wohl durchdachten Manöver, bevor er wieder- nahezu unbeobachtet- wieder an den Rand verschwindet. Und nun, mein Junge, wird Ihnen die Chance gegeben, ein Dasein als einfache Figur, die gleich in den ersten Spielzügen ihr Leben lässt, hinter sich zu lassen, und eine Schlüsselposition einzunehmen. Eine Schlüsselposition, die Ihnen alles verschaffen könnte."

Das Tropfen des Bluts mischte sich unter die leise, eindringliche Stimme des Mannes wie der Rhytmus einer monotonen Musik.

"Natürlich geht das nicht ohne Entbehrungen einher", räumte der Italiener ein, "Denn der König kann es sich in seiner Position nicht leisten, sich von jedem x-beliebigen Turm beschützen zu lassen. Ein wirkungsvoller Turm ist ein loyaler Turm. Sie müssen mir Ihr volles Maß an Loyalität erbringen, wenn Sie diese Schlüsselposition einnehmen und somit sich selbst schützen wollen. Und so müssen Sie alles hinter sich lassen, was Sie als Mensch ausmacht."

Er tippte ihm leicht auf die blut- und schweißüberströmte Stirn. Seine Stimme wurde seidenweich.

Verführerisch. Und grausam.

"Da drin ist so vieles, was Sie nicht brauchen", sagte er leise, "Denken bringt Verzweiflung. Wissen bringt Gefahr. Sie brauchen es nicht. Werfen Sie's weg, denn es wird sich lohnen. Ihre schmutzige, bedeutungslose Existenz würde diesem Land zu einem höheren Zweck dienen... ist das kein aufregender Gedanke? Sie könnten jemand sein, Kurogane, jemand inmitten dieser namenlosen Masse Mensch. Und vor allem würden Sie endlich erreichen können, wonach Sie schon seit Jahren so verbissen streben. Der einzige Grund, warum Sie sich noch nicht für den Strang oder Gift entschieden haben, nicht wahr?"

Bei diesen Worten schien etwas in diesen roten Iriden schmerzhaft zu erzittern.

"Oh, Sie wissen, wovon ich spreche? Das ist erfreulich. Und noch viel mehr werden sich Ihre lieben Eltern über Ihre glückliche Entscheidung freuen, mein Turm zu werden", sagte Pantoliano, die Stimme gesenkt zu einem gehässigen Schnurren, "Ich habe in Ihrer Akte gelesen, dass sich die beiden in einem Schrein außerhalb der Stadt abgesetzt haben? Haben also einfach ihren Sohn alleine gelassen, allein in der großen bösen Welt? Als ob er ein wertloser Bastard wäre? Gütiger Gott, was fällt denen bloß ein?"

Der geschundene Körper des schwarzhaarigen Riesen erbebte, sodass die Ketten klirrten.

"Oh?", erstaunte der Ratspräsident, "Soll ich dieser Reaktion etwa entnehmen, dass Sie die beiden immer noch lieb haben, trotz des traurigen Umstandes, dass sie sich lieber in einem Schrein ihrer Ruhe erfreuen, anstatt für ihren Sohn da zu sein? Nein... im Ernst? Was für eine rührende Tatsache! Ach, es gibt eben doch nichts schöneres als Mutter und Vater, ist es nicht so? Mama und Papa. Und Kurogane-chan. Eine kleine, glückliche Familie."

Die Kinnmuskeln des jungen Mannes traten hart hervor, als er die Zähne fletschte.

Ein Hass flammte in diesen Augen auf, den O'Connor noch nie in seinem Leben beobachtet hatte.

Ein Hass, der an den Wahnsinn grenzte. Ein Ausdruck der Bestie.

Er hat keine Chance, dachte er mit angehaltenem Atem, Er wird unter Pantoliano zerbrechen.

"Also hören Sie gut auf das, was ich Ihnen nun rate, mein Junge", sagte Pantoliano, während seine Gesichtszüge noch weiter von diesem Grinsen verzerrt wurden, "Sie werden mein Turm. Sie unterwerfen mir Ihren Willen. Und Sie werden alles beseitigen, was für das Dezernat- also für mich- eine Gefahr darstellen könnte. Töten für das Wohlergehen dieses Landes, war es nicht das, was Sie schon immer taten... und schon immer tun wollten? Abschlachten, um Leben zu retten?"

Die Lippen des Schwarzhaarigen bebten, als wolle er Pantoliano anspucken in dem Hass, den er verspürte.

Er tat es jedoch nicht.

"Ach so... Sie fragen sich, wessen Leben auf diese Weise gerettet werden kann? Nun... wie wäre es beispielsweise mit dem Ihrer Eltern? Falls man das, was die beiden führen, überhaupt noch Leben nennen kann, versteht sich."

Der Ratspräsident richtete sich wieder auf und wischte sich die Finger, mit denen er Kuroganes Gesicht berührt hatte, an den Bügelfalten seiner Satinhose ab.

"Lassen Sie mich es ganz simpel ausdrücken: Sie akzeptieren meine Forderungen und lassen den Rest Ihrer Menschlichkeit für Ihre neue Rolle fallen, oder ich sehe mich gezwungen, Ihren Eltern einen kleinen Besuch abstatten zu lassen. Und dann, fürchte ich, wird nichts mehr von den beiden übrig sein, das Sie noch... rächen könnten."

Der Pfeil saß.

Und er riss eine Wunde in Kurogane, die ihm durch Mark und Bein ging. Man musste kein großer Verhaltensforscher sein, um das zu erkennen. Pantoliano sah es, und wusste, dass er seine Trumpfkarte wirkungsvoll eingesetzt hatte.

Es war eben doch nur ein Spiel.

"Also denken Sie gut darüber nach, mein Junge", sagte er leise, "Entweder lassen Sie für die Sicherheit Ihres Königs Ihr Inneres sterben, oder Ihr König wird Ihre lieben Eltern endgültig sterben lassen. Und das kann schneller gehen als ein einziger Schachzug, wenn Sie verstehen..."

Zwei Wortwitze an einem Tag.

Wieder lachte Pantoliano, bevor er sich schließlich wieder O'Connor zuwandte, der mittlerweile weiß wie ein Gespenst immer noch an der gegenüberliegenden Kerkerwand stand.

Ohne ein weiteres Wort verließen sie den Kerker. Draußen warteten schon die Privates.

"Dean?"

"Sir?"

"Machen Sie weiter."

Gehorsam, will heißen wie üblich wortlos, begaben sich die drei Folterknechte wieder in den Kerker.

Krachend fiel die Tür ins Schloss.

O'Connor zuckte unbehaglich zusammen, als das Geschrei wieder begann.

"Sir?", fragte er dennoch ergeben, als sein Vorgesetzter ihn ins Auge fasste.

"Joshua, Sie machen nun beim Rat Meldung und beantragen in meinem Namen eine Sitzung unter Höchstpriorität. Es ist erforderlich zu wissen, was in Zukunft eine Gefahr für den König darstellen könnte, damit unser neuer Turm sie rechtzeitig tilgen kann."

"Sie glauben also allen Ernstes, dass er--... ?!!"

Der Ministerialrat starrte ihn ungläubig an. Er war sich sicher, selten so einen gehässigen Gesichtsausdruck gesehen zu haben.

"Allerdings. Ich habe den Trumpf ausgespielt, und er hat ihn im Ganzen verschluckt."

Der Ratspräsident senkte vertraulich die Stimme.

"Heute, spätestens morgen, wird dieser Mann nichts mehr weiter sein als ein Tier. Willenlos, seelenlos, und vor allem bedingungslos loyal, denn das wird er sein müssen, um seine Eltern zu schützen. Die perfekte Zwickmühle. Sie werden sehen, was uns dieser neue Turm an Vorteilen auf dem Spielbrett verschaffen wird."

Für einige wenige Augenblicke herrschte Totenstille zwischen den beiden Männern.

Bis sich O'Connor endlich dazu überreden konnte, sich in Trab zu setzen. Er hielt jedoch wieder an, als er hörte, dass ihm Pantoliano im Davongehen noch etwas über die Schulter zurief.

"Ach und, Joshua?"

"Sir?"

"Bevor Sie die Sitzung beantragen, gehen Sie noch ins Lager und holen sein Schwert. Er wird es brauchen."

Soulbond Theory

-"Kein Tier ist so wild, daß nicht menschliche Mühe es zähmen könnte; und die menschliche Seele, die alles zu zähmen vermag, soll nicht zu zähmen sein?"-

(Erasmus von Rotterdam)
 

~~
 

"WIE BITTE?!! Was-... was soll-... sag mal Justin, willst du mich verarschen?!!"

Die zahlreichen Passanten, die trotz der frühen Morgenstunde bereits auf dem Johannesplatz unterwegs waren, drehten sich verwundert nach dem Urheber dieses Tarzangeschreis um.

"... HÄH?!! Ooooh nein, komm mir nicht mit dieser Tour-... was?? Das hab ich doch nie im Leben gesagt!!"

Yukito seufzte wie eine unglückliche Elefantendame. Ob es etwas bringen würde, sich die Ohren zuzuhalten?

"Toya-... um Gottes willen, schrei doch nicht so!", startete er einen zaghaften Versuch, seinen aufgebrachten Begleiter zu beruhigen.

Dieser wähnte sich gerade damit beschäftigt, in sein Handy zu brüllen, welches ihm schon seit über einer halben Stunde an der linken Backe festklebte. Gerade erlitt er wieder einen neuen infernalischen Schreikrampf.

"JETZT REICHT'S MIR ABER, JUSTIN!!! Was soll das heißen, wir sind raus aus dem Fall?!!"

Am anderen Ende der Leitung murmelte es. Die meisten Leute, die an ihnen vorbeiliefen, blickten verlegen in eine andere Richtung.

Yukito jedoch merkte auf, denn die letzten Worte seines Freundes hatten ihn neugierig gemacht.

Wenn Toya 'Justin' sagte, dann konnte es sich nur um seinen Partnerkommissar handeln, Justin Derrick Fullright. Das Amt des obersten Kommissars unterlag in Kingstonville dem Gesetz der Kollegialität- es musste immer zwei oberste Kommissare geben, die sich gegenseitig unterstützten, aber dem anderen gleichzeitig auch auf die Finger schauten.

Und die Zusammenarbeit zwischen Toya und Justin war bisher- von Toyas regelmäßigen arbeitsneurotischen Anfällen mal abgesehen- relativ reibungslos verlaufen, warum also dieser grobe Ton?

Da konnte doch etwas nicht stimmen.

"... Was?!", bellte der Kommissar soeben und gestikulierte in seiner Wut so heftig, dass er Yukito um ein Haar die Brille von der Nase gefegt hätte, "Hör zu, es kümmert mich einen Scheißdreck, was Mister Schaufensterblondine Joshua O'Connor sagt, kapiert?!! Sag mal, bist du neuerdings schwul, dass du dich ständig so von ihm fertigmachen lässt?!!"

Ah ja. Stichwort schwul. Was wohl aus diesem schwarzhaarigen Grobian und seinem blonden Kumpel geworden war?

Ob sie mittlerweile den Kerl gefunden hatten, der ihr Haus angezündet hatte?

"Jetzt krieg das doch nicht wieder in den falschen Ha--... WAS?!! He, weißt du was?? Du kannst mich mal kreuzweise, ja, du und alle anderen, die ein Problem haben mit Toya Kinomoto-... JA, DU MICH AUCH!!"

Mit einer Mischung aus Schnauben und Knurren beendete Toya das Gespräch. Yukito blinzelte und nahm die schwere Einkaufstüte ein Stück weit herunter, um einen zaghaften Blick auf die hochrote Visage seines Kumpels erhaschen zu können.

"Ahemm-... darf man sich erkundigen, was los war? Wieso hat dich Justin angerufen?"

"Du wirst mir nicht glauben, wenn ich es dir erzähle!"

"Versuch's einfach. Red am besten Klartext, mehr brauche ich nicht. Jedenfalls nicht nach einem Jahr mit Johansen."

Der junge Kommissar stieß ein Stöhnen aus.

"Du willst also Klartext? Okay. Justin hat mich angerufen, um mir zu sagen, dass Pantoliano unserer Abteilung die Zuständigkeit für unseren aktuellen Fall entzogen hat."

Schweigen. Der junge Mann mit der Brille wurde blass wie eine Kiste Runkelrüben.

"W-was?? Du meinst doch wohl nicht-..."

"Doch, genau das meine ich. Diese Serienmorde, darunter auch die Fälle Yamazawa, Navras und Delnatte. Einfach entzogen. Aus. Futschikato. Justin hat vor einer halben Stunde einen Anruf von diesem Joshua O'Connor erhalten."

"O'Connor? Ist das nicht der im Dezernat zuständige Ministerialrat? Und was hat er gesagt?"

"Er hat gesagt, dass Pantoliano uns kaltgestellt hat. Wir haben keine Genehmigung, weiter vorzugehen. Ende Gelände."

"A-aber-... aber mit welcher Begründung?"

Toya stieß ein Knurren aus. "Mit einer Scheißbegründung! Er hat uns die Verantwortlichkeit entzogen, weil die ganze Affäre- ich zitiere- 'bereits politische Ausmaße angenommen hat, und es wohl nicht mehr zu erwarten steht, dass die städtische Kriminalpolizei allein mit den aktuell vorherrschenden Umständen fertig wird'! Manchmal könnte ich diesem snobistischen Lackaffen die Fresse polieren, dass er nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist!"

Yukito senkte den Blick. Man konnte ihm förmlich ansehen, wie die Rädchen hinter seiner Stirn rotierten.

"Das macht doch alles keinen Sinn!", sagte er schließlich, "Wenn die ganze Sache schon politische Züge angenommen hat, sollte Pantoliano doch erst recht alle Leute zu Rate ziehen, die er kriegen kann! Wieso entzieht er uns dann einfach die Zuständigkeit? Wir waren doch schon so in dem Fall drin!"

"Er scheint wohl zu glauben, dass seine 'Spezialeinheiten' dem eher gewachsen sind", grollte Toya, und es war nicht schwer, ihm anzusehen, was er selbst über diese Spezialeinheiten dachte, "Das ist doch schon mehr als nur dubios! In letzter Zeit will mir dieser Kerl mit seinen Methoden einfach nicht mehr schmecken!"

Yukito seufzte. "... Und-... und was schlägst du vor? Was sollen wir jetzt machen?"

Diese Frage hasste er fast noch mehr als Johansens Salatsandwich-Sucht. Aber im Moment war sie leider unausweichlich.

Toya blieb auf dem Gehweg stehen und rieb sich gründlich die Nase- bei ihm immer das ultimative Anzeichen für einen langwierigen, tiefschürfenden Denkprozess.

Sein Freund sah ihn über die Chinakohlstangen hinweg, die aus seiner Einkaufstüte ragten, zweifelnd an.

"Soweit ich das sehe, haben wir genau zwei Optionen", meinte der Kommissar schließlich ernst.

"Die da wären?"

"Also. Option eins: wir bewähren uns als gewissenhafte, tugendliche Bürger und tun einfach das, was man von uns verlangt. Wir akzeptieren, dass man unsere Abteilung ohne jede Vorwarnung aus dem Verkehr gezogen hat, wir hocken uns auf unsere verständnisvollen Hinterteile, sehen zu, wie die wirklich harten Jungs diese Angelegenheit regeln, und warten dabei brav auf den nächsten Fall, den wir gnädigerweise von Mister Schleimkopf Pantoliano zugewiesen bekommen."

Trotz dem Ernst der Lage konnte sich Yukito ein Grinsen nicht verkneifen.

"So? Und die zweite Option?"

Toya fasste sein jüngeres Gegenüber sarkastisch ins Auge.

"Die zweite Option ist im Grunde nur eine Variation der ersten. Wir bewähren uns ebenfalls als gewissenhafte, tugendliche Bürger- aber nicht, indem wir einfach demutsvoll beiseite treten und zusehen, wie sich ein Haufen kommerzgeiler Aasgeier über das hermacht, was wir uns bereits erarbeitet haben. Wir bewähren uns, indem wir weitermachen. Wir suchen uns eine kleine, aber schlagkräftige Truppe unserer besten Leute zusammen, verschwinden dann ins Abseits und tun das, was wirklich gewissenhafte, tugendliche Bürger tun. Wir klären diesen verdammten Fall auf, Yukito. Wir finden den Mörder und bringen ihn hinter Gitter, so wie es sich gehört. Und kein Bürosesselfurzer dieser Welt kann uns das verbieten."

Schweigen.

"Toya, eines Tages wird mich dein Gerechtigkeitssinn noch den Job kosten!"

"Was denn? Ich habe dir doch nur die Möglichkeiten genannt, die wir haben!"

"Naja, weißt du... irgendwo in den Windungen meines Hirns flüstert mir gerade eine ganz und gar abwegige Eingebung unablässig zu, dass du eher dafür wärst, die zweite Option zu nehmen."

"Die Windungen deines Hirns haben mich noch nie enttäuscht, Yukito", lautete die ruhige Antwort, "Ich wäre ehrlich gesagt sogar kolossal beruhigt, wenn du mich auf diesem Weg begleiten würdest."

Der bebrillte junge Mann stieß ein nervenschwaches Seufzen aus.

"Bleibt mir denn eine andere Wahl, wenn du mich schon so fragst? Du weißt doch, dass ich hinter dir stehe, auch wenn ich deswegen schon häufiger fast massakriert worden wäre! Mir geht's bei dieser ganzen Geschichte doch fast genauso wie dir!"

In den dunkelblauen Augen funkelte es auf.

"Eben. Ein Fall, in den fast alle Reichen, Superreichen, Politiker, Pokerkönige und anderen bedeutenden Oberfuzzis dieser Stadt verwickelt sind- und bei dem uns plötzlich ohne zu fragen die Verantwortung entzogen wird, mit einer Begründung, die bei den Haaren herbeigezogen ist! Du musst zugeben, dass die Sache stinkt, oder?"

"Fast noch schlimmer als Johansens Haarbrillantine."

Toya grinste. "Johansen sollten wir ebenfalls überzeugen. Du und er seid im Team eben unschlagbar, auch wenn's dieser olle Saftsack nie zugeben will. Und dann sollten wir uns noch einige Outer Detectives suchen, die mit ihren Untersuchungen nach außen gerichtet sind und nur wenig interne Unterstützung benötigen."

Yukito sah sich ein wenig nervös um, ob sie eventuell beobachtet wurden. Da war es wieder, dieses alte Prickeln im Nacken, wenn Toya und er etwas unternahmen, das gegen die Vorschriften war.

"Verstehe", sagte er schließlich, "Und wo soll dieses 'Abseits' sein, in das wir verschwinden sollen? Bei Justin und der übrigen Aufklärungseinheit werden wir sicher nicht auf Verständnis stoßen, wenn wir die Zentrale unserer kriminalistischen Verschwörung in dein Büro verlegen! Dir ist ja wohl klar, dass wir total abtauchen müssen, wenn wir das durchziehen wollen?"

Wieder begann der Kommissar seine Nase zu malträtieren.

"Hmnh. Es müsste ein Ort sein, auf den man nicht so schnell kommt. Ein Platz, der etwas weiter vom Revier entfernt ist, und an dem genug Zivilisten leben, um die nötige Diskretion zu schaffen, und... sag mal, hörst du mir noch zu?"

Yukito schreckte hoch und riss seinen Blick von der Konditorei los, zu der er bis eben rübergestarrt hatte.

" 'tschuldigung. Ich-... es ist nur..."

Der Kommissar ächzte.

"Ist schon gut. Wir sollten etwas essen. Aber, ähh-... bist du dir sicher, dass du da rein willst?"

Mit diesen Worten nickte er skeptisch zu dem Laden, den sein Kumpel ins Auge gefasst hatte. Garden of Goodies sagte das vom Schnee halb überdeckte Schild überhalb der Tür.

"Wieso, was soll damit sein?"

"Naja, sieht nicht wirklich Vertrauen erweckend aus... gehen wir doch lieber ins Jardin D'Hiver oder sonst wohin, dort können wir sicher besser reden-..."

"Also, du immer mit deiner ewigen Paranoia! Ich wette, dort drin bekommt man genauso Kuchen wie in jeder anderen Konditorei!"

"Was?!! Kuchen zum Frühstück?! Bist du Bridget Jones oder was??"

"Bei Bridget Jones heißt es erstens Schokolade zum Frühstück, und zweitens ist das immerhin besser als nichts!", erklärte Yukito, bevor er den misstrauischen Kommissar kurzerhand am Arm packte und mitschleifte, "Also komm jetzt!"

"H-hey, tu das besser nicht, der Laden sieht doch aus wie die letzte Bumskneipe in Kingstonville--...", brachte Toya noch einmal hektisch seine Zweifel an, während sein Kumpel bereits zielstrebig auf die Tür zumarschierte.

"Solange man da drin Kuchen bekommt, kann es von mir aus auch eine Bumskneipe sein!"

Die Hand streckte sich nach dem Türgriff aus, doch bevor sie sie öffnen konnte, flog die Tür auf einmal mit solch einer Wucht auf, dass sie schier aus den Angeln gehoben wurde. KA-WUMMM.

"WAARRGH!!", brüllte der junge Gerichtsmediziner, als er ohne jede Vorwarnung gegen etwas Zausiges, Dürres prallte und zurückgerissen wurde, sodass er Hals über Kopf über seinen Freund stolperte.

Mit Getöse kamen die beiden auf dem Gehweg vor dem Garden of Goodies auf, sodass sämtliche Passanten entgeistert zurückwichen.

"Unngh-... w-was zum-...", ächzte Toya mit einem Gefühl, als müsse sein Schädel jeden Moment unter Yukitos Gewicht zerbersten, und rollte sich mühsam herum, um zu sehen, was sie da umgeworfen hatte.

Als er nach oben sah, starrte ein Paar weit aufgerissener, angstvoll eisblau flackernder Augen zurück.

"... Sie??", stieß Yukito entgeistert hervor, als er den schlaksigen Blondling, der zitternd über ihnen stand, wieder erkannte.

Er trug eine helle Schürze und keuchte, als müsste er sich jeden Moment übergeben. Seine hellen Hände bebten.

"Ich hab's getan", flüsterte er panisch.

"Was haben Sie getan?!"

"Ich, ich-... ich hab meinen Chef umgebracht!"
 

Das ergab keinen Sinn.

Nein, das war sogar äußerst unlogisch. Zum Kotzen unlogisch.

Entnervt knurrend richtete sich Kurogane von dem Schreibtisch auf, an dem er bisher gekauert war, und musterte stirnrunzelnd das Glas Orangensaft, das ihm wohl der Blondling hingestellt haben musste, bevor er zur Arbeit gegangen war.

Wenn das nur gutging. Ein Chef, der seinem Lehrling einfach mal so ein blaues Auge schlug, war sicher auch zu mehr imstande.

Mit einem Seufzen gab der Schwarzhaarige es auf, sich darüber Gedanken zu machen, und trank den Orangensaft aus, bevor er sich wieder seinen Unterlagen widmete, über denen er schon den ganzen Morgen vergeblich gebrütet hatte.

Irgendwie war sein ganzes Berufsleben in letzter Zeit nur noch ein einziger, riesiger Misthaufen- das war ihm in dem Moment, da er die Liste mit dem Inventar des Archivs in Augenschein genommen hatte, endgültig klar geworden.

Bis auf einen einzigen verdammten Gegenstand war nichts entwendet worden.

Welcher Knallkopf von Dieb brach in ein Regierungsgebäude ein, um etwas nahezu Wertloses zu klauen?

Und wieso stand bei diesem Ding nicht dabei, bei welchem Fall es aufgegriffen worden war?

Bei allen anderen Gegenständen war zumindest ein Aktenkürzel verzeichnet, mit dessen Hilfe man herausfinden konnte, wann und wo das betreffende Beweisstück eingesackt worden war. Aber bei diesem einen verdammten Ding war die Zeile leer.

Als er sich bei O'Connor danach erkundigt hatte, hatte dieser nur irgendetwas von wegen 'Akte unter Verschluss' gestammelt.

Die Sache stinkt bis zum Himmel.

Kurogane merkte in seinen Überlegungen auf, als er Schritte auf der Treppe hörte. Sakuras Stimme rief von unten herauf.

"Kurogane-saaaahaaaaan!"

"Was gibt's?", rief er zurück, nachdem er seine Zimmertür geöffnet hatte.

"Telefon für dich! Fye-san ist dran!"

Oh Gott, was kam da jetzt wieder auf ihn zu?

Kuro-kuro, mein Chef hat mich gemordgetötet. Ich will gern blaue Elefäntchen auf meinem Grabstein!

Dennoch leicht beunruhigt erhob sich der Schwarzhaarige und polterte seufzend die altersschwache Treppe hinunter.

"Keine Schule?", erkundigte er sich bei Sakura, die ihm- noch im Pyjama und mit einer Kaffeetasse in der Hand- den Hörer anbot.

"Erst zur dritten Stunde, Shaolan und ich essen gerade. Hier, bitte."

Die Kleine verzog sich wieder in die rap-durchplärrte Küche, während Kurogane stirnrunzelnd den Anruf aufnahm.

"Hall--"

"Kuro-asango! Kuro-asango!! Oooooh, bin ich froh, dass du drangegangen bist!! Hör zu, es ist etwas passiert, etwas Unglaubliches, etwas nahezu Milliontastisches, etwas Gigantulö--..."

"Erzähl es mir doch einfach, anstatt hier auszuflippen", knurrte der Schwarzhaarige.

"Okay! Aaaaalso: mein Chef ist im Krankenhaus! Alkoholvergiftung! Er ist weg, kannst du dir das vorstellen??"

"Hat er versucht, dich zu schlagen?", erwiderte Kurogane ruhig. Die Stimme am anderen Ende der Leitung stockte kurz.

"Seit wann kümmert dich das?", gab sie schließlich zurück, diesmal wesentlich weniger begeistert.

"Dann hat er's also versucht."

"Also schön, er hat's versucht, okay? Ich hab gerade die Fensterscheiben geputzt, da ist er einfach auf mich losgegangen. Er war mal wieder stockbesoffen. Er-... hat mich gegen die Regale geworfen und wollte mich schlagen, aber-... aber ich habe ihn weggestoßen. Ich hab ihn so fest weggestoßen, wie ich konnte, und er ist umgefallen wie ein Sack. Ich dachte, er sei tot. Und-... u-und als ich das dachte, hab ich Angst bekommen und bin rausgerannt."

"Und dann?"

"Dann hab ich den Kommissar und den Gerichtsmediziner wieder getroffen. Toya Kinomoto und Yukito Tsukishiro, du weißt schon, die beiden Typen vom Brand. Sie haben mir geholfen, Mayonès ins Krankenhaus zu schaffen. Ach ja, und einen Zeugenbericht haben sie mir auch abgenommen. Ich telefoniere gerade mit Kinomoto-sans Handy!"

"Ist ja reizend. Und was ist jetzt das Milliontastische und Gigantulöse daran?"

"Das kommt ja jetzt!", kündigte der Blondling erwartungsvoll an, "Es ist nämlich so: als ich Kinomoto-san erzählt habe, dass Mayonès mich öfter als einmal verprügelt hat, hat er gesagt, ich könnte eine Anzeige wegen Tätlichkeit und schwerer Körperverletzung gegen ihn erheben. Das hab ich gemacht. Dann hat er erklärt, dass es nach dieser Anzeige für Mayonès nicht mehr nur bei einem Krankenhausaufenthalt bleiben wird. Für eine Haftstrafe reicht's zwar nicht, aber für einen Therapierungsbefehl!"

Kurogane merkte auf. "Du meinst, er wird in eine Therapierungsanstalt gesteckt?"

"Jaaaa! Und jetzt kommt das Allerbeste: ich hab von Mayonès vor einem Jahr einen Gesellenbrief ausgestellt bekommen- zwar nur, weil er sonst Schwierigkeiten mit den Behörden gekriegt hätte, aber immerhin hat er's getan- und diese Schrift berechtigt mich, bei längerem oder völligem Ausfallen meines Vorgesetzten sein Amt zu übernehmen!"

"Und das bedeutet?"

"Das bedeutet, dass der Garden of Goodies ab heute offiziell mir gehört!"

Fye hielt inne, um das Gesagte sacken zu lassen. Und es sackte in der Tat.

"Oh", sagte Kurogane.

"Ist das nicht wundervoll, Kuro-ron?", entzückte sich der Blondling, "Jetzt hab ich-... jetzt haben wir endlich etwas, das uns Selbstständigkeit geben wird! Es gibt fast nichts, das ich mir sehnlicher gewünscht habe! Stell dir das nur vor, du, Sakura-chan, Shaolan-kun und ich sind jetzt Besitzer einer Konditorei! Einer echten Konditorei!! Oooh, ich werde ganz viele neue Kuchen erfinden, und, und-... und ich werde endlich Kunden bedienen dürfen!"

"Oh", sagte Kurogane. Was bin ich heute wieder einfallsreich.

"Ja! Hey, weißt du was? Ich hab eine Idee! Heute ist doch das Vorlesen bei James und Soledad! Da kommen sicher auch viele von den anderen! Wir könnten alle fragen, ob sie uns helfen wollen, den Laden wieder in Schwung zu bringen! Wenn wir es schaffen, backe ich in der Küche von der Konditorei einen Kuchen. Und dann feiern wir eine Party!"

"Hmhn. Ja."

"Uff, das 'ja' gefällt mir aber mal gar nicht! Probier's nochmal, komm schon!"

"Ja. Jaha! Hijaaaaahaaa!!"

Der Blondling gluckste. "Mein Respekt! Erster Platz! Hey, wie wär's, wenn ich jetzt nach Hause komme und wir dann zu zweit das Mittagessen organisieren? Dabei können wir doch alles besprechen und so! Was wir machen könnten!"

Kaum zu glauben. Als hätte er das Glück auf Erden gefunden.

"Lass gut sein, ich hol dich ab."

"Waaas? Das würdest du echt tun? Du bist supertoll, Kuro-chin!"

"So, bin ich das", murmelte der Schwarzhaarige geistesabwesend.

Hijaaahaa, bist du! Also, dann bis gleich! Ich warte vorne am Schaufenster, ja?"

"Okay. Bis gleich."

Kurogane hängte den Hörer zurück auf die Gabel und musste erst einmal das tun, was er immer tat, wenn es Informationswellen zu verdauen galt- wie ein großer Granitklotz in der Gegend herumstehen.

Ein nachdenklicher Schleier zog sich vor seinen Augen zu. War er das gewesen, der da gerade angeboten hatte, diese lästige blonde Made abzuholen?

Wieviel das Glück wohl kostet? Den Preis einer Konditorei?

Er merkte überrascht auf, als er Shaolan und Sakura gebannt aus dem Türrahmen hängen sah.

Er wusste nicht wieso, aber irgendwie brachte ihn das zum Grinsen.

"Na, Vorstellung genossen?"
 

"Der Tag fing ja an", meinte Yukito stirnrunzelnd.

"Du sagst es", konstatierte Toya, während er den rostigen, dunkelblauen Zivilwagen aus seiner Parklücke befreite und Richtung Präsidium losfuhr, "Als der schwarze Bärenbruder vorgefahren ist, ist dieser Flückiger rumgetanzt, als sei's der Messias."

"Bärenbruder? Deine Fantasien bekommen langsam einen exzessiven Touch."

"YUKITO!!"

Toya schnaubte. Er konnte es sich zwar nur unter den größten innerlichen Torturen eingestehen- aber dieser schwarzhaarige Riese hatte ihn schon wieder mit Bravour auf die Palme gebracht, ohne dafür auch nur einen Finger krümmen zu müssen.

Der kühle, beinahe verächtliche Blick dieser flammend roten Augen hatte sich in seinem Hinterkopf festgefressen.

Ich weiß etwas, was du nicht weißt, Bulle.

"... natürlich nie in Erwägung gezogen, dass du schwul bist, ich meine, du hattest immerhin mal eine Freundin..."

Was willst du dagegen tun?

"... macht mich total fertig. Hühnerfrikassee mit kleinen Nudeln, und Johansen sagt noch zu mir-...

Du bist ja nicht einmal in der Lage, deine Schwester wieder zu finden, nachdem sie ins Blaue geflüch-...

"TOYA!!!"

Mit einem Aufjapsen riss der Kommissar das Steuer herum, sodass einige Passanten auf dem Gehweg schrill quiekend zur Seite springen mussten, um nicht als mundgerechtes Kebapfleisch zu enden.

"Sag mal, spinnst du?!! Ich muss nachdenken!"

"Aber klar, nachdenken. Ich versuch mit dir zu reden, und du glotzt nur wie Homer Simpson, wenn er einen Donut frisst..."

Toya seufzte. "Ich würde mich wahrscheinlich zu Tode erschrecken, wenn ich mich mal durch deine Augen beobachten müsste!"

"Kann sein. Was wollen wir jetzt eigentlich machen?"

"Wir schnappen uns unseren Krempel und hauen ab", entschied der Kommissar, "Wir sollten uns nur noch im Präsidium zeigen, wenn's nötig ist. Und wir müssen uns mit Johansen vereinbaren. Was ist los, wieso so unproduktiv?"

Yukito rollte mit den Augen. " 'tschuldigung. Mein Hirn ist wohl noch überlastet von Flückigers Geschwätz."

"Hast ja Recht. Wie kann ein einzelner Mensch nur so viel quatschen? Ich meine, was interessiert es uns, dass er einen Coproduzenten kennt, der Kazuki Eishaki heißt?"

Der Blick des jungen Gerichtsmediziners bekam etwas Nachdenkliches.

"Der kennt einige Leute. Ich hätte schwören können, dass er am Telefon gesagt hat-... oder nein, wohl eher doch nicht."

Allein schon diese paar Worte- kombiniert mit Yukitos verdruckstem Tonfall- reichten, um Toyas Misstrauen zu wecken.

"Dass er was gesagt hat?"

"Unwichtig. Hab mich sicher verhört."

"Dass er was gesagt hat, Yukito Tsukishiro?!!"

Der bebrillte junge Mann seufzte. Mit dem war nicht zu verhandeln.

"... dass er gesagt hat 'Hallo, Sakura-chan, ich bin's. Ist Kuro-chii gerade daheim?' "

Rumms. Wie ein herabstürzender Felsen brach Schweigen über die beiden Kollegen herein.

Als Yukito fragend den Blick hob, waren Toyas Augen starr wie die Schlafaugen einer Puppe.

"Toya... ? Alles klar bei dir? Mal ganz ehrlich, du bist komisch drauf he-...RAAAAAAAAH!!!"

Sein Gemotze endete abrupt in einem entgeisterten Schrei, als sein langjähriger Kumpel ohne ein weiteres Wort das Steuer herumriss, sodass der Wagen einen hysterischen Satz auf dem Asphalt vollführte, und mit kreischenden Reifen die genau entgegengesetzte Richtung einschlug. Die Richtung, in die auch der Blondling und sein schwarzhaariger Kumpel gefahren waren.

Yukito hatte Mühe, sich auf seinem Sitz zu halten. "Verdammt, Toya, was soll das?! Was machen wir hier?!"

"Du wirst schon sehen."

Grimmig drückte der Kommissar das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch.

Darum hatte dieser Blondschopf also so oft gefragt, ob er denn auch wirklich Kinomoto hieß.

Aus ist's mit Verstecki spielen, Schwesterherz.
 

"... und deswegen wird er jetzt auch in eine Therapie gesteckt."

"Und er kommt echt nicht zurück, Mann?"

"Die Oberschwester hat gemeint, um ihn trocken zu kriegen wird das wohl das Beste sein."

"Will dir diese blöde Schrappnelle etwa unterstellen, dass du der Grund für seinen Dauersuff gewesen wärst?!"

"Aber nein, Shaolan-kun. Ich hab sie gefragt, sie hat geantwortet. Und Ende des Romans."

"Ihr kommt vom Thema ab", stellte Kurogane angesäuert fest, "Du solltest langsam mal erklären, wie du dir das vorstellst."

"Wie ich mir was vorstelle?"

"Idiot!"

"Seht ihr, wie fies und gemein er zu mir ist?", wandte sich Fye jammernd an seine jugendlichen Mitbewohner.

"Schon gut, schon gut, Entschuldigung! Ich meinte: wie stellst du dir das vor, diese Bruchbude von Süßigkeitenladen wieder auf Vordermann zu bringen, ohne dass es das gesamte Almosen von diesem Filmfritzen verschlingt?"

"Wieviel hat Eishaki-san überhaupt springen lassen?", erkundigte sich Sakura.

"Sechs Fünfhunderter und 'n paar zerquetschte."

"Das reicht doch tausendmal!"

"Nicht bei dieser Bruchbude."

"Ich hab's doch schon beim Essen erklärt: wir fragen die anderen, ob sie uns helfen! Von den anderen können fast alle ganz toll Kuchen und Plätzchen backen! Und ich hab auch noch massensweise Zeugs bei uns im Keller rumstehen!"

"Wie in Herrgottsnamen soll man ein Geschäft weiterführen, in dem auch schon vorher kein Schwein was kaufen wollte?"

Zweifellos wäre das Ganze wohl in etwas ausgeartet, das man getrost als Streit bezeichnen konnte- doch in diesem Moment ging die Küchentür auf, und James und Soledad retteten die Situation.

"Na Leute, alles klar? Habt ihr's auch bequem?"

"Da fragst du noch?", fragte Fye fröhlich und räkelte sich demonstrativ auf der Armlehne des Sessels. Vor etwa einer halben Stunde waren sie zu dem geplanten Vorlesen im Haus der beiden illegalen Einwanderer erschienen und hatten es sich im Wohnzimmer bequem gemacht, das vielmehr als eine Art Sessel-, Kissen- und Matratzenflut zu betrachten war.

Es waren auch schon andere Gäste gekommen, und in der Diele war immer wieder das Geräusch der aufgehenden Eingangstür zu hören. Wohlgemut begrüßten Fye, Sakura und Shaolan jeden, der ihnen bekannt war, und das waren eigentlich alle.

"Heeeh, Claire! Na, alles fit? Wie geht's Kyle?"

"Ach, du Frechdachs!"

"Mister und Missis Robinson!"

"Mr. Cortez, darf ich Ihnen meinen neuen Mitbewohner vorstellen?"

"... nächste Woche schon etwas vor, Jimmy?"

"Sieh mal, Patrick, das ist Kurogane!"

Seufzend wartete Kurogane, bis die Begrüßungs- und Vorstellorgie halbwegs abgeebbt war. Wenn die drei in ihrem Element waren, konnte man wohl bis zum Sankt Nimmerleins-Tag Däumchen drehen.

"Und das stellst du dir so einfach vor?", knurrte er schließlich und schlug auf seinem Sessel ein Bein über das andere.

"Na, wieso nicht? Ich meine, wir haben schon ganz andere Sachen geschafft. Und wieso willst du ausgerechnet jetzt darüber reden? Das Vorlesen geht gleich los!"

"Ich interessiere mich nicht für-..."

Das Keifen des Schwarzhaarigen wurde von James unterbrochen, der in der Küche jetzt endgültig fertig zu sein schien.

"Okay, aaaalso!", ergriff der junge Brünette erwartungsvoll das Wort, nachdem auch der letzte Zuhörer auf dem Sofa, den Sesseln oder der Schlichtheit halber einfach auf dem Fußboden Platz genommen hatte, "Dann möchte ich euch alle zu unserem neusten Vorlesen aus philosophischen Schriften begrüßen! Soledad und ich freuen uns, dass wieder so viele gekommen sind!"

Applaus wurde gespendet, während Soledad für ihren Freund die richtigen Seiten in dem Buch suchte, aus dem vorgelesen werden sollte. Um die Pause zu überbrücken, gab der junge, kastanienfarben beschopfte Mann einige Erklärungen dazu ab.

"Wie ihr vielleicht schon gehört habt, ist heute das Buch Der Traum des Propheten von Khalil Gibran dran! Er hat Philosophie und Theologie studiert, das hat Soledad im Internet rausgefunden, und er gilt als ein guter Überbrücker zwischen östlichem und westlichem Verständnis von Religion und moralischen Werten!"

Interessiertes Raunen vonseiten der Zuhörer. Kurogane jedoch hatte das Gefühl, jeden Moment ins Koma fallen zu müssen. Er schielte zu Fye, der zu seiner Rechten auf dem gepolsterten Armteil des Fernsehsessels saß.

Er strahlte mal wieder wie ein mit Butter eingeschmierter Smaragd. War ein Mensch, der sich für alles begeisterte, biologisch überhaupt möglich? Gut getarnt durch das leise, summende Stimmengewirr von den Zuhörern versuchte der Schwarzhaarige, seinen Mitbewohner auf sich aufmerksam zu machen.

"Hey-... hey!"

Keine Reaktion. Die hellblauen Augen hingen so gebannt an James und Soledad, die immer noch in dem Buch herumblätterten, als würde sich dort vorne gerade Jesus persönlich offenbaren.

"Pssst... kuckuck!", zischte Kurogane, wobei er sich ziemlich dämlich vorkam. Als immer noch keine Antwort kam, stieß er dem Blondschopf einen Ellenbogen in die Seite, sodass er nach Luft schnappen musste.

"Was-... ist denn?"

"Sollen wir uns dieses philosophische Rumgeschnarche wirklich anhören?"

"Also wirklich, Kuro-pyon!", sagte der Blondling ganz empört, "Ich weiß gar nicht, was du dagegen hast! Philosophie ist praktisch, manchmal hilft das einem sogar! Und auf dieses 'Rumgeschnarche' muss man überhaupt erst mal kommen!"

"Ich hab dir doch schon beim Essen gesagt, dass ich nicht an so einen Schwachsinn glaube..."

"Vielleicht glaubst du daran, wenn das Vorlesen zuende ist! Schon mal so betrachtet?"

"Das bezweifle ich."

"Schieb deine Zweifel für eine halbe Stunde zur Seite. Vielleicht lohnt es sich ja, hmh?"

Mittlerweile völlig am Ende seiner Nerven wollte der Schwarzhaarige seinem Mitbewohner in Form einer nicht ganz stubenreinen Schimpfsuada klarmachen, dass er nichts von solchem Kram hielt, doch James schien nun endlich die richtige Stelle in dem Buch gefunden zu haben.

"Wir haben uns", verkündete er bedeutungsvoll, "Für das Kapitel in dem Buch entschieden, das wir am schönsten fanden. Es heißt Die weiße Flamme, und Khalil Gibran beschreibt darin seine einzigartige Beziehung zu einer Frau, die Salma Karama heißt."

Die Zuhörer richteten sich gespannt in ihren Sitzen auf. Soledad übernahm den Anfang.

"Die Frau, der die Götter zu einem lieblichen Körper eine schöne Seele gewähren, ist auffällig und geheimnisvoll zugleich", begann sie mit ruhiger Stimme vorzulesen, "Wir verstehen sie durch Liebe und rühren sie mit Reinheit an. Wenn wir versuchen..."

Kurogane stieß innerlich ein abgrundtiefes Seufzen aus und ließ sich im Sessel nach hinten sinken.

Na toll. Mit so einem Schmus war er das letzte Mal konfrontiert worden, als er einen Zeitungsartikel über eine Sekte gelesen hatte, die die Brustwarzen von Orang-Utans als das Höchste der Sinnlichkeit verehrten. Dabei hatte er genug zu tun.

Nachdenklich starrte Kurogane die gegenüberliegende Wand an. In seiner Langeweile begannen seine Gedanken zu wandern.

Manchmal ließ sein Bewusstsein einige wenige Fetzen dessen zu ihm durch, was James vorlas.

"Die Schönheit in Salmas Angesicht entsprach keinem menschlichen Kanon von Schönheit. Sie hatte vielmehr etwas Unheimliches, wie ein Traumgebilde, eine Vision oder ein erhabener Gedanke- unvergleich und unerklärlich..."

Was für eine Sülze. Er hatte also doch Recht gehabt, dieses philosophische Zeugs war einfach nichts für ihn.

Jetzt hätte er schon längst wieder im Haus sein und weiter an diesem verdammten Fall arbeiten können- er hatte ihn im wahrsten Sinn des Wortes satt, er fühlte sich von ihm belastet, er wollte ihn nicht mehr.

Außerdem stank die Sache. Pantoliano musste mehr schmutzige Geheimnisse und Leichen im Keller haben als alle Präsidenten und Außenminister dieser Welt zusammen. Er hatte es zwar geschafft, die Polizei von seinen finanziellen und politischen Plänen abzukoppeln, indem er ihnen einfach die Ermittlungserlaubnis für seine Serienmorde entzogen hatte- doch auf der anderen Seite war da allerdings noch diese paranoide Witzfigur, die sich oberster Kommissar von Kingstonville schimpfte- Toya Kinomoto.

Eindeutig ein Risikofaktor, den man nicht ignorieren durfte. Seinen Kollegen Justin Derrick Fullright hatte Pantoliano zwar schon seit Jahren im Würgegriff und ließ ihn nun wahllos nach seiner Pfeife tanzen wie ein Puppenspieler seinen Pinocchio- doch bei diesem Kinomoto hatte er sich vergeblich bemüht.

Denn Kinomoto war eine Made.

Eine freche, gefräßige, gewitzte Made, die so lange bohrte und biss und wühlte, bis sie in den Kern des verrotteten Apfels vorgedrungen war. Kurogane hatte ihn nicht lange beobachten müssen, um das festzustellen, und es kümmerte ihn auch nicht.

Aber das Unvorteilhafte an Maden war, dass sie so beharrlich waren.

Während die anderen nur hilflos auf der Oberfläche umherkrabbelten, suchte sich die Made gezielt eine faulige Stelle in der Apfelhaut und fraß sich ihren Weg nach innen, bevor man sie von dem Apfel wegzupfen und totquetschen konnte.

Doch die Made war auch einsam. Einsam in ihrer Fresswut und ihrem unerbittlichen Starrsinn.

Er wusste, wie es war, eine Made zu sein- er war selbst eine gewesen. Doch ihn hatte man aus dem Apfelfleisch ans grimmige Tageslicht hinaufgefischt und totgequetscht, bevor er sich weit genug vorangefressen hatte.

Weit genug, um endlich den Teufel auszutreiben, der schon seit fünfzehn Jahren in seinem Nacken saß und ihm die Sporen gab.

"... nicht in ihren großen Augen, sondern in dem Licht, das von ihnen ausging, nicht von ihren rosigen Lippen, sondern in dem Nektar, der über sie floss, nicht in ihrem Elfenbeinhals..."

Der Schwarzhaarige knurrte. Seine Augen flackerten misstrauisch zu seinem Sitznachbarn, der Soledads verkitschtem Geschwätz mit solch verzückter Aufmerksamkeit lauschte, als wäre es das Wort Gottes.

Das nächste Mysterium, das sich ihm aufs Gemüt drückte wie ein Sack voller Wackersteine- dieser Blondschopf.

Wenn er aus jemandem nicht schlau wurde, dann aus ihm.

Diese Sakura und ihr kleiner Freund Shaolan waren da völlig anders- sie waren eben Teenager, er konnte ihre Gedankengänge ohne große Mühe einordnen, sie gaben ihm durch ihre Berechenbarkeit ein Gefühl der Routine- aber wenn er seinem stets lächelnden Gastgeber in die Augen sah und in seinem Gesicht zu lesen versuchte, war da immer etwas, das ihn stutzig machte.

Denn ihm wurde jedes Mal auf verwirrende Weise klar, dass nicht nur er es war, der da schaute.

Jemand schaute zurück. Und beobachtete.

Es machte ihn rasend vor Wut, denn er fühlte sich von Fye durchdrungen und durchschaut.

Es verwirrte ihn, weil er sich einfach nicht erklären konnte, wie er das machte.

Es erweckte etwas in ihm. Enttarne mich. Leg mich bloß. Ich will endlich verstanden werden.

Bei diesem unerwartet impulsiven Wunsch musste Kurogane unwillkürlich schwer schlucken. Hastig lenkte er seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit wieder auf den Philosophenkitsch, um sich abzulenken.

"Das eine Merkmal, das Salmas ganzes Wesen bestimmte, war ein tiefer, verzehrender Kummer. Sie trug ihre Traurigkeit wie ein geistiges Siegel, das ihres Leibes Reize nur umso quälender und rührender machte. Die Strahlen ihrer Seele leuchteten hinter diesem Gespinst von Leid hervor wie ein blühender Baum, der sich hinter dem Morgendunst emporreckt..."

Der Schwarzhaarige stutzte. Falsch. Da stimmt was nicht.

Aber was stimmte nicht? Der Name. Sag nicht Salma, sag Fye. Der Rest ist richtig.

Augenblicklich verdammte er sich für seine täppischen Gedankengänge. Augenblicklich gab er sich selber Recht.

Es war wahr. Es hatte ihn gequält, den Kummer in den Augen des Blonden zu beobachten.

Es hatte ihn gequält, so entblößt und hässlich vor ihm dazustehen.

"Und du müsstest aufhören zu morden."

Er hatte sich seltsam nackt gefühlt, als Fye das zu ihm gesagt hatte. Nackt und hässlich.

Um so mühelos zu erkennen, dass jemand ein Mörder war, musste dieser Kerl selbst jahrelang mit Mördern zu tun gehabt haben.

... Oder selbst einer gewesen sein.

Es hatte ihn ganz einfach meschugge gemacht, dass der blonde Schlacks all seine Gedanken so verbohrt unter Verschluss hielt- wie eine Schnecke, die sich beinahe schon reflexhaft in ihr winziges, feuchtkaltes Häuschen zurückzog, wenn man sie anstupste.

Und doch hatte er den Blick nicht abwenden können.

Er hatte sich bewusst diesem Schmerz ausgesetzt, hatte das niedergedrückte Funkeln in den eisblauen Iriden beobachtet.

Aber warum hatte er das? Interessierte ihn der Kummer des Kerls wirklich so derartig?

"... Der Kummer schuf etwas Verbindendes zwischen Salma und mir, denn wir sahen ein jeder in des anderen Miene, was unser eigenes Herz empfand, und hörten in des anderen Stimme ein Echo der Geheimnisse, die unsere Brust jeweils umschlossen hielt..."

Kurogane schluckte schwer. Es war etwas an diesen Worten, das sein Herz schwirren ließ wie ein riesiges Gummiband.

Die Leute murmelten anerkennend. Er warf einen verwirrten Blick zu seinem Sitznachbarn.

Hat er auch bemerkt... ?

Sein Magen lag ihm schwer im Leib, der sich auf einmal seltsam warm und füllig anfühlte, als ob er gerade etwas Warmes getrunken hätte. Blinzelnd richtete er seine Aufmerksamkeit auf James' ruhig den Text vortragende Stimme.

"... eine mutlose, gepeinigte Seele findet Frieden im Zusammensein mit einer anderen, die die gleichen Gefühle empfindet, gleichwie zwei Verbannte in einem fremden Land Freude an des anderen Gesellschaft haben. Herzen, die der Schmerz der Verzweiflung zusammengeführt hat, kann das funkelnde Katzengold der Munterkeit niemals einander entfremden, denn die Bande des Kummers sind stärker als die Fesseln des Glücks und der Freude. Die Liebe, die die Augen mit ihren Tränen reinwäscht, bleibt lauter, schön und unsterblich..."

Kurogane zuckte. Irgendetwas in ihm regte sich.

Doch es schien sich nicht entscheiden zu können, ob es sich schmerzvoll zusammenziehen, oder-... oder weiten sollte.

Er wusste es beim besten Willen nicht, und er kam mit seinen Gedanken auch nicht sonderlich weit, als er plötzlich spürte, wie sich eine unvermutete Wärme über sein Handgelenk legte. Schnell warf er einen Blick nach unten.

Es war Fyes Hand.

Seine hellhäutigen, schmalgliedrigen Finger hatten sich sehr behutsam, beinahe scheu um sein linkes Handgelenk gelegt- und strichen nun langsam daran nach unten. Richtung Handrücken.

Augenblicklich ballte es sich heiß in seinem Magen, und er fühlte, dass sich seine Finger zur Faust schlossen.

Doch er entriss sie ihm nicht.

Argwöhnisch starrte er seinen Mitbewohner von der Seite an. Fye hielt seinen Blick weiterhin nach vorne gerichtet- seine Augen jedoch glänzten. Sanft und kaum bemerkbar, wie eine Welle aus Wärme, die von innen kam.

Sehr weiß sahen seine Finger auf seiner bronzefarbenen Haut aus, sehr weiß und hell.

Der Killer würgte nur mühsam seine Spucke hinunter.

"Schieb deine Zweifel für eine halbe Stunde zur Seite. Vielleicht lohnt es sich ja, hmh?"

Die flammend zinnoberroten Augen bekamen einen müden Ausdruck.

Ja. Vielleicht sollte ich das.

Langsam begannen sich seine Finger zu entspannen.
 

"Was sollte das?!!"

Überrascht wirbelte Fye zu ihm herum.

"Eh? Was sollte was?"

"Als ob du das nicht wüsstest!!", zischte Kurogane erbost und unterdrückte nur mühsam den Drang, seinen Stiefel in dieser blöden blonden Fresse zu versenken. Der frisch gebackene Konditor tat so, als müsste er angestrengt nachdenken.

"Ach so, daaas... wieso, hat's dich so sehr gestört?"

"Es reicht mir, wenn du mir endlich deine verdammten beschissenen Gründe dafür nennst!!"

"Vielleicht hatte ich ja keine verdammten beschissenen Gründe?", gluckste Fye fröhlich, "Vielleicht war es ja nur eine verdammte beschissene Laune, die mich dazu getrieben hat? Oder ein verdammter beschissener Reflexgriff?"

"ARGH!! Das sagt doch höchstens ein Ladendieb, wenn er an der Kasse mit was Geklautem erwischt wird!!"

"Alles in Ordnung bei euch?", erkundigte sich Shaolan, der soeben seinen Kopf zur Diele hereingesteckt hatte.

James und Soledad hatte die gesamte Truppe, die zum Vorlesen erschienen war, noch auf einen Tee eingeladen, doch Kurogane hatte seinen Mitbewohner sofort erbarmungslos in die Umkleide gezerrt, unter dem Vorwand, mal eben seine Stiefel putzen zu wollen.

"Nein, alles super!", schnaubte der Schwarzhaarige erbost, "Hebt mir 'nen Tee auf, ich muss ihn nur schnell abmurksen!"

"Du hast einen schwer wiegenden Berührungskomplex", stellte Fye schlicht fest, sodass Shaolans Gesicht eine Färbung annahm, die an ein rohes Beefsteak erinnerte, bevor er verständlicherweise sofort wieder aus dem Türrahmen verschwand.

"WAS?!! Ich-... ich habe keinen-... du blöder, blonder Affe!!"

"Unter anderem. Wahrscheinlich wäre ich ein durchgeknalltes kleines Äffchen und du wärst King Kong!"

"WARRRGH!!"

Der junge Mann lachte fröhlich und wartete geduldig, bis sich sein älteres Gegenüber wieder halbwegs beruhigt hatte.

Dann legte er den Kopf schief und sah ihm schmunzelnd ins Gesicht.

"Wo liegt eigentlich dein Problem, Kuro-wan? Ich meine, wo liegt es begraben?"

"Ich-...", stieß Kurogane zornig hervor, doch sein Herz pochte störrisch gegen seine Rippen und nahm ihm die zum Reden notwendige Luft, als Fye einige Schritte auf ihn zukam und aufmerksam zu ihm hochsah.

Schweigen. Der Raum zwischen ihnen war so still, dass man von drinnen das Klappern der Teetassen hören konnte.

"Ich habe etwas bemerkt", sagte er schließlich mit einem käferkleinen Lächeln, "In diesem Augenblick. Genau wie du. Und ich-... habe gesehen, dass du es auch bemerkt hattest. Ich fand das toll. Ich fand das so toll, dass ich mich an etwas festhalten musste."

Der Killer starrte seinen Mitbewohner wortlos an.

"Hätt's die Sessellehne denn nicht auch getan?!", motzte er schließlich. Na toll, plumper geht's wohl nicht.

"Nein", sagte Fye entschieden. Es war ein seltsames Nein. Ein Nein, das keine Widerrede zuließ.

Wieder Stille. Kurogane blinzelte, um die fiebrige Hitze von seinen Wangen zu vertreiben.

Sein Herz dröhnte in dieser Stille so laut, dass er jedes Pochen wie einen Hammerschlag an seinem inneren Ohr hörte.

Er konnte nichts tun, ums Verrecken nicht. Er konnte nur dastehen und Fye anglotzen.

"Es hat dich also doch zum Nachdenken gebracht?", fragte der Blondling leise, und um seine Mundwinkel kräuselte sich ein winziges Lächeln, "Ich hab auch nachgedacht. Und mir ist das wieder eingefallen, was du vorhin gesagt hast."

"Und was soll ich gesagt haben?"

"Das mit dem Weiterführen des Geschäfts. Dass es wahrscheinlich nichts bringen würde. Und da dachte ich mir..."

Der junge Mann hob mit leuchtenden Augen den Blick und sah ihn an.

"... Da dachte ich mir, wieso soll man ein Geschäft weiterführen, wenn-... naja, wenn man es auch neu eröffnen kann?"

Kurogane starrte ihn perplex an. Er wollte zwar schon zu einer Erwiderung anheben, jedoch schien Fye die Bestätigung bereits von seinem Gesicht abgelesen zu haben, denn er wirbelte fröhlich herum und rannte Richtung Küche.

"Leute, hört mal alle her!"
 

"Jaha! Wuhuuuh, das sieht super aus!"

"Gleich hast du's!"

"... Noch einen Tick weiter links! Noch ein Stück... noooch ein Stück... ja, so! Perfekt!"

"Habt- ihr'f- dann- bald- fertif?!!", fauchte Kurogane ungnädig zwischen einem Mund voller Nägel hervor.

Die Leiter, auf der er stand, ächzte bedrohlich, und er musste all seine Balancekünste aufbringen, um nicht runter zu fallen.

Übermütig händeklatschend sprang Fye auf der verschneiten Straße vor der ehemaligen Konditorei auf und ab.

"Ja, das ist es! Jetzt musst du's nur noch festnageln! Ist das nicht einfach klasse?", wandte er sich überglücklich an die anderen.

"Geilomatiko, Mann!", bestätigte Shaolan und legte der fröstelnden Sakura einen Arm um die Schultern.

"Der Anfang verspricht einiges, nicht wahr, Douglas?", meinte Missis Robinson gutmütig.

"Jawollja", brummte ihr Mann anerkennend, und Claire strahlte.

"Wenn wir dich nicht hätten, Soledad", grinste James. Soledad lächelte geschmeichelt.

"Naja, was tut man nicht alles für seine Nachbarn? Da ist ein Schild malen wohl das Mindeste."

Vor sich hingrummelnd schlug Kurogane den letzten Nagel ein und sprang schließlich von der Leiter, sodass man nun das brandneue Schild sehen konnte, das er anstelle der alten Garden of Goodies - Plakette angebracht hatte.

In großen, dunkelblau verschlungenen Lettern prangte dort nun auf geblümtem Grund der Schriftzug Café de la Paix.

"Das Café des Friedens?", übersetzte Claire staunend und warf Fye einen fröhlichen Blick zu, "Einfälle hast du!"

"Naja, wer hat nicht gerne seinen Frieden, wenn er 'nen Kaffee trinkt?", erwiderte der Blondling vergnügt, "Schon so betrachtet?"

"Soll das heißen, du funktionierst den Laden in ein Café um?", erkundigte sich Soledad neugierig.

"In eine Zwei-in-Eins-Mischung aus Café und Konditorei! Man kann Süßigkeiten kaufen und auch zum Kaffee bleiben!"

"Oder seine Süßigkeiten gleich zum Kaffee essen."

"Ganz genau!"

Kurogane kratzte sich stirnrunzelnd am Hinterkopf, nachdem er den Hammer auf das Autodach abgelegt hatte.

"Das wird ein ganzes Stück Arbeit."

"Allerdings! Hey, dann sollten wir vielleicht gleich anfangen?", schlug Fye aufgeregt vor.

"Ja! Wir könnten ja zuerst die Bude aufräumen und auf Vordermann bringen, und dann..."

"... Backen wir, Mann!", begeisterte sich Shaolan, "Soviel, bis der Ranzen spannt!"

"Jaaa! Mitternachtsbacken! Wir alle! Heute nacht wird nicht geschlafen!"

"Wurde auch höchste Zeit, dass du uns mal ein paar Kniffe beibringst, Fye-kun!"

"Douglas kann ganz wunderbare Pfefferkuchen machen!"

"Marjory!!"

"Ist doch wahr?"

"Wir können zu uns gehen! Wir haben genug Platz in der Küche, und im Keller haben wir noch ganz viel Zeug herumstehen!", trällerte Fye überglücklich, beide Wangen gerötet in Vorfreude, "Und morgen früh bestücken wir den Laden!"

"Super! Ich hab noch einige alte Kaffeemaschinen..."

"... und das Besteck kriegen wir auch allemal zusammen! Das ist zu schaffen!"

"Ooooh, ooooh, ooooh!!"

"Pass auf, jetzt kratzt er uns ab vor Freude", kicherte Shaolan und klopfte dem glucksenden Fye auf die Schulter.

"Das wär's wert!", lachte dieser, "Ladies und Gentlemen, hiermit beginnen wir eine neue Dimension von Kaffee und Konfekten! Ooooh, wird das toll!"

"Ihr tut so, als hättet ihr das alles alleine geplant", stellte Kurogane fest.

Fye wirbelte mit leuchtenden Augen zu ihm herum.

"Wow, warst du auch dabei, Kleiner?", fragte er und patschte sich eine Hand vor die Stirn.

Dann lächelte er. In den hellen Iriden glomm ein weiches Funkeln auf, als er dem Schwarzhaarigen die Hand hinhielt.

"Komm schon, Kuro-tan, schlag ein."

Und das tat er.

Viele hörten es. Noch mehr sahen es. Und diejenigen, die es sahen, fühlten ihr Herz einen kleinen Hüpfer machen.

Fast jeder von ihnen hatte bereits eine Zeit des Elends durchgemacht und glaubte schon lange nicht mehr an so etwas wie Wunder- doch mit einem Mal wussten sie, dass es für einen einzigen Augenblick ein bisschen besser auf der Welt zuging.

Ein kleines bisschen besser.

Sie spürten es und lächelten sich an, zu Anfang noch scheu und verhalten wie kleine Mädchen, die sich nicht getrauten, ihrem Schwarm ins Gesicht zu sehen, doch dann immer offener.

"Kommt, Leute, lasst uns loslegen!"
 

Keine dreißig Meter weiter weg parkte ein dunkelblauer Zivilwagen in der dunklen Seitenstraße.

Verstohlen schielte Toya immer wieder zum Fenster hinaus.

Die kalte Einfassung des Fernglases schnitt schmerzhaft in seine Nasenwurzel, dennoch nahm er es nicht herunter.

Sein Herz polterte dumpf und laut gegen seine Rippen, als er das fuchsfarben beschopfte Mädchen ins Auge fasste.

Ein großer, schlaksig gebauter Junge mit kastanienbraunen Haaren hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt.

Beide lachten fröhlich. Knufften sich gegenseitig in die Schulter. Redeten.

Mit einem leeren Blick setzte Toya das Fernglas ab und ließ sich in seinen Sitz zurücksinken.

Hier bist du also. Ausgerechnet hier.

"Toya?", hörte er Yukitos besorgte Stimme vom Beifahrersitz an sein Ohr dringen, "Alles okay?"

Die dunkelblauen Augen blickten geistesabwesend durch die Windschutzscheibe Richtung Konditorei.

Auf dem Johannesplatz war es dunkel und kalt, alles war in das fahle Licht der Straßenlaternen getaucht und es schneite schon wieder in winzigen, feinpudrigen Flocken, doch auf dem Gesicht seiner Schwester war es Sommer.

"Sie sieht zufrieden aus, findest du nicht?", fragte der Kommissar müde, "Fast schon glücklich."

"Toya..."

"Ich hätte niemals gedacht, dass sie ausgerechnet mit diesen Typen rumhängen würde."

"Ich auch nicht", räumte Yukito ein, "Sie scheinen zusammen zu wohnen."

Beide beobachteten, wie der Blonde und sein bärengroßer Kumpel eine Art Handschlag vollzogen. Wenig später betraten sie und ihre ganzen Begleiter die Konditorei. Die Tür schloss sich hinter ihnen.

"Eine große, glückliche Familie", murmelte Toya. Yukito seufzte.

"Toya, hör zu, es tut mir leid. Sie ist deine Schwester und du suchst sie jetzt schon seit fast zwei Jahren, aber-... ich weiß, es klingt hart, aber wir dürfen darüber unsere Arbeit nicht vergessen! Nicht jetzt!"

Der junge Mann hörte nicht zu. "Ich muss mit ihr reden", sagte er, "Ich muss sie wegholen von diesem Gesocks."

"Du weißt genauso gut wie ich, dass sie nicht wieder zu eurem Vater gehen wird!"

"Unser Vater ist abgehauen, Yukito", sagte Toya bitter, "Nach ihrem letzten Streit hatte er genug, ist getürmt und hat mir das Sorgerecht einfach dagelassen! Und außerdem geht es ums Prinzip! Ich bin ihr Bruder!"

"Aber unsere Fälle-..."

"Dann kombinieren wir das eben!", keifte der Kommissar, "Vielleicht geht das ja leichter, als du dir das vorstellst!"

Der junge Gerichtsmediziner stieß ein Seufzen aus. Wenn sich sein Freund erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, brachte ihn keine Macht der Welt wieder von diesem Weg ab. Und wenn es um Sakura ging wohl erst recht nicht.

"Also schön", ächzte er schließlich, "Vielleicht geht es ja wirklich leichter, als ich denke."
 

Zwanzig Kilometer vor Kingstonville konnte O'Connor seinen Augen nicht trauen.

Er hatte seinen Vorgesetzten zwar schon in einigen Gemütsverfassungen erlebt, doch noch niemals in dieser.

Giuseppe Girolamo Pantoliano war sprachlos? Ging das überhaupt?

Anscheinend schon, denn der Ratspräsident stand bereits seit einer halben Stunde völlig regungslos vor den Bildschirmen des Konferenzsaals und beobachtete mit starrem Blick die Bilder, die der von ihnen eingestellte Observator auf dem Johannesplatz mit seiner Minikamera einfing.

Sie zeigten ausnahmslos Kurogane, umgeben von einer kleineren Anzahl an Personen. Doch Pantolianos Blick war unablässig auf den blonden Schlacks neben ihm gerichtet. Seine kleegrünen Augen wirkten in ihrer versteinerten Ungläubigkeit so gläsern, dass sich das lachende Gesicht des Blondschopfs zweimal darin spiegelte.

Er sagte etwas in sein Funkgerät. O'Connor hörte kaum, was er sagte, so leise sprach er.

"Roy. Den Blonden. Holen Sie den Blonden näher ran."

Keine zwei Sekunden später erschien eine Großaufnahme des jungen Mannes auf allen Bildschirmen.

Strahlend eisblaue Augen. Platinblondes Haar. Ein unermüdlich gehendes Mundwerk.

Fragend legte der Ministerialrat den Kopf schief. Irgendetwas in ihm reagierte unbewusst auf dieses Gesicht.

Hab ich den nicht schon mal irgendwo gesehen?

"Mr. Pantoliano?", fragte er schließlich zögerlich, als der Italiener immer noch keinen Laut von sich gab.

"Kommen Sie her, Joshua. Sehen Sie sich das genau an. "

"Der Schöne und das Biest", kommentierte O'Connor, während er der Aufforderung nachkam. "Kennen Sie ihn etwa?"

Der Italiener senkte den Blick. "Sein seltsamer Humor verbreitet eine bizarre, exotische Aura, der man weder Verständnis entgegenbringen noch entfliehen kann", sagte er leise, "Er sticht heraus wie ein Paradiesvogel aus tausenden grauen Tauben. Er hat die Augen eines Engels. Ich erkenne ihn, und Sie erkennen ihn auch, Joshua."

Angespannt starrte O'Connor noch einmal in diese eisblauen Augen. Und dann fiel der Groschen.

"Gütiger Gott, das-... das ist doch... wie war sein Name gleich?"

In Pantolianos Augen flackerte es. "De Flourite. Sein Name ist Yuui de Flourite."

Daher also die Verwunderung, wenn nicht Sprachlosigkeit seines Vorgesetzten.

Kein Wunder, immerhin hatten sie seit jenem Tag vor dreizehn Jahren bis heute angenommen, dass Yuui tot war.

Der Ratspräsident wandte sich zu ihm um. Das Flackern in seinen Augen bekam etwas Gehässiges.

"Ist das nicht eine Ironie des Schicksals? Yuui-chan und Kurogane-chan, liebend vereint."

"Und was wollen Sie nun tun, Sir?"

"Was erwarten Sie denn? Dann wird er eben ein zweites Mal verrecken müssen."

"Und wann wäre das?"

Der Mann lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. "Sagen wir, das ist nur noch eine Frage der Zeit."

Revelation

-"Hat unsere Seele nur einmal Entsetzen genug in sich getrunken, so wird das Aug' in jedem Winkel Gespenster sehn.-"

(Friedrich von Schiller)
 

~~
 

Früher Morgen. Halb sieben, wenn man es ganz genau wissen wollte.

Eine bleiche Mondsichel stand hoch oben am nachtblauen Himmel und wurde immer wieder von den Wolken gestreichelt.

Es lag Schnee in der Luft, und obwohl auf der Allee, die zur Bruce Springsteen- Oberschule hochführte, immer noch alle Straßenlaternen an waren, drückte einem das Gewicht der klirrend kalten Dunkelheit auf die Schultern.

Stirnrunzelnd beobachtete Shaolan den Dunst seines Atems, der hinter seinem Schal hervor in die kalte Luft aufstieg.

Dann wandte er sich um. "Hey, Sakura! Komm schon, mach hinne, Mann!"

"Bin-... ja... schon da", keuchte seine Freundin atemlos und beschleunigte ihren Schritt, sodass sie den Abstand aufholte.

"Was denn los?", erkundigte sich der brünette Schlacks und legte ihr die Hand auf die Schulter, "Noch müde von gestern?"

"Naja, wann backt man schon mal die ganze Nacht hindurch Kuchen?", fragte das Mädchen grinsend zurück, bevor sie ihre Schultasche neu schulterte, "Aber dass sogar Kurogane-san mithelfen würde, hätte ich nicht gedacht!"

"Er ist in Ordnung", meinte Shaolan achselzuckend, " 'n bisschen wortkarg vielleicht, aber ansonsten..."

"Stimmt. Aber er war so süß am Telefon..."

"Was?!", fragte der Teenager misstrauisch, sodass Sakura lachen musste.

"Ach komm, du weißt doch, was ich meine! Als er mit Fye-san telefoniert hat!"

"Schon klar. War lustig, ihn mal so zu sehen, Mann."

"Stimmt. Irgendwie erinnern mich die beiden, wenn sie zusammen sind, an-... an eine Nuss und einen Pfirsich."

"Eh??"

"Das Thema hatten wir doch mal in Sozialkunde. Wie war das nochmal mit den Nüssen?"

"Wenn man da draufhaut, tut es den Männern weh."

Sakura prustete los. "Ach, Idiot! Ich meine doch die Sozialkunde-Nüsse!"

"Die Sozialkunde-Nüsse...hmh... genau: eine Nuss ist stur. Sie hat eine dicke, spröde Schale. Aber..."

"... aber wenn man's tatsächlich schafft, sie zu knacken, dann ist man durch", ergänzte das Mädchen, "Es ist nicht leicht. Manchmal tut es der Nuss sogar weh, geknackt zu werden. Aber dann ist man-... eben durch."

"Stimmt. Und wie war das mit den Pfirsichen?"

"Die Pfirsiche? Pfirsiche sind weich und sehr zart."

"Verletzlich?"

"Genau, verletzlich", nickte Sakura, "Sehr sogar. Aber man kommt leicht durch. Und man stößt auf ganz viel süßes, weiches Fruchtfleisch... das einen nährt. Es nährt dich ohne Widerspruch, bis es aufgebraucht ist."

"Jepp. Aber irgendwann..."

Mitten in seinen Worten hielt Shaolan inne.

Denn plötzlich wurde ihm klar, wer von ihren erwachsenen Freunden Nuss und wer Pfirsich war.

Fragend starrte er seine Freundin an. Diese starrte zurück. Beide hatten die gleichen Worte im Kopf.

Aber irgendwann kommt der bittere, harte Kern.

Nach einem langen, unangenehmen Schweigen wandte Shaolan den Blick ab.

Dabei erhaschte er etwas aus dem Augenwinkel. Unauffällig linste er schnell über die Schulter.

"Sieh dich nicht um", sagte er leise zu Sakura, "Wir werden verfolgt."

Seine Freundin hob schlagartig den Blick. "Was?", fragte sie erschrocken, "Wo?"

"Vierzig oder fünfzig Meter hinter uns. 'n dunkelblaues Zivilauto. Fährt hinter uns her."

"Ist es Desmond?", erkundigte sich das Mädchen leise und schielte ebenfalls über die Schulter- tatsächlich, da war ein Wagen.

Er fuhr im Schritttempo hinter ihnen her und bemühte sich offensichtlich um Abstand.

"Nein, der hat ein anderes Auto. Aber wie ich den kenne, wartet er wieder vor der Schule."

Sakura starrte mit glasigen Augen ins Leere. "Dann müssen wir-..."

Shaolan nickte. "Dann muss ich heute wohl wieder schwänzen. Ich geh zum alten Versteck, komm nach der Schule auch."

"Vergiss es, ich komm jetzt gleich mit! Und keine Widerrede, kapiert?"

Der Teenager seufzte. Mit seiner Freundin war in dieser Hinsicht einfach nicht zu verhandeln.

Schicksalsergeben nahm er sie bei der Hand. "Dann komm."

Das Mädchen nickte. Mit klopfendem Herzen warteten beide, bis das Auto wieder eine Sicherheitspause einlegte.

Dann rannten sie los.
 

"... Nun die Neun-Uhr-Nachrichten. In der gestrigen Nacht fand die ebenso grauenvolle wie ungeklärte Mordserie an stadtsinternen Persönlichkeiten ihre Fortsetzung. Bei dem Betroffenen handelt es sich um den Finanzanwalt Ronan Chardonnay. Zeugenaussagen zufolge soll Chardonnay- wie die Opfer vor ihm- mit einem tiefen Einstich in Herzhöhe in seiner Wohnung vorgefunden worden sein. Ministerialrat Joshua O'Connor teilte den Behörden heute morgen mit..."

Die junge Frau vor dem Thresen runzelte die Stirn.

"Einfach schrecklich."

Fye nickte, bevor er kurzerhand einen anderen Radiosender einstellte.

"Sie haben Recht. Da mag man gar nicht hinhören. Hier, bitte sehr, Ihr Espresso!"

"Vielen Dank. Also, dass sich diese Bruchbude eines Tages zu so einem hübschen Café mausern würde!"

Fye strahlte. "Zuviel der Ehre! Der Kuchen und der Espresso machen dann zusammen drei zwanzig. Mit Rabatt!"

"Ich war sicher nicht zum letzten Mal hier", meinte die junge Frau vergnügt, "Hier, bitte, der Rest ist für Sie."

"Tausend und einen Dank! Dort hinten ist die Kaffee-Ecke, machen Sie sich's ruhig bequem!"

Fröhlich sah Fye seiner neusten Kundin hinterher, wie sie mit ihren Einkäufen zu der weich erleuchteten Kaffee-Ecke in der Nähe des Schaufensters abwanderte, in der bereits schon fünf andere Gäste saßen und ihren Morgenkaffee tranken.

Er merkte auf, als die Glöckchen am Eingang abermals ertönten, und herein mit einer riesigen Schneewolke torkelte-...

"Na, was haben wir denn da?", fragte er fröhlich und legte seine Kuchenzange zur Seite, "Ein schwarzer Eisbär?"

"Sehr witzig", schnaubte Kurogane resigniert und schüttelte sich die Schneeflocken aus den Haaren, nachdem er schleunigst die Tür hinter sich geschlossen hatte, "Da draußen erkennt man kaum die Hand vor Augen!"

Emsig kam der junge Konditor hinter der Theke hervorgewuselt und nahm seinem Gefährten den Mantel ab.

"Möchtest du einen Kaffee und ein Stück Kuchen?"

"Ach, ähh-... na, von mir aus."

Widerstandslos ließ sich der Schwarzhaarige am Handgelenk zum Thresen schleifen und stützte sich gähnend an der Kasse ab.

"Müde?", fragte Fye besorgt, während er sorgfältig Kaffeepulver in einen Filter löffelte.

"Ich hatte noch außerhalb der Stadt zu tun. Und, wie läuft's mit dem Geschäft?"

"Wuuuunderbar! Wir hatten schon elf Kunden!", legte Fye sofort los, "Und sechs sind sogar zum Kaffee geblieben! Die Blaubeer-Elefanten-Torte ist schon fast ganz aufgebraucht, und Mister Robinsons Pfefferkuchen auch!"

Der Schwarzhaarige konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen.

"Na dann. Freut mich."

"Und was hast du außerhalb der Stadt gemacht?"

"Meine Eltern besucht."

"Echt? Haben sie sich gefreut? Wie geht's ihnen?"

"So lala. Jedenfalls soweit ich das beurteilen kann."

"Schön! Und wo warst du noch? Arbeiten?"

Etwas an der Art, wie Fye das sagte, ließ Kurogane aufmerken.

"Was... ?"

"Ist dein Schwert noch im Auto?"

Misstrauisch starrte der Killer seinem Mitbewohner ins Gesicht. Diesmal war es nur sein Mund, der da lächelte.

In seinen Augen flackerte ein schwer zu deutendes Zwielicht auf. Sofort spürte der Schwarzhaarige, wie sich der Zorn in ihm regte.

Wortlos wandte sich Fye von ihm ab und schlüpfte lautlos ins Hinterzimmer, eine Art Mischung aus Küche und Büro.

Kaum, dass er die Tür geschlossen hatte, verkrallte er sofort eine Hand in Kuroganes Hemd.

"Wo bist du gewesen?", wiederholte er mit leiser, eindringlicher Stimme seine Frage.

"Als ob du das nicht im Radio gehört hättest!", entgegnete der Killer gereizt und packte das schmale Handgelenk seines Gegenübers, sodass dieser zusammenfuhr, "Warum fragst du dann noch so saudumm?"

"Warum? Weil du tötest, darum! Weil du unschuldige Menschen abschlachtest wie Vieh!"

Kurogane starrte Fye statt einer Antwort nur an. Da war es wieder, dieses Gefühl.

Ich bin nackt.

"Warum sagst du d-..."

"Warum ich das sage? Weil es die Wahrheit ist, die du nicht hören willst!"

Augenblicklich explodierte die Wut in dem Schwarzhaarigen, doch ihm fiel keine Erwiderung ein.

Mit starrem Blick beobachtete er, wie sich Fye mit beiden Händen an seinen Oberarmen festkrallte.

Auf seinem blassen, übermüdeten Gesicht prangte ein Ausdruck, den er beim besten Willen nicht deuten konnte.

"Was hat dir dieser Chardonnay getan?", flüsterte er so leise, dass er es kaum verstand, "Er war unschuldig!"

"Niemand ist unschuldig", erwiderte der Killer tonlos.

"Ach ja?", rief Fye wütend, "Und wofür beschuldigst du dann jeden? Was hat dir die verdammte Welt getan?!"

Der Pfeil ging voll ins Schwarze. In seinem Zorn agierten Kuroganes Hände schneller als sein Kopf.

Er packte den Blondling hart an der Kehle und riss ihn zu sich, sodass diesem ein fassungsloser Laut entwich.

"Ich tue, was ich tun muss", sagte er mit leiser, bebender Stimme und drückte noch fester zu, "Und ich tue es wieder."

In den eisblauen Augen flackerte ein Ausdruck der nackten Urangst auf.

Eine lähmende Stille machte sich breit, die beiden schmerzhaft auf die Ohren drückte.

"K-... kurogane-...", stammelte Fye kläglich, seine wisperleise Stimme zitterte wie dürres Laub.

Sein Atem duftete süß. Nach Mandeln und Nüssen. Kuroganes Herzschlag beschleunigte sich.

Doch plötzlich erklang eine Stimme- oder eher ein gereiztes Bellen- von der Theke und ließ sie hochschrecken.

"HE!! Wie lange soll ich denn noch warten?!"

"I-ich komme schon!", rief Fye schwankend zurück. Verzweifelt entwand er sich Kuroganes Griff und rannte nach vorne, floh regelrecht vor ihm wie ein kleines, schwaches Tier vor einem übermächtigen Fressfeind.

Sie hatten ihn verwirrt, diese sehnigen, entschiedenen Hände und die Bestimmtheit ihrer Berührung.

Er drehte sich nicht einmal um. Kein Wunder, denn als er sah, wer da vor dem Thresen stand, sank ihm das Herz ohnehin endgültig in die Hosen. Au weia.

"Aaaah, Sie sind das!", trällerte er augenblicklich in voller Begeisterung, "Wie schön, Sie wieder zu sehen!"

"Ach, lassen Sie doch Ihr hirnloses Geschwätz, Sie wissen ganz genau, weshalb ich hier bin!", raunzte der hagere, hoch gewachsene Rotbart, der vor einer Viertelstunde an der Theke Aufstellung genommen hatte. Er trug einen weiten, dunklen Wintermantel und seine markanten Gesichtszüge und kräftigen, fuchsroten Augenbrauen erinnerten an Vincent van Gogh.

Desmond Blake. Shaolans Vormund.

"Naja, ich hab ja gehofft, Sie kommen, weil Sie mich wieder sehen wollten! Ist das denn nicht so?", fragte Fye traurig und verzog schmollend den Mund. Der ungehobelte Van Gogh stieß einen bedrohlichen Kehllaut aus.

"Sie haben verdammt Glück, dass hier gerade potenzielle Zeugen anwesend sind", sagte er leise, "Und jetzt hören Sie mir gut zu. Ihr hirnweicher Koksdealer von einem Freund ist mir heute morgen schon wieder durch die Finger geschlüpft. Ich weiß, dass Sie regelmäßig Kontakt mit ihm haben. Also sagen Sie mir gefälligst, in welchen Winkel sich der Mistkäfer verkrochen hat!"

Fye hob die Augenbrauen.

Irgendwie konnte er mit jedem neuen Mal besser verstehen, warum sein jugendlicher Freund diesen Mann so mied.

"Sie, ähm-... Sie scheinen mich offenkundig nicht ganz verstanden zu haben, Mr. Blake!", sagte er daher freundlich, "Es ist da oben nicht angekommen! Ich kenne Ihren Schall Alam-... wie hieß er doch gleich?"

"Shaolan!"

"Na von mir aus. Ich kenne Ihren Adoptivsohn Shaolan nicht, wie oft muss ich's Ihnen denn noch sagen?"

"Ach ja, und wie kommt es dann, dass Sie einen Mitbewohner in Ihrer Irren-WG haben, der genauso aussieht?"

"Wer weiß?", fragte Fye ernsthaft, "Vielleicht hat er ja einen Zwillingsbruder, der beinahe gestorben wäre!"

"Ach, hören Sie mir doch auf mit diesem Gesabbel!"

"Es ist die lauterste Wahrheit, Mr. Blake. Denken Sie etwa, ich könnte Sie belügen?"

"Darauf können Sie Gift nehmen!"

Ehe sich Fye versah, hatte sich der Rotbart auch schon zu ihm nach vorne gelehnt und stierte ihn nun aus gereizten Kastanienaugen an. "Hören Sie. Allmählich habe ich genug. Ich hatte Geduld mit Ihnen, aber jetzt platzt mir langsam der Kragen. Ich werde wieder kommen, verstanden? Und wenn Sie sich nicht so langsam dafür entscheiden, mit mir zu kooperieren und zu verraten, in welchem Rattenloch sich dieser Nichtsnutz vor mir versteckt, werde ich mir wohl oder übel etwas einfallen lassen müssen..."

Der Blondling wurde blass. Er brauchte einige Sekunden, um seinen Faden wieder aufzunehmen.

"Naja, es tut mir allerwirklichst und alleraufrichtigst leid, aber ich kenne Ihren Schall Alam-..."

"Shaolan!!"

"Achso, ja. Ich habe ihn noch nie gesehen, und das sage ich Ihnen jetzt schon seit fast eineinhalb Jahren regelmäßig..."

"Ach kommen Sie! Bei dem Personenschlag, mit dem Sie sich abgeben! -... zum Beispiel der da!", keifte Blake offenbar am Ende seiner Geduld und zeigte anklagend auf Kurogane, der soeben aus dem Hinterzimmer zurückkam.

"Was soll mit mir sein?", knurrte dieser bedrohlich.

Fye jedoch packte die Chance am Schopf und ging auf seinen Mitbewohner zu, um ihm die Hände auf die Hüften zu legen.

"Ach... ich verstehe Ihre Eifersucht ja, Mr. Blake...", seufzte er reuevoll und strich dem Schwarzhaarigen leicht über die Seiten, "Aber-... aber es war unvermeidlich. Irgendwie hat's einfach... gefunkt. Es tut mir leid."

Kurogane blinzelte irritiert. Er hatte keine Ahnung, ob dieses mädchenhafte Näseln, das der Blondling soeben in seinen Tonfall eingebaut hatte, beabsichtigt war- seine Wirkung verfehlte es jedoch nicht.

Blake glotzte, als hätte man ihm einen drei Meter langen Kabeljau in den Hals gestopft.

"W-... wir sprechen uns noch!", stieß er nur noch sichtlich angeekelt hervor und war schneller wieder aus dem Laden draußen, als man Kreuzkruzifix sagen konnte. Mit einem glasigen Ausdruck in den Augen ließ Fye wieder los und lehnte sich an ein Regal.

Kurogane starrte ihn misstrauisch von der Seite an.

"... Und wer war das schon wieder?"

"Der Arschlochkönig", erwiderte der Blonde geistesabwesend, "Ach ja, und Shaolans Vormund ist er auch."

"Dieser Wichser? Sein Vormund? Ist Shaolan etwa vor ihm abgehauen?"

"Ja. Wenn ich recht verstanden habe, was dieser Blake von sich gegeben hat, ist er ihm vermutlich schon wieder entwischt. Das heißt dann wohl, dass wir heute nur zu zweit in die Kirche gehen werden. Sakura-chan bleibt sicher bei ihm."

Um ein Haar hätte sich Kurogane verschluckt. "Wir gehen wohin?!!"

"Was denn? Ich hab es dir doch angekündigt."

"Angekündigt oder angedroht?"

Der frischgebackene Konditor lächelte müde. "Nenn es, wie du's nennen willst. Aber immerhin hast du was zu beichten."

Mit diesen Worten begab er sich wieder nach hinten.

Und ließ einen komplett überforderten Kurogane zurück.

Der Schwarzhaarige stieß ein Ächzen aus. Es roch mal wieder nach Diskussion, aber das war ihm mittlerweile völlig egal.

Als ob's die nicht schon vorher gegeben hätte.

Seufzend drehte er sich auf dem Absatz herum und stapfte Richtung Hinterzimmer.
 

"VERDAMMTER MIST NOCHMAL!!!"

Mit lautem Getöse machte der mit alten Akten vollgepackte Karton mit dem Fußboden des Präsidiums Bekanntschaft.

Yukito stieß ein Seufzen aus.

"Toya... jetzt beruhig dich doch endlich! Kann ich denn was dafür, dass die beiden heute morgen abgehauen sind?"

Der Kommissar starrte seinen Kollegen mit einem Blick an, der wohl jeden Höllenhund aus dem Konzept gebracht hätte.

Es dauerte einige Zeit, bis er sich durch heftiges Schnauben und Hyperventilieren wieder einigermaßen auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht hatte. Mit einem resignierten Seufzen ließ er seine Arme müde herabhängen.

"Also schön, es tut mir leid, okay? Ich habe ja nicht einmal ein Recht, mich aufzuregen. Es dreht sich schließlich nur um meine Schwester, nach der ich mir schon seit zwei Jahren die Finger blutig suche!"

"Ich weiß, dass sie deine Schwester ist!", schimpfte Yukito und stellte seinen Aktenkarton mit einem Knall auf dem Schreibtisch von Toyas Büro ab, "Ich hab doch auch eingewilligt, dass wir nach ihr suchen werden! Und jetzt haben wir sie!"

"Das reicht mir aber nicht!", entgegnete der junge Mann und zog die linke oberste Schublade seines Schreibtischs auf, um den ganzen Inhalt in den Karton zu seinen Füßen zu leeren, "Ich will sie von dort wegholen! Jetzt, wo unser Vater schon mal einfach ohne Vorwarnung abgehauen ist, braucht sie jemand Volljährigen, der auf sie aufpasst!"

"Aber dieser Flückiger und sein Freund sind doch volljährig", gab Yukito zu bedenken.

"Willst du mir etwa vorschreiben, wer sich um meine Schwester zu kümmern hat?!", rief Toya erregt, "Das ist einfach nicht die richtige Umgebung für sie, kapierst du das nicht?! Hinter diesem brünetten Schlacks bin ich schon seit Ewigkeiten her, und ich wette mit dir hundert zu eins, dass Flückiger und dieses schwarze Ungeheuer auch schon ordentlich was auf dem Kerbholz haben, so suspekt, wie die sich benehmen! Am Ende wohnt Sakura mit einem Haufen Krimineller unter einem Dach!!"

Der junge Gerichtsmediziner starrte seinen langjährigen Freund an.

Er war seit ihrer gemeinsamen beruflichen Laufbahn ja schon einiges von Toya gewöhnt, aber so besessen hatte er ihn selten erlebt.

Es galt zwar schon eine Bürowette, wann der oberste Kommissar Kinomoto endgültig sein Hirn irgendwo am Tatort liegen lassen würde, aber dass das schon so früh eintreten würde, hätte er nicht erwartet.

"Du spinnst, Toya", sagte er, "Du spinnst total."

"ACH JA?!! Ich zeige dir gleich, wer von uns beiden spinnt!! Ich sag dir, wag es bloß nicht, mir in die Quere zu kommen!! Ich hol Sakura zu mir zurück und buchte diese Irren ein, das schwör ich dir! Ihre schiefe Laufbahn ist beendet! Ich will endlich das aus der Welt schaffen, was unser Vater verbockt hat, dieses aufgeblasene, gewalttätige Arschloch, und dann werde ich-..."

"Was für ein Mensch war euer Vater eigentlich?", erkundigte sich Yukito sachlich, wobei er sich von Toyas Gekeife nicht im Mindesten beeindrucken ließ, "Du hast fast nie von ihm erzählt."

"Doch, hab ich! Hättest du mir halt zugehört, Idiot!"

"Das hab ich versucht. Aber das Dreiviertel von diesen wenigen Sätzen hätte man genauso gut auspiepen können."

Der aufgebrachte Polizeibeamte starrte seinen Kollegen verständnislos an.

Dann seufzte er tief. Er brauchte einige tiefe Atemzüge, um sich wieder zu beruhigen.

"Unsere Mutter ist sehr früh gestorben", sagte er schließlich möglichst beherrscht, "Da war Sakura gerade mal vier Jahre alt, und ich zwölf. Danach ist unser Vater völlig ausgerastet. Er musste irgendjemandem die Schuld am Tod seiner Frau anhängen, weil es seiner Meinung nach einen Schuldigen geben musste. Aber er hatte offenbar keine Ahnung, wem er sie geben sollte, also gab er sie einfach Sakura und mir. Und das war für uns beide der Anfang der Hölle."

Stirnrunzelnd beobachtete Yukito, wie sich vor diesen tiefblauen Augen mit jedem Wort eine Art Schleier zuzuziehen schien, bis sie glasig wie zwei Murmeln wirkten. Glasig von all der Erinnerung.

"Und dann?"

"Viel mehr gibt es nicht zu sagen", erklärte der Kommissar einsilbig, "Wir konnten uns doch kaum wehren, weil wir noch so klein waren. Wir sind immer wieder zu Verwandten geflüchtet, aber er hat uns jedes Mal zurück geholt, und dann war der Terror natürlich noch größer. Vor allem Sakura hatte sehr darunter zu leiden, sie war viel kleiner als ich und hat das alles noch kaum verstanden. Nach ihrem zehnten Geburtstag ist sie bereits regelmäßig getürmt. Ein paarmal hab ich es noch geschafft, sie wieder einzufangen, weil ich mir fest vorgenommen hatte, diese Sache mit unserem Vater wieder ins Reine zu bringen. Ich wollte unsere Familie unbedingt retten, aber sie wollte das offenbar nicht. Und mit dreizehn ist sie dann endgültig abgehauen."

"Ihr habt euch nicht einmal telefonisch verständigt?"

"Nein!", sagte Toya zornig, "Ich hatte doch keine Ahnung, wo sie steckte! Und jetzt hatte unser Vater anscheinend einfach genug und ist auch ins Blaue gerannt! Meine Familie läuft mir vor meinen Augen davon! Lass mich wenigstens ein bisschen davon retten!"

Das auf diese Worte folgende Schweigen lastete tonnenschwer.

Yukito hatte keine Ahnung, was er noch sagen sollte- kein Wunder, denn jedes unbedachte Wort konnte nun wehtun.

"Mann, Toya", seufzte er schließlich und ließ sich auf den nächstbesten Bürosessel sinken, "In was für einen Riesenhaufen Mist sind wir hier eigentlich hineingeraten? In was für einen Müllberg? Kannst du mir das sagen, hmh?"

"Das frage ich mich auch", drang plötzlich die Stimme von Yukitos Vorgesetztem vom Gang her ins Büro, sodass beide vor Schreck aufbrüllten, "Also, ich persönlich würde diesen Müllberg ja höflicherweise als 'Polizeipräsidium' bezeichnen, aber dazu braucht man schon wieder viel Fantasie. Was ist los, haben Sie hier keine Putzfrauen, Kinomoto?"

"Ach, stopfen Sie sich doch eine Socke ins Maul, Johansen!", keifte Toya und winkte entnervt ab, als der hagere Gerichtsmediziner mit einem ganzen Stapel Aktenordner ins Büro gewankt kam.

"Ein Salatsandwich wär mir lieber", lautete die trockene Antwort, "Außerdem wäre ich mir an Ihrer Stelle etwas dankbarer. Immerhin hab ich Amen gesagt zu der ganzen Scheiße. Ich ahne jetzt schon, in was für eine Mistgrube wir fallen werden!"

"Tja, jetzt ist es zu spät", bemerkte Yukito treffend, "Also sollten wir nun schleunigst unser Zeug fertig packen."

"Das ist Ihre erste gute Idee seit langem, Tsukishiro. Hat einer von Ihnen überhaupt schon eine Idee, wo wir uns häuslich niederlassen sollen?", fragte Johansen und stapelte mehrere kleine, bis obenhin gefüllte Kartons, um sie hochzunehmen, "Denn ich für meinen Teil würde auch trotz unserer politisch-kriminalistischen Ausnahmesituation gern noch zum Essen und Schlafen kommen."

"Wie wär's mit Ihrem Haus?", schlug Yukito vor, während er den letzten Rest an umherirrenden Papieren einsackte.

"Erzählen Sie das erst meiner Frau. Und was von Ihnen übrig bleibt, klauben Kinomoto und ich dann zusammen."

"Sehr witzig. Ich wohne noch bei meiner Mutter, also geht das wohl auch kaum."

"Uns wird schon was einfallen", entgegnete Toya ungeduldig und nahm seinen Kartonstapel hoch, "Für unseren Ermittlungsplatz werden fürs Erste drei Bedingungen genügen. Erstens: unauffällig. Zweitens: von Zivilisten bewohnt. Und drittens: Räumlichkeiten zum arbeiten. Aber jetzt müssen wir erst den ganzen Krempel von hier wegschaffen, und das möglichst leise."

"Du glaubst doch wohl nicht, dass das auf die Dauer gut gehen wird?", erkundigte sich Yukito zweifelnd, "Fullright wird irgendwann merken, dass du nicht mehr ins Büro kommst!"

"Dann kreuze ich eben ein paarmal die Woche auf, das wird doch wohl genügen! Und jetzt lass uns dieses Zeug rausbringen. Gehen Sie schon mal vor, Johansen."

Der hagere Gerichtsmediziner nickte und lud sich- selten fügsam für seine Person- einen Teil der Kartons auf die Schultern und marschierte den Gang hinunter Richtung Fahrstuhl.

"Und was sollen wir dann tun?", erkundigte sich Yukito skeptisch, "Uns einen Schlafplatz suchen?"

"Nein. Dann suchen wir Sakura."

"Was?!! Toya, hör zu, das ist jetzt ein verdammt ungünstiger Zeitpunkt, um Familienangelegenheiten regeln zu wo--..."

"Ich weiß", zischte der junge Mann erbost, "Aber das ist mir egal! Ich wette mit dir, dass wir in diesem verlausten Hippie-Viertel, wo sie jetzt mit ihren dubiosen 'Freunden' wohnt, sowieso genug zu tun kriegen! Dort hausen die Mörder, Giftmischer und Vergewaltiger doch wie die Ratten in ihren Löchern!"

Yukito seufzte. "Also schön, und was willst du tun, wenn du sie gesucht- und gefunden- hast?"

"Ich muss unbedingt mit ihr reden."

"Na fein. Und dann?"

"Und dann sehen wir uns nach einem Unterschlupf um. Also komm, lass uns gehen."

"Aber Fullright wird-..."

"Fullright ist mir scheißegal. Und jetzt mach hinne!"

Yukito blinzelte. Dann stieß er ein langes, lautes Seufzen aus.

"Mist", ächzte er und nahm seine Kartons hoch, "Mist, Mist, Mist. Wir sind geliefert. Gehen wir."
 

Es hatte wieder zu schneien begonnen.

In großen, wattigen Flocken rieselte der Schnee vom mittlerweile wieder dunkel gewordenen Himmel und hüllte alles in einen kühlen, aber weichen Mantel aus Stille.

In den Häusern am Johannesplatz wurden bereits die ersten Rollläden runtergelassen, die ersten Weihnachtsbeleuchtungen vorsorglich wieder ausgesteckt, Schindeln zugeklappt, Türen verschlossen.

Wenige hundert Meter von dem Platz entfernt begannen die bronzeisernen Glocken der Sankt Amadeus-Kirche ihr Acht-Uhr-Geläute.

Dieses volle, schwingende Geräusch, das von den meisten Leuten eigentlich als schön und erhebend betrachtet wurde, ließ Kurogane eine unwillige Schauer über den schmerzenden Rücken rieseln.

"Hast du's dann bald?", rief er ungeduldig Richtung Café de la Paix, wo Fye sich gerade damit beschäftigt wähnte, die Ladentür abzusperren, "Ich will das endlich hinter mich bringen!"

"Ja ja, gleich! Wieso hast du's denn immer so eilig?", erkundigte sich der Blondling, nachdem er zugeschlossen, den Schlüssel verstaut und seinen Mitbewohner eingeholt hatte, "Es hat doch gar nicht so lange gedauert!"

"Ach ja? Wenn überhaupt, dann hast du das mir zu verdanken! Seit wann mach ich den Laufburschen für dich?"

Der Blondling tätschelte Kuroganes Arm.

"Du hast aufgeräumt wie ein Ass! Ehrlich! Als hättest du nie was anderes getan! Und Pfefferkuchen, Blaubeer-Elefanten-Torte, Zuckernebelberge und Fudge hab ich auch noch schnell nachgebacken, also hat's doch wunderbar gepasst."

"Fadsch? Ach ja, dieses weiße,-... klebrige-..."

Stockend hielt Kurogane in seinen Worten inne. Weiß. Klebrig.

Die Worte erinnerten ihn an irgendetwas, aber es wollte ihm partout nicht einfallen.

"Ja. Morgen frag ich auch Sakura-chan und Shaolan-kun, ob sie mir im Laden helfen... allein ist es wohl einfach zuviel."

Der Schwarzhaarige runzelte die Stirn.

"Apropos... wie geht's den beiden? Noch am Leben? Überfahren? Erschossen?"

"Noch am Leben. Ich hab Shaolan angerufen, es geht beiden gut. Sie bleiben vorerst in ihrem Schlupfwinkel, verstecken sich dann bei einem ihrer Freunde und kommen morgen früh wieder heim."

"Darf ich fragen, warum Shaolan überhaupt diesen ganzen Knatsch mit Blake hat?"

Fye sah seinen Wegbegleiter fragend von der Seite an. "Hallo? Weil Blake ein unsäglicher Ignorant ist?"

"Wie du daherredest."

Trotz dem Ernst des Gesprächs musste der junge Konditor ein wenig grinsen.

"Okay: weil er ein Wixer ist."

"Aaah. Das ist Musik in meinen Ohren."

"Du bist ja so obszön."

"Ich weiß. Also, was ist jetzt mit Blake?"

Der Blondschopf senkte nachdenklich den Blick und hüllte sich ein wenig fester in seinen Wintermantel.

"Viel hat mir Shaolan nicht erzählt, weil er eben nicht gerne darüber spricht", erklärte er, "Seine Eltern waren ziemlich wohlhabend, als er noch klein war. Als sie dann gestorben sind, haben sie Blake- der muss damals ein Freund der Familie gewesen sein- das Sorgerecht für Shaolan übertragen, weil sie wohl geglaubt haben, er würde sich gut um ihn kümmern. Tja, Pfeifendeckel."

"Ach. Er will sich Shaolan also nur schnappen, um auf legitime Weise an das Geld zu kommen."

"Genau. Kein Adoptivsohn, kein Geld- denn die Papiere hat Shaolan sich alle unter den Nagel gerissen. Er möchte das Geld für seine späteren Studiengebühren ausgeben, so wie's seine Eltern auch für ihn beabsichtigt hatten."

"Aha", meinte Kurogane tonlos, "Na, kein Wunder, dass er nicht gern drüber spricht."

Fye zuckte die Achseln und starrte zu den warm erleuchteten Silhouetten der Kirche empor, die sich ihnen langsam näherte und sich aus der Ferne wie ein Dom aus weichem, goldglänzendem Licht gegen die Dunkelheit der Nacht abhob.

"Naja. Shaolan hatte es auch schwerer, weil er ein Einzelkind ist."

Kurogane zog seinen dunklen Schal ein wenig zurecht und musterte Fye von der Seite.

"Hattest du denn Geschwister?"

Der Blondling nickte flüchtig, wobei seine Augen wieder diesen seltsam traumverlorenen Ausdruck annahmen.

"Ja", sagte er leise, "Ich hatte einen Zwillingsbruder. Er hieß Yuui. Wir glichen uns wie ein Ei dem anderen, bis aufs letzte Muttermal. Sogar unsere Eltern haben uns manchmal verwechselt."

Angesichts von Kuroganes widerwillig erstauntem Gesicht musste er matt lächeln.

"Du-... 'hattest' ?", fragte der Killer schließlich, "Was ist mit ihm passiert?"

Der junge Mann senkte den Blick. "Vielleicht hast du bemerkt, Kurogane, dass ich eine ziemlich schwache Gesundheit habe. Yuui hatte von Geburt an genau das selbe Problem- nur hatte es ihn noch heftiger erwischt. Als wir beide neun Jahre alt waren, ist er an einem bösartigen Krebstumor gestorben. Für meine Eltern war das ein ziemlich heftiger Schlag, weil sie fast sämtliche Hoffnungen unserer Familie in Yuui gesetzt hatten. Er war immer der Begabtere von uns beiden."

Kurogane starrte seinen Wegbegleiter misstrauisch von der Seite an. Schon den ganzen Mittag über war der Blondschopf so seltsam labil gewesen und hatte kaum mehr gelächelt- einerseits kein Wunder, da er schon wieder kein Auge zugetan hatte- aber andererseits...

"Na, und für dich? War's für dich etwa kein heftiger Schlag?"

Fye erblasste sichtlich und wandte rasch den Blick ab. Seine hellen Hände krampften sich nervös in die Falten seines Mantels.

"... Und du?", fragte er schließlich nach langem Schweigen, "Hattest... hast... du Geschwister?"

"Nein. Meine Eltern hatten mit mir schon genug zu tun."

"Hatten?"

Kurogane seufzte unwillig. "Sie leben jetzt in einem Shinto-Schrein außerhalb der Stadt."

"Weil dir dein Morden zuviele Feinde bringt?", fragte Fye leise.

Dieser starrte nur zurück. Kaum zu glauben, wie einen der Blick dieser hellen Augen durchbohren konnte.

"Unter anderem", sagte er schließlich lahm.

Der Blondschopf lächelte traurig.

"Würdest du mit dem Morden aufhören, wenn ich dich darum bitte?", fragte er und sah sein Gegenüber sanft an.

Aus zwei spitzen Eisnadeln wurden warm funkelnde Kristalle. Kuroganes Herzschlag beschleunigte sich.

"Ich... kann das nicht beurteilen", entgegnete er tonlos, "Ich mach das immerhin nicht ohne Grund."

"Weil du dazu gezwungen wirst?"

"W-weil es nicht anders geht. Dieses... Morden hat einen Zweck, dem ich folgen muss."

"Hat dieser Zweck mit deinen Eltern zu tun?"

"Musst du mich-...", zischte der Schwarzhaarige gereizt, doch er hielt mitten in seinen Worten inne, weil er sie selbst nicht begriff.

Musst du mich immer durchschauen? Es tut weh.

Eine Zeit lang schwiegen sie beide, während sie allmählich das mit flachem, zugeschneiten Gras und dürren Sträuchern bewachsene Kirchengelände erreichten. Nur fünfzig Meter entfernt thronte die Sankt Amadeus-Kirche mit ihren Engelsstatuen, verziertem Stuck und beschienen von fünf Kegeln aus Licht wie eine mächtige, sakrale Schutzgottheit.

"Hör mal", sagte Kurogane nach einer Weile, "Du hast doch mal gesagt, du hättest Gott gesehen. Wie sah er aus? Nur für den Fall, dass er mir heute abend auch über den Weg hoppelt."

Fye überlegte für einige Momente. Er hatte gewusst, dass diese Frage eines Tages wieder auftauchen würde.

"Als ich ihn gesehen hab, sah er aus wie Shaolan", sagte er schließlich.

Kurogane fielen fast die Augen aus dem Kopf. "WAS?!!"

"Ja. Das ist schon eine halbe Ewigkeit her. Es war nur für einen ganz kurzen Moment. Für einen Augenblick war Shaolan Gott, und Gott war Shaolan... es war unheimlich. Aber es hat mir das Leben gerettet."

Der Schwarzhaarige bemerkte, dass er im Moment wohl glotzte wie ein Auto, also wandte er rasch den Blick ab.

"Ah ja. Also, wenn das so ist, wenn man Gott findet..."

"Ich hab Gott nicht gefunden. Ich hab ihn nur gesehen. Gott findet man in den Menschen."

"Aaaha", erwiderte Kurogane unschlüssig, "Und was muss man tun, um ihn dort zu finden?"

"Keine Ahnung", entgegnete Fye fröhlich, während sie nebeneinander her die Treppen zum Haupteingang der Kirche hochliefen, "Beichten ist aber sicher ein guter Anfang, immerhin ist bald Weihnachten!"

Sie standen nun in der Kirche. Ein wenig unsicher für seine Person sah sich der Killer nach allen Seiten um. Er war selten in einer Kirche gewesen und fühlte sich gerade mal so heimisch wie Mozart auf einer Rockbühne.

Das weitläufige Innenraum der Kirche war mit reichlich vergoldetem Stuck und Engelsstatuen verziert; in seiner vorderen Hälfte stand eine größere Anzahl an langen Bänken aus dunklem Holz, während in einer Art rundem Erker ganz vorne der mit Blumen geschmückte Altar platziert war, flankiert von einem mächtigen Christuskreuz. An der gewölbten Decke konnte der Schwarzhaarige einige Fresken erkennen, die vor allem die sieben Kardinalstugenden in ihrer weiblichen Menschengestalt darstellten.

"Schön, nicht wahr?", wisperte Fye, der dem Blick seines Freundes gefolgt war, "Siehst du die Schrift unter den Fresken?"

Mit gehobenen Augenbrauen betrachtete Kurogane den breiten Streifen aus goldenem Mörtel, der sich wie ein schimmerndes Band unterhalb der Fresken einmal um den gesamten Innenraum der Kirche zog wie ein hauchdünner Bildrahmen.

In das Gold war der Schriftzug Tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam eingraviert.

"Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen", übersetzte Fye.

"Du kennst dich ja aus."

"Ich war schon öfter hier", erklärte der Blondling fröhlich, "Pater Edmond und ich kennen uns schon länger. Ich hab oft die Beichte bei ihm abgelegt, und er war immer freundlich zu mir."

"Wo ist er dann? Ich will endlich die Beichte hinter mich bringen!", brummte Kurogane und verschränkte die Arme.

"Einen Pater pfeift man nicht herbei wie einen Dackel, Kurogane, man wartet, bis er kommt und sich um einen kümmert! Hocken wir uns doch solange auf die Bänke!"

"Dass du immer die Etikette wahren musst", seufzte der Killer, dennoch tat er wie ihm geheißen und ließ sich schwer neben dem Blondschopf auf der Kirchenbank nieder, "Na, wenigstens sind keine anderen Leute mehr da."

Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Fye seine Finger in das Weihwasser zu seiner Rechten tauchte und sich bekreuzigte.

"Willst du's nicht auch machen?"

"Nun lass mir doch etwas Zeit. Wie sieht überhaupt so'n Beichtstuhl aus?"

Fye deutete auf einen großen, kleiderschrankähnlichen Holzkasten an der rechten Wand des Innenraums. Zwei Türen, eine links, eine rechts, über deren Rahmen jeweils ein kleines Kreuz angebracht war, machten ihn begehbar.

"In dieser Sardinenbüchse legt man die Beichte ab?!", erwiderte Kurogane skeptisch.

"Ja, tut man. Du sitzt vor einem Gitter, und hinter dem Gitter sitzt der Pater und hört dir zu."

Der Killer wurde zusehends unruhiger, als er bemerkte, dass aus einem Seitengang neben der mächtigen Orgel am hinteren Ende des Innenraums die beleibte, dunkel gewandete Gestalt eines Geistlichen sichtbar wurde.

"U-und... was sagt man so, wenn man beichtet?"

"Naja, es wäre ganz angebracht, wenn du zu Anfang sagst: 'Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt'."

"Und dann?"

"Und dann erzählst du deine Sünden."

"Alle?"

"Nein. So viel Zeit haben wir heute nicht mehr."

"Sehr witzig", ächzte Kurogane. Als ob der Blondling erwartete, dass er diesem Pater So-und-so einfach mal so ganz lässig und locker all seine Sünden aus dem Ärmel schütteln würde! Kein einziges Wort würde er von den Morden sagen!

Ihm würde schon irgendeine kleine, halbwegs verzeihliche Sünde einfallen. Aber was war, wenn der Pater ihm nicht verzieh?

Vielleicht reicht es, wenn ich ihm sage, dass-...

Nachdenklich ließ Kurogane seinen Blick über Fyes blasses, von hellblondem Haar umrahmtes Gesicht streifen, das gerade damit beschäftigt war, dem Geistlichen, der gerade auf sie zukam, fröhlich entgegen zu strahlen.

Vielleicht ging das, was er in letzter Zeit ausbadete, auch als Beichte durch.

"Pater Edmond!", trällerte der junge Konditor soeben und stand auf, um dem stattlichen Priester die Hand zu schütteln.

"Guten Abend, mein Sohn!", entgegnete Pater Edmond, ein Mann von wohlbeleibter Gestalt und kräftigen, eulenhaften Gesichtszügen. Er war in eine lange, dunkle Soutane gekleidet, und an seinem Hals baumelte ein Rosenkranz.

"Wie ich sehe, haben Sie heute neue Begleitung dabei!"

"Ja! Das ist mein Freund Kurogane! Er möchte heute gemeinsam mit mir die Beichte ablegen!"

"G-guten Abend, Pater."

"Freut mich! Also schön, ich habe heute Abend keinen Gottesdienst mehr. Wer von Ihnen möchte zuerst?"

"Kurogane fängt an!", erklärte Fye und versetzte seinem Kompagnon einen Stoß in den Rücken, sodass dieser überrumpelt einige Schritte nach vorne auf den Pater zutaumelte.

"Ähh, ich-..."

"Also, mein Sohn, dann kommen Sie mit."

Wortlos beobachtete der blonde junge Mann, wie Kurogane Pater Edmond offenbar ziemlich nervös zum Beichstuhl folgte und die Tür hinter sich schloss. Er musste den Kopf einziehen, um sich nicht anzustoßen.

Tja. Dann war er jetzt wohl vorläufig aus dem Blickfeld. Dann kann ich jetzt endlich-...

Nachgebend legte er den Kopf in den Nacken. Augenblicklich überkamen ihn die Krämpfe.

Die Krämpfe, die er schon den ganzen Morgen und den ganzen Mittag über unterdrückt hatte.

Eine widerwärtige Welle von Übelkeit kroch seine Kehle empor wie eine fette, schleimige Nacktschnecke, sodass er unwillkürlich würgte und eine Hand an den Mund presste, um sich nicht zu übergeben. In seinem Hinterkopf prickelte es, als würde jemand mit hunderten Nähnadeln seine Kopfhaut durchbohren, sodass er beide Arme um sich schlingen und den Kopf tief in seinen Jackenkragen einziehen musste. Gottseidank waren keine anderen Leute da.

Bebend und heftig atmend kauerte er sich in seiner Bank zusammen und wartete er darauf, dass der Schmerz endlich wieder abebbte.

Nicht jetzt. Bitte nicht jetzt. Es hat doch fast eine Woche lang geklappt!

Wenn er sich nicht mächtig am Riemen riss, würde es heute abend nicht mehr klappen.

Es war allerdings auch seine eigene Schuld- wann auch immer er eine freie Minute gehabt hatte, hatte er diese nicht zum Schlafen genutzt, sondern zum Zeit totschlagen, als wäre sie etwas Lästiges, Widerspenstiges, das er nicht brauchen konnte.

Zeit, die sich dehnte wie ein Kaugummi. Jede einzelne Sekunde bohrte sich wie ein Nagel in sein Fleisch.

Hilflos kniff Fye die Augen zusammen, um seine Gedanken zu unterdrücken, die ihn jedesmal unerbittlich überkamen, wenn es Nacht wurde, und das so regelmäßig, dass er sich schon wunderte, warum er sich immer noch fürchtete.

Doch nachts wunderte er sich nicht mehr. Denn dann war alles anders.

Nachts war er allein. Allein mit sich selbst. Nachts konnte jeder kleine Schatten, jedes Knacken hinter der Wand und jedes Wispern vor dem Fenster ein-... ein Mensch sein. Alles, was sich in der Dunkelheit bewegte, konnte lebendig sein. Und auf ihn warten.

Lauern.

Die Dunkelheit bietet dir keinen Schutz- denn diejenigen, die du fürchtest, sind ein Teil von ihr.

Widerstrebend biss Fye die Zähne zusammen. Auf einmal wurde ihm kalt, klirrend kalt.

Er konnte nichts tun. Er war völlig hilflos- die Gedanken an ihn kamen Abend für Abend, Nacht für Nacht zurück, ohne dass er sich auch nur irgendwie dagegen wehren konnte.

Und es wurde offenbar immer schlimmer, wenn er sich jetzt nicht einmal mehr in der Kirche sicher vor ihm fühlte.

Mit angehaltenem Atem reckte Fye den Hals aus seinem Mantelkragen und sah sich in der riesigen, menschenleeren Halle um.

Er hatte gar nicht bemerkt, dass die Schatten der Orgel so lang und dunkel waren. Die Kerzen in den riesigen Kronleuchtern an der Decke flackerten. Mit starren Augen blickte der Blondling zu ihnen empor.

Gehen sie aus? Wird es dunkel?

Er bekam Angst. Solche Angst, dass er heute nacht vermutlich wieder kein Auge zutun würde.

Müde senkte Fye den Blick.

Alles, was er hoffte, war, dass Kurogane es nicht bemerkt hatte.

Alles, was er hoffte, war, dass Kurogane es ihm schon längst angesehen hatte.

Und ihn dafür ausschimpfte. Willst du nicht mal schlafen? Ich bin doch bei dir, verdammt nochmal!

Wahrscheinlich konnte er bis zu seiner Beerdigung auf so einen Satz warten.

Außerdem, wieso wollte er überhaupt noch in die Nähe dieses Mannes? Er hatte selbst gesehen- und gespürt- wie gefährlich es werden konnte, wenn man dem grimmigen Schwarzhaarigen zu nahe kam. Ja, warum eigentlich?

In Kuroganes Gegenwart fühlte er sich immer wie eine Schnecke.

Eine kleine Gartenschnecke, die jetzt schon ganze Jahre in ihrem winzigen, dunklen Häuschen verbracht hatte, weil sie sich dort am sichersten fühlte. Und nach all diesen Jahre des Versteckens hatte sie schon längst vergessen, wie sich der Sonnenschein auf ihren kleinen, wehrlosen Fühlerchen angefühlt hatte, denn man hatte sie so lange geprügelt, bis sie die Hoffnung auf ein wenig warmes Sonnenlicht freiwillig aufgegeben und zuletzt sogar Angst davor bekommen hatte.

Ich will die Sonne nicht spüren, denn sie könnte mich ja verbrennen.

Doch jetzt hatte die kleine Schnecke etwas aufgeschnappt. Etwas, das sie daran erinnerte, dass es immer noch anderes Leben auf diesem Planeten gab. Und dieses Etwas machte sie neugierig. So neugierig, dass sie zaghaft die verletzen Fühlerchen aus ihrem Häuschen streckte, in der Hoffnung, dass dieses Etwas ein warmer Sonnenstrahl war, der ihr die wunde Haut ein bisschen wärmte.

So neugierig, dass sie nicht mehr zurückwich, selbst wenn sie statt Wärme nur wieder eins über die Fühler bekam.

Er setzte sich freiwillig dem Schmerz aus, den Kuroganes Gegenwart bei ihm verursachte. Und er hatte ihn nun schon lange genug beobachtet, um zu erkennen, dass dieser Schmerz keinesfalls auf Einseitigkeit beruhte.

Aber wieso? Wieso ertragen wir freiwillig diesen Schmerz? Vielleicht, weil-...

... vielleicht, weil der Schmerz sich lohnte.

Er hatte es gestern abend so deutlich gespürt- Kurogane wich ihm nicht aus. Er beobachtete ihn. Und obwohl es so wehtat, so ungerührt ausgewittert zu werden, tat es ihm so in der Seele wohl, ausgeschimpft und zurechtgewiesen zu werden für all den Blödsinn, den er trieb.

Und seit er diese Worte aus Soledads Mund gehört hatte, wusste er auch die Antwort.

Kurogane quälte ihn- aber das auf eine Weise, die er noch nie erlebt hatte.

Er quälte ihn sanft mit seiner ruhigen, stets beherrscht klingenden Stimme, die nur für wenige Sekunden ins Verächtliche hinabgleiten musste, um ihn wie einen gefangenen Hummer auf dem Hackbrett zappeln zu lassen.

Er legte ihn bloß, mit Worten und Blicken, die so klein und nichtig waren wie das Schneckenhäuschen, in dem er lebte- aber die sich von dem Schweigen nährten, das auf sie folgte, und ihn mit ihrem Gewicht zu zermalmen drohten.

Noch nie hatte er einen Schmerz gespürt, der so schön war- und der bewirkte, dass er sich in solch einem Maße zu einem anderen lebenden Wesen- einem Menschen!- verbunden fühlte.

Einem Menschen, der vermutlich ebenso gelitten hatte wie er, wenn nicht noch mehr. Ein Mensch, aus dessen Augen die Schönheit der Bestie sprach. Dieses Wilde, Bittere, das ihn so faszinierte- weil es in den tiefsten Abgründen seines verrotteten Selbst fast genau gleich aussah. Ich fühle mich verbunden zu ihm.

"Ich fühle mich verbunden zu ihm", probierte Fye diesen ungewohnten Satz flüsternd aus, sodass ihn eine Gänsehaut überlief. Mit vor Nachdenklichkeit glasigen Augen starrte er zu den flackernden Kerzenleuchtern empor.

Es hätte alles so schön sein können.

Wenn da nur nicht diese immer währende Angst wäre. Die Angst vor dem, was alles geschehen konnte. Sakuras Bruder war aufgetaucht. Desmond wollte sich Shaolan schnappen. Kurogane wurde von Unbekannten verfolgt.

Und er wurde immer hartnäckiger von ihm heimgesucht.

Ich habe ein Auge auf dich, hörst du? Ich werde alles sehen, was du tust...

Nervös zuckte der Blondling zusammen. Er wird mich--...

"Hey! Genug geschlafen!"

Abrupt fuhr Fye aus seinen Gedanken hoch und blickte mit blassem Gesicht zu Kurogane empor.

"... W-wie?"

"Du bist ja kreideweiß", stellte der Schwarzhaarige stirnrunzelnd fest und musterte die flackernden Augen und die nervös zuckenden Hände seines jungen Kompagnons, "Ich wollte dir nur sagen, dass ich fertig bin. Du bist dran."

"J-ja? Und, was hast du so gebeichtet?"

Der Killer wandte den Blick ab. "Nichts von Bedeutung. Und jetzt los, der Pater wartet schon."

Mühsam erhob sich der junge Konditor von der Bank und stolperte eilends Richtung Beichtstuhl, noch halb benebelt.

Sein Nacken kribbelte, als er der nahezu leeren Halle den Rücken zuwandte.

Ich habe ein Auge auf dich, hörst du?

Fye öffnete die Tür, um sich auf den hölzernen Hocker vor dem finsteren Gitter zu setzen.

Er schluckte schwer. Er hatte ganz vergessen, wie dunkel es hier drinnen war. Er fühlte sich wie ein Fremder.

Natürlich fühlst du dich wie ein Fremder. Du passt in kein Schema dieser Welt hinein.

Halb benommen wurde dem Blondling klar, dass er nicht einmal etwas hatte, was er dem Pater beichten konnte.

Völlig versunken in den Wirren seiner Überlegungen hörte er kaum, was Pater Edmond' schemenhafte Silhouette auf der anderen Seite des Gitters mit gedämpfter Stimme zu ihm sagte.

"Mein Sohn, wir sind heute zusammengekommen, um dir das heilige Sakrament der Beichte zu spenden."

"Va-... vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt", stammelte er unsicher und faltete pflichtschuldigst die Hände im Schoß.

"Sprich nur, mein Sohn. Welche Sünden quälen dein Gewissen?"

"Ich-... ja also, ich--..."

Es gab eigentlich so vieles, was er dem Pater eigentlich schon längst hätte erzählen müssen.

Wenn diese unsichtbare Wand, die all seine Sünden so eifersüchtig umschlossen hielt wie eine Muschel ihre Perle, nur nicht schon so undurchdringlich dick geworden wäre. So steinhart und verkalkt.

Und jetzt, wo Fye erst darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er Edmond all die Jahre über nur Blödsinn erzählt hatte.

Was hatte er ihm nur schon alles verschwiegen?

Hast du ihm erzählt, dass du so viele Men-...

"Mein Sohn, was hast du? Nur zu, sprich!"

Fye hörte kaum mehr zu.

Jeder hat etwas, worüber er nicht gerne spricht.

"Pater. Ich... fürchte, ich gehe auf einem sehr steinigen Weg", brachte er schließlich mühsam hervor und faltete seine Hände so fest, dass seine Fingerknöchel wie Bolzen aus seiner hellen Haut hervorragten.

Er wollte seine Stimme nicht mehr hören. Sie machte ihn wahnsinnig. Sie verfolgte ihn.

"Ich fürchte mich vor diesem Weg. Ich spüre den Schmerz, den er mir bereiten wird. Und ich fürchte mich, auf diesen Weg zu treten, denn mein Gewissen ist nicht rein. Es ist-... Gift in meiner Seele. Es war schon sehr lange Gift darin-... und ich habe Angst, dass sie dadurch nicht bei den Menschen anerkannt wird, deren Gesellschaft mir eine Bereicherung ist."

Du hast Gift in der Seele? Nein, im Gegenteil, du bist Gift für die Welt.

Irritiert merkte Fye auf. War es der Pater gewesen, der da eben gesprochen hatte?

"P-pater... ?"

"Deine Furcht ist begründet, mein Sohn", hörte er die ruhige Stimme des Pfarrers dicht neben seinem Ohr, "Neue Wege bringen immer Furcht und Schmerz, denn Irren ist der Menschen Art."

Und Töten auch.

Fye schluckte schwer. Da war sie wieder, diese bohrende Schwäche in seinen Kniekehlen, die er schon den ganzen Morgen über gespürt- und ignoriert- hatte. Ein schmerzhaftes Prickeln durchlief seinen Hinterkopf wie eine klirrende Schauer.

"I-ich... weiß. Und deshalb frage ich mich-..."

Ob ich immer noch am Leben bin?

Hastig schnappte der Blondling nach Luft.

"Pater?"

"Ja, mein Sohn?"

"Haben Sie das gesagt?"

"Was soll ich gesagt haben?" Ich hab doch nur die Wahrheit gesagt.

Schweigen. "A-ach-... ach nichts."

"Dann sprich weiter."

Fye atmete dreimal tief durch, um seinen fliegenden Puls wieder zu beruhigen.

"Sie haben gesagt, Irren ist der Menschen Art. Aber ist es Sünde, wenn man glaubt, durch einen Mitmenschen alles Irrens ledig zu werden? Dass man sozusagen-... ein besserer Mensch wird als der, der man vorher war?"

Eine lange Stille machte sich hinter dem Gitter breit. Bis plötzlich-...

Natürlich ist es Sünde, was denkst du denn? Du wirst niemals aufhören zu irren, denn du hast Zeit deines Lebens nichts anderes getan. Es gibt Flecken, die nie wieder rausgehen. Sie haften an dir.

Fyes Puls setzte für wenige Sekunden schwirrend aus, um dann fast doppelt so schnell weiter zu schlagen.

Seine Hände vergruben sich schmerzhaft in die Ärmel seines Pullovers.

"P-pater- bitte, hören Sie auf, das zu..."

Es gibt keine Hoffnung für dich. Deine Hässlichkeit wird für immer bleiben.

"NEIN!!!"

"M-mein Sohn?", fragte Pater Edmond verwirrt, "Was ist mit Ihnen? Befinden Sie sich nicht wohl?"

Diese Stimme, seine Stimme, sie konnte nur hinter dem Gitter hervorkommen. Er war da, er war immer noch da, und er belauerte ihn.

In Fyes Augen begann es wild zu flackern.

"Sagen Sie das nie wieder zu mir, Pater, benutzen Sie diese Worte nicht, sonst-..."

Sonst was? Du bist total hilflos.

"... Sonst-...

"... mein-... ?"

"NEIN!! SEIEN SIE STILL!!"

Ich habe ein Auge auf dich, hörst du? Ich werde dich töten. Aber vorher töte ich noch deinen neuen Freund...

Fyes Herzschlag setzte aus. Es war, als hätte jemand einen Hebel in seinem Kopf umgelegt.

Ehe er sich versah, hatte er auch schon die Tür des Beichtstuhls aufgerissen, stürzte zum Abteil des Paters und zerrte ihn aus der Kanzel. Warf sich über ihn. Rang mit ihm. Brachte ihn unter sich.

Und schloss die Hände um seinen Hals.

"NEIIIIIIIIIIIIIIIIIIN!!!"

Pater Edmond schrie wie am Spieß und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, doch Fye hielt ihn unerbittlich nach unten gedrückt und würgte ihn wie ein Rasender, presste ihm die Luft aus den fassungslos bebenden Lungen.

Auf den Zügen des jungen Mannes glühte der nackte Wahnsinn.

"Sie werden mich nicht-... Sie werden nicht-... NEIIIIIIIIIN!!!"

Nach wenigen Minuten spuckte der Pater bereits blutigen Schaum. Seine Arme und Beine zuckten wie bei einem Erdbeben.

Sein Gesicht färbte sich ins Bläuliche hinein. Doch Fye sah es nicht.

Alles, was er sah, war er. Es war er, den er da würgte.

Und er würde nicht eher loslassen, bis er tot war. Er hatte es schon so oft getan.

"Naaa?!! Was hast du denn, Ashura?!", zischte er mit vor Wahnsinn geröteten Wangen, "Als ob du das nicht schon kennst! Wir haben das doch schon so oft durchgespielt, einmal mehr oder weniger, zier dich nicht, komm schon--..."

"M-... m-mein-..."

Es schien hoffnungslos für den Pater zu sein. Doch bevor Fye seinen Griff noch fester um den Hals des Geistlichen schließen konnte, packte ihn auf einmal jemand von hinten an den Armen und riss ihn weg.

"WAS ZUM TEUFEL MACHST DU DA?!!"

"Lass mich", kreischte Fye wie von Sinnen und warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach vorne, sträubte sich gegen Kuroganes Griff, trat um sich und kratzte über die Arme des Schwarzhaarigen wie ein wildes Tier, um wieder loszukommen, "LASS MICH!!! Ich muss ihn töten!!"

"Was hat er dir denn getan, verdammt nochmal?!!"

Die Nägel des Blondlings schmerzten wie glühende Kohlen auf seinen Armen, dennoch ließ er ihn nicht los. Er schlang beide Arme um seinen Brustkorb und hob ihn in die Luft, sodass seine Füße keinen Grund mehr unter sich hatten.

Pater Edmond lag wie ermordet auf dem kalten Steinboden und rang schwach nach Luft. Blut sickerte aus seinen Mundwinkeln, und er musste einiges an Kraft aufbringen, um sich auf die Knie zu erheben und schnellstmöglich Abstand zu den beiden zu suchen.

Mit fassungslosem Blick starrte er auf Fye, den er als einen fröhlichen, immer gut gelaunten Menschen kennengelernt hatte, lauschte seinem Schreien und Keifen, das ihn fast mehr an ein Tier als an einen Menschen erinnerte, und beobachtete, wie er mit diesem schwarzhaarigen Riesen rang, als ginge es um sein Leben.

Sein Entschluss stand bereits nach wenigen Sekunden fest.

"Schaffen Sie diesen Verrückten hier raus!!"

"Pater--..."

"NEIN!! VERSCHWINDEN SIE!! ALLE BEIDE!! UND ZWAR JETZT SOFORT!!"
 

Filmriss. Aus. Ende.

Starr wie ein Toter ließ sich Fye hinter das erstbeste verschneite Pflanzengestrüpp sinken, das das Kirchengelände zu bieten hatte.

Mit brennenden Augen umschlang er seine Knie mit beiden Armen und versteckte den Kopf in seinem Mantel.

Schnecke. Kleine, hässliche Gartenschnecke.

Es schneite immer noch, und ein klirrend kalter Wind fegte durch den toten Park, doch er spürte das alles kaum.

Wahrscheinlich stehe ich unter Schock. Wahrscheinlich habe ich ein Trauma.

Kalter Schweiß begann sich bei diesem Gedanken in seinem verkrampften Nacken zu sammeln. In seinem Kopf hämmerte es, ihm wurde abwechselnd weiß und schwarz vor Augen, und seine Eingeweide wanden sich in seinem Leib umher, als hätte er lebendige Schlangen verschluckt, die ihn nun von innen heraus auffraßen.

Es dauerte nicht lange, bis es ihm hochkam.

Heiß und bitter wälzte sich alles, was er an diesem Tag gegessen hatte, seinen Rachen hinauf. Es brauchte seine Zeit, bis er alles hinter das frostüberzogene Gestrüpp ins verschneite Gras gespuckt hatte.

Keuchend und hustend stützte er sich auf seinen Knien ab und wartete bebend auf die nächste Welle, doch sie kam nicht, also ließ er sich kraftlos nach hinten in den Schnee sinken und verschloss die Augen, verschloss sie vor der Welt.

Ich sehe euch nicht, also seht ihr mich auch nicht.

Er hätte Pater Edmond getötet. Er hätte es tatsächlich getan, er hätte ihn erwürgt und ihm zehn Minuten lang während seines Todeskampfes unerbittlich in die Augen gesehen, wenn Kurogane ihn nicht aufgehalten hätte.

Allein dieser Gedanke reichte, damit es in seinen Eingeweiden wieder zu rumoren anfing. Wieder übergab er sich.

Ich bin krank. Ich bin vollkommen irre.

Als er plötzlich hörte, wie sich im Schnee knirschende Schritte nahten, kauerte er sich augenblicklich hinter dem Gestrüpp zusammen und machte sich so klein, wie es nur ging. Schwarze Stiefel wurden zwischen den dürren Zweigen erkennbar.

"Hau ab!", stieß er mit leiser, erbärmlicher Stimme hervor und presste hilflos die Augenlider aufeinander.

Keine Antwort. Die Stiefel ließen sich in ihrem Weg nicht beirren und hielten wenige Meter vor dem Strauch an.

"Ich weiß, dass du heulst", hörte er Kuroganes ruhige Stimme.

"Tu ich gar nicht!", stieß Fye sofort hervor. Doch als er sich mit zitternden Fingern über die Wangen fuhr, bemerkte er es auch- seine Nase lief, seine Kehle war verkrampft. Er war kurz davor zu heulen und würde vermutlich in wenigen Minuten schon nichts mehr dagegen tun können. Mit leeren Augen fühlte er die Hitze in seinem Gesicht aufwärts steigen.

Wieso weine ich? Ich konnte die Tränen immer zurückhalten!

"Heul von mir aus", sagte Kurogane achselzuckend und lehnte sich gegen den Baum, "Ich bleibe hier."

"Mir doch egal", presste Fye zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Er wünschte, Kurogane würde endlich abhauen.

Er war so froh, dass Kurogane da war.

Die Tränen krochen unerbittlich in ihm hoch, so wie Salzwasser gemächlich und unaufhaltsam am Bullauge eines Schiffs emporleckte, stiegen ihm heiß und klebrig in die Augen und rollten über seine totenblassen Wangen.

Kurogane seufzte und lauschte müde Fyes ersticktem Schluchzen. Leise und zittrig drang es wie das Wimmern eines schmerzgequälten Tiers zwischen den Zweigen des zugeschneiten Gestrüpps hervor.

Nicht wie ein einziger Schwall, keine Heullawine, so wie man das aus Filmen oder Romanen kannte, sondern eher wie ein tropfender Wasserhahn. Immer nur ganz wenig, ganz leise, ganz langsam. Tropf. Tropf. Tropf.

"I-ist-... der Pater-..."

"Der Pater ist in Ordnung. Er ist noch ein bisschen angeschlagen von deinem kleinen Austicker, aber er hat gesagt, wenn wir uns in der Amadeuskirche nicht mehr blicken lassen, erklärt er sich bereit, uns nicht anzuzeigen."

Schweigen.

Geduldig wartete der Schwarzhaarige, bis das Schluchzen soweit abgeklungen war, dass er einen zögernden Blick hinter die Sträucher werfen konnte. Der Blondling kniete wie ein Häufchen Elend im Schnee und wandte ihm den Rücken zu.

"Sieh mich nicht an", stöhnte er gequält und rollte sich zusammen, so wie geprügelte Hunde das taten.

"Wieso? Denkst du, mir bleibt bei deinem Anblick die Spucke weg?", fragte Kurogane ungerührt zurück, "Mir war klar, dass das eines Tages kommen würde, so wie du dich Tag für Tag selbst vergewaltigst. Was glaubst du denn? Etwa, dass ich keine Augen im Kopf habe? Erwarte nicht, dass ich mich so leicht von dir verarschen lasse wie die anderen."

Keine Antwort. Fye weinte immer noch.

Kurogane wusste, dass es jetzt vielleicht besser wäre, den Rand zu halten, aber so langsam konnte er sich einfach nicht mehr beherrschen. Diese ewige Geheimniskrämerei des Blondschopfs machte ihn völlig irre.

"Vor drei Tagen", sagte er leise, "Da habe ich mit dir geteilt. Weißt du noch? Ich habe dir erzählt, was mich belastet hat, und dir die Hälfte davon abgegeben. Aber jetzt frag ich mich, was zur Hölle ich denn noch alles tun muss, damit du mir endlich mal die Hälfte von deinem abgibst!"

Der Blondling zuckte ertappt zusammen. Kurogane verschränkte die Arme vor der Brust.

"Eins kann ich dir sagen: lange wirst du mich nicht mehr hinhalten können. Ich will Antworten, Fye. Zum Beispiel, warum du nachts nie schläfst und ich dich noch um fünf Uhr morgens im Haus herumwandern höre. Warum du jeden pausenlos belügst. Und vor allem, warum du mich belügst. Denn wenn du und ich schon so engen Kontakt miteinander pflegen müssen, will ich zumindest, dass es keine Unklarheiten zwischen uns gibt."

Offenbar hatte er zuviel gesagt. Wild wirbelte Fye zu ihm herum und starrte ihn aus glühenden Augen an.

Seine kalten Wangen waren tränenüberströmt und hochrot. Seine bläulich verfärbten Lippen bebten.

"Müssen?!", fauchte er und stand so abrupt auf, dass er beinahe gleich wieder hingefallen wäre, "Engen Kontakt pflegen müssen?!! Bist du denn noch nie darauf gekommen, dass ich diesen engen Kontakt vielleicht will?! Dass ich ihn mir verrückterweise sogar noch wünsche?!! Du verdammter schwarzer Riesenmuff, du bekloppter?!!"

Kurogane starrte Fye verständnislos an. Als sich der Blondling jedoch auf ihn stürzte und mit beiden Fäusten auf ihn losgehen wollte, packte er ihn bei den Oberarmen und hielt ihn sich vom Leib.

"Hör auf damit!", bellte er wütend und rang mit seinem jüngeren Gegenüber, "Was berechtigt dich, hier den neuen Rasputin zu spielen?! Bist du etwa so arm dran, dass du jemanden halb zu Tode würgen kannst und nachher keine Erklärungen abgeben musst?!"

"JA!!"

"Ach ja?!! Dann will ich dir helfen!"

Mit dem letzten Wort verabreichte er dem Blondling eine so harte Ohrfeige, dass sein Kopf zur Seite gerissen wurde wie der einer Puppe. Mit einem kleinen Aufschrei ließ Fye Kurogane abrupt los, sodass er das Gleichgewicht verlor und schmerzhaft auf dem verschneiten Rasen aufkam. Kaum, dass er aufprallte, warf er sich sofort zur Seite, zog die Knie an den Bauch, schlang seine Arme darum und rollte sich so eng zusammen, dass sein Körper kaum mehr genügend Oberfläche für einen Schlag bot.

Irritiert hielt Kurogane inne und ließ die Hand sinken, die er schon halb zur nächsten Maulschelle erhoben hatte.

Diese fast schon reflexhafte Reaktion des Blondschopfs hatte kaum mehr als drei Sekunden gedauert.

... Als wäre er es schon seit Jahren gewöhnt, Schläge zu bekommen.

Wie von weiter Ferne spürte der Schwarzhaarige, wie seine Füße nachgaben und er sich zu Fye in den Schnee kniete.

Eine Hand auf diese wie verrückt zitternde Schulter legte.

Ihn zu sich hochzog. Ihn bei den Oberarmen fasste und ihm ins Gesicht sah. So viele Tränen.

"Hau mich nicht", wisperte der junge Mann kläglich und verkrallte seine blassen, klammen Hände in Kuroganes Mantel.

"Es macht mir keinen Spaß, dich zu hauen", antwortete der Killer leise und hielt das Kinn des Blondlings fest, damit er seinem Blick nicht ausweichen konnte, "Aber wenn du mich so aufregst, zwingst du mich dazu."

Fyes Mundwinkel verzerrten sich, als ihm wieder die Tränen die Augen quollen.

Und auf einmal war es ihm, als könnte er nie wieder mit Weinen aufhören. Als müsste er alles aus sich hinausweinen, was sich während all der Jahre des Alleinseins in ihm angestaut hatte. So lange heulen und schreien, bis er vor Erschöpfung einfach tot umfiel.

Die Hände des Killers schlossen sich unerbittlich um die zitternden Schultern seines jüngeren Gegenübers und zogen ihn zu sich heran, so nahe, dass jeder den erhitzten Atem des jeweils anderen über sein Gesicht fließen fühlen konnte.

"Ich will nur, dass du mir endlich die Wahrheit sagst", sagte Kurogane so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war, "Wieso hast du den Pater angegriffen? Sag es mir. Jetzt sofort."

Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu, doch Fye nahm sich vor, kein Wort zu sagen.

Und noch während er sich das vornahm, spürte er auch schon, wie ihm alles einfach aus dem Mund gerutscht kam.

"Weil er hinter mir her ist", stieß er verzweifelt zwischen seinen abgehackten Schluchzern hervor und krallte seine Hände so fest in Kuroganes Oberarme, dass es ihm in den Fingern wehtat, "Er ist immer noch da, er ist nicht tot, Kurogane-... e-er verfolgt mich am Tag, und er verfolgt mich in der Nacht! Das-... das ist, als ob sein Gesicht unter meiner Haut ist-... sein Gesicht ist unter meiner Haut, und es sieht alles, es blinzelt nicht, es beobachtet mich in jeder Sekunde--... und ich höre seine Stimme die ganze Zeit, ich höre sie in meinem Kopf, ich höre sie, wenn es dunkel wird-... ich, ich, ich-... ich entkomme ihr nicht-..."

Die Worte stolperten hektisch und zusammenhanglos aus seinem Mund, wirr, ungestüm, doch nun war es ihm egal.

All die Last, die bleierne Last, die mit jeder schlaflos verstreichenden Nacht schwerer wurde, löste sich auf seiner Zunge und kam zwischen seinen Lippen hervorgeplätschert, er selbst löste sich auch auf, er schwamm in seinem liquiden, ziellos umhertreibenden Selbst, ersoff darin wie eine Katze, der man den Kopf unter Wasser hielt.

"Wer ist 'er' ?", fragte Kurogane mit leiser, eindringlicher Stimme und ließ seine Schultern nicht los, "Ist 'er' Ashura? Du hast vorhin seinen Namen gesagt. Wer ist dieser Ashura?"

Die Antwort war ein gequältes Schluchzen. Hilflos schüttelte Fye den Kopf.

"Ich-... i-ich will nicht-... ich kann nicht mehr, lass mich los, ich-... lass mich los!!"

Mit einem Ruck kam wieder Leben in seinen Körper. Wild bäumte er sich auf und kämpfte gegen Kuroganes Griff.

"Beruhig dich-... verdammt nochmal, BERUHIG DICH!!", schrie der Schwarzhaarige ihn an.

"Ich hasse dich", zischte Fye mit einem irren Flackern in den Augen, "Deinetwegen ertrage ich es nicht mehr, allein zu sein!!"

Es geht nicht mehr. Ich bin entblößt. Ich bin völlig entblößt.

Entblößt... ?

Ebenso schnell, wie sein Wutanfall in ihm aufgebrandet war, verlosch er auch wieder.

Seine Augen weiteten sich. Fassungslos ließ er seine Hände sinken und starrte Kurogane an.

Seine Finger begannen zu beben.

Er sah ihn so ungläubig an, als sähe er sein Gesicht zum allerersten Mal.

"Spätestens im Moment deiner größten Blöße wirst du es erkennen. Wenn sich deine Seele in ihrer ganzen Nacktheit offenbart. Du wirst Angst haben, Angst, dass die Welt deine Seele entdeckt und zerbricht..."

"... Aber in diesem Augenblick wird dieser Mensch bei dir sein", flüsterte Fye mit einer Stimme, die so leise und käferklein war, dass er selbst kaum verstand, was er sagte.

"Was?", fragte Kurogane unschlüssig und sah den Blonden fragend an.

Dieser schien auf einmal jegliche Wut abgelegt zu haben.

Er starrte ihn aus riesigen, fassungslosen Augen an und sagte kein Wort.

"... wird dieser Mensch bei dir sein", wiederholte er tonlos wispernd.

Kurogane schnappte erschrocken nach Luft, als sich der Blondling plötzlich auf ihn stürzte und ihm so heftig um den Hals fiel, dass beide Hals über Kopf im Schnee nach hinten kippten.

"Was-... was soll das?!", fragte er entgeistert und ließ seine Hände vor Überraschung wie erstarrt in der Luft hängen.

"I-ich-...", hauchte Fye dicht neben seinem Ohr, sodass ihm das Blut in die Wangen stieg, "Ich hab dich gern."

Als er sich leicht über ihm aufrichtete, konnte Kurogane den Glanz in seinen Augen sehen.

"W-... was... ?"

"Ich mag dich", stieß der junge Mann gequält hervor und versuchte vergeblich, in eine andere Richtung zu sehen.

Doch der Killer packte ihn beim Kinn und hielt ihn unerbittlich fest.

"Was?", wiederholte er leise.

Der Blondling wand sich innerlich wie ein verwundeter Fisch. Man konnte es ihm ansehen.

"Ich mag dich", wisperte er mit kaum hörbarer Stimme, "Und ich will nicht mehr von deiner Seite weichen."

Klick.

Irgendetwas in Kuroganes Kopf befahl ihm als Reaktion auf diese Worte die absolute Funkstille.

Gehorsam schaltete er ab. Die Welt um ihn herum zerfloss zu einem liquiden Universum aus Schatten und Farben.

Sein Herz dröhnte dumpf und laut in seiner Brust, doch er hörte es nicht.

Fyes Atem glitt fließend an seinem Ohr vorbei, doch er spürte es nicht.

Alles, was er wahrnahm, war Fyes Gesicht.

"Hasst du mich jetzt oder magst du mich?", fragte er müde, "Kannst du dich mal entscheiden?"

Sein jüngeres Gegenüber presste die Lippen aufeinander. Dann bettete er sein Gesicht in beide Hände.

"Bitte", stammelte er hilflos und sah Kurogane so fest in die Augen, dass es beiden wehtat, "Bitte bleib bei mir."

Wortlos starrte der Schwarzhaarige zu seinem Freund empor.

Der Mond leuchtete zwischen den sich lichtenden Schneewolken hindurch und warf ein silbernes Glühen auf Fyes blonden Haarschopf, wie er so über ihm im Schnee kniete. Seine schlanken Schultern bebten. Seine sonst so blassen Wangen waren hochrot. Doch seine Augen glänzten wie Sterne.

Sanft und zugleich so voller Schmerz.

Und nach und nach spürte Kurogane, wie sich bei diesem Anblick etwas in ihm zu regen begann.

Also doch.

"Du Idiot. Du dummer, blöder Idiot", knurrte er erbost und schlang die Arme um ihn.

Interlude : Gomorrah / Maneater

-"Die Seele findet sich mit der Verzweiflung nicht ab, bevor sie sich nicht allen Illusionen hingegeben hat."-

(Victor Hugo)
 

Das Telefon schellte in einer Tour.

In regelmäßigen Abständen erfüllte es den lang gestreckten, niedrigen Raum mit seinem metallischen Schrillen.

Bis plötzlich hinter dem schimmernden Perlenvorhang am anderen Ende des Zimmers ein frustriertes Ächzen laut wurde und sich eine schlanke Gestalt hinter den Perlmuttschnüren hervorschob. Gereizt schnappte sie sich den Hörer von der Gabel.

"Ich hab doch gesagt, nicht jetzt! Idiot!"

"A-aber Boss... da ist ein Kunde für Sie. Hab schon alles versucht, aber er lässt sich nicht einmal durch Prügel verjagen."

"Dann knall ihn ab! Ich habe geschlafen!"

Fragt sich nur, mit wem schon wieder, dachte ihr Untergebener resigniert, doch er ließ sich nichts anmerken.

"Er hat gesagt, er geht nicht eher, bis er zu Ihnen darf, Boss", meinte er achselzuckend.

Die Gestalt stieß ein bodenloses Seufzen aus. Dann betätigte sie einen Knopf an der Wand neben dem Telefon, sodass auf dem Bildschirm zu ihrer Rechten ein Bild aufflammte, das den Hinterhof ihres Unterschlupfs einfing. Ihre Augenbrauen schnellten in die Höhe, als sie den jungen Schlacks näher beäugte, der da neben ihrem Lakai vor der Tür stand.

Eisblau funkelnde Augen. Zerzaustes, hellblondes Haar. Ein scheu gesenkter Blick.

"Mhhmh", sagte sie, wobei ihr Tonfall binnen Sekunden von dem anfänglichen gereizten Keifen zu einem sanften Schnurren abebbte, "Das ist natürlich schon was anderes. Hat der Kleine gesagt, wer ihn schickt?"

"Er hat gesagt, er ist aus eigenem Willen hier, Boss."

Die Gestalt konnte nur schwerlich ihr Erstaunen verbergen. Dieser hübsche Blondschopf hatte ohne fremde Hilfe herausgefunden, dass sie ihr Quartier hier hatte? Dass es sie überhaupt gab? Die Sache begann, sie zu reizen.

"Das ist ja hochinteressant", sagte sie schließlich mit einem kleinen Kichern in der Stimme, "Schick ihn hoch."

"Jawohl."

Es dauerte nicht lange, da vernahm die Gestalt auch schon ein zögerliches Klopfen am Eingang.

"Immer nur herein!"

Fye schluckte schwer, als er die sperrige Tür aufschob und das Innere des Vipernverstecks betrat.

Er hatte schon öfter einige der haarsträubenden Gerüchte aufgeschnappt, die über diesen Ort erzählt wurden - doch dass er eines Tages selbst hier landen würde, konnte er nicht einmal jetzt wirklich realisieren.

Bei seiner nächtlichen Flucht aus dem Bandenversteck wäre er vor Angst fast gestorben, doch nun hatte er es tatsächlich geschafft, er hatte das Vipernversteck gefunden und konnte endlich beginnen, seinen Plan zu verwirklichen.

Nun hielt ihn nichts mehr auf. Die Gedanken an Ashura trieben ihn um und gaben ihm erbarmungslos die Sporen.

Zaghaft sah sich der junge Mann in dem lang gezogenen Raum mit der niedrigen Decke um. Alles war in weiches, rötliches Licht getaucht, und es hing ein schwerer Duft nach Räucherstäbchen und Parfum in der Luft. An den Wänden standen viele Regale, die von oben bis unten mit Ordnern, Einmachläsern, Schmuck, glitzernden Kleidern und zahllosen anderen Dingen vollgestopft waren.

Mehrere lederüberzogene Sessel, üppige Chintz-Sessel und Sofas standen wahllos im Raum verteilt.

Doch am meisten fiel ihm die junge Frau auf, die in der Mitte des Raumes stand und nun langsam auf ihn zukam.

Verunsichert starrte Fye sie an. Sie war schlank und kleiner als er, trotzdem hatte er das beklemmende Gefühl, zu ihr hochzusehen.

Ihr langes, dunkles Haar wand sich in weichen Locken über ihr herzförmiges Gesicht ihre Schultern hinab, sie war geschminkt, von ihr ging ein starker Parfumduft aus, und ihr Kleid war eins von der Sorte, die auch Chi immer auf der Arbeit getragen hatte.

Chi.

Mühsam würgte Fye den Kloß in seinem Hals hinunter und sah der fremden Frau möglichst gerade in die Augen.

"B-bist-... bist du die, die sie die 'Viper' nennen?", fragte er mit schwankender Stimme.

Seine Unsicherheit schien die Lady sehr zu amüsieren, denn sie legte grinsend den Kopf schief und musterte ihn aufmerksam.

"Was wäre denn, wenn ich's nicht wäre?"

"Dann würde ich dich töten, weil du mir im Weg stehst."

Die Viper lachte auf. Der Blondling zuckte zurück, als er einen ihrer langen, rot lackierten Fingernägel an seinen Lippen spürte.

"So, würdest du das, Kleiner? Na, dann hab ich ja Glück, dass ich die 'Viper' bin, hmh?"

Fye wich hilflos dem bohrenden Blick der jungen Frau aus. Der übelsüße Duft ihres Parfums machte ihn ganz schwindelig.

"Also schön, jetzt, wo wir geklärt haben, wer ich bin, wüsste ich auch ganz gern, wer du bist und wer dich geschickt hat."

Die listigen Hände der Viper glitten geschmeidig seine Schläfen hoch. Zwirbelten sein zerzaustes Haar zwischen den Fingern.

Fye starrte sie an. Ich will dir nicht vertrauen, also sage ich dir auch nicht-...

"Bill. Ich heiß Bill. Und mich schickt niemand."

Der Blick dieser dunklen Augen tropfte an seinem Gesicht herab wie zähflüssiger Honig.

"So? Du scheinst keine Ahnung zu haben, wie der Rest es macht, wenn er einen Termin bei der 'Viper' haben will."

"Ich bin nicht wie der Rest", entgegnete Fye tonlos.

Wieder dieses glockengleiche Lachen. "Ja? Also, was kann ich denn dann für dich tun, hmhh... ?"

Sie schien sich nicht an seinem zerkratzten, zerprügelten Erscheinungsbild zu stören.

"I-ich-... brauche etwas aus deinem Laden. Du wirst die 'Viper' genannt, weil du Sachen hast, d-die-..."

"... Die etwas bei anderen Menschen bewirken?", gurrte die Viper behaglich, "Zum Beispiel, dass sie abkratzen? Elendig krepieren? Verrecken? So etwas vielleicht?"

Fye wurde blass, dennoch ließ er sich nicht beirren. "J-ja. Ich brauche etwas davon."

Die junge Frau musterte ihn noch für einige stumme Augenblicke sichtlich interessiert. Dann wandte sie sich schwungvoll ab und öffnete einen der großen, hölzernen Schränke zu seiner Rechten.

Der junge Mann hielt den Atem an.

Da war es. Vor seinen Augen stapelte sich das, was er schon seit einer knappen Woche so verzweifelt suchte, hier in diesem engen, nach Thymian stinkenden Schrank. In Flaschen, Pillenröhrchen, Gläsern, Ampullen.

"Eindrucksvoll, nicht wahr? Schätz dich lieber glücklich, nicht jeder kommt zu der unverdienten Ehre, dass ich ihm so offenherzig meine Sammlung zeige. Stellt sich nur noch die Frage, was davon du haben willst."

Fye unterdrückte nur mühsam das Beben seiner Hände.

"Ich will etwas, das in zwei Schüben wirkt."

Die Lady suchte für einige Zeit in dem Schrank herum, bevor sie schließlich fündig wurde.

"Tja, wenn du so etwas willst, dann ist das hier genau das richtige. Erster Schritt: ein Pulver. Zweiter Schritt: eine Spritze."

Der Blondling spürte das Herzklopfen bis in seinen Hals hinauf jagen, als er das kleine Säckchen und die in weiches Mulltuch eingewickelte Ampulle musterte, die ihm die Viper hinhielt.

Als er sie jedoch an sich nehmen wollte, schloss sie den Schrank wieder zu und schüttelte spöttisch den Kopf.

"Also hör mal, Bill. Hast du denn wirklich so wenig Ahnung davon, wie's in der Welt zugeht?"

"Wie-... ?", fragte Fye unsicher und ignorierte nur mühsam den Parfumduft, als sie wieder an ihn herantrat.

"Du hast schon mal verdammtes Glück, dass ich dich überhaupt reingelassen habe", sagte sie leise und legte die Hände auf seine Hüften, "Und dann erwartest du auch noch, dass du davonkommst, ohne bezahlt zu haben? Für einen kleinen Dienst wie diesen erwarte ich mindestens hundert Mäuse. Also- lass rüberwachsen, aber ein bisschen dalli."

Fyes Hände zuckten.

Hilflosigkeit, glühend heiße Hilflosigkeit erfüllte seinen Kopf wie ein Ballon, der immer stärker aufgepumpt wurde.

Daran hatte er die ganze Zeit über nicht gedacht. Kein einziges Mal.

"Ja aber, ich-... ich hab kein Geld!", stammelte er mit schwacher Stimme und rang mit sich, damit seine Knie nicht einfach unter ihm wegsackten. Die Viper streifte ihn mit einem verächtlichen Seitenblick.

"So? Das ist bedauerlich. Dann tut's mir leid für dich...", meinte sie achselzuckend und wollte den Schlüssel für den Schrank weglegen. Der Knoten in der Kehle des Blondlings zog sich immer fester zu. Verzweifelt packte er ihr Handgelenk.

"H-halt-... nicht!"

Sie sah ihn gespielt überrascht an und ließ die Hand mit dem Schlüssel sinken. Dann lächelte sie.

"So ist das also?", gurrte sie, "Also schön... dann drücke ich eben nochmal ein Auge zu und lasse dich mit was anderem bezahlen."

Fye zuckte unsicher zusammen, als sie ihn bei den Schultern nahm und mit sanfter Gewalt auf einen der üppig gepolsterten Chintz-Sessel drückte. Aus glasigen Augen starrte er zu ihr empor.

Da waren sie wieder, diese weichen, schlangengleichen Finger, diesmal an seinen Wangen und seinem Hals.

Wieder fühlte er den zähen Honig ihres dunklen Blicks auf seiner Haut.

"Du hast da was", hörte er ihre flüsterleise Stimme direkt neben seinem Ohr, "Und das hätte ich zu gerne als Preis."

Scheu wich Fye ihrem Blick aus. "U-und was soll ich dann-..."

Die Viper starrte ihn an. Langsam verzerrte sich ihr süßes Lächeln zu einer gehässigen Grinsgrimasse.

"Dich ausziehen, Kleiner."
 

"Hier. Die Ergebnisse von gestern und heute."

"Hmhn..."

Ashuras stirnrunzelnder Blick glitt kritisch über die Pläne.

"Na dann. Da wird der Boss zufrieden sein. Los, Pat, beschaff uns was zu trinken."

Die vier Verbrecher an ihrem Tisch schienen äußerst zufrieden mit sich - kein Wunder, wenn einem drei erfolgreiche Einstiege hintereinander gelungen waren. Nun mussten sie sich für einige Zeit keine Sorgen mehr um ihr Wohlergehen machen.

Solange sie erfolgreich waren, wurde für sie gesorgt. Alle vier grinsten sich an.

Keiner von ihnen bemerkte den schmalen, dünnen Schatten hinter der Plane, die vor die großen Lagerhallenfenster gezogen worden war- und noch viel weniger, dass der Besitzer dieses Schattens ab und zu dahinter hervorlugte, um sie zu beobachten.

Starre, milchglastrübe Augen, die sie unerbittlich im Visier behielten.

Fye war müde. Er war so müde, dass er am liebsten eingeschlafen und nie wieder aufgewacht wäre.

Seine Handgelenke schmerzten immer noch vom Klammergriff der Handschellen. Seine Haut war klebrig von Angstschweiß. In seinem Mund haftete der zum Erbrechen süße Geschmack, den die Zunge der Viper dort hinterlassen hatte.

Sein eigener keuchender Atem hämmerte immer noch an seinem inneren Ohr wie ein Alpdrücken.

Sein Körper war geschändet. Doch er hatte es geschafft.

Regungslos wartete er hinter der dunkelgrünen Plane und beobachtete, wie einer von Ashuras Laufburschen mit einer Flasche zurückkam. "Die war noch als einzige da..."

Ashura schnappte ihm ungerührt die Flasche weg und trank sie kurzerhand aus. Dann warf er sie über die Schulter davon.

"Einer von euch ruft noch im Lauf des Tages den Boss an. Morgen ist die Übergabe."

Trotz seiner bleiernen Müdigkeit merkte Fye ein wenig auf.

Boss? Was für ein Boss? Er hatte immer gedacht, der einzige Boss in diesem Sündenpfuhl sei Ashura.

Dieser schien das Gleiche zu denken. Er rieb sich über seine Kehle und schluckte.

"... Und Fye scheint schon wieder abgehauen zu sein. Dort, wo er sich sonst immer verkriecht, war er nicht. Einer von euch macht sich später auf und fängt ihn wieder ein", sagte er und lockerte seinen Kragen.

"Und dann?"

"Und dann verpasst ihr ihm eine geriebene Tracht Prügel, was denn sonst?!", bellte der schwarzhaarige junge Mann gereizt und räusperte sich mehrmals kräftig. Seine Stimme klang brüchig.

"Aber Boss!", wagte es einer seiner Handlanger zu widersprechen, "Wenn wir ihn noch öfter verprügeln, stirbt er uns womöglich noch unter den Händen weg! Solange er die Zahlen immer noch nicht rausgerückt hat-..."

"So langsam geb ich einen feuchten Dreck auf diese verdammten Zahlen! Ich glaub allmählich, dass er die überhaupt nicht gewusst hat! Vermutlich haben seine Eltern absichtlich damit hinterm Berg gehalten, weil dieser andere-..."

Ashura brach abrupt in seiner Rede ab und hustete ein paarmal laut. Offenbar hatte er sich verschluckt.

Verstohlen schielten die blauen Augen zwischen der Plane hervor.

"Und was sollen wir dann mit ihm tun?"

Der Schwarzhaarige hustete immer noch. Wenigstens war er so taktvoll und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

"Sobald-... ihr ihn euch-... geschnappt habt-... legt ihr ihn um-... und ersäuft ihn irgendwo!", keuchte er, "Dann-... kann er seiner kleinen Freundin-... wenigstens Gesellschaft leis-..."

Wieder hielt er inne. Ein rasselndes Geräusch drang zwischen seinen Fingern hervor. Seine Untergebenen starrten ihn befremdet an.

"Boss... ?"

Wieder ein Würgen. Als Ashura seine Hände wieder herunternahm, glänzten sie blutrot. Ohne jede Vorwarnung knickte er in die Knie. Sein Husten nahm immer gequältere Züge an. Fassungslos fuhren die drei Verbrecher zurück, als ihnen ihr Anführer plötzlich einen Mund voll schaumigen Blutes vor die Füße spuckte.

"Scheiße!!"

"... Was denn mit ihm auf einmal--..."

"Boss!! Hey! Boss!!"

Völlig hilflos vor Entsetzen beobachteten die Männer, wie dem Schwarzhaarigen vor Schmerz die Augen regelrecht aus den Höhlen quollen, als er nach Luft ringend in die Knie ging. Sein Gesicht begann sich ins Bläuliche zu verfärben.

"Ruft-... Pantoliano an-...", stieß er nur noch unter zusammengebissenen Zähnen hervor, zwischen denen allmählich rot verfärbter Schaum hervorquoll, bevor er endgültig zu Boden sackte und dort in fiebriges Zucken verfiel.

"Los, ruf du ihn an! Ich bleib solange hier!"

Regungslos wie ein Stein kauerte Fye in seinem Winkel hinter den Planen.

In seinem Gesicht zuckte kein Muskel, während er beobachtete, wie in dem Raum unter ihm endgültig das Chaos losbrach.

Alles wurde leer in ihm. Bin ich jetzt zufrieden?

Die Antwort war einfach: nein. Er würde erst zufrieden sein, wenn er Ashura ganz umgebracht hatte.

Dann werd ich das wohl bald tun.

Kein einziger Hauch einer Emotion regte sich in ihm, als er diesen simplen Beschluss fasste.

Kein irres Flackern glomm in seinen leblosen Augen auf. Kein mörderischer Tatendrang ließ seine Hände beben wie bei einer Fieberkonvulsion. Keine verrückte Grimasse verzerrte sein Gesicht.

Er saß bloß da und lächelte wie ein netter, normaler Mensch, der gerade an etwas Schönes dachte.

Er fragte sich, warum es ihn so kalt ließ, dass er soeben einen Menschen vergiftet hatte.

Und er antwortete sich, dass es ihn so kalt ließ, weil er durch und durch geisteskrank war.

Ja, so musste es sein. Aus toten blauen Augen starrte er auf Ashuras zuckenden Körper fünf Meter unter ihm.

Keine Angst, Ashura. Dauert nicht mehr lange.
 

~~
 

Regen.

Feiner, mit dem bloßen Auge kaum erkennbarer Sprühregen fiel nun schon seit zwei Stunden in einem Fort vom grauwolkig verhangenen, herbstwindgepeitschten Himmel herab.

Das Murmeln und Glucksen der Regenrohre hallte hundert- und tausendfach im weitläufigen Innenhof der Schule der 'tausend blitzenden Klingen' wider und vermischte sich zu einem nicht abfallenden Wispern und Flüstern.

Der schlaksige, für sein Alter bereits ungewöhnlich groß gewachsene Junge in der Mitte des Hofes ließ sich nicht davon beeindrucken. Regungslos wie ein steinernes Götterbild verharrte er in seiner Kampfhaltung, obwohl der Regen seinen Hakama durchweichte, durch seine zerzausten rabenschwarzen Haare perlte und sein Gesicht hinabrann.

Seine mageren Hände umklammerten einen Schwertgriff. Seine purpurnen Augen funkelten vor Argwohn, als sie zur Seite glitten und misstrauisch über die Wände des Innenhofs, seine holzgetäfelten Gänge und Schiebewände, wanderten.

Wo ist er... ?

Es war riskant, sein inneres Zentrum zu verlassen, dieses Vakuum der völligen Konzentration in seinem Kopf, in das er sich immer zurückzog, wenn er gegen jemanden antrat- aber er konnte nicht anders.

Und schon im nächsten Moment sollte er es bereuen, denn so sah er den Schatten seines Gegners nicht.

Der Junge verharrte regungslos- bis plötzlich etwas vor seinem Auge vorbeischnellte. Ein hauchdünnes, kaum sichtbares Aufblinken, wie von einem Gegenstand aus Stahl, mehr nicht.

Im letzten Moment warf er sich zur Seite.

An der Stelle, an der er eben noch gestanden war, zerteilte die Klinge seines Kontrahenten zischend die feuchte Luft.

Sofort wirbelte er mit zusammengebissenen Zähnen herum und schlug mit aller Kraft, die seinem dürren Körper innewohnte, mit dem Schwert um sich, sodass sein Widersacher sofort vor ihm zurückwich.

"Na, na, nicht so verbissen, Kurogane-chan!"

"Nennen Sie mich nicht so", fauchte Kurogane nur zurück und holte wild zum nächsten Schlag aus.

Ein stechendes Klirren durchschnitt die Luft, als die beiden Schwertklingen aufeinander trafen.

"Deine Beinarbeit. Ich will mehr Beinarbeit sehen!"

Mit einem Sirren sauste die Schneide seines Gegners unter ihm hinweg, sodass er die Füße hochreißen musste, um nicht getroffen zu werden, sie umwirbelte seine schmächtige Gestalt wie ein einziger Sturm und trieb ihn zu immer schnelleren Manövern, mit deren Hilfe er sich immer wieder nur in letzter Sekunde vor der scharfen Schneide in Sicherheit bringen konnte.

Sein Kontrahent war unglaublich schnell.

Wobei- was konnte man auch schon anderes von seinem Sensei erwarten?

Verärgerter Starrsinn flammte in den lavafarbenen Augen auf, als Kurogane es endlich schaffte, der Klinge seines Meisters zu entkommen. Sofort schlug er mit aller Gewalt zurück. Sein Sensei war flink, aber er war bei weitem nicht so stark.

Der hager gebaute Mann mit dem dünnen schwarzen Kinnbärtchen wich in gekonnten Manövern den wilden Schwerthieben seines jungen Schülers aus, doch dieser täuschte mehrere schnelle Ausfallschritte an, wirbelte herum, warf sich in eine seitliche Angriffsposition und schlug beidhändig zu, wobei er ihn zielstrebig immer weiter in eine Ecke des Innenhofs trieb.

Beunruhigt fühlte sein Sensei die Wand näherkommen und wehrte sich immer frontaler, doch sein Schüler hatte es bewusst auf ein Duell der reinen Willenskraft angelegt. Er konnte immer noch nicht perfekt ausweichen, doch diese Besessenheit, die ihm schon seit seinem ersten Tag an dieser Schule innegewohnt hatte, verlieh ihm eine Kraft, deren Rohheit nicht einmal er gewachsen war.

Das Alter. Es ist mein Alter. Diese alten Knochen machen's eben nicht mehr richtig versuchte er sich innerlich zu beruhigen, während er sich allmählich in wachsender Bedrängnis sah, getrieben, gehetzt durch Kuroganes immer schneller aufeinander folgenden, immer präziseren Schwerthiebe, als hätte er tatsächlich vor, ihn zu-...

Im letzten Moment erhaschte der alte Mann eine Lücke in der Deckung seines Schülers und stieß zu.

Ein Ausfallschritt, eine schnelle Drehung aus der Hüfte und ein gut platzierter Hieb in die Kniekehlen, und er hatte den sturen Schwarzkopf am Boden. Keuchend sicherte er seine Machtposition und platzierte die stumpfe Schneide des Übungsschwertes an seinem Kinn.

Nach einem langen Schweigen lächelte er schließlich und ließ Kurogane aufstehen.

"Schön. Sehr schön. Du verbesserst dich mit jedem Mal ein wenig mehr, Kurogane-chan."

"Ich habe gesagt, Sie sollen mich nicht so nennen."

Sensei hob tadelnd die struppigen Brauen. "Wie muss es heißen?"

In den zinnoberroten Augen flackerte eine Mischung aus Scham und Trotz auf, als der Junge den Kopf abwandte.

"Ich bitte Sie, mich nicht so zu nennen, Munashii-sensei."

Sayoto Munashii legte schmunzelnd den Kopf schief und stützte sich auf seinen Schwertgriff.

"Brav so. Im Gegensatz zu deiner Kampftechnik sind deine Umgangsformen noch etwas dürftig, hmh?"

Der Junge überhörte das geflissentlich. Er stand auf und starrte seinen Lehrer abwartend an.

"Aber ich war besser heute, oder? Ich war besser!"

"Was meinst du mit 'besser' ? Ich kann dir soviel verraten, dass es bis jetzt nicht viele geschafft haben, schon mit neun Jahren gegen mich anzutreten, weil sie den Rest ihrer Kameraden bereits überflügelt haben."

"Ich bin nicht wie der Rest", entgegnete Kurogane tonlos.

Sein Sensei musterte ihn lange mit gedankenvoll gerunzelter Stirn.

"Ich weiß, mein Junge. Und genau das ist es ja, was mir solche Sorgen bereitet."

Kurogane sah seinen Lehrer verständnislos an.

Dieser seufzte nur und klopfte ihm ein wenig auf die völlig durchweichte Schulter.

"Komm, gehen wir lieber zuerst rein. Bei diesem Regen holt sich ein Knacker wie ich ja noch den Tod."
 

Die Schiebewand raschelte.

"Munashii-sama. Der Tee."

Mit einem Lächeln wandte sich der alte Mann zu dem Mädchen um, das soeben in sein Büro gekommen war, und nahm ihr das Tablett mit den beiden dampfenden Teetassen ab.

"Ich danke dir, Hikaru-chan."

Hikaru nickte und zog sich ebenso lautlos zurück wie sie erschienen war, allerdings nicht, ohne dem kleinen Lümmel, der Sensei gegenüber saß, noch schnell über das struppige schwarze Haar zu streichen.

Sie war eine der wenigen Personen, die wussten, unter welchen Umständen der Junge hierher gekommen war und welch grauenvolle Dinge er mit eigenen Augen hatte ansehen müssen, und sie wünschte sich, er würde wenigstens ab und zu lächeln.

Munashii kicherte halblaut in sich hinein, als er beobachtete, wie sich Kuroganes Gesicht angesichts Hikarus flüchtiger Liebkosung zu einer unwilligen Grimasse verzog.

Wenn der Kleine etwas nicht ertragen konnte, dann waren es Zärtlichkeiten.

Naja. Allerdings auch verständlich, wenn man diese schreckliche Geschichte mit seinen Eltern bedenkt.

Dieser Gedanke reichte bereits, um Sensei das Lächeln wieder vom Gesicht zu wischen.

"Hier, Kurogane, trink. Du hast einen anstrengenden Morgen hinter dir."

"Warum wollten Sie mich sprechen, Sensei?"

"Darf ein Sensei denn nicht einen Schüler zu sich kommen lassen, nur weil er ihn gern um sich hat?"

" 'Um ihn' oder 'ein Auge auf ihn' ?"

Munashii seufzte. Hätte er Kurogane nicht so klar und deutlich vor sich gesehen, würde er keinem Menschen glauben, dass er noch ein Kind war- nun, zumindest, was Alter und Aussehen anbelangte.

Mit jedem heranbrechenden Tag wurde dem alten Mann immer schmerzhafter klar, dass dieser Junge zwar noch den Körper und die Gesundheit eines jeden Kindes hatte- innerlich jedoch war er schon längst tot.

"Kurogane", sagte er müde und sah seinen starrköpfigen Schüler beinahe bittend an, "Ich weiß, du hörst das nicht gerne, aber Hikaru-chan und ich möchten eben gut auf dich aufpassen, jetzt, wo du hier an der Schule wohnst. Wir wollen es dir so leicht wie möglich machen. Nicht zuletzt, weil deine Eltern es so gewünscht haben."

Er hatte eindeutig das Falsche gesagt. Das schmale Kinn des Jungen zuckte leicht.

"Ich hatte Sie gebeten, nie wieder von meinen Eltern zu reden, Sensei."

"Ich weiß. Bitte verzeih. Ich bin sicher, dass es ihnen dort, wo sie jetzt sind, besser geht."

"Sie reden, als ob sie tot wären. Sensei, wieso sagen Sie mir nicht, wie ich heute beim Schwertkampf war? Bin jetzt endlich gut genug, um mit meinem Katana zu kämpfen?"

Wieder seufzte der alte Mann. Diesem Dickschädel war einfach nicht beizukommen.

"Noch ist es nicht dein Katana, Kurogane, es ist immer noch das Katana deines Vaters. Und ich habe dir bereits erklärt, dass ich es dir erst aushändigen kann, wenn du es dir verdient gemacht hast."

"Aber... !!"

"Kein aber. Dein Vater musste es sich auch erst verdienen, denn es ist eine edle Waffe, in der sich die Generationen deiner Familie verewigt haben. Und deine Hand soll sie erst führen, wenn sie die erforderliche Kampfkenntnis erfahren hat."

"Aber unser Kampf war doch gut! Ich war doch gut! Ich hätte Sie fast geschlagen!"

Der alte Mann musste unwillkürlich ein wenig lächeln bei so viel jugendlicher Engstirnigkeit.

"Du glaubst also, wenn du mich erst geschlagen hast, bist du unbesiegbar?"

Beschämt und zornig zugleich wandte der Junge den Blick ab.

"War ich nun besser oder nicht?"

"Also gut, lass es mich versuchen. Du bist schneller geworden, das habe ich mit einigem Wohlwollen beobachtet. Deine Ausdauer wächst. Und sogar deine Beinarbeit verbessert sich allmählich."

"Also bin ich besser geworden?"

"In gewisser Hinsicht: ja, allerdings, das bist du. Du steigerst dich mit jedem Mal ein wenig mehr. Und doch gibt es da noch einige Dinge an deiner Art zu kämpfen, die mir einfach nicht gefallen wollen."

"Und das wäre?"

Die struppigen Augenbrauen seines Meisters zogen sich wie bei einem jähen Anflug von Kummer zusammen.

"Es ist deine Wut, Kurogane. Ich bin vielleicht ein alter Mann, aber so viel erkenne ich gerade noch. Seit du dich von deinen Eltern verabschieden musstest, ist diese Wut in dir. Und sie bereitet mir Sorgen, verstehst du?"

Nun hatte er bereits zum zweiten Mal die Tabulinie überschritten.

Die Linie, die der Junge bereits am Tag seiner Ankunft klar und deutlich wie eine Steinmauer zwischen sich und seinem Sensei gezogen und sich augenblicklich dahinter verkrochen hatte. Kein einziger Blick dahinter wurde gutgeheißen.

"Es ist nicht so, dass diese Wut deine Kampffähigkeit beeinträchtigt", fuhr er deshalb rasch fort, "Aber sie soll nicht dein Leben beeinträchtigen, Kurogane. Sie soll in deinem Kopf- und in deinen Händen- nicht die Macht ergreifen."

"Ich weiß nicht, von was für einer Wut Sie sprechen!"

"Diese Art von Wut funktioniert wie ein lebendiges Wesen- sie muss sich von etwas ernähren, um bestehen zu können."

"Wovon soll sich Wut ernähren?"

"Von deiner Trauer. Als du fortgehen und hierher kommen musstest, warst du traurig, und das konnte man dir ansehen. Aber wieso hast du dich deiner Trauer verschlossen, anstatt dass du versucht hättest, mit ihr umzugehen?"

In den purpurnen Augen flammte es gereizt auf.

"Ich werde so lange nicht trauern, Sensei, bis ich mein Ziel erreicht habe!"

"Und was für ein Ziel soll das sein? Denjenigen zu töten, der deinen Eltern das angetan hat?"

Der Pfeil saß. Die Hände es Jungen, die er sittsam in seinem Schoß gefaltet hatte, erbebten sichtbar.

Munashii stieß ein tiefes Seufzen aus. Er hatte es von Anfang an geahnt.

"Nun enttäuschst du mich wirklich, Kurogane. Wenn du glaubst, dass ein Katana für solch einen grausamen Zweck wie einen Mord benutzt werden sollte, dann werde ich es wohl für immer wegschließen müssen."

"Das würden Sie nicht wagen!", stieß Kurogane zornig hervor.

"Doch, würde ich. Denn wenn du den Sinn eines Katanas nicht erfasst und es als vulgäre Mordwaffe missbrauchst, dann bist du kein Schwertkämpfer, sondern ein Mörder. Ein Katana, Kurogane, wird nicht geschmiedet, um sinnlos zu töten, sondern um zu beschützen. Wenn du es eines Tages ziehst und gegen den Feind richtest, um damit ein lebendiges Wesen zu beschützen, ein Wesen, das du schätzt, das du liebst- dann erweist du ihm und deinen Vorfahren, die dieses Schwert bereits benutzt haben, die heiligste Ehre, die einer Waffe zuteil werden kann."

In diesen flackernden Kinderaugen war nicht die geringste Regung zu erkennen, als Munashii das sagte.

Der alte Mann bemerkte es und senkte müde den Blick.

Selbst jetzt konnte er sie spüren, diese Wut, wie sie sich unerbittlich durch den jungen Körper seines Gegenübers fraß und wuchs, mit jedem Augenblick, da er an seine Eltern dachte und die Trauer über ihr Schicksal zurückhielt.

Wenn es niemand schaffen würde, die Wut in diesem Kind vom Wachsen abzuhalten, würde sie eines Tages zu einer leibhaftigen Bestie herangereift sein.

Eine Bestie, die in ihrer blinden Gier nach Rache schon bald nicht mehr Falsch von Richtig unterscheiden konnte, die einfach der ganzen Welt die Schuld an ihrem Los gab, weil sich der wahre Schuldige nicht finden wollte, und dafür alles und jeden, der sich ihr in den Weg stellte, bei lebendigem Leibe verschlang.

Ein Menschenfresser. In diesem Kind.

"Ich schätze kein lebendiges Wesen, Sensei."

Schweigen. Für einen Moment erlosch das Funkeln in den sonst so wachen, schwarzen Augen seines Meisters.

Plötzlich war er ganz einfach nur ein alter Mann. Gebeugt. Von Sorgen beladen.

Und müde, sehr müde.

"Ich weiß, mein Junge", sagte er schließlich leise, und seine Stimme klang wie die dünne Flamme einer Kerze, die ein kühler Windzug allmählich auszuhauchen begann, sodass sich etwas in dem Jungen schmerzhaft verkrampfte. "Ich weiß. Aber wenn du ein bisschen Geduld hast, wirst du dieses lebendige Wesen finden. Oder vielleicht findet dieses lebendige Wesen sogar vorher dich."

"Und wenn nicht?"

Kurogane zuckte überrascht zusammen, als er statt einer Antwort die Hand seines Meisters in seinen struppigen schwarzen Haaren spürte. Für einen Moment überlegte er, ob er sich wehren sollte- doch als er den erschöpften Ausdruck des Kummers in den Zügen des Mannes sah, der ihn vor wenigen Monaten bei sich aufgenommen hatte, blieb er still.

"Sensei... ?"

Munashii schüttelte nur ein wenig den Kopf.

"Mein Junge. Bitte pass auf dich auf, hörst du? Bitte pass auf dich auf."

Er würde die Seele dieses Kindes niemals erreichen können.

Die Seele dieses Kindes, die noch in ihrem Kokon gestorben war, bevor sie sich voll entfalten konnte.

Alles, was er jetzt noch hoffen konnte, war, dass dieses lebendige Wesen ihn finden würde.

Ihr ihre Flügel wiedergeben würde.

Und das so schnell wie nur irgend möglich.

Catena Fate

-"Die Sehnsucht ist es, die unsere Seele nährt, und nicht die Erfüllung."-

(Arthur Schnitzler)
 

~~
 

Eine finstere Winterdämmerung lag über Kingstonville.

Kalter Wind fegte durch die verschneiten, ruhig daliegenden Straßen des Hippieviertels.

Wenn man in den kalten Schein der einsamen Straßenlaterne an der Bushaltestelle blickte, konnte man erkennen, dass es schneite.

In feinen, kaum mit bloßem Auge erkennbaren Flocken hüllte es die morgentliche Welt in weiches Schweigen.

Kingstonvilles Lichter glitzerten in der Ferne wie ein Handwurf bunter Spielmünzen.

Regungslos starrte Kurogane zum Fenster hinaus.

Anstatt aus dem Fenster hätte er ebenso gut auf die gegenüberliegende Wand glotzen können, denn er nahm nichts davon wahr.

Ein dunkler Schleier aus Müdigkeit hatte sich schon zu Beginn der Nacht vor seinen Augen zugezogen.

Unwillig kämpfte er gegen den Drang an, sich einfach auf dem Fußboden auszustrecken. Er konnte es sich nicht leisten, einzuschlafen. Nicht nach allem, was gestern passiert war.

Dieser eine Augenblick im Finsteren vor der Kirche war es gewesen, der sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hatte.

Sie hatte gereicht, ihn seines Schlafs zu berauben, den er sich nach so einem Tag eigentlich verdient gehabt hätte.

"Ich mag dich. Und ich will nie mehr von deiner Seite weichen."

War der verdammte Blondschopf diesen ganzen Affenzirkus überhaupt wert?

Seufzend wendete der Killer den Blick vom Fenster ab und wandte sich dem Bett auf der anderen Seite des Raumes zu.

Fye schlief. Nun- zumindest sah es danach aus.

Starr und regungslos wie ein Toter lag der junge Blondschopf bäuchlings auf der Matratze. Seinen Kopf hatte er in das Geviert aus Oberarm, Achselschwung und Ellenbogen gelegt. Die bunt gemusterte Decke hob und senkte sich sanft unter seinen Atemzügen.

Er wirkte seltsam verloren, wie er so dalag.

Falsch, dachte Kurogane müde, nachdem er seinen Gefährten für einige schweigende Augenblicke gemustert hatte, Das ist falsch. Die Frage ist, ob ICH diesen ganzen Affenzirkus überhaupt wert bin.

"Wieso bist du wach geblieben?"

Überrascht wandte er sich um und starrte Richtung Bett. "Was... ?"

Ein Paar ausdrucksloser Augen starrte stoisch zurück.

"Warum bist du wach geblieben?", wiederholte Fye leise seine Frage.

"Weil du sonst wieder aufgestanden wärst", antwortete der Schwarzhaarige ruhig, "War es unbedingt nötig, mir die ganze Nacht über vorzugaukeln, du würdest schlafen?"

Der Blondling antwortete nicht. Kurogane seufzte und setzte sich zu ihm auf die Bettkante.

"Hör zu. Ich war nochmal im Dezernat und habe diesen Ashura in den Großrechner eingegeben. Er steht in der Verbrecherdatei."

Dass ihm diese Heimlichtuerei am frühen Morgen alles andere als behagt hatte, und ihm außerdem noch fast alle dezernatsinternen Suchprogramme bei diesem Namen die Ergebnisse verweigert hatten, brauchte der Blondling nicht zu wissen.

"Ist Ashura das einzige Wort, das du dir von gestern gemerkt hast?", erwiderte dieser nur tonlos.

Kurogane rollte seufzend mit den Augen. Er hatte es ja kommen sehen.

"Nimm's mir nicht übel, aber ich würde das von gestern gerne aus meinem Gedächtnis streichen."

Der Blick dieser eisblauen Augen fuhr ihm wie glühendes Metall in die Hirnwindungen hinauf.

"W-... was... ?", fragte Fye schwach, die Stimme kaum mehr als ein halblautes Krächzen.

"Du scheinst gar nichts begriffen zu haben. Ich bin kein Mensch, den du mögen kannst. Dazu kommen noch die Serienmorde, und meine Verfolger. Wir werden beobachtet, und du spürst es ebenso wie ich. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ihr drei für eure Hilfeleistungen bluten müsst. Wir sind alle so gut wie tot!"

"Nein", entgegnete der Blondling leise, "Wir sind nicht tot, wir waren tot."

"Sag mal, willst du es denn nicht verstehen?! Ich bin ein Mörder!"

"In diesem Haus, Kurogane, gibt es mehr als nur einen Mörder."

Auf einmal erschien ihm das Gesicht seines Gegenübers unnahbarer als je zuvor.

"... Und-... und dazu bin ich ein Mann, falls dir das noch nicht aufgefallen ist!", stieß der Schwarzhaarige hastig hervor.

Fye sah ihn verärgert an. "Was, im Ernst? Bis gestern dachte ich, du wärst bloß eine Drag Queen."

"Fällt dir wirklich nichts besseres ein? Ich habe ganz einfach das Gefühl, dass das nicht funktioniert! Nicht auf diese Weise jedenfalls! Es ist zu gefährlich, und mit ein wenig Vernunft in deiner Nuss würdest du das auch so sehen!"

Noch während des Sprechens fühlte der Killer, wie sich ein lästiger Kloß in seinem Hals zu bilden begann.

Die ganze Nacht und den halben Morgen über hatte er auf diesen Worten herumgekaut, hatte sie wieder und wieder gesiebt und abgewägt, doch nun kamen sie ihm vor wie der reinste Müll.

"Hast du's schon mal getan?"

Augenblicklich fuhr der Schwarzhaarige zu Fye herum. "Was?!!"

Diese eisblauen Augen wirkten wie abgestorben, als sie sich ausdruckslos an den Seinigen festhefteten.

"Hast du schon mal mit jemandem geschlafen?"

Kurogane konnte förmlich spüren, wie ihm das Blut in den Wangen aufwärts stieg.

"Natürlich nicht!", keifte er gereizt, "Wieso sollte ich auch?! Du etwa?"

Noch während er das sagte, kam ihm der Gedanke, dass es möglicherweise etwas roh klang, so wie er blaffte - und als er Fyes Gesicht sah, wusste er es. Augenblicklich schämte er sich.

"Wenn du schon so fragst: ja, habe ich", antwortete der Blondschopf müde und richtete sich wackelig auf der Matratze auf, "Aber ich wünschte, es wäre niemals passiert. Es war hässlich. Und schmutzig. Ich hatte Angst."

Schweigen. Kurogane starrte Fye wortlos an. Er hat es schon mal-... ?

"Wieso, was war?"

"Was soll schon gewesen sein?", fragte der junge Mann mit merkwürdig flacher Stimme, "Ich wurde von einer wolllüstigen Schlange halb vergewaltigt, weil mir in diesem einen Augenblick keine anderen Möglichkeiten gegeben waren. Mein Körper war geschändet. Ich habe mich selten so beschmutzt und missgestaltet gefühlt wie an diesem einen Tag."

"Und diese Frau hat dich damit so abgeschreckt, dass du jetzt auf Männer stehst?"

"Hör auf, so mit mir zu reden Kurogane!", stieß Fye verbittert hervor, "Wenn du mir Notgeilheit unterstellen willst, dann mach das wenigstens wörtlich! Wenn ich dir gestehe, dass ich gerne an deiner Seite bleiben möchte, will ich damit nicht sagen, dass ich jedesmal eine Latte kriege, wenn ich dich sehe, oder nachts davon träume, dir meinen Finger in den Mund zu schieben!"

Seine Augen glänzten so stark, dass Kurogane für einen Moment neue Tränen von seiner Seite fürchtete.

"... Denn wenn ich dir sage, dass ich dich mag, dann sage ich dir das, weil ich mich verbunden zu dir fühle. Wenn ich deine Hand anfasse oder dein Gesicht, dann tue ich das, weil ich mich darin wieder erkenne... und wenn du etwas zu mir sagst, dann merke ich, dass da in diesem Raum zwischen uns mehr ist als nur Worte und Luft."

Er musterte ihn voller Wärme und Hochachtung, den der Killer zuletzt in längst vergessenen Tagen bei seinen Eltern bemerkt hatte.

Er zuckte leicht zusammen, als er plötzlich die hellen, weichen Finger des Blondlings an seinen Wangen spürte.

"Verstehst du? Meine Schwächen und Sorgen... und Ängste... das alles an uns gleicht sich so sehr, dass ich mich in dir wiederfinde Und ich möchte dir nahe sein, weil da nichts ist, was uns trennt", stammelte er und strich in hilfloser, verschämter Zärtlichkeit mit den Fingerspitzen über Kuroganes Wangenknochen, als befühle er goldene Geschmeide, "Wir sind aneinander gekettet."

Der Schwarzhaarige schluckte schwer. Verunsichert versuchte er das warme Prickeln von Fyes Fingerspitzen an seinen Wangen zu ignorieren. In seiner Magengegend machte sich ein schwirrendes Gefühl breit.

Er hätte in diesem Moment alles tun können. Außer sich gegen Fyes Berührung zu wehren.

"Und was genau macht meine Nähe für dich so angenehm?", fragte er nach einem langen Schweigen.

"Hast du noch nie bemerkt, dass ich keine Sekunde stillhalten kann?", erwiderte der Blonde, "Ich bin ein Flattermann, und das weißt du auch. Die Gedanken und Sorgen, die mich umtreiben, lassen mir keinen Moment Ruhe. Aber du, du bist so..."

Er brach ab. Ein kleines, bitteres Lächeln stahl sich auf seine Züge.

"Und hier haben wir es wieder. Das alte Problem. Menschen wie dich kann man eben nicht beschreiben."

Ehe sich Kurogane versah, kam plötzlich Leben in seine Hände, die bisher regungslos auf der Decke gelegen waren.

Schnell und mühelos tasteten sie sich zu den Handgelenken des Blondlings. Hielten sie fest.

"Würdest du's versuchen?", fragte er ruhig.

Da war er wieder, diese weiche Ausdruck auf seinem hellhäutigen Gesicht.

"Okay, ich-... ich will's versuchen", gab er sich schließlich geschlagen, "Du bist-... ein Fels in der Brandung. Du widerstehst dem Meer und dem Wind, ohne dich zu beklagen. Du bist ein Ruhepunkt. Überall. Ein Fels, auf den man sich zutreiben lassen und dann dort verweilen will. Und aus all dieser Ruhe bricht deine Kraft hervor wie ein Vulkan. Man fragt sich jedoch, warum du sie nur dazu benutzt, um dich von deiner Umwelt abzuschotten. Du bist ständig damit beschäftigt, deine Mauern zu ziehen. Aber-... aber es ist aufregend, wenn du einen schwachen Moment hast... und dich für wenige Augenblicke nicht entziehst."

Das Kinn des Schwarzhaarigen zuckte.

Verwirrt spürte er, wie als Reaktion ein ungewohnter Schleier aus Wärme über seine Wangen zog.

"... Und du?", fragte er dann mit ernster Stimme, "Glaubst du denn, du seist nichts? Du verbirgst dich in deinem kleinen Schneckenhäuschen vor mir, weil du Angst hast, dass mir was an dir nicht passt. Aber da ist nichts, wofür du dich vor mir schämen müsstest. Nichts, hörst du?"

Der Blondling starrte ihn an. Ein scheues, kaum erkennbares Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.

"Ich frage mich nur, ob du... oh Gott, ob du mich hasst... oder ob du der einzige Mensch bist, der mich jemals so verstanden hat."

Seine Stimme klang so käferklein und dünn wie die eines Kindes, als er das sagte.

Kurogane sah ihm mit einem ruhigen Blick ins Gesicht.

"Ich hasse dich nicht."

Die eisblauen Augen wurden rund wie Murmeln.

"...Nein?"

Wie scheu er das fragte. Als ob er es nicht glauben könne. Kurogane schüttelte als Antwort den Kopf.

Und er hielt den Atem an, als er als Reaktion auf seine Worte wieder diese Perle in des anderen Gesichtszügen erblickte.

Da war sie. Doch diesmal war es kein Schmerz, der sie hervorgebracht hatte.

Und sie nahm ihn völlig gefangen. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, wollte nicht.

Bis plötzlich polternde Schritte auf der Treppe sie beide aus ihren wirren, ziellos umherflatternden Gedanken hochrissen.

"Fye-saaahaaaan!! Kurogane-saaahaaaan!!"

Kurogane entriss dem Blondling seine Hände und schnellte von der Bettkante hoch, als die Zimmertür aufging.

"Guten Morgen!", sagte Shaolan kumpelig, der soeben den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte, "Ich wollt euch nur sagen, dass Claire zum Frühstück gekommen ist! Wollt ihr nicht auch mit runter?"

"Supergern!", trällerte Fye übermütig, "Meine Muffins werden ihr sicher schmecken!"

Shaolan nickte. Angesichts der blassen Visagen der beiden runzelte er jedoch die Stirn. "Alles okay mit euch?"

"Natürlich, das sieht man doch", knurrte Kurogane unter einer wegwerfenden Handbewegung, "Wir kommen gleich nach."

Kaum, dass der Junge wieder draußen war, wurden die Augen des Blondlings glasig.

"Ist das deine Antwort?", fragte er leise.

"Du kennst meine Gründe", erwiderte der Schwarzhaarige tonlos. Der Blonde lächelte nur müde. Der einstmalige Kadett verbat dem einstmaligen kleinen Jungen, sich einfach gehen zu lassen, er konnte es sehen.

"Ich weiß. Ist schon okay."

"Es ist zu gefährlich", wiederholte der Schwarzhaarige nur. Sein jüngerer Gefährte seufzte.

"Ich sagte doch: ich weiß. Lass uns lieber runtergehen, bevor wir wieder mit Streiten anfangen, und ein wenig mit den anderen reden. Claires Geburtstermin ist für diese Woche angesetzt, und sie ist ziemlich aufgeregt."

"So, ein wenig reden? Und worüber, wenn man fragen darf? Dann bin ich wenigstens gewappnet."

Trotz dem Ernst des Augenblicks konnte sich Fye ein kleines, schiefes Grinsen nicht verkneifen.

"Vermutlich über Liebe, Sex und Partnerschaft, so wie ich die drei kenne."

Mit einem markerschütternden Ächzen vergrub Kurogane sein Gesicht in den Händen.
 

"... Okay. Jetzt null-null-eins-sieben-vier-Querstrich-..."

Yukitos Finger tanzten über die Tastatur, als wollten sie einen irischen Jig hinlegen.

"Halt, halt, mach mal langsam!", beschwerte er sich und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, "So schnell wie du redest, kann nicht mal Iron Man mithalten! Also, null-null-eins-sieben-vier-Querstrich..."

"... dreimal die fünf, einmal die acht", vollendete Toya mit bedeutsamer Miene das Zahlenkürzel für den Aktencomputer des pathologischen Instituts von Kingstonville und klappte sein Notizbuch zu.

"Klingt wie die Telefonnummer vom Little Nero's-Pizzaservice...", seufzte der junge Gerichtsmediziner sehnsüchtig.

"Keine Chance", entgegnete sein langjähriger Freund kaltblütig, "Du hast mir schon beim Frühstück schier die Haare vom Kopf gefressen! Und ich will nicht als armer, halb verhungerter Pillenschlucker sterben, damit das klar ist!"

Das Argument war einschlägig. Verärgert sah sich Yukito nach Johansen um, der gerade die Aktenspeicher am Computer nebenan durchging. "Johansen, jetzt sagen Sie doch auch mal was!"

"Doch auch mal was."

Der bebrillte junge Mann stieß einen Laut der Frustration aus und wandte sich wieder dem Suchprogramm zu.

"Also? Tut sich schon was?", erkundigte sich der Kommissar nach einer Weile ungeduldig, "Ich hab doch die richtigen Aktenkürzel genannt! Und die Akten sind noch nicht verschlossen, oder? Theoretisch müssten sie druckfähig sein!"

Johansen seufzte. "Gedulden Sie sich, Kinomoto. Das Programm läuft noch durch."

"Habt ihr's auch schon gehört?", fragte Yukito, während er zur Freigabe der Akte Yamazawa noch sein Passwort eingab, "Vorletzte Nacht musste anscheinend schon wieder einer dran glauben! So ein Anwalts-Aal namens Chardonnay!"

"Erinner mich bloß nicht daran", ächzte Toya. Er hatte vor Wut die Morgenzeitung noch am Frühstückstisch zerrissen, als Fullright ihn benachrichtigt hatte, dass Chardonnay das erste Opfer sein würde, das unter die Verantwortlichkeit des Dezernats fiel. Sicher würden diese Oberfuzzis die Daten nur in ihren eigenen Großrechner einspeisen, der an ein separates Stromnetz angeschlossen war. Keine Chance, da ranzukommen- außer vielleicht über eine undichte Stelle in der Außenhaut. Ein potenzieller Sympathisant, der sich kooperationsbereit zeigte. Doch solche Sympathisanten waren wie Jackpots. Brauchte man einen, war nie einer da.

"Hier", sagte Johansen soeben und riss den Kommissar aus seinen verbohrten Gedankengängen, "Voilà. Die komplette Akte Ludwig Delnatte - Madeleine Delnatte. Das volle Repertoir."

"Es reicht mir, wenn die Daten des Ablebens dabei sind", entgegnete Toya.

"Na fein, die ist hier auch dabei. Drucken und einsacken?"

"Worauf Sie einen lassen können."

"Jawohl, Sir. Sie könnten mir übrigens ruhig mal für die grandiose Idee, im Institut die Daten zusammenzusuchen, ein wenig in den Arsch kriechen!", bemerkte der Gerichtsmediziner, "Mal ganz im Ernst, was täten Sie nur ohne mich?"

"Vermutlich ein friedliches, erfülltes Leben führen, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf."

"Hier haben wir Yamazawa!", verkündete Yukito, "Sogar die vollständige Version!"

"Sehr gut. Die drucken wir auch noch, dann haben wir alle Akten der bisherigen Opfer beisammen, und machen uns so schnell wie möglich vom Acker. Und dann will ich endlich zu Sakura."

Yukito wurde blass. "Du hast ihre Adresse schon rausgefunden?"

"Hey, mein Job bietet immerhin auch ein paar winzige Vorteile", meinte Toya, "Sie wohnt tatsächlich mit diesem Flückiger, seinem schwarzen Spielgefährten und dem Knirps unter einem Dach. Beethovenstraße dreiunddreißig."

"Und Sie halten es für ratsam, bei Ihrer Schwester so mit der Tür ins Haus zu fallen?", erkundigte sich Johansen ernst, wobei er einige Mühe hatte, das Stöhnen und Rattern des altertümlichen Druckers zu übertönen.

"Anders geht es nicht", erklärte der Kommissar schlicht, "Sonst haut sie gleich wieder ab. Was kann schon schiefgehen?"

"Naja, sie könnte sich umbringen vor Wut oder Verzweiflung, sie könnte dich umbringen vor Wut oder Verzweiflung, ihr könntet euch gegenseitig umbringen vor Wut oder Verzweiflung...", zählte Yukito auf.

"Du hast doch keine Ahnung", blaffte Toya gereizt.

"Ich mache mir eben Sorgen um dich, du große hohle Kokosnuss."

"Mir kommen gleich die Tränen, ihr zwei Mäuschen", kommentierte Johansen trocken und schnürte die Masse an Dokumenten, die der Drucker soeben ausgespuckt hatte, sorgfältig zu mehreren Bündeln zusammen, "Und jetzt? Weitermachen?"

"Jawohl", erwiderte der junge Mann, "Dann schnappen Sie sich schon mal den Aktenkram, Johansen, und bringen ihn nach draußen. Dass wir hier nach Daten gesucht haben, wird nicht lange unbemerkt bleiben, also sollten wir wenigstens versuchen, einen möglichst diskreten Abgang einzulegen. Fullright wollte auch noch ins Institut kommen, um sich Chardonnay mal ein wenig näher zu besehen."

"Waaaaas?!", japste Yukito entgeistert, "Fullright wird hierher kommen?! Aber-... aber wenn-..."

"Mir ist klar, was alles passieren könnte!", seufzte Toya ungeduldig, "Beeilen Sie sich besser, Johansen."

Johansen nickte und machte sich mit den Aktenbündeln unter dem Arm auf den Weg.

Wenige Minuten später stand er wieder in der Tür.

"Was ist los?"

"Wenn man den Esel nennt, dann kommt er gerennt", erklärte der Gerichtsmediziner sarkastisch, "Der liebe Justin war gerade auf dem Gang und wollte Sie sprechen. Sie sollten sich jetzt schleunigst was einfallen lassen, Kinomoto."

Toya wurde blass. Sein Herzschlag machte einen kurzen Ausflug in seine Kniekehlen. Ganz ruhig.

"Johansen, Sie gehen mit den Akten schon mal vor. Yukito und ich bleiben hier und fertigen Justin ab."

Wenn der Kommissar seinen berüchtigten James Bond-Tonfall anschlug, duldete er für gewöhnlich keine Widerrede- brav nahm Johansen die Aktenstapel wieder hoch und verließ das sterile Büro, um sich einen Weg durch den belebten Gang zu suchen.

Wenige Sekunden später erschien auch schon Justin Derrick Fullright im Türrahmen.

Er war ein junger Mann mit blauschwarzem, streng gescheiteltem Haar, buschigen schwarzen Augenbrauen und einem dünnen Oberlippenbärtchen. Irgendwie hatte er etwas von einem biederen französischen Zwiebelverkäufer.

Doch leider steckte mehr in ihm, als man vermutete. Wieviele Männer konnten gleichzeitig einen Einsatzwagen mit Hundertachtzig durch die Kurve lenken, ein Schießduell erfolgreich beenden und dabei auch noch seine Kontrahenten verspotten?

"So so so", sagte er mit gerunzelter Stirn und starrte die beiden jungen Männer in dem zu dieser Uhrzeit leeren Büro sichtlich skeptisch an, "Was soll denn das hier werden? Ein Sit-In unter Kollegen?"

"Weder noch, Justin", erwiderte Toya, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, "Tsukishiro-san, Doktor Johansen und ich verkehren in letzter Zeit eben öfter als gewöhnlich miteinander, jetzt wo wir nichts mehr zu tun haben."

"Ah ja. Natürlich. Ich meine, was auch sonst?", erkundigte sich Fullright achselzuckend, wobei sich sein Tonfall beim besten Willen nicht einordnen ließ, "Sie haben mein vollstes Vertrauen, Kinomoto-san. Und wenn wir schon einmal von Ihrem neuen Busenfreund Johansen reden, seit wann ist er sich denn nicht mehr zu schade dafür, ganze Aktenberge zu schleppen?"

"Nun, dass auch Akten wichtig sein können, muss bei ihm wohl eine Erkenntnis des Alters gewesen sein..."

Die blass fischfarbenen Augen seines direkten Amtskollegen weiteten sich in scheinbarem Erstaunen.

"Auch Akten sind wichtig? Herrgott, Sie haben Recht! Wo Sie das so sagen, fällt mir wieder ein, dass es in Johansens Fall sogar außerordentlich wichtige Akten waren! Yamazawa... Delnatte... Navras... sagen Ihnen diese Namen nicht etwas?"

"Was für eine Frage. Ich hörte, einige leere Aktenschränke sollten noch bestückt werden..."

"Ach tatsächlich? Wie wär's zum Beispiel mit Ihren? Als ich Sie heute morgen in Ihrem Büro gesucht habe, sah es dort aus, als hätte sich das kleine Papierfresserchen dort über Nacht einquartiert."

Toya schluckte schwer. Er hatte Fullright nie wirklich für dessen leicht ölig anmutende Art geschätzt, und in diesem Moment beschloss er, dass er sie nicht nur ablehnte, sondern auch hasste.

"Mein Zeug muss mal wieder geordnet werden. Keine Sorge, ich werde auch weiterhin zur Arbeit erscheinen."

Fullright musterte seinen langjährigen Kollegen, ohne auch nur einmal mit dem karpfenhaften Bärtchen zu zucken.

"Wunderbar. Also schön, dann nehme ich eben an, dass Sie Ihr Zeug ordnen. Schätzen Sie sich glücklich..."

Bei diesen Worten lehnte er sich in dem Türrahmen nach vorne, sodass seine jüngeren Zuhörer automatisch blass wurden, als sie sich dem Blick dieser fischblauen Augen ausgesetzt fühlten wie einem Röntgenapparat.

"... Denn jeder andere Mensch, der auch nur halbwegs bei Verstand ist", sagte Fullright leise, wobei er jedes Wort als solches betonte, "Würde mit einer gewissen Sicherheit vermuten, dass ihr drei saubere Burschen etwas... ausbrütet."

Dann richtete er sich auf und ging. Seine Schritte hallten in Yukitos und Toyas Ohren noch lauter wider als auf dem Gang.

Lange blieb das frostige Schweigen, das er in dem Büro zurückgelassen hatte.

"Ach, heilige Mutter Gottes", seufzte Yukito schließlich mit deutlich desolatem Unterton.

Toya runzelte die Stirn. Wenn sein Kumpel religiöse Anwandlungen bekam, hatte das nie etwas Gutes zu bedeuten.

"Wieso hab ich nur das Gefühl, dass Fullright bereits vollstens Bescheid weiß und nur noch auf eine Gelegenheit wartet, uns die Hinterteile rauszureißen?"

"Wieso hab ich nur das Gefühl, dass du immer Verfolgungswahn kriegst, wenn du zuviel isst?", fragte Toya zurück.

"Du bist beknackt."

"Unter anderem. Und jetzt Abmarsch nach unten."

"Aber Fullright wird über uns denken-...", fing der Bebrillte protestierend an- sein Freund jedoch ächzte nur missbilligend.

"Weißt du, was ich über Fullright denke?"

"Hmh. Ich müsste raten."

Yukito und Toya sahen sich fragend von der Seite an.

Sie brauchten nicht lange, um zu erkennen, dass sie genau dasselbe dachten, also fiel es ihnen nicht schwer, es auszusprechen.

"Volldepp", sagten sie unisono.
 

"... Und dann hat er noch gemeint, ich sollte noch möglichst diese Woche vorbeischauen."

"Echt? Na, dann dauert es ja nicht mehr lange!"

Claire nickte fröhlich. Fye schenkte ihr Tee nach.

Die ganze Küche war in mollige Wärme gehüllt, in der sie nun zu fünft zu Mittag aßen. Beim Frühstück hatten sie sich so gut unterhalten, dass sie Claire eingeladen hatten, noch zum Mittagessen zu bleiben.

"Mein Arzt hat noch gemeint, ich solle-..."

Noch während ihrer Worte brach sie plötzlich ab und blinzelte. Was war das gewesen?

Fye schien es nicht bemerkt zu haben und redete munter weiter.

"Dass du was solltest? Mann, bin ich vielleicht gespannt auf Kyle!"

"He-... was ist los?", fragte Kurogane Claire jedoch und starrte sie durchdringend an, da er ihr Stutzen als einziger bemerkt hatte.

Sakura und Shaolan hoben verwundert den Blick, als ihre Nachbarin nur mit einem Stottern antwortete.

"Ich-..."

Ohne jede Vorwarnung knickte sie mit einem rasselnden Aufächzen in die Knie.

"Claire?!", stieß Fye sofort entgeistert hervor und packte sie bei den Schultern, "Was ist?! Was hast du?"

"Ich, ich-... ich habe-..."

Wieder krümmte sich die junge Frau wie ein Wurm am Haken.

Und als Kuroganes Blick auf ihre Hände fiel, die sich zitternd auf ihren enormen Bauch pressten, rutschte ihm das Herz von seiner Magengrube endgültig in die Hosen.

"D-du-... du hast doch wohl nicht jetzt deine Wehen?!!"

Fye, Sakura und Shaolan wurden weiß wie Gespenster.

"Waaaaaaaas?! Claire, du hast-... d-du hast Wehen?!"

"Oh heilige Mutter!!"

"Verdammt, Scheiße, Mist, was sollen-..."

"So... leid... es... mir tut!", keuchte Claire verzweifelt zwischen ihren fast schon hechelnd gehenden Atemzügen hervor, "Ich... suche mir... das nicht aus! Wir-... wir müssen-..."

"WAS müssen wir?!!"

"Ja was wohl?", fiel Fye fieberhaft ein und nahm das Mädchen, das sich mittlerweile kaum noch richtig auf den Beinen halten konnte, am Arm, "Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen! Komm schon, Kuro-rin, schnell!"

"Wieso ausgerechnet ich?!"

"Weil du als einziger von uns einen Führerschein hast!", erklärte der Blondschopf fieberhaft, während er sich im Eingang schleunigst seinen hellen Mantel überwarf und auch Claire in eine Jacke verpackte, "Und du hast ein Auto! Na los, worauf wartest du, mach schon!! Oder soll Kyle eine Hausgeburt werden?!"

"Lieber Haus- als Autogeburt!"

"Bitte, Kurogane!", wimmerte die junge Frau und wand sich in ihren Wehen, "Wenn wir jetzt fahren, schaffen wir's vielleicht noch!"

Der Schwarzhaarige seufzte. Er war zwar ein ausgemachter Dickschädel, doch unvernünftig war er nicht.

Wenn Claires erstes Baby tatsächlich eine Fehlgeburt gewesen war, wollte er nicht schuld daran haben, dass auch ihr zweites Kind dieses Schicksal ereilte, und mit ärztlicher Hilfe bestand definitiv eine größere Chance auf das Leben des Babies.

"Ihr zwei passt aufs Haus auf!", rief er Shaolan und Sakura über die Schulter zu, "Wenn was schief läuft, rufen wir euch an!"

"Okay! Viel Glück, Claire! Ihr drei macht das schon!"

"Hals- und Beinbruch!"

"Gleichfalls", murmelte Kurogane zerstreut, während er hastig seinen Mantel anzog und in seine Schuhe schlüpfte.

Dann nahm er die arme Claire, deren Knie sich mittlerweile verflüssigt hatten, kurzerhand hoch wie ein Bräutigam seine Braut und rannte in Begleitung von Fye zur Auffahrt, wo sein Jaguar geparkt stand.

"Auf den Rücksitz mit euch!"

Türen schlugen zu, ein Motor heulte auf, und Fye und Claire brüllten unisono los, als der Schwarzhaarige das Gaspedal voll durchtrat und der Wagen wie eine gezündete Kanonenkugel die Straße hinunterschoss.

"Du-... hast doch... hoffentlich... Winterreifen dran?", keuchte die junge Frau, während der Blondling ihr unter einigen Mühen den Sicherheitsgurt umlegte.

"Seh ich lebensmüde aus?", knurrte Kurogane, während er den Wagen durch die ausladenden Kurven der Serpentinenstraße Richtung Zentrum lenkte, "In welches Krankenhaus müssen wir überhaupt?"

"Ins-... Sisters of Mercy-Hospital... mein Geburtstermin war dort für diese Woche ausgelegt-... es ist im Zentrum, wenn man Richtung Reichenviertel fährt-..."

"Gut. Das genügt schon."

"Kannst du's noch halten, Claire?", fragte Fye mit blassem Gesicht, als seine Nachbarin immer krampfhafter nach Luft schnappte und auf dem Autositz herumzurutschen begann.

"Ich-... denke schon-..."

Nach wenigen Minuten ließ der Wagen bereits die Serpentinenstraße hinter sich und schoss wie ein geölter Blitz über die holperigen Wege der Vorstadt, Richtung Hauptverkehrsader.

Doch nach einer Weile bemerkte Fye allmählich, dass etwas nicht stimmte.

Sein Mitbewohner warf immer wieder skeptische Blicke in den Rückspiegel und gedachte trotz der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht, seinen Fuß vom Gaspedal zu nehmen.

"Was ist los, Kurogane?"

Der Killer ließ seinen Blick stoisch geradeaus gerichtet und bog unvermutet um eine Kurve.

"Wir werden verfolgt."

"Was?!", japste Claire mit schreckensstarren Augen und wirbelte sofort auf dem Sitz herum, um durch die Heckscheibe zu starren, "Wo? Wer sollte uns denn verfolgen?"

"Nicht umdrehen", erwiderte Kurogane nur mit hartem Tonfall, "Die sollen keine Lunte riechen."

"Guck immer geradeaus, Claire", sagte Fye freundlich zu seiner Nachbarin und nahm sie an den Schultern, damit sie sich wieder umdrehte, "Es wäre wohl wirklich besser, wenn sie denken, wir sehen sie nicht. Welches Auto ist es?", wandte er sich dann an seinen schwarzhaarigen Kompagnon.

"Ziemlich dicht rechts hinten", lautete die ruhige Antwort, "Der rote Ford. Sie haben sich schon auf der Serpentinenstraße an uns gehängt. Und wenn ich abbremse, überholen sie nicht."

"Was schlägst du vor?"

"Erst mal nichts. Wir wissen nicht, was sie von uns wollen."

Claire konnte trotz der Wehen ihren Ohren nicht trauen. Wie zum Teufel konnten die beiden bei so einem Gesprächsthema nur so bierernst bleiben? Vom Tonfall her hätten sie sich genauso gut über die neusten Benzinpreise unterhalten können.

Sie erreichten nun die Hauptverkehrsader von Kingstonvilles Zentrum, das sich wie ein einziger gewaltiger Dschungel aus Glas, Stahl, Beton, schillernden Reklamen und Menschen vor ihnen aufbaute wie der New Yorker Broadway.

"Die lassen sich einfach nicht wegkomplimentieren", brummte Kurogane sichtlich verärgert mit einem Blick in den Rückspiegel und wechselte immer wieder den Fahrstreifen, "Und diese Fettsäcke hinter dem Steuer hab ich noch nie gesehen!"

"Aber was wollen die nur?", stieß Claire verzweifelt hervor und schlang mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Arme um ihren Bauch, "Wir haben ihnen doch nichts getan?"

"Wenn sie uns die Knarre an den Kopf halten, sagen sie's uns vielleicht noch, bevor sie..."

"Kurogane!", sagte Fye mit scharfer Stimme, "Hör auf, den Teufel an die Wand zu malen und fahr lieber!"

"Ich male nicht den Teufel an die Wand, ich sage nur, was passieren könnte, wenn sie-..."

Ein lauter Knall unterbrach ihn mitten im Satz. Mit grauenerfüllten Augen starrte Claire auf den Wagenboden.

"Was-... was-..."

Fye warf einen zögernden Blick über die Schulter und wurde kreidebleich.

"Die-... die eröffnen das Feuer!"

"WAS?!!"

"Die haben Kanonen im Anschlag!"

Der Killer musste nur kurz in den Rückspiegel sehen, um sich zu vergewissern. Einer der beiden fetten Armani-verpackten Gangster im Auto richtete sich in seinem Sitz auf und schob ein Maschinengewehr mit langem Lauf durch das Fenster.

Keine Frage, worauf es gerichtet war. Kuroganes Jagdtrieb erwachte.

"Festhalten", sagte er nur noch und trat das Gaspedal durch.

Auf der Straße stoben die Leute kreischend auseinander, als plötzlich ein Jaguar wie ein gewaltiges schwarzes Raubtier über den Zebrastreifen fegte und sich unter halsbrecherischen Manövern an den unzähligen anderen Autos auf der Straße vorbeikämpfte, um mit quietschenden Reifen in die nächstbeste Kurve zu schießen - dicht gefolgt von einem roten Ford.

Ungläubig starrte Kurogane in den Rückspiegel und sah, dass der Fettsack bereits zielte.

Der wird doch wohl nicht-...

"KOPF RUNTER!!"

Fye reagierte keinen Moment zu spät. Claire schrie auf, als er sie bei den Schultern packte und sie mit sich nach unten auf den Rücksitz riss, sodass der Wagen einen Satz machte.

Keine zwei Sekunden später erzitterte die Heckscheibe bereits von den Kugeln, die an ihr abprallten.

"W-wieso geht die nicht kap-..."

"Die sind kugelsicher, genau wie die Reifen, aber ich weiß nicht, wie lange das hält, also bleibt unten, kapiert?"

Claire sank das Herz in die Hosen, obwohl sie einen Rock anhatte.

Was war das für ein Mann, der kugelsichere Reifen und Scheiben in seinem Auto hatte? Vor lauter Angst wurde sie von ihren Wehen noch stärker durchgeschüttelt als ohnehin schon. Kyle meldete sich zu Wort, und zwar vehement.

Vor Schmerz begann sie zu weinen. Fye nahm sie bei den Schultern und hielt sie fest.

"Hör nicht hin. Hör ganz einfach nicht hin."

Hilflos klammerte sich die junge Frau an die Handgelenke ihres Nachbars und presste die Augenlider aufeinander.

Das Zischen und Knattern der Kugeln und ihrer Querschläger klang ganz anders, als sie das aus Filmen oder Büchern kannte.

Sie klangen so echt. Und so nahe. Viel zu nahe.

Die Menschen auf dem Asphalt spritzten auseinander wie Wasser, als der Jaguar mit heulenden Reifen um die Ecke donnerte, Richtung Reichenviertel, immer noch mit dem Ford auf den Fersen, dessen Beifahrer wie verrückt auf die Heckscheibe seines Opfers ballerte. Die Stoßstange ächzte. Das Metall kreischte fast noch lauter als die Reifen.

Nun galten keine Verkehrsregeln mehr.

Nur noch fahren, fliehen, entkommen.

Mit knapper Not wich Kurogane einem breit gebauten Bentley aus, wobei er stur das Prasseln und Fauchen der Kugeln hinter seinem Rücken ignorierte. Es war nicht das erste Mal, dass er sowas durchmachte.

Sie kamen nun in eine der ruhigeren Verkehrszonen abseits der Hauptverkehrsader. Das Hospital war nicht mehr weit.

Fiebrig hielt der Schwarzhaarige nach einer Möglichkeit für ein Ablenkungsmanöver Ausschau, bis sich Fye plötzlich zu Wort meldete. "Kurogane, da vorne!"

Hektisch starrte er durch die Windschutzscheibe. Da war eine engere Seitengasse, eingequetscht zwischen zwei mächtigen Betonbauten- doch der springende Punkt war, dass gerade ein mächtiger Geflügellaster im Begriff war, diese Gasse zu passieren.

Kurogane biss die Zähne aufeinander, die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich.

Wenn ich nur schnell genug fahre, ist die Lücke noch breit genug, ums uns-...

Wild riss er das Lenkrad herum. Fye und Claire donnerten wie leere Blechdosen von einer Seite auf die andere, als der Killer das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat und mit hundertachtzig Sachen auf die immer enger werdende Lücke zubretterte, in die langsam und allmählich der Lastwagen hineinfahren wollte-...

Und kam durch. Ein grässliches Schleifen und Kreischen wurde laut, da die Nase des Lasters noch die Heckscheibe des Jaguars gestreift hatte und ihn auf der Straße tanzen ließ wie besoffen.

Hinter ihnen ertönte ein trommelfellzerfetzender Knall, dem unmittelbar vielstimmiges Gefluche folgte.

Doch noch war es nicht ausgestanden- denn irgendwann würde der Laster die Lücke passiert haben.

"Steig aus und trag sie ins Krankenhaus."

"Was?!"

"Trag sie ins Krankenhaus, der Weg ist nicht mehr weit. Ich fahre solange ein Ablenkungsmanöver."

"Aber-..."

"LOS!!"

Sein Tonfall ließ keine Widerrede zu, also kletterte Fye hastig aus dem Wagen und zerrte Claire hinter sich her.

"Komm schon, ich nehm dich Huckepack!"

"Ich-... ich-..."

"Nun komm schon!!"

Wimmernd vor Schmerz schlang die junge Frau ihre Arme um den Nacken des Blondlings und ließ sich von ihm hochnehmen.

Fye biss die Zähne aufeinander. Wieso konnte er nicht wenigstens halb so stark sein wie Kurogane? Der hatte das Mädchen getragen, als besäße sie lediglich das Gewicht einer Fliege.

Doch als er hinter den Heckleuchten des Lastwagens das Rot des Fords aufblitzen sah, ließ er seine Zweifel sofort fallen.

Hals über Kopf rannte er los und war auch schon bald um die Ecke verschwunden.

Augenblicklich gab Kurogane Gas. Er würde sie im Ghetto abhängen, dort ließen die engen, verschlungenen Straßen und bröckeligen Hauswände sowieso kaum eine Verfolgungsjagd zu.

Hastig riss er das Lenkrad in die richtige Position und überquerte die Hauptverkehrszone, auf der bereits das Chaos am Toben war.

Schleunigst lenkte er den Wagen über den Mainstream, fuhr in eine abgelegenere Seitenzone und peilte den Johannesplatz an.

Von dort aus würde er am leichtesten ins Ghetto kommen.

Skeptisch warf er während des Fahrens einen Blick in den Rückspiegel.

Die lassen aber auf sich warten...

Fünf Minuten vergingen, zehn, zwanzig. Ohne dass er es merkte fuhr er immer langsamer.

Seine Verfolger kamen nicht nach. Die Straße hinter ihm war bis auf wenige geparkte Wagen wie ausgestorben.

Kein roter Ford weit und breit.

Mit einem ungläubigen Ausdruck in den lavafarbenen Augen hielt Kurogane an und stieg aus.

Seine Widersacher waren wie vom Erdboden verschluckt.

Als wär's ein Spuk gewesen.

Mit ausdruckslosem Gesicht ließ der Killer seine Arme hängen und starrte auf die Straße hinaus.

Der Lärm der Stadt, den er sonst immer als so drückend empfand, erschien ihm nun seltsam fern und unwirklich.

Als wäre das Leben nur ein Film, das Bild unscharf, der Ton zu leise.

Er dachte an Fye, der wohl gerade mit Claire Richtung Krankenhaus rannte.

Und auf einmal fühlte er sich sehr leer.
 

Das Telefon klingelte.

"Am Apparat."

"Sie haben uns abgehängt, Mr.Pantoliano."

"Aaah. Hervorragend. Schön, Roy, dann lassen Sie's gut sein."

"Wie bitte?"

"Sie haben mich schon verstanden. Drehen Sie ab und kommen Sie zurück."

Ohne ein weiteres Wort legte Pantoliano auf und ließ zufrieden seine Fingerknöchel krachen.

Er merkte auf, als die Tür zu seiner großzügigen Residenz aufging und O'Connor hereinkam.

"Und?", fragte dieser ohne Einleitung, "Gibt es Ergebnisse?"

"Nun, ich habe unsere beiden Süßen mal ein paar Schüsse von Roy und Dean kosten lassen. Aber Kurogane hat es geschafft, sie abzuhängen. Ich habe ja einiges erwartet, aber so viel List hätte ich ihm nicht mehr zugetraut!"

"Und nun?"

"Was 'und nun'? Ich hab Roy umdrehen lassen. Dieser kleine Vorgeschmack soll für heute genügen. Unsere beiden erwarten noch ganz andere Dinge, vor allem unseren lieben Yuui."

O'Connor seufzte unterdrückt. "Würde es denn nicht reichen, ihn einfach umzulegen?"

Der Italiener lehnte sich in seinem Sitz vertrauensvoll nach vorne. "Vor dreizehn Jahren, mein Junge, waren Sie zwar auch nur ein daumenlutschender Grünschnabel, aber durch mich haben Sie erfahren, was es mit diesem Engelsmenschen auf sich hat. Er weiß Dinge, die uns mehr Macht verschaffen könnten, als wir es uns erträumen können."

Der Ministerialrat schluckte. Bis jetzt hatte er zwar in seinem Leben durch das Geld und den Einfluss seiner Eltern schon so gut wie alles erreicht, was er sich bisher gewünscht hatte, aber--...

"Und wie sieht's bei Ihnen aus, mein Lieber? Heute morgen soll unser kleiner Höhlenmann ja wieder hiergewesen sein!"

"Das ist ja der Grund, warum ich gekommen bin", druckste O'Connor unbehaglich herum, "Ich hab mithilfe einiger Leute herausgefunden, dass sich Kurogane heute morgen in den Hauptrechner eingeloggt hat, um nach Daten zu suchen."

"Ach ja? Und nach welcher Art von Daten?"

"Verbrecherdaten. Er hat fast sämtliche internen Suchprogramme nach Daten bezüglich 'Ashura' durchlaufen lassen."

Schweigen. Täuschte er sich, oder wurde Pantoliano blass?

"Die Datensperren waren hoffentlich noch intakt?", fragte er schließlich kühl.

"Ja, waren sie. Er hat nur verschwindend geringe Ergebnisse erzielt."

"Schön. Und ich hatte Sie doch gebeten, diesen Namen nie wieder in meiner Gegenwart zu benutzen! Diese, diese-... Sache von damals war die reinste Farce."

"Entschuldigen Sie, ich hatte nicht daran gedacht."

"Es sei Ihnen verziehen. Sie haben Glück, dass unser Yuui so unvermutet wieder aufgetaucht ist."

Über diesen Worten kam Pantolianos gute Laune wieder zurück. Voller Vorfreude rieb er sich die Hände.

"Warten Sie's nur ab, Joshua! Dieser Goldjunge weiß Dinge, für die sich Länder gegenseitig zerfleischen würden!"

"Und wann holen wir uns diese Dinge?"

"Wenn der passende Zeitpunkt gekommen ist. Doch wenn ich so sehe, wie gefühlstapsig unser Kurogane-chan bereits geworden ist, wird es wohl nicht mehr lange dauern."

Mit diesen Worten ließ es der Italiener dabei bewenden und schlug zufrieden die Beine übereinander.

Was du mir vor dreizehn Jahren nicht freiwillig sagen wolltest, presse ich dir jetzt silbenweise zwischen den Rippen hervor. Lass dir Zeit, ich werde auf dich warten.
 

Es war später Nachmittag geworden.

Graue, ungemütlich wirkende Schneewolken verdeckten die dünnen Strahlen der dahinschwächelnden Wintersonne. Die schickte sich bereits wieder zum Untergehen an, als wäre auch ihr das Wetter zuwider.

Auf den weit ausladenden Kurven der Serpentinenstraße, die zum Hippieviertel hochführte, fuhr ein einsamer Schneepflug seine Runde und räumte den über Mittag gefallenen Schnee zur Seite. Es war eine lange Schicht für seinen bedauernswerten Fahrer, da das Hippieviertel ziemlich abgelegen vom Rest der Stadt lag, beinahe wie ein eigenes kleines Dorf.

Der Fahrer schlief vor Langeweile beinahe über dem Steuer ein und schenkte dem schwarzen Jaguar, der auf einmal neben ihm auftauchte und ihn kompromisslos überholte, nicht einmal ein Wimpernzucken.

Gedankenverloren starrte Fye durch die Heckscheibe dem Pflug nach.

"Der arme Mann."

"Selbst schuld", knurrte Kurogane mit kaum verhülltem Desinteresse.

Seit sich die beiden Männer vom Krankenhaus auf den Rückweg gemacht hatten, hatten sie kaum miteinander geredet. Weder über Claires- und nun auch Kyles- weiteres Schicksal, noch über ihre unbekannten Verfolger.

Als Fye das Schweigen mit der Zeit auf die Ohren drückte, seufzte er und musterte seinen Kompagnon mit einem nachdenklichen Seitenblick. Man konnte zwar förmlich beobachten, wie Kurogane die Müdigkeit aus den Augen kroch, dennoch wirkte er, als wäre er nur mal eben bei der Post gewesen. Er schien Verfolger mehr als gewöhnt zu sein.

"Kurogane?"

"Hmmmmhhn?"

"Danke."

"Wofür denn nun schon wieder?"

Der Blondling zuckte die Achseln. "Dafür, dass du mitgeholfen hast, Claire ins Krankenhaus zu bringen, schätze ich. Alleine hätte ich's wohl nicht geschafft. Und Kyle sicher auch nicht."

"Das Baby, ist es-... ?"

"Keine Sorge, dem Baby geht's gut. Bei der Entbindung ist es ohne Probleme durchgerutscht."

"Warst du etwa dabei?"

"Nein, wie hätte ich den Ärzten denn schon helfen können? Ich bin rein, nachdem es ausgestanden war, und hab Kyle guten Tag gesagt. Er wird dir gefallen, er ist richtig niedlich. Soooo runde Backen und ganz kleine Händchen!"

"Im Ernst? Hat er nicht-... gebrüllt oder so?"

"Natürlich nicht! Er hat geschlafen. Er hatte winzige Handschühchen an, damit er sich nicht kratzen konnte. Claire hat ihn im Arm gehalten. Und wenn man ihm den Finger gegeben hat, hat er sofort sein Fäustchen drum geschlossen!"

Kurogane starrte Fye mit nur mühsam verhohlenem Erstaunen an. Der Blondling grinste verschmitzt.

"Hey, was seh ich denn da? Wird der marode Mafia-Mann etwa schüchtern, wenn's um Babies geht?"

"Von wegen!!", schnauzte der Killer sofort mit knallrotem Kopf, "Erstens bin ich nicht bei der Mafia, und zweitens hab ich kein Problem mit Babies, kapiert?! Ich hab nicht das geringste Problem mit Babies! Ich sehe jeden Tag Babies!"

"Hi hi, du bist ja ein richtiger Wonneproppen, Kuro-mune!"

"Bin ich gar nicht!!"

"Dooooch!", maunzte Fye und bearbeitete seine rechte Schulter munter mit dem Zeigefinger.

"NAIEN!! Und wenn du mich nicht gleich in Ruhe lässt, fahr ich uns in den Straßengraben!!"

"Überleg dir das lieber. Jetzt wäre vielleicht der ungünstige Zeitpunkt."

Die unerwartet sachliche Antwort ließ den Zorn des Schwarzhaarigen verrauchen. Skeptisch runzelte er die Stirn.

"Ach ja? Und wieso, wenn ich fragen darf?"

"Weil wir gebraucht werden. Ich nehme mal an, dir ist klar, dass wir für Claire jetzt die Väter des Babies sind?"

Kurogane fielen fast die Augen aus dem Kopf.

"Was?!!"

Fye zuckte die Achseln und blickte geistesabwesend Richtung Windschutzscheibe.

"Claire hat das gleiche Problem wie fast alle in diesem Viertel- sie hat eine Menge durchgemacht, und das, ohne auf Hilfe hoffen zu können. Ihr Freund ist abgehauen, als sie schwanger wurde, und ihre Eltern wollten keinen Enkelsohn, nachdem sie ihre Kinder endlich alle großgezogen hatten, aber Claire wollte das Baby behalten. Und wir beide haben heute mittag letztlich nur das getan, was jeder gute Vater getan hätte- seine Frau ins Krankenhaus bringen, wenn sie ein Baby bekommt. So scheint sie es jedenfalls zu sehen."

"Hast du mit ihr geredet?"

"Wie man's nimmt. Wir hatten eine lange Unterredung, wie es jetzt weitergehen soll. Viel ist noch nicht dabei rausgekommen, weil sie ja sowieso noch ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben muss. Aber fest steht schon mal, dass sie unsere Hilfe braucht, Kurogane. Sie ist alleinstehend und arbeitet den halben Tag als Serviererin, um durchzukommen. Und das Baby sollte nicht jetzt schon vernachlässigt werden, findest du nicht auch?"

Kurogane verdrehte die Augen und seufzte wie ein unseliger Geist.

"Und was sollen wir dann deiner Meinung nach tun?", erkundigte er sich schließlich, "Zwei Zentner Pampers und einen Riesenschnuller kaufen? Ich hoffe ja, dass du ihr nicht gleich das Blaue vom Himmel runterversprochen hast!"

"Muss ich wohl doch getan haben, der Himmel ist grau", bemerkte Fye.

"Ach verdammt, du weißt doch, was ich meine! Raus mit der Sprache, was hast du ihr gesagt?"

"Ich hab ihr angeboten, dass sie bei uns einzieht."

"HÄH?!!"

"Ich hab ihr angeboten, dass sie bei uns einzieht", wiederholte der Blonde geduldig, "Unser Haus ist kein Palast, aber für eine alleinerziehende Mutter und ihr Baby wird es doch wohl reichen! Wenn sie gerade arbeiten muss, ist immer einer da, der sich für sie um Kyle kümmern kann! Und mit der Konditorei verdienen wir genug Geld, um die nötigen Sachen zu kaufen!"

"Wie in Gottesnamen stellst du dir das bloß vor?", stöhnte Kurogane entnervt, "Hast du etwa Ahnung von Babies?"

"Ich hab ebenso wenig Ahnung von Babies wie du. Aber zumindest einen Versuch ist es doch wert!"

Fye lächelte ihn an. "Und wer weiß, vielleicht ist unser väterlicher Instinkt ja stärker, als wir denken."

"Wenn ich kein Atheist wäre, würde ich sagen, du hast Gottes den Schaden!"

"Wieso Atheist? Glauben ist doch was Gutes!"

"Ja, aber nicht, wenn man von ihm die Lösung all seiner Probleme erwartet."

Wie auf Kommando klappte Fye den Mund zu und schwieg. Unverzüglich nutzte Kurogane diese Chance.

"Versteh mich nicht falsch, wenn du hier nicht meine Zustimmung findest, aber konntest du nicht einmal dein Hirn benutzen? Warst du bei dieser verdammten Verfolgungsjagd etwa nur körperlich anwesend? Wenn wir Claire und das Baby zu uns nehmen, sind auch sie in unmittelbarer Gefahr! Und ich glaube ja wohl, dass sterben etwas schlimmer ist als vernachlässigt zu werden!"

Fye antwortete nicht.

Offenbar hatte er einen sehr empfindlichen Nerv getroffen.

Als er den Kopf senkte und auf seine Knie starrte, wirkte sein gesamter Körper auf einmal schlaff wie ein ausgehendes Kerzenlicht.

"Sterben oder von seinen Eltern vernachlässtigt werden?", fragte er leise, "Ich würde sterben nehmen."

Sein Kompagnon starrte ihn skeptisch von der Seite an. Schon wieder flackerte für wenige Momente diese kindliche Scheue in den fein geformten Zügen seines Gegenübers auf.

Und so langsam verstand er, warum Fye diesem Baby und seiner Mutter so bedingungslos helfen wollte.

Kein Wunder, wenn man aus Erfahrung spricht.

Er seufzte.

"Es tut mir leid, okay? Ich wollte dich nicht-... ich meine, ich hatte nicht vor, dich zu-..."

"Schon gut", winkte der Blondling tonlos ab, "Aber ich will ganz einfach nicht, dass die beiden sich da ganz allein durchkämpfen müssen. Wir hatten in letzter Zeit auch Hilfe, wenn wir sie gebraucht haben. Es wäre ganz einfach ungerecht."

"Das weiß ich doch", erwiderte Kurogane müde, "Aber glaubst du denn, dass es auf der Welt immer nur gerecht zugeht? Wir beide sind doch das beste Beispiel dafür, dass das nicht so ist!"

Die hellen Hände des Blondlings krampften sich um den Gurt.

Ein langes, unangenehmes Schweigen verging.

"Seit ich dich kenne, Kurogane", sagte er dann mit dünner, kaum hörbarer Stimme, "Löschst du jede Nacht Leben aus. Aber heute hast du jemandem geholfen, überhaupt erst in dieses Leben zu finden. Denk mal darüber nach."

Kurogane stutzte.

Für den Bruchteil weniger Sekunden stahl sich so etwas wie Verwirrung in die zinnoberfarbenen Augen.

Seine Hände am Lenkrad fühlten sich klamm und verkrampft an.

"Hat sie-... ich meine, hat sie überhaupt schon-..."

"Ja, sie hat schon längst eingewilligt", erwiderte Fye verärgert, "Sie hat sich fast die Augen aus dem Kopf geweint vor Freude darüber, dass ich ihr angeboten habe, zu uns zu kommen. Sie wusste weder ein noch aus, wo sie jetzt mit Kyle hinsollte, und sie hat gesagt, dass sie sich schon darauf freut, bei vier so wunderbaren Menschen einzuziehen. Und wenn sie 'vier' gesagt hat, Kurogane, dann hat sie wohl auch dich gemeint, oder? Sie war nie unfreundlich zu dir. Wir schulden ihr und dem Baby etwas."

Der Schwarzhaarige schluckte schwer.

Als er in den Rückspiegel sah, konnte er kein fremdes Auto hinter ihnen erkennen.

"Wohin guckst du?"

"Auf die Straße. Wir scheinen die Typen los zu sein."

"Als du das Ablenkungsmanöver gefahren bist, ist da-... ?"

"Es ist alles glatt gegangen. Und ich lebe noch, wie du siehst, also hör auf, dir Sorgen zu machen."

"Also, dürfen Claire und Kyle nun bei uns einziehen? Ich verspreche nur ungern Dinge, die ich nicht halten kann."

Mittlerweile am Ende seiner Nerven angelangt knirschte Kurogane mit den Zähnen.

Dem Dickschädel dieses Kerls war einfach nicht beizukommen.

"Ich weiß nicht-..."

"Würdest du es für mich tun?", fragte Fye leise.

Als der Killer verwirrt zurückstarrte, sahen ihn diese eisblauen Augen so weich an, dass ihm augenblicklich das Blut in die Wangen schoss. Kaum zu glauben, jetzt war er auch noch beeinflussbar geworden.

Zögerlich warf er noch einen Blick in den Rückspiegel. Kein Auto weit und breit.

Wozu hatte der Mensch ein Gewissen? Schieb's beiseite. Komm schon. Einfach beiseite damit.

"Also schön, wenn's denn gar nicht anders geht", brummte er schließlich entnervt und zuckte schicksalsergeben mit den Achseln, "Aber nur, wenn es nachher was Extravagantes zum Abendessen gibt."

"Saltimbocca alla romana, dazu eine Tagliatelle mit Pilzen, und zum Nachtisch Vanillekrem, wäre das dem Herrn angenehm?"

"Deal", willigte Kurogane ein und schlug in die angebotene Hand ein, "Bei so einem Zuwachs an Mitbewohnern brauche ich einfach ein wenig Nervennahrung."

"Du bist wundervoll", entgegnete Fye und sah ihn warm an, "Hab vielen Dank."

Der Schwarzhaarige riss die Augen auf.

"Ja also-...", stieß er wie aus der Kanone geschossen hervor, um ja nicht unbeholfen zu wirken, während schon die Auffahrt von Nummer dreiunddreißig am Straßenrand in Sicht kam, "Ja also-... ja! Ja! Also, eindeutig eben!"

"Eindeutig eben! Hervorragend!", sagte der Blondling fröhlich und löste seinen Gurt, nachdem sein Kompagnon unfallfrei geparkt hatte, "Ich kann's kaum erwarten, das Shaolan-kun und Sakura-chan zu sagen, die platzen sicher schon vor Neugier!"

"Dann geh schon mal vor und sag's ihnen", meinte Kurogane, "Ich glaub, bei der Hetzjagd hat der Wagen ein paar Macken abgekriegt, ich seh hier nur mal eben nach dem Rechten."

"Okay, dann bis gleich! Wir bringen schon mal Leben in die Küche!"

Sprach's, und schon war er Richtung Haustür abgezischt.

Geistesabwesend starrte der Killer ihm nach. "Du bist wundervoll."

"Man kann's auch übertreiben", knurrte er halblaut in sich hinein. Dann schloss er die Augen und lehnte sich zurück.

Nachdem er sich halbwegs wieder auf den Teppich zurückgebracht hatte, griff er in seine Manteltasche und zog einen zweimal zusammengefalteten Zettel hervor.

Die Liste. Sollte Fye ruhig denken, dass er nach dem Auto sah. Er konnte diese Diskussionen über Leben und Tod, über Moral und Mord und Jesus und Moses im Moment einfach nicht gebrauchen.

Stirnrunzelnd musterte er die Namen der drei, die er bereits ausgeschaltet hatte. Chardonnay, Grant, Laroche.

Grant und Laroche waren zwei Vorsitzende einer größeren Unterhaltungsgesellschaft gewesen, die an einer von Pantolianos Konkurrenzfirmen Aktienanteile gehabt hatte, und Chardonnay deren Anwalt.

Drei in den Himmel geschickt, drei standen noch aus.

Heute nacht würde er wieder losziehen.

Doch als er den Namen seines nächsten Opfers las, erstarrte dieser letzte Satz in seinem Kopf wie eine Kette aus Eiszapfen.

Alles verschwamm vor seinen Augen. Bis auf den schwarz gedruckten Namen auf der Liste.

Kazuki Eishaki.
 

Die Küche von Haus Nummer dreiunddreißig war von durchdringendem Plappern und Töpfeklappern erfüllt.

Fye wartete schon mit dem Kochlöffel auf ihn.

"Ah, Kuro-ron, da bist du ja endlich!"

"Hey, Kurogane-san!"

"Willkommen zurück!"

"Hey", sagte Kurogane tonlos und hängte seine Jacke in den Eingang, bevor er auch in die Küche kam.

"Komm schon, hilf auch mit! Die Pilze müssen noch geschnippelt werden, die Salbei-Garnitur für die Saltimbocca ist auch noch nicht gesteckt, die Vanilleschoten sind noch im Keller-..."

Der Blondling hielt in seiner Aufzählung inne, als er das müde Gesicht seines Gegenübers näher beäugte.

"Alles in Ordnung? Du bist ja ganz blass!"

"Mir geht's gut", entgegnete Kurogane schlicht und krempelte die Ärmel hoch, "Ich fall nur gleich um vor Hunger."

Sein Mitbewohner lachte fröhlich. "Leute, habt ihr das gehört? Dann lasst uns mal in den Pfannen rühren!"

Gesagt, getan. Binnen weniger Minuten herrschte in der Küche der Betrieb eines Großrestaurants.

"Ist das mit Claire nicht einfach klasse?", erwärmte sich Sakura, während sie mit dem Schwarzhaarigen die Pilze für die Tagliatelle klein schnitt, "Dass sie zu uns zieht, meine ich! Mit Kyle! Ich liebe Babies! Wie sieht er aus, Fye-san?"

"Süß", erklärte Fye, "Er hat die ganze Zeit geschlafen."

"Am Anfang verpennen Babies ja auch noch das meiste", grinste Shaolan und schüttete eine Packung Tagliatelle in den Kochtopf, "Kein Wunder, dass man vom Beginn seines Lebens nur noch so wenig weiß!"

"Dann kann sich Claire ja morgens um das Baby kümmern, Shaolan und ich mittags, und du und Kurogane-san abends!"

"Wieso abends? Abends muss man doch die Windeln wechseln!", sagte Kurogane hastig.

"Wir könnte uns ja eine Plastikpuppe kaufen. Zum Üben!", schlug Fye vor.

"Und wir haben in unserem Biobuch auch ein Kapitel über Babies!"

"Da steht doch nur drin, woher die Babies kommen, und nicht, wie man ihnen die Windeln wechselt..."

"Dann fragen wir Miss Garfield, die hat doch auch gerade ein Baby! Vielleicht borgt sie uns ein paar ihrer Sachen!"

"Genau! Mann, das wird sicher geilo! Das ist dann, als ob wir auch die Eltern wären!"

"Eben", strahlte Sakura, "Hey, und wenn wir schon bei 'sicher' sind: die Versicherung hat heute mittag angerufen!"

"Ja?", fragte Fye sofort, "Und, gibt's Neuigkeiten?"

"Ja, sie haben gesagt, weil der Täter noch nicht gefunden wurde, übernimmt sie die Schäden, die bei dem Brand entstanden sind. Ach, und Eishaki-san hat auch noch angerufen!"

"Eeeeecht?", freute sich der Blondling, "Und? Wie geht's ihm? Was hat er gesagt?"

"Er hat gesagt, seine Suche nach Rechtsfällen war erfolgreich, und er bringt sie uns demnächst vorbei. Er wollte immer schon mal sehen, wo wir wohnen. Und er hat geraten, uns einen Anwalt zu suchen. Müssen wir doch sowieso, oder?"

"Keine Sorge, ich habe da schon so eine Ahnung, wen wir nehmen könnten."

"Wen?", fragte Kurogane Fye misstrauisch, doch der grinste nur.

"Die Vanilleschoten sind immer noch im Keller!", verkündete er dann mit dramatischer Geste, "Und ihre Schreie dringen von unten herauf! Kuro-chiimu, hilfst du mir dabei? Shaolan-kun, Sakura-chan, übernehmt ihr dann solange hier?"

"Aber klar!"

"Prima! Na komm schon, Kuro-asango!"

"Schon unterwegs", ächzte Kurogane und erhob sich mühsam von seinem Stuhl, um sich von seinem beflissenen Kompagnon am Handgelenk aus der Küche schleifen zu lassen.

Mit einem Lächeln sah Sakura ihnen nach.

"Muss Liebe schön sein", sagte sie fröhlich und verfrachtete eine neue Ladung Pilze in den Kochtopf.

"Japp", bestätigte Shaolan und legte ihr einen Arm um die Schulter, "Das muss es wirklich."
 

"Ummpf-..."

Langsam erwachte Kurogane aus tiefstem Schlaf.

Es dauerte seine Zeit, bis er beide bleischweren Lider lange genug offenhalten konnte, um sich ein Bild seiner Umgebung machen zu können. Verwirrt bemerkte er, dass er auf dem Sofa im Wohnzimmer saß.

Auf der Mattscheibe des altersschwachen Fernsehers lief gerade der Abspann eines alten Ballerstreifens.

Mit einem Seufzen erinnerte sich der Killer, dass sie nach dem Essen noch zu viert einen Film angesehen hatten.

Die Kinder, vollgestopft mit dem köstlichen Abendbrot und hundemüde, waren schon längst in die Betten abgedampft.

Mühsam unterdrückte der Killer ein Gähnen und warf einen Blick auf die Uhr am Durchgang zur Küche.

Es war fast drei Uhr am Morgen. Draußen war es noch stockdunkel, und im fahlen Licht der Straßenlaternen konnte man erkennen, dass es wieder einmal zu schneien begonnen hatte.

Eishaki fiel ihm ein. Kurogane seufzte tief und schloss hilflos die Augen.

Okay. Okay. Steh erst mal auf, bevor du hier wieder deine Anwandlungen kriegst.

Er atmete kurz durch, um sich auf die mühsame Aufsteh-Orgie vorzubereiten, denn das Sofa war alles andere als sitzfreundlich, und wollte sich schon hochstemmen, als er plötzlich etwas Warmes an seiner Schulter fühlte.

Perplex schaute er an sich hinunter, und stellte fest, dass es Fye war.

Er schlief tief und fest.

Sein Kopf lehnte bewegungslos an Kuroganes Brust. Beide Lider ruhten auf einem Kranz heller Wimpern.

Na wunderbar. Hab ich eigentlich gepennt zu dem Zeitpunkt?

Mit einem unterschwelligen Brummen löste der Killer seinen linken Arm aus dem schlaff gewordenen Klammergriff des Jüngeren und klopfte ihm ein wenig auf die Schulter.

"H-hey-...", sagte er ebenso leise wie unbeholfen, "Hey, ähh... komm. Zeit fürs Bett. Na komm schon."

Die einzige Reaktion vonseiten des Jüngeren war, dass er leicht im Schlaf zuckte.

"Es ist drei Uhr. Komm schon. Augen auf."

Der Appell verhallte unerhört. Der Blondling schlief so tief, als hätte er ganze Wochen und Monate des Schlafs nachzuholen.

Kurogane stieß einen bodenlosen Seufzer aus und ließ sich mit geschlossenen Augen wieder nach hinten sinken.

"Also schön", murmelte er schließlich mehr zu sich selbst, "Ich schätze, du brauchst Ruhe. Ich bring dich hoch ins Bett... und dann schläfst du erst mal 'ne Runde, hmh? Und dann sehen wir weiter."

Die Antwort war nur ein weiterer, ruhiger Atemzug.

Der Killer seufzte wieder. Müde starrte er zum Wohnzimmerfenster hinaus, ins lautlose Schneegestöber der Nacht.

Nach einer langen, hitzigen Debatte mit seinem inneren Schweinehund kämpfte er sich schließlich stöhnend und ächzend vom Sofa hoch, wobei er höllisch aufpassen musste, um den blonden Klammeraffen an seinem Hals nicht zu wecken.

Mit einem bleischweren Gefühl im Magen setzte er Fye auf dem Sofa ab und schob ein Kissen unter seinen Kopf.

Mit einem Stirnrunzeln musterte er die schmale, fein gebaute Gestalt des Blondlings. Sein so ungewohnt ruhiges Gesicht, in das Strähnen seines blonden Haares fielen. Seine entspannten, schlankgliedrigen Hände.

Seine Kehle wurde eng.

"Sag mal, was in aller Welt tust du nur mit mir?", sagte er vorwurfsvoll und breitete eine Decke über Fye aus.

Nach fünf endlosen Minuten wandte er sich ab und betrat lautlos den Hausflur, um seinen Mantel anzuziehen.

Sein Katana lehnte an der Wand neben der Garderobe und wartete auf ihn.

Doch diesmal kam ihm das Warten nicht wie das Warten eines alten Freundes vor.

Mit einem steinharten Kloß im Hals nahm Kurogane es an sich, bevor er die Eingangstür aufzog.

Wieso muss die Welt nur so verdammt ungerecht sein?, fragte er sich und trat in die Nacht hinaus.

Méli-Mélo Marmaille

-"Verfinstert sein und nach der Helligkeit lechzen, ist ein Zustand der Seele, der sie peinigt, aber auch zum fließen bringt."-

(Jakob Wassermann)
 

~~
 

Sonntagmorgen.

Für einen Sonntagmorgen im Dezember war es außergewöhnlich hell, und der milchig blaue Himmel war von den Strahlen einer bleichen Wintersonne erfüllt. Gleich sanften, spinnendünnen Fingern krochen sie durch die dürren Zweige der Bäume in der Beethovenstraße und warfen lange Streifen milden Lichts auf den verschneiten Asphalt.

Um diese Uhrzeit war es im verschlafenen Hippieviertel noch nahezu völlig still - man sah nur den Rauch aus den Schornsteinen der Häuser aufsteigen, und das einzige wirkliche Geräusch stellte der ferne Stadtlärm aus dem Herzen Kingstonvilles dar. Die wenigen Passanten waren öfter streunende Katzen als Menschen.

An diesem Morgen war Fye dieser Umstand jedoch nur recht.

In hastigen Schritten überquerte der junge Mann die Straße und joggte im Dauerlauf die Beethovenstraße hinunter.

Nachdem er halb begraben unter Decken auf dem Sofa aufgewacht war, hatte er zunächst feststellen dürfen, dass er bis halb zehn durchgeschlafen hatte, was ihm einen mehr als ordentlichen Schrecken eingejagt hatte- und nachdem er diesen endlich verdaut hatte und in die Küche getorkelt war, hatten ihn dort lediglich die Spuren eines hastigen Frühstücks seiner Mitbewohner und ein Zettel auf dem Kühlschrank erwartet, mit der Meldung, dass Sakura und Shaolan ihre Lehrerin Miss Garfield besuchen gegangen waren, um ihr ein paar alte Babysachen abzuschwatzen.

Kurogane hatte keinen Zettel geschrieben- was Fye jedoch als Erklärung reichte.

Doch jetzt war der falsche Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, denn nachdem er sich mit einem schnellen Frühstück und einer Katzenwäsche soweit wieder auf einen gesellschaftsfähigen Stand gebracht hatte, war sein Entschluss trotz allem festgestanden- heute morgen würde er sich endlich auch mal nützlich machen. Das war er seinem neuen Weggefährten schuldig.

Er erinnerte sich noch zu deutlich an den vergangenen Abend, viel zu deutlich, um sich nicht in Kuroganes Schuld zu fühlen.

Der Anblick seiner schlafenden Gestalt, die Formen seines Körpers und seine Gesichtszüge, halb verborgen in den diffusen Schatten des Wohnzimmers, und vor allem die unbeholfenen, fast schon bemitleidenswerten Versuche, näher an seinen neuen Weggefährten heran zu kommen, hatten sich wie mit glühenden Zangen in seinem Gedächtnis festgebissen.

Es war eine Wärme auf der Haut des Schwarzhaarigen gelegen, eine köstlich schwere, animalische Körperwärme, tragend und gleichzeitig so sublim, dass Fye das eigenartige Gefühl übermannt hatte, diese Wärme nicht nur spüren zu können - nein, er konnte sie förmlich trinken. Trinken wie ein Säugling die Milch seiner Mutter.

Das menschliche Urbedürfnis nach Nähe war das simpelste Rezept für Glück, das es gab. Kein Streben nach Geld, Erfolg, nach Aktien, Preiserlassen oder ausgefeiltem Amüsement.

Nur anschmiegen und festhalten.

Fye war verwirrt deswegen und schämte sich sehr für seine Gedanken. Nur gut, dass er jetzt etwas hatte, womit er sich ablenken konnte. Hastig fußelte er über die letzte Querstraße, die ihn noch von seinem Ziel trennte- Haus Nummer fünfundvierzig.

Äußerlich unterschied es sich kaum von den anderen. Es hatte ein Satteldach und war blass dotterfarben verputzt, doch es war deutlich fleckiger, und der Gartenzaun halb verschimmelt. Nachdenklich musterte Fye die heruntergekommene Hütte.

Er hatte Yuko schon lange nicht mehr besucht.

Hoffentlich würde sie ihm das nicht übelnehmen, denn sie war phänomenal schnell beleidigt. Naja, es würde ja schon reichen, wenn sie gerade nicht dabei war, sich einen hinter die Binde zu kippen, denn sie kam auf die krummsten Ideen, wenn sie betrunken war, und Fye war nicht zum Streiten hergekommen. Er atmete jedoch erleichtert auf, als er schon vom Eingang aus hörte, womit Yuko gerade beschäftigt war- sie zappte sich durch die Kanäle.

"Und heute senden wir wieder live aus-..."

"Live? Ich dachte, bei euch geht's um Tote?"

"... ständig das Gefühl, dass die Leute mir immerzu auf die Nase starren, als ob..."

"Nase? Was denn bitte für 'ne Nase? Was du da hast, ist eher 'ne Gurke mit Warzen drauf..."

"Ja! JA! JAAA!!"

"Heilige Mutter... und das nennt ihr ernstlich 'ne gute Stellung?!"

Seufzend betätigte Fye die altersschwache Klingel neben dem ungeputzten Namensschild.

"Yuko-san! Ich bin's, Fye!", unterstützte er ihr heiseres Quäken mit seiner Stimme.

Augenblicklich verstummte die Fernsehdebatte der ehemaligen Rechtsanwältin.

"... EH?!", brüllte schließlich eine Stimme von drinnen, "Was?! Fye-kun? Im Ernst?"

Ein mannigfaltiges Gerumpel wurde im Haus laut, bis keine Minute später Yuko Ichihara persönlich vor ihm stand, eine resolute Dame mit eindrucksvollen, tief fliederfarbenen Augen, langem schwarzem Haar und von delikater Wesenart.

"Fye-kun! Das ist ja mal eine Überraschung. Hast du's dir also doch überlegt?"

"Waaaaaas?", japste Fye mit puterrotem Gesicht, sodass die junge Frau mit den Augen rollte.

"Mich endlich mal wieder zu besuchen, natürlich. Was dachtest du denn, du unanständiger Junge?"

"E-entschuldige, ich steh ein wenig neben mir in letzter Zeit-..."

"Das sieht man", meinte Yuko und musterte ihn stirnrunzelnd von oben bis unten, "Siehst noch übler aus als sonst. Aber nun komm erstmal rein, dein Herz kannst du mir auch drinnen ausschütten."

Fye nickte geduldig und betrat den chaotischen Hausflur seiner langjährigen Freundin.

"Willst du für Weihnachten nicht mal ein wenig aufräumen?", schlug er vorsichtig vor, während er aus seinen hellen Stiefeln schlüpfte und seinen Mantel an dem einzigen Haken aufhing, der nicht mit Tabascosoße besudelt war.

"Wird nicht nötig sein, ich hab mich für Weihnachten bei euch eingeladen!", rief Yuko zurück, die schon längst wieder ins Wohnzimmer abgewandert war. Stirnrunzelnd folgte Fye ihr und setzte sich ihr gegenüber auf das Sofa.

"Wie kommt's, dass ich das erst jetzt erfahre?"

"Ich weiß es auch erst seit jetzt. Außerdem hast du mir deinen neuen Mitbewohner noch gar nicht vorgestellt."

"Dann wird's aber Zeit, hmh?", antwortete Fye und lächelte damit zum ersten Mal an diesem Morgen.

Das entging Yuko nicht. Das Nächste, was sie in den Händen hatte, war sein Gesicht.

"Was höre ich da? Unser Kuschelkätzchen gerät ins Schwärmen?", fragte sie und musterte ihn so kritisch, wie das sonst wohl nur ein indischer Kameltreiber bei einem potenziellen Schnäppchen tat, "Ist da jemand verkna-hallt?"

"Ääähhh?!", stotterte der Blonde hilflos und nahm sofort die Farbe eines frischen Kochsteaks an, "A-aber Yuko-san-..."

"Kein 'aber' ! Wusste ich's doch, dass sogar deine Hormone mal zu hüpfen anfangen würden!"

"Yuko-san!!"

"Schon gut, der Martini ist schuld", erklärte sie und ließ wieder von ihm ab, "Aber flunkern musst du trotzdem nicht."

"Musst du denn immer so viel trinken?", fragte Fye und vertrieb nur mühsam die Röte von seinen Wangen. Es war nicht schwer zu erkennen, dass die ehemalige Anwältin mal wieder einen Ordentlichen im Tee gehabt hatte- ihr langes Haar war zwar gekämmt und sie trug wie immer ihren Hausbademantel, doch unter ihren dunklen Augen lagen tiefe Schatten.

"Wenn man arbeitslos und verzweifelt ist, darf man alles", erwiderte die Lady schlicht und schaltete noch die Flimmerkiste ab, bevor sie die Beine überschlug und ihn ansah, "Also, dann sag mal, was führt dich zu mir? Vermutlich nicht nur Smalltalk, oder?"

"Leider nein."

"Schade. Dabei schmeckt das Kirin, das ich gestern besorgt habe, einfach zu köstlich. Was ist es dann?"

"Naja, um das Problem beim Namen zu nennen, brauche ich-... das heißt, wir-... deine Hilfe."

"Welch seltene Ehre. Wie kommt das?"

Der Blondling zuckte die Achseln. "Sagen wir mal, mein Leben hat sich ein wenig ziemlich ganz verändert."

Yuko runzelte die Stirn. "Nun ja, das passiert ja immerhin nicht jeden Tag, was? Dann hast du wohl schon was mit deinem heißen Wolf von Mitbewohner, eh? Sag schon! Habt ihr's miteinander gemacht? War er gut?"

"Nicht schon wieder Sex als Gesprächsthema, okay?"

"Schade. Dabei gibt das Thema so viel her. Um was geht's dann?"

Fye zögerte kurz. Jetzt stellte sich natürlich die Frage, wie er es beichten sollte. Direkt oder auf Schleichwegen? Aufgrund mangelnder Bereitschaft entschied er sich kurzerhand für den Direktweg.

"Es geht um einen Rechtsfall", erklärte er ihr, "Möglicherweise sogar einen ziemlich Schwerwiegenden."

Stille. In Yukos fliederroten Augen flackerte etwas auf, bevor sie ein Seufzen wie eine ungehaltene Elefantendame ausstieß und sich in ihrem Sessel schwer nach hinten sinken ließ.

"Fye-kun, mal bei allem Respekt, weißt du überhaupt, was du da von mir verlangst?", fragte sie mit rauer Stimme und deutete mit dem Daumen über ihren Rücken auf das Chaos ihrer Wohnung, "Jetzt? Nach allem, was mir passiert ist?"

"Mir ist auch eine Menge passiert, Yuko-san", entgegnete der junge Mann mit fester Stimme, "In den letzten Wochen ist meinen Mitbewohnern und mir mehr passiert, als es unseren Hirnen eigentlich guttun würde!"

"Ach ja?"

"Ja! Und du kennst dich doch mit Rechtsfällen aus! Du warst eine der besten Anwältinnen von Kingstonville!"

"Die Betonung liegt für mich eher auf dem war", gab Yuko müde zurück und fuhr sich durch das Haar, bis es ihr völlig wirr vom Kopf abstand, "Was ich bin, ist eine arbeitslose, desillusionierte Säuferin."

"Aber du bist doch noch immer im Justizrat dieser Stadt!", rief Fye fast schon flehend.

"Meine Stimme zählt dort kaum mehr etwas. Die Politheinis dort sind zu hundert Prozent frauenfeindlich."

"Aber du warst vor Gericht! Du warst hochqualifiziert! Du warst sogar im Fernsehen!"

"Du warst, du warst", äffte ihn die ehemalige Anwältin wütend nach, "Sag mal, erwartest du sowas wie ein Wunder von mir?"

"Ich erwarte gar nichts von dir. Ich bitte dich lediglich um etwas, und zwar um deine Hilfe. Wenn du es nicht schaffen solltest, wird dir niemand einen Hehl daraus machen."

"Das würde ich auch niemals schaffen!"

"Das kannst du doch nicht wissen, solange du nicht einmal weißt, worin unser Rechtsfall überhaupt besteht!"

"Worin soll der schon bestehen, häh?!"

"Er besteht darin, dass Kurogane organisiert Menschen umbringen muss, dass sich vor kurzem unbekannte Verfolger an unsere Fersen geheftet haben, dass wir alle in Gefahr sind und dass Shaolan-kuns Adoptivvater mal wieder mächtig Ärger macht!"

Das Schweigen stürzte über ihre Köpfe herein wie eine Felswand.

Yuko war während seiner kleinen Rede unmerklich blasser geworden. Nun starrte sie ihn an wie das Ei des Kolumbus.

"Und das nennst du 'möglicherweise sogar ziemlich schwerwiegend'?", stieß sie endlich mit heiserer Stimme hervor und rang die Hände, "Das ist nicht 'möglicherweise', das ist eine juristische Güllengrube, in die ihr da gefallen seid! Oh Herrgott, Jesus, Fye-kun, was tust du mir da nur wieder an? Warum immer ich?!"

Fye gab keine Antwort und beobachtete seine langjährige Freundin, wie sie von dem Sessel aufsprang und unruhig in dem unaufgeräumten Wohnzimmer auf- und abzutigern begann.

"Wieso besorgt ihr euch nicht einfach nach Neujahr einen Anwalt?"

"Nach Neujahr sind wir tot, wenn wir nichts unternehmen."

Yuko hielt in ihren Kreisen inne und starrte ihn unter tief herabgezogenen Augenbrauen an. Der junge Mann konnte förmlich beobachten, wie die Rädchen hinter ihrer Stirn ratterten.

"Und ich habe bereits mit den anderen gesprochen", fügte er deshalb eine kleine, aber wichtige Randbemerkung hinzu, "Wir wollen dich für diesen Job, und sonst niemanden. Wir würden dich auch bezahlen!"

"Ach, hör mir doch auf mit Bezahlung", stöhnte Yuko und machte eine wegwerfende Handbewegung, "So, wie du gerade an mein Gewissen appellierst, du Fernsehpriester-Imitat! Wieso hab ich dich nur so verdammt gern?"

"Bitte, Yuko-san. Überleg es dir wenigstens, okay?", bat der Blondling und stand ebenfalls auf, um sie bei den Schultern zu fassen, "Wir wollen dich nicht einfach so versacken lassen, wie du es getan hast. Wieso hast das überhaupt?"

Die junge Frau stieß einen kleinen, hilflosen Laut aus, als ihr jüngeres Gegenüber ihr so gerade in die Augen sah.

Was zum Geier sollte man auf so eine Frage bloß antworten? Dass man nach zwei Jahren erfolgreicher Amtszeit ins Nichts abstürzte, nur weil man ein wenig andere Methoden als der Rest hatte, und dann vor Verzweiflung darüber zur Flasche griff?

"Hör zu, Fye-kun...", sagte sie schließlich und sah ihm mit deutlicher Verbitterung ins Gesicht, "Ich hab gehofft, du-... das heißt, ich-... ach, verdammter Mist noch eins!"

Sie brach ab und sank auf ihrem Sessel in sich zusammen.

Schweigen.

Nach einer Weile beobachtete Fye verwundert, wie sie ihr Gesicht in beide Hände barg und ihre Nasenwurzel zu massieren begann. Durch die Wölbung ihrer schlanken Finger konnte er die Denkerfalte erkennen, die sich zwischen ihren Brauen zu bilden begann.

"Die Punkte."

"Was... ?"

"Die Punkte eures Rechtsfalls. Zähl sie mir nochmal auf."

Der Blondling schluckte. "Nun ja-... Kurogane wird von seinen Vorgesetzten gezwungen, Menschen umzubringen."

"... Er wird also zum Mord genötigt. Weißt du das sicher?"

"N-naja, er spricht nicht gerne darüber, aber ich vermute, dass-..."

"Ich will keine Vermutungen, ich will Tatsachen. Die anderen Punkte."

"Wir werden von Unbekannten verfolgt. Auf uns wurde geschossen. Jemand hat Kuroganes Konto gelöscht."

"Verfolgung. Versuchte Körperverletzung mit Todesfolge. Zurück zu erstattende Gelder."

Die Denkerfalte wurde steiler. Selbst in der schummrigen Dunkelheit des Wohnzimmers konnte Fye sehen, wie Yukos Denkapparat arbeitete.

"Shaolan-kuns Adoptivvater macht Ärger, weil er ans Geld seiner Eltern will."

"Versuchte Gelderhinterziehung. Habt ihr bei euren Verfolgern schon eine Idee, wer dahinterstecken könnte?"

"Nein."

Wieder Schweigen. Ächzend nahm die ehemalige Anwältin ihr Gesicht aus den Händen.

"Fye-kun. Hör mir jetzt gut zu. Und schreib es dir hinter die Ohren, denn ich werde es nur einmal sagen, kapiert?", erklärte sie mit ruhiger Stimme, "Das, was du mir hier aufgezählt hast, lässt mich ja schon nichts Gutes ahnen, aber es sind einfach noch nicht genug Fakten. Hinzu kommt, dass ich völlig am Ende bin. Ich bin tot und verrotte hier drin, ist dir das klar?"

"Aber-..."

"Kein 'aber'. Kapierst du denn nicht, was ich dir sagen will?"

"Nein. Was denn?"

Yuko rollte seufzend mit den Augen. "Ganz einfach: wenn ein Anwalt sein Amt antritt, muss er zuerst mal nur eins sein: wie der Rest. Grundsolide und durch und durch durchschnittlich. Und meine Methoden werden vom Justizrat nicht akzeptiert! Ich bin ganz einfach nicht wie der Rest!"

"Ach so? Und wie geht 'der Rest' dann bei einem Rechtsfall vor?"

Die Bitterkeit im Blick der jungen Frau war kaum zu übersehen.

" 'Der Rest' schlägt die juristischen Fachbücher auf, arbeitet mehrere Tage anhand der Fallbeispiele heraus, was man tun könnte und informiert seinen Mandanten darüber. Dann geht er vor Gericht und bringt die Verhandlung schnell hinter sich."

"Und wenn er nicht weiterkommt?"

"Dann tippt er alles sorgfältig ab, macht kleine Päckchen und legt sie zum Verrotten in den Aktenschrank."

Der Blondling runzelte die Stirn. Yuko musste ja eine schmeichelhafte Meinung vom Rest haben.

"Und wie gehst du vor?"

"Ich greife durch, bis ich Blasen am Hirn kriege."

"Und wenn du nicht weiterkommst?"

Die ehemalige Anwältin zog die Augenbrauen hoch.

"Dann, Herzchen, improvisiere ich."

Der junge Mann sah sie lange an. Er wusste nicht wieso, aber irgendwie genügte schon ihr Gesichtsausdruck, um ihm eine Schauer über den Rücken zu jagen. Du bist nicht wie der Rest.

"Fein", sagte er dann und nickte nachdrücklich, "Ich sehe, du hast es immer noch drauf."
 

Mittag.

Die Altstadt von Kingstonville war bekannt für ihren sonntäglichen Frieden. Sämtliche Bewohner priesen sie dafür, da man in der restlichen Großstadt nicht einmal sonntags von 'Frieden' reden konnte.

Und wie immer war das schwarze Schaf Kazuki Eishaki.

Mit einem Seufzen betrat der untersetzte Geschäftsmann mit seiner Arbeitstasche unter dem Arm seine Wohnung und schloss sorgfältig die Tür hinter sich zu, bevor er sich seiner flohfarbenen Jacke entledigte.

"Was für ein seltsamer Morgen", murmelte er mehr zu sich selbst als zu jemand anderem- kein Wunder, war er selbst doch der einzige Mensch, mit dem er sich regelmäßig unterhielt. Allerdings war es in der Tat ein seltsamer Morgen gewesen.

Seit wann war das Gauloise-Werbeschild vor dem Zeitungsstand weg, an dem er jeden Morgen sein Journal kaufte?

Es hatte ihn ernstlich aus der Bahn geworfen. Solche Veränderungen war er nicht gewöhnt.

Nachdenklich ließ der Geschäftsmann seinen Blick durch die geräumige, aber leere Wohnung schweifen.

Es gab Momente, da wäre ihm sogar diese als tödlich verschrieene Familienidylle mit einer keifenden Ehefrau, blökenden Kindern und einem sabbernden Köter im Vorgarten lieber gewesen.

"Aber", sagte Eishaki beschwichtigend zu sich selbst, "Gestern mittag hab ich bei Herrn Flückiger angerufen."

Tristan und Isolde, seine beiden Unzertrennlichen, saßen eng aneinander gekuschelt in ihrem kleinen Vogelheim neben dem Durchgang zum Flur und lauschten den üblichen Selbstgesprächen ihres Herrchens. Manchmal verwechselte er sie, denn sie sahen genau gleich aus- leuchtend grüne Bäuche, orangefarbene Köpfchen und schwarze Knopfaugen- doch glücklicherweise schienen sie sich nicht daran zu stören.

"Diese Sakura klang so ungezwungen, wisst ihr", sagte Eishaki und hielt ihnen einen Hirsekolben hin, an dem sie sofort geschäftig zu picken begannen, "Sicher ist sie ein niedliches Ding. Und diese beiden, Flückiger und Kurogane, gefallen mir auch nicht schlecht, auch wenn sie vermutlich schwul sind... gibt es eigentlich auch schwule Papageien?"

Die beiden farbenfrohen Vögel ließen sich nicht in ihrer Mahlzeit stören. Doch als im Hausflur plötzlich ein leichtes Geräusch laut wurde, ruckten ihre Köpfchen angespannt in die Höhe.

Fragend wandte sich der Geschäftsmann zum Durchgang um.

"Die Klinke tut nicht mehr richtig, das wisst ihr doch", versuchte er seine Vögel zu beruhigen, "Ich müsste-..."

Ein Knacken. Die Tür ächzte. Leise. Verstohlen.

Fast, als ob jemand versuchen würde, das Schloss-...

Blinzelnd spürte der Geschäftsmann, wie ihm die Unsicherheit bereits die Kniekehlen hochkriechen wollte. Mit klopfendem Herzen legte er den Kolben zur Seite und stolperte in den Hausflur.

Doch er kam nicht weit.

Ein ohrenbetäubendes Krachen ertönte, als die Tür plötzlich mit einem Ruck aufgerissen wurde. Tristan und Isolde kreischten.

Mit einem Aufschrei taumelte Eishaki zurück und riss instinktiv beide Arme hoch. Hals über Kopf kam er an der gegenüberliegenden Wand auf.

Doch als er sich wieder aufrichten wollte, fiel ein langer, dunkler Schatten über seine wehrlose Gestalt.

Eine unerwartete, metallene Kälte legte sich auf seine Kehle und ließ ihn reflexhaft den Atem anhalten.

Wie gelähmt vor Angst öffnete er die Augen- und erstarrte. Sein Herz hämmerte ihm schmerzhaft bis zum Hals.

"Sie sind das?", krächzte er mit schwacher Stimme.

In den grimmigen Augen seines Angreifers regte sich nichts.

Wortlos ließ Kurogane die Spitze des langen, kalt glänzenden Schwerts, das er auf seine Kehle gerichtet hielt, ein wenig weiter nach oben wandern und zog sein Kinn hoch.

"Sehr gut erkannt."

Sein Puls flatterte wie ein verletzter Vogel. In Eishakis Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume.

Er hatte sich zwar noch nie durch irgendwelche herausragenden Geistesgaben ausgezeichnet, doch beim Anblick des kalt glänzenden Schwertes, dessen blanke, leicht gekrümmte Spitze umissverständlich auf seine Kehle gerichtet war, fiel es ihm nicht schwer zu erraten, zu welchem Zweck der Schwarzhaarige hier war.

"Sind Sie hier, um mich-... ?"

"Sie schalten schneller als der Rest, das muss man Ihnen lassen."

Diese schlichte Feststellung genügte bereits, um Eishakis Hirn förmlich einfrieren zu lassen.

Der Rest?

Seine Augen weiteten sich ungläubig, als er spürte, wie es Klick machte.

"Sie sind es, der hinter diesen Serienmorden steckt, nicht wahr?"

"Das wird für Sie bald nicht mehr von Bedeutung sein."

Der Geschäftsmann seufzte und senkte den Blick, da er dem harten Glühen dieser lavafarbenen Augen nicht standhielt.

Dieser Mann war ein Killer. Er hatte all diese bedeutenden Menschen auf dem Gewissen, und nun war er an der Reihe.

So würde es also mit ihm zu Ende gehen.

"Ach herrje", murmelte er müde vor sich hin, "Ach herrje, ach herrje. Was für ein seltsamer Tag. Erst das Schild und jetzt das."

Nach einem langen, drückenden Schweigen blickte er zu der Gestalt des Killers empor.

"Sie werden's vermutlich tun, nicht wahr?"

"Wenn Sie schon so fragen."

"Das ist schade. Dabei hielt ich Sie für einen Menschen."

Überrascht spürte Eishaki die Schwertspitze an seinem Kinn beben.

"Ich bin kein Mensch."

"Glauben Sie? Sie laufen auf zwei Beinen und reden in ganzen Sätzen, also nehme ich doch an, dass Sie-..."

"Ich bin kein Mensch", fauchte der Killer. In den wilden, roten Augen glomm es gefährlich auf, sodass sein Opfer förmlich fühlen konnte, wie ihm das Herz in die Kniekehlen rutschte.

"Gut, dann nicht. Ich für meinen Teil hatte gehofft, zumindest von einem Menschen getötet zu werden, wenn ich schon mal gewaltsam ums Leben kommen würde."

"Als ob Sie das etwas interessieren würde!"

"Es interessiert mich sogar einiges", antwortete Eishaki und versuchte vergeblich, die fleckige Blässe aus seinem Gesicht zu vertreiben, "Ich hatte mich schon öfter gefragt, wie meine Nachbarn reagieren würden, wenn Sie mich ermordet in meinem Haus vorfänden. Vielleicht käme ich ja in die Zeitung."

"Was?!!"

"Wenn Sie sich hier mal umsehen, werden Sie es schon verstehen. Vermutlich würden meine Nachbarn nicht mal in mein Wohnzimmer sehen, wenn dort meine Leiche liegt."

Wieder glaubte er, die Schwerspitze an seiner Kehle zittern zu spüren.

"Aaaach", zischte der Killer und rammte das Schwert mit einem Ruck in die Wand neben Eishakis Kopf, sodass dieser entgeistert nach Luft japste, "Dann wollen wir das doch gleich mal ausprobieren! Stehen Sie auf, los!"

Sein untersetztes Opfer brauchte einige Zeit, um seinen fliegenden Atem wieder zu beruhigen. Der Kloß in seinem Hals wurde schwerer, als er sich mühsam von der Wand erhob und von seinem Angreifer grob ins Kreuz gestoßen wurde, sodass er unbeholfen Richtung Wohnzimmer taumelte. Noch immer fühlten sich seine Synapsen wie Eis an.

"Auf den Boden."

Der Mann seufzte und kniete sich auf den Teppich. Naja, vielleicht würde es wenigstens schnell gehen.

"Okay, dann tun Sie's schon", sagte er mit einem müden Gesichtsausdruck, "Bereit wäre ich jedenfalls."

Die Hände des Killers erbebten, als hätten sie einen Elektroschock bekommen.

"Was-... ?"

"Ich-... ähm, ich bin bereit", wiederholte Eishaki unsicher. "Naja, zumindest glaube ich das."

"Sie-... fürchten sich nicht vor dem Tod?!"

Wie ungläubig das klang.

Der Geschäftsmann blickte seinen Angreifer für einen Moment fragend an, und was er dort sah, überraschte ihn. Beinahe hätte er geschmunzelt, wenn sich sein Magen nicht wie Styropor angefühlt hätte.

Eigentlich eine gute Frage- wo blieb seine Angst? Sie stellte sich nicht ein, so sehr er auch wartete.

Alles grau und verstaubt wie immer.

"Ich kenne ihn doch nicht einmal", stellte er vorsichtig fest, "Aber Sie haben ja recht. Vermutlich wäre es kein Verlust."

Die Verwirrung in diesen zinnoberroten Augen stieg ins Grenzenlose.

"Sie verstehen mich nicht? Dann sehen Sie sich doch mal um."

Der Killer zögerte. Doch dann wandte er seinen Blick von seiner am Boden knieenden Beute ab und ließ seine Augen über das Wohnzimmer gleiten. Auf den ersten Blick kam es ihm vor wie ein ganz normaler Raum in einer ganz normalen Eigentumswohnung. Fernseher, Sessel, ein Glasschrank mit bunten Glastieren darin, eine Vase mit Blumen.

Doch auf den zweiten Blick fiel ihm auf, was dieses Bild störte. Und das war nicht der äußere Schein.

Es war die Stille.

Wie ein fetter, schwarzer Blutegel saugte sie sich an allem in dieser Wohnung fest. Es schmerzte fast in den Ohren, wenn man versuchte, ein Geräusch in dieser grauen Flaute zu finden. Kurogane erkannte es sofort wieder, denn es war das gleiche totenhafte Schweigen wie das seiner früheren Wohnung.

Kein anderes menschliches Wesen geht hier ein und aus. Er ist völlig allein mit sich selbst.

"Ah, Sie wissen, wovon ich spreche, nicht wahr?", erkundigte sich Eishaki, "Das freut mich. Also, wie Sie sicher erkannt haben, würde es mir nichts ausmachen zu sterben. Es würde sich nun mal niemand zum Trauern finden. Und Papageien können nicht weinen", meinte er mit einem Kopfnicken zu dem Vogelheim. Tristan und Isolde waren vor Schreck über den unerwarteten Eindringling ganz schlank geworden und starrten ihn nun aus ihren Knopfaugen skeptisch an.

"Dann werden die zwei Viecher eben mit Ihnen gehen", knurrte Kurogane mit aufeinander geknirschten Zähnen, "Als ob ich nicht wüsste, dass da noch ein 'Aber' in der Luft steht!"

Eishaki musterte den Mann, der ihn wie eine gewaltige Gewitterwand überragte, nachdenklich.

"Von mir hören Sie sicher kein 'Aber'. Der Tod ist für mich eine einwandfreie Sache. Aber von jemand anderem würden Sie sicher eins hören. Und bitte fragen Sie nicht, wen ich meine- Sie wissen es."

Die unruhige Schwertspitze an seiner Kehle erstarrte.

"Ich bin schon längst tot, falls Sie das bisher nicht bemerkt haben. Außer Routine hat mir die Welt nichts mehr zu bieten. Aber Sie sind ein reicherer Mann als ich, und ich glaube, der Mord an mir wäre nicht bedenkenlos für Sie."

Kuroganes Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse, als er die Zähne fletschte.

"Und was soll ich besitzen, das Sie nicht haben?!"

Eishaki sah den Mann, der ihn umbringen sollte, mit einem matten Lächeln an.

"Einen Lebenszeugen, mein Lieber."

In den markanten Zügen seines Gegenübers zuckte es. Die Pupillen dieser lavafarbenen Augen wurden rund und leer.

"Einen was?!"

Der Geschäftsmann lächelte wieder, diesmal offener. Das Kind in diesem Mann rührte ihn. Nun fiel es ihm nicht mehr schwer, die kalte Schwertspitze an seinem Hals zu ignorieren.

"Einen Lebenszeugen, Kurogane", wiederholte er mit ruhiger Stimme, "Seit bald siebenundvierzig Jahren beobachte ich die Menschen auf dieser Welt, zum Teil aus Berufsgründen. Dabei bin ich nicht schlauer aus ihnen geworden als irgendjemand anderes. Aber allein dadurch, dass ich mich mit ihnen beschäftigt habe, ist mir eins klar geworden: es gibt sehr viele von uns. So viele, dass der Einzelne ersetzlich geworden ist. Auf diesem Planeten gibt es ganze Milliarden von Menschen, kommt es da wirklich auf so ein einzelnes kleines Leben an?"

Nachdenklich wandte Eishaki den Blick wieder vom Fenster ab und sah Kurogane an.

"Und deswegen sind die Menschen ihr ganzes Leben lang auf der Suche."

"Wonach?!"

"Nach einem Lebenszeugen. Denn man hat Angst. Man fürchtet sich davor, einfach nur dazusein, ein Weilchen zu leben und dann unbeachtet zu sterben. Wer möchte das schon? Und Sie werden sehen, dass es diese Angst ist, die die Menschen zusammentreibt. Man wünscht sich jemanden, der-... ja, der ganz einfach da ist und alles mit einem teilt. Die guten Dinge, die erfreulichen Dinge, die grauenhaften und katastrophalen Dinge- oder auch nur die völlig alltäglichen Dinge. Ich habe diesen Lebenszeugen nicht, Kurogane, aber Sie haben ihn. Da ist jemand in Ihrem Leben, der zu Ihnen sagen kann: 'Du bist nicht unwichtig. Und du bist nicht überflüssig. Dein Leben vergeht nicht unbemerkt, denn ich werde dich jeden Tag bei allem, was du tust, beobachten- und Zeuge deines Lebens sein.' "

Die Schwertspitze an seiner Kehle zitterte wie von einem Krampf durchzogen. Mit starrem Blick beobachtete der Killer, dass ihm Eishaki, wie er da so wehrlos am Boden kniete, mit einem Ausdruck der unverhohlenen Bewunderung- wenn nicht sogar Eifersucht- ins Gesicht sah.

"Und darum frage ich mich, warum Sie das kaputtmachen wollen. Wenn ich jetzt nicht so viel Angst vor Ihnen hätte, würde ich Ihnen rundheraus sagen: Kurogane, Sie sind zweifellos der dümmste Mensch auf Erden!"

Sein ganzes Leben lang hatte Eishaki für solch eine Aussage nie den erforderlichen Mut gehabt, und offenbar hätte er es sich besser auch nicht für den Schluss aufsparen sollen, denn anscheinend hatten seine Worte das Fass zum Überlaufen gebracht. Sein biederes Mopsgesicht wurde vor Angst grau wie ein Fladen Sauerteig, als ihm sein Angreifer mit verbittert gefletschten Zähnen das Schwert direkt vor die Brust setzte.

Ich werde sterben. Ich glaub das nicht.

"So, bin ich das?", erwiderte Kurogane, mittlerweile nicht mehr wütend, sondern nur tonlos, "Ich fürchte, ich weiß es besser. Der Zweck, dem ich folge, ist Menschenopfer wert."

"Kein Zweck ist Menschenleben wert. Ich bin enttäuscht von Ihnen, dass Sie das noch nicht herausgefunden haben, Kurogane. Dabei hatten Sie sicher schon mehr als genug Gelegenheiten dazu."

Keine Reaktion.

Es war irgendetwas an diesem Satz, das Kurogane befremdet in seiner Haltung erstarren ließ.

Doch was war es? Was kam ihm an diesem Satz nur so vertraut vor?

Enttäuschen.

Das Wort. Ein einziges Wort. Das Gesicht des Schwarzhaarigen wurde binnen Sekunden leichenblass.

Enttäuschen.

Dieses eine Wort war es. Klein und widerwärtig blieb es in seinen Synapsen kleben und schien in seinem Kopf einen jähen Mechanismus in Gang zu setzen.

"Nun enttäuschst du mich wirklich, Kurogane. Wenn du glaubst, dass ein Katana für solch einen grausamen Zweck wie einen Mord benutzt werden sollte, dann werde ich es wohl für immer wegschließen müssen."

In Kuroganes Händen zuckte es. Der kalte Schweiß brach ihm aus, als er versuchte, sich seinen plötzlich und brennend heiß aufbrandenden Erinnerungen zu verschließen. Er konnte, wollte diese Worte nicht mehr hören.

Doch er konnte nichts tun. Es überrollte ihn wie eine auf ein unerwartetes Signal hin losgetretene Schuttlawine.

"Wenn du den Sinn eines Katanas nicht erfasst und es als vulgäre Mordwaffe missbrauchst, dann bist du kein Schwertkämpfer, sondern ein Mörder."

"Warum? Weil du tötest, darum! Weil du unschuldige Menschen abschlachtest wie Vieh!"

Ihm wurde elendig heiß. Am liebsten hätte er irgendetwas getan, getobt, etwas gegen die Wand geworfen oder einfach nur geschrieen, um nicht mehr an sich ersticken zu müssen.

Viel zu lange schon hatte er sich selbst aushalten müssen, hatte sich selbst inhaliert wie ein nicht abfallendes, langsam wirkendes Gift, und nun verreckte er daran wie ein Stück Vieh, krepierte an sich selbst.

Ich kann nicht mehr mit mir leben.

Er musste es beenden. Wieso tat er nicht einfach das, was er bis heute bei jedem anderen Opfer auch getan hatte- ansetzen und zustoßen? Es gab nichts, das sich leichter verrichten ließ.

Darüber hinaus hatte dieses Häufchen Elend von Mensch nichts mehr zu verlieren. Was hatte er schon außer seinen beiden Federviechern? Er hatte vielleicht Routine, doch genau diese Routine war es gewesen, die ihm über die Jahre hinweg den letzten Rest an Leben zwischen den Rippen hervorgepresst hatte.

Vorhang auf: grau. Vorhang zu.

Er hatte ein Versprechen gegeben.

Aber--...

Eishaki, der sich bisher nicht gerührt und auf den Todesstoß gewartet hatte, hob verwundert den Blick.

Und er wurde blass, als er den Kampf sah, der sich in diesen Augen über ihm abspielte.

Aus den zuckenden Gebärden seines Angreifers sprach der nackte Wahnsinn. Er rang mit sich.

Doch alles, was dabei herauskam, war Schmerz.

Zäh und hässlich schien er aus diesen dunklen Iriden hervorzusickern wie stinkender, schwarzer Schlamm aus einer finsteren Grotte, die so tief unter der Erde versteckt lag, dass sie kein einziges menschliches Auge je erblickt hatte.

Dieser Mann hatte getötet. Er hatte vermutlich schon mehr getötet, als er selbst zählen konnte. Und Eishaki konnte ihm ansehen, wie müde, wie unendlich müde er davon geworden war.

Eine müde Bestie, deren Bösartigkeit sich über die Jahre hinweg nach und nach an ihren Opfern verbraucht hatte.

Verbitterte Bestie, die sich zum Schlafen niederlegen wollte, weil sie all das Blut mittlerweile mehr schmerzte, als sie es vertrug.

"Glauben Sie nicht auch, dass es ihn nur unnötig unglücklich machen würde, Kurogane?", fragte er leise.

Weit aufgerissene, flackernd rote Augen starrten ihn als Antwort an.

Die Hände des Killers zuckten mittlerweile so krampfhaft, als wolle er seine Finger in den Stoff seines eigenen Mantels graben.

Als Reaktion auf Eishakis Worte tauchte plötzlich ein weicher, eisblauer Blick vor seinem inneren Auge auf.

Ein freundliches, hellhäutiges Gesicht drehte sich zu ihm um. Blutüberströmt. Von Qualen verzerrt.

Fröhliches, schmerzentstelltes Gesicht. Blutige Hände, die sich in sein Hemd verkrallten.

Tränen.

"Ich werde dich bei allem, was du tust, beobachten- und Zeuge deines Lebens sein."

"Würdest du mit dem Morden aufhören, wenn ich dich darum bitte?"

Eishaki zuckte zusammen, als Kurogane unvermutet noch einen Schritt näher auf ihn zutrat.

Klirrend fiel das Katana zu Boden.

"Kommen Sie", stieß der Schwarzhaarige hervor und packte sein Opfer bei den Armen, "Kommen Sie, schnell."
 

"Hah-... haaaaaaaaaahhhh--..."

Yuko runzelte die Stirn und wartete auf den Knall.

"Hahahhaah-... HATSCHUMM!!"

"Prost."

"Ich dachte immer, das heißt Gesundheit", gab Fye atemlos zurück und schnaubte seine Nase. Es klang wie ein Trompetenstoß.

"Von mir aus. Da denkt wohl gerade jemand an dich."

"Meinst du?"

"Ich meine. Wie steht's übrigens mit dem Essen?"

Der Blondling seufzte. Wenn die ehemalige Anwältin etwas perfekt beherrschte, dann war es Schnorren. Kaum zu glauben, dass er sich nach eineinhalb Jahren immer noch regelmäßig von ihr überreden ließ, sie zum Mittagessen einzuladen.

Vielleicht waren sie ja tatsächlich sowas wie Freunde.

"Ist jeden Moment fertig", erwiderte er daher nachsichtig und rührte den Reis für die Tai-Chazuke um. Er hatte extra für Kurogane ein japanisches Menü vorbereitet - Reis mit Meerbrasse und zum Nachtisch gefüllte Mocchi, womit er bei Yuko auf besonderen Segen gestoßen war. Diese fläzte sich gerade wohlgefällig auf dem Küchensofa und sah ihm bei seinen Handgriffen zu.

"Aah, gut, gut. Also, wie sieht's aus? Willst du nicht langsam mal rausrücken, wie's mit deinem heißen Wolf so läuft?"

"Du bist bisher ja auch nicht damit rausgerückt, ob du unseren Rechtsfall übernimmst..."

"Nun sei doch nicht so! Seit wann bist du da denn so konservativ?"

"Ich bin nicht konservativ", erklärte Fye geduldig, während er den Reis auf drei mit blauen Elefäntchen gemusterte Schalen verteilte und jeweils ein großes Stück Meerbrasse dazulegte, "Kurogane ist konservativ."

"Aaaach, das ist alles bloß eine Frage der Stellung."

Auf dem Gesicht des jungen Mannes hätte man Spiegeleier braten können, doch die Türklingel rettete ihn.

"I-ich glaube, da ist jemand an der-..."

Yuko schoss förmlich vom Sofa empor. "Ist schon gut, ich gehe. Mach du solange das Essen fertig."

Bevor Fye noch in irgendeiner Form Protest anbringen konnte, war die Lady auch schon aus dem Türrahmen. In langen Schritten kämpfte sie sich durch das Mantel- und Stiefelgewirre im Hausflur Richtung Tür und zog sie auf.

"Hallo!"

Stille.

Kurogane ließ seine Hand, die er schon halb zum Gruß erhoben hatte, verdutzt wieder sinken und starrte Yuko an.

Diese starrte ebenso ungeniert zurück. Zehn Sekunden zähes Starren. Zwanzig. Dreißig.

Langsam nahmen die Gesichtszüge des Schwarzhaarigen einen Ausdruck an, als hätte er irgendeine besonders scheußliche Gottesanbeterin vor sich. Skeptisch lehnte er sich ein Stück weit zurück und musterte unter gerunzelter Stirn die halb verblichene Dreiunddreißig an der vorderen Hauswand, um sicher zu gehen, dass er sich nicht in der Tür geirrt hatte.

"Was bist du denn?!", bekam er dann endlich die Zähne auseinander und zeigte mit dem nackten Finger auf Yuko.

Diese ließ sich davon nicht beeindrucken.

"Ich bin der Boss!"

Der Killer hob die Augenbrauen um fast einen Zentimeter. "Ach ja?"

"Jawohl."

"Achso. Und ich dachte schon, du wärst irgendeine Furie, die mein Haus in Besitz genommen hat..."

"Das ist nicht dein Haus", stellte die schwarzhaarige Diva sachlich fest. Kurogane spürte seine Zornesader schwellen.

"Ja und?!! Deins ist es genauso wenig!!"

"Ich wurde hierher eingeladen."

"ICH AUCH!!"

"Na also, warum brüllst du dann so? Komm rein!"

Mit einem bodenlosen Ächzen unterdrückte der Killer das Jucken in seinen Fingern und stampfte in den Hausflur.

"Darf ich dann wenigstens wissen, wer du bist, 'Boss' ?!", blaffte er ungnädig, nachdem er sich seines Mantels entledigt hatte.

"Na klar!", erwiderte Yuko breit grinsend, "Mein Name ist Yuko Ichihara!"

Kurogane zerplatzte nicht gerade vor Euphorie. Skeptisch starrte er die junge Frau unter schiefgelegtem Kopf an.

"Yuko Ichihara also?"

"Exakt. Und du musst Kurogane sein, nicht?", fragte die Lady gut gelaunt und schüttelte kurzerhand die Hand des Schwarzhaarigen, da dieser nicht gedachte, sich auch nur irgendwie zu rühren, "Nicht übel, ich hielt dich für hässlicher!"

Das Gesicht des Killers erglühte, als hätte man einen Becher Farbe darüber ausgespritzt.

"WIE WAR DAS?!!"

Eins musste man Yuko lassen, sie legte ihre Vorbehalte eindeutig schneller ab als ihr männliches Gegenüber- sie gröhlte vor Lachen, versetzte ihm einen Stoß in den Rücken, dass ihm schier die Puste ausging und schleifte ihn kurzerhand Richtung Küche.

"Hey, Fye-kun, du hast mir ja gar nicht erzählt, dass dein heißer Wolf 'ne olle Japse ist!"

"Selber Japse!", stieß Kurogane zornig hervor, was in diesem Falle ja auch ein korrekter Ausspruch war. Die Anwältin lachte nur.

"Wahahaha, du bist mir vielleicht einer! Ist er immer so ein Stinkstiefel, Fye-kun? Ich sag ja, alles eine Frage der Ste-..."

Fye japste entsetzt nach Luft und schaffte es gerade noch, dazwischen zu gehen, bevor sein Mitbewohner der Lady an die Gurgel gehen konnte. "Y-yuko-san-... bitte, sei doch so gut und schließ die Haustür, es zieht schon wieder so stark-..."

"Schon verstanden."

Kurogane stieß ein unwilliges Grollen aus, als sie endlich aus der Küche war.

"Kann sie nicht gehen? Ich muss mit dir reden."

Der Blondling sah fragend zum Gesicht seines Weggefährten empor. Er sah müde aus, und der seltsam kraftlose Gesichtsausdruck, mit dem er seinen Blick erwiderte, verunsicherte ihn. Der Killer seufzte und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

"Mach dir keinen Kopf. Mir geht's gut."

Seine Stimme klang flach und unstet. Die hellen Brauen seines Kompagnons zogen sich sorgenvoll zusammen.

"Und das soll ich dir jetzt glauben?", fragte er leise und fasste ihn bei den Unterarmen, "Ich werd dir schon nicht den Kopf abreißen, wenn du es mir erzählst."

Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf.

"Ich will das unter vier Augen mit dir besprechen, und nicht, wenn diese Klamauk-Königin im Haus ist."

"Kurogane-..."

"Bitte, Fye."

Fye starrte Kurogane irritiert an und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.

Doch dann lächelte er und fasste ihn am Handgelenk. Sein älteres Gegenüber wich nicht zurück.

"Okay. Dann lass es uns so machen. Komm, hast du Hunger?"

"Wie ein Wolf", machte Kurogane das Spiel nur allzu gerne mit und ließ sich von Fye zum Herd ziehen.

"Toll! Dann wird dir das Mittagessen ganz sicher schmecken. Schau mal!"

Er lüftete den Topfdeckel um einen winzigen Spalt, und ein Schwall Meerbrassenduft stieg dem Schwarzhaarigen in die Nase.

"Das ist-... Tai-Chazuke?", fragte er gegen seinen Willen verwundert, und der Blondling nickte fröhlich.

"Du hast japanisch gekocht?"

"Tja, ich schätze, du inspirierst mich sogar in der Küche."

Nun konnte Kurogane nicht mehr anders, er musste grinsen. Bevor er halbwegs nachdenken konnte, fand sich eine seiner Hände in Fyes Haar wieder und zauste es zwischen den Fingern.

"Da bin ich aber beruhigt."

In den Augen seines jüngeren Gegenübers funkelte es, als er zu ihm hochlächelte.

"Das freut mich. Ehrlich."

"Entzückend", drang plötzlich eine Stimme von der Tür her.

Augenblicklich fuhren beide mit einem überrumpelten Aufjapsen hoch und wirbelten herum.

Yuko grinste so breit, dass eine Wassermelonenscheibe in ihren Mund gepasst hätte.

"Erwischt, meine Herren!"

"Yuko-san!!"

"Duuu-... du, du hinterhältige--"

Die ehemalige Anwältin lachte nur schallend und löste sich schwungvoll vom Türrahmen, an dem sie bis jetzt gelehnt war und die Unterhaltung wohl Wort für Wort mitverfolgt hatte, um sich ebenso schwungvoll am Tisch niederzulassen.

In ihren Augen funkelte der Schalk, als sie die beiden musterte. Fye spürte sein Gesicht brutzeln.

"Ah, ehhh-... ja genau, das Essen! Wieso sagst du nichts, Yuko-san? Das Essen, ja genau, das Essen-..."

"Was ist mit dem Knirps und seiner kleinen Freundin?", fragte Kurogane skeptisch, während er das Besteck auftrug.

"Ich hab Shaolan angerufen, sie sind noch bei Miss Garfield."

Yuko grinste immer noch und stützte ihr Kinn auf den linken Handteller. Am liebsten hätte Fye sein Gesicht im Kochtopf versenkt, und aus Kuroganes verkniffener Miene schloss er unschwer, dass es ihm da nicht viel anders ging. Aber die Anwältin wusste offenbar nur zu gut, wie weit man es auf diesem Gebiet treiben konnte, ohne dabei ein blaues Auge verpasst zu kriegen.

"Dann lass mal sehen, Fye-kun! Was hast du heute alles gezaubert?"

"Tai-Chazuke, Sake und Mocchi zum Nachtisch. Hier, bitte sehr. Guten Apettit!"

Kurogane legte den Kopf schief und musterte das Essen auf seinem Teller.

Es duftete viel zu gut. Nach Erinnerung.

Für Yuko allerdings schien es eher nach Reis mit Meerbrasse zu duften, denn sie futterte, als gelte es einen Rekord zu brechen.

"Ich sag's ja, Fye-kun, du hättest in die Haute Cuisine gehen sollen!"

"Denkst du, die würden jemanden wie mich nehmen?", gab Fye mit einem gedankenvollen Lächeln zurück.

"Keine Frage! Absolut keine Frage-..." Diese Worte bekräftigte die Lady mit einem kräftigen Schluck Sake.

"Hahhhhhh! Köstlich! So, und jetzt zum Geschäftlichen! Hey, während einer Geschäftsbesprechung wird nicht gegessen!"

"Aber-...", protestierte der Killer, als sie ihm kurzerhand die Stäbchen wegschnappte, "Was denn bitte für eine Geschäftsbesprechung, Ichihara-sa--"

"Ichihara-san?? Sind wir hier auf einem Wohltätigkeitsbasar? Es heißt Yuko, kapiert?"

Kurogane starrte sie an, als wollte er sie mit seinem bloßen Gesichtsausdruck pfählen. "Also, Yuko, dann sag mal, was denn bitte für eine Geschäftsbesprechung?"

"Dein kuscheliger Spielgefährte hat mir ein Geschäftsangebot gemacht, du Ausbund der guten Sitte."

"Er hat was?!", schnauzte der Schwarzhaarige und feuerte eine ganze Salve Todesblicke auf Fye ab. Dieser lachte dämlich.

"N-naja, Kuro-myu, du musst wissen, dass unsere Yuko-san eine gefragte Privatanwältin ist-... okay, okay, eine gefragte Privatanwältin war- und wir uns darüber unterhalten haben, ob wir sie einstellen sollen!"

Kurogane starrte Fyes Anwaltskandidatin misstrauisch aus dem Augenwinkel an, das Gesicht ein einziges Synonym der Skepsis.

Na toll. Eine spannende, saufende Arbeitslose als unsere Anwältin. Sonst noch was?

"Bist du dir sicher, dass er die Leute mit einem Schwert umbringt?", fragte Yuko Fye, "Ich glaube, er hat das gar nicht mehr nötig, so wie der gucken kann."

"WOHER--"

"Beruhig dich, Kurogane, ich hab es ihr erzählt", sagte Fye gelassen, "Geheimniskrämerei bringt uns auch nicht weiter."

"Und das sagst ausgerechnet du?"

"Ich werd es schon nicht ausplaudern", erklärte Yuko, "Ich hab bereits ganz andere Sachen geheim gehalten."

"Ah ja?", bellte Kurogane nur und hatte einige Mühe, sich wieder zu beruhigen.

Ihr resoluter Gast schien sich nicht daran zu stören- sie verleibte sich die Hälfte der Mocchi schneller ein, als man Piep sagen konnte, putzte sich den Mund ab und verschränkte die Arme auf dem Tisch.

"Okay, meine putzigen Freunde. Redet mit mir."

"Viel mehr als das, was ich dir bereits erzählt habe, können wir dir nicht mehr liefern, Yuko-san", meinte Fye achselzuckend, "Ich hab wirklich versucht, an alles zu denken."

"Das versuchst du immer, Schatz. Aber ich hätte es auch gerne mal aus deiner Perspektive gehört."

Bei diesen Worten nickte sie zu Kurogane, der nur bockig zurückstarrte.

"Und was genau willst du hören? Etwa Klartext?"

"Klar will ich Klartext", entgegnete Yuko und wedelte leichthin mit der Hand, "Ich werd schon nicht vom Stuhl fallen, und wenn es doch passieren sollte, bleib ich noch zum Abendbrot. Also, dann schieß mal los!"

"Viel gibt es da nicht zu erzählen", erklärte Kurogane und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, "Sagen dir die Namen Giuseppe Pantoliano und Joshua O'Connor etwas?"

"Diese Oberpflaumen kennt doch jeder. Ratspräsident und Ministerialrat des Dezernats für nationale Sicherheit. In letzter Zeit pupen sie für meinen Geschmack ziemlich viel in der Gegend herum. Was ist mit ihnen?"

"Zum einen sind sie meine Arbeitgeber."

"Und was sind sie zum anderen?"

"Dreckige, stinkende Wechselbälger."

"Schmeichelhaft. Ich nehme an, du hast sicher einen guten Grund für diese liebevolle Annahme?"

"Jawohl. Diese beiden Kerle haben im Dezernat das Heft in der Hand, vor allem Pantoliano. Er ist der Präsident des Rates, der sich aus den Abteilungsleitern zusammensetzt, und er zieht in diesem Saustall sämtliche Fäden. Alles tanzt nach seiner Pfeife. Im Dezernat ist Pantoliano Gott, und er hat den gesamten Rat unter seiner Fuchtel. Wer den Rat kontrolliert, kontrolliert das System der nationalen Sicherheit. Und wer dieses System kontrolliert, kontrolliert das Land. Pantoliano hat- nach außenhin- lediglich den Status eines 'Binnenpolitikers', aber in Wahrheit ist er mächtiger als der Präsident. Im Dezernat selbst läuft schon seit Jahren fast nichts mehr so, wie es eigentlich laufen sollte. Nur die niedersten Angestellten führen dort noch ein halbwegs unbehelligtes Leben, den Rest hat Pantoliano schon längst in seine Mistgrube hineingezogen."

"Wenn du mit 'Mistgrube' Korruption, Bestechung, organisierten Mord und Manipulation meinst?"

"Vom feinsten. Wenn in diesem Dreckloch etwas geschieht, dann nur, weil Pantoliano es will. Er ernennt und erschießt seine Ratgeber, wie es ihm passt. Und ganz nebenbei könnten mich diese Informationen ein paar Körperteile kosten."

Yuko runzelte die Stirn und ließ die Finger ihrer linken Hand geräuschvoll krachen.

"Alle Achtung. Deinen Arbeitsplatz will ich haben. Und welche Rolle nimmst du bei der ganzen Sache ein?"

"Ich bin der 'Turm'. Ich bin dafür zuständig, dass es keine störenden Fremdkörper in Pantolianos politischem System gibt, egal in welcher Hinsicht. Zum Beispiel gab's dort vor kurzem einen Einbruch, und ich soll den Einbrecher eliminieren. Finden und töten, mehr musste ich nie tun."

"Was? Es gab dort einen Einbruch? In einem Regierungsgebäude?"

"Pantoliano gibt keinen Cent mehr für die Sicherheitsausstattung aus, als er unbedingt muss. Der braucht sein Geld für wichtigere Dinge wie Jacuzzis oder Mörderhonorare. Es wundert mich gar nicht, dass da so ein harmloser kleiner Langfinger problemlos durchschlüpfen konnte, ohne erwischt zu werden. Den Rat kümmert's sowieso nicht, solange die Geschäfte weiterhin gut laufen."

Yukos Augen wurden schmal.

"Und darf ich mich erkundigen, aus welchem Grund du dich zu dieser Abschlachterei nötigen lässt? Denn wenn du es freiwillig tust, kann ich euch nicht helfen."

Fye spürte seine Kehle eng werden, als er Kurogane bei diesen Worten leicht zucken sah.

Es quälte ihn, darüber zu sprechen, man konnte es ihm ansehen.

"D-das... ist eine Privatsache. Pantoliano weiß Dinge über meine Person, die... die es ihm erlauben, Zwang auf mich auszuüben."

"Dinge?"

"Er wird meine Eltern töten, wenn ich es nicht tue, soll ich noch deutlicher werden?!", zischte Kurogane und starrte die Anwältin wütend an. Diese starrte regungslos zurück.

Ein äußerst unangenehmes Schweigen machte sich breit, bis sie schließlich seufzte und den Blick senkte.

"Tut mir leid. Das wusste ich nicht."

"Vergiss es. Sag uns einfach, was du in unserer Sache für uns tun kannst. Wir würden Neujahr gerne noch erleben."

Yuko musterte die beiden nachdenklich und verschränkte die Hände auf dem Tisch.

"Okay, hört mir zu", begann sie, "Ich hab mir diese Geschichte jetzt zweimal angehört. Einmal von Fye-kun und einmal von dir. So wie's aussieht, hat keiner von euch beiden gelogen, und das sagt mir zumindest, dass ihr es mit der Wahrheit genau nehmt."

Wieder ein Seufzen. Die Anwältin massierte sich gründlich die Nasenwurzel, bevor sie fortfuhr.

"Aber genau deswegen will ich zuerst eine Sache klarstellen, damit es da keine Missverständnisse gibt- ich bin kein Typ, der Versprechen gibt. Es ist nicht meine Sache, euch falsche Hoffnungen zu machen. Kapiert?"

"Kapiert", antworteten Kurogane und Fye unisono.

"Zweiter Punkt: ich halte nichts von den verschimmelten Methoden des Justizrates. Was ihr brauchen werdet, ist eine kompetente Anwaltskanzlei mit Anwälten, die was von ihrem Fach verstehen und nicht gleich alles an den Rat ausplaudern. Denn sonst könnte es schnell passieren, dass ihr die Bullerei am Hals habt. Auch kapiert?"

"Auch kapiert."

"Gut. Dritter Punkt: ich bin seit zwei Jahren aus dem Geschäft. Es wird mehr als promethische Fähigkeiten erfordern, dass wir mit unserem Fall in einer Kanzlei unterkommen. Ich hätte zwar schon eine Idee, an welche wir uns wenden können, aber ich kann euch nichts garantieren. Auch kapiert?"

"Auch kapiert."

Yuko sah die beiden mit schiefgelegtem Kopf lange an und hob schließlich ein wenig hilflos die Schultern.

"Tja, was soll ich dann noch sagen? Auf gute Zusammenarbeit."

Mit großen Augen starrte Fye die Hand an, die die Lady ihm anbot.

"Yuko-san-..."

"Nun nimm sie schon, bevor ich es mir wieder anders überlege", ächzte seine langjährige Freundin ungehalten, "Ich bin viel zu weichherzig geworden in den letzten Jahren! Wenn ihr mir nicht gesagt hättet, dass ihr Tod und Teufel im Nacken habt, würde ich's nicht glauben. Man muss nicht fleckenlos sein, um auch unschuldig sein zu können."

Ein verwunderter Blick aus zwei Augenpaaren war die Antwort.

Yuko schien ihre Gründe gehabt zu haben, als sie sie beobachtet hatte. Die Lady musste gegen ihren Willen ein wenig schmunzeln.

"Meine Güte, Jungs, ich hab diese Flecken doch auch", sagte sie leise, "Die hat jeder hier. Aber wer weiß? Vielleicht kriegen wir ja doch noch ein paar wieder rausgewaschen."

Das genügte dem Blondling, um wieder lächeln zu können. Er nahm Yukos Hand und schüttelte sie kräftig.

"Auf gute Zusammenarbeit!"

Kurogane runzelte die Stirn, als sich die reanimierte Anwältin zwecks Vertragsfestigung auch noch seiner Hand bemächtigte.

Er wusste jetzt schon mit absoluter Sicherheit, dass er es keine halbe Stunde mit diesem Operndiven-Verschnitt im selben Raum aushalten würde, ohne dabei an die Decke zu gehen.

Doch wenn es tatsächlich stimmte, was Fye ihm da erzählt hatte, war das Ganze natürlich ein wenig anders.

Er war zwar bis zu einem gewissen Grade uneinsichtig, aber so dumm, nur nach seinen eigenen Devisen zu handeln, war er schon lange nicht mehr. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal so viel Glück haben würden, einen Anwalt in der Nachbarschaft zu finden? Dazu noch einen Anwalt, der offenbar schon mit Leuten höchsten Kalibers zu tun gehabt hatte?

Und zuguterletzt schien diese Hexe ja doch etwas von ihrem Fach zu verstehen.

Hoffnung war nie garantiert, doch sie war gratis.

Noch ein Verzweifelter, der seine Chance bekommt. Bald haben wir genug Leute für einen zweiten Lonely Hearts Club.

"Über die Bezahlung können wir ja noch-...", fing er an, doch Yuko spießte ihn mit dem Zeigefinger auf.

"Nun hör mir mal ganz genau zu, du Genie! Ihr vier habt noch genug zu tun, klar? Wie ihr euch revanchieren könnt, können wir uns immer noch überlegen, außerdem sollte man diese Frage nie stellen, wenn man nicht arm sterben will. Borgt mir fürs Erste ganz einfach einen Staubwedel."

"Warum das denn?!"

Die junge Frau grinste. "Wenn mein Leben schonmal entrümpelt werden soll, fang ich lieber zuerst mit mit meinem Haus an. Hast du noch diesen tollen blauen Staubwedel mit dem Elefäntchen am Griff, Fye-kun?"

"Klar hab ich den noch", sagte Fye beflissen und hatte den prächtigen Staubpuschel auch schon im Handumdrehen aus dem Küchenschrank hervorgewühlt, "Hier, bitte!"

"Danke. Ihr Jungs seid mir genau die Richtigen. Und jetzt brauch ich erstmal ein Bier. Danke für das tolle Mittagessen!"

"Fall uns bloß nicht vom Fleisch", antwortete der Blondling fröhlich und drückte ihr noch ein großes Paket selbstgebackene Weihnachtskekse in die Hand.

"Ihr werdet von mir hören. Haltet bis dahin einfach die Ohren steif."

Mit diesen Worten verabschiedete sie sich. Kurogane hob die Augenbrauen und sah Yuko stirnrunzelnd nach, bis die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel.

Schweigen.

Skeptisch bedachte der Schwarzhaarige seinen Weggefährten mit einem flüchtigen Seitenblick.

"Diese Hexe soll also dafür sorgen, dass uns Gerechtigkeit widerfährt?"

Ein kleines Lächeln war die Antwort.

"Vielen Dank, dass du ihr zumindest einen Bruchteil der Geschichte erzählt hast. Damit hast du die Zusammenarbeit erst möglich gemacht, glaube ich."

"Ach, hör doch auf damit!", erwiderte Kurogane unbeholfen, als er das Blut auf seine Wangen kriechen spürte.

Fye sah ihn warm an. "Yuko kann manchmal ein ziemlicher Drache sein, aber sie ist kein Unmensch, wie du gesehen hast. Du hast angefangen, mir zu vertrauen. Probier das doch auch bei ihr!"

"Idiot! Bei ihr ist das doch etwas völlig anderes als bei dir!"

"Und wie ist es dann bei mir?"

Kurogane wurde rot und biss die Zähne aufeinander, eine Reaktion, die Fye noch nie bei ihm beobachtet hatte.

"Ich muss mit dir reden. Sofort."

"Okay", willigte der Blondling ein und ließ es zu, dass sein älteres Gegenüber ihn am Handgelenk packte und hinter sich her ins Wohnzimmer schleifte.

"Wo bist du heute morgen überhaupt gewesen?", fragte er vorsichtig, da ihm irgendetwas an Kuroganes Gesicht sagte, dass es nun besser wäre, seine Worte sorgfältig zu wählen. Der Killer nahm ihn jedoch nur an den Schultern, drückte ihn wie eine Spielzeugpuppe auf das Sofa und ließ sich ihm gegenüber nieder.

"Ich-... hatte in der Stadt zu tun, und bin dabei Eishaki begegnet. Wir haben miteinander geredet."

Das war im strengen Sinn des Wortes noch nicht einmal gelogen. Fye sah ihn fragend an.

"Und was hat er gesagt?"

Mühsam versuchte Kurogane, sich nicht beirren zu lassen.

"Er... hat gemeint, er könnte ebenfalls seinen Teil zu unserer Sache beitragen. Er hat dir doch sicher auch schon von den bereits verabschiedeten Rechtsfällen seiner Abteilung erzählt, die vom Sachverhalt ungefähr in unsere Richtung gehen? Er hat noch sämtliche Aufzeichnungen bei sich. Hat gemeint, es wäre nicht leicht gewesen, sie seinem Vorgesetzten abzuluchsen, aber er hat's geschafft und hat mich auch einen Blick draufwerfen lassen. Und deswegen-... was ist los?", hielt er unwillig in seiner Rede inne, als sich etwas in Fyes Gesichtsausdruck änderte und er den Blick senkte.

"Hey. Sag schon, was ist?"

"Was wolltest du bei Eishaki-san?", fragte der Blondling zurück und sah ihn an. In seinen Augen flackerte es.

Der Killer stieß ein Seufzen aus.

Er hätte wissen müssen, dass sein Mitbewohner nicht lange zum Schalten brauchen würde.

"Komm. Komm her."

Fyes Hände erstarrten, als Kurogane ihn bei den Schultern zu sich herzog und umarmte.

Sein Puls raste durch seine Venen und trieb ihm das Blut auf die Wangen.

Was-...

Der Schwarzhaarige ließ seinen Blick beharrlich auf das Wohnzimmerfenster gerichtet, während er Fye festhielt.

Man hatte ihm nie beigebracht, wie man Leute zu umarmen hatte; er wusste lediglich, dass man dabei die Arme um jemanden legte und die Hände meistens auf die Schultern oder den Rücken absetzte, während der Rest des Körpers unbeteiligt blieb. Manchmal tat man es, um jemanden unbemerkt erstechen zu können, vor allem in französischen Filmen. Doch Kurogane hatte an irgendeinem grauen, halb vergessenen Tag mal gehört, dass man sowas hauptsächlich tat, um jemanden zu trösten oder zu beruhigen.

Kompliziert. Aber machbar.

"Hör mir jetzt zu", raunte er leise, "Die Lage gerät allmählich außer Kontrolle. Von heute an ist Eishaki-sans Leben dort, wo er gerade wohnt, nicht mehr sicher. Ich hab ihn von dort weggeschafft. Für die Medien hat er offiziell Selbstmord begangen. Das heißt, er wird es getan haben, wenn man den Abschiedsbrief in seinem Haus findet. Als wir hergefahren sind, hat er behauptet, es würde wahrscheinlich Monate dauern, bis seine Abwesenheit überhaupt bemerkt würde."

Er wollte noch mehr sagen, doch das Schweigen seines Weggefährten machte ihn stutzig.

Irritiert sah er an sich hinunter, auf den Scheitel seines Mitbewohners, der knapp unterhalb seines Kinns schwebte.

Fye lehnte so starr und regungslos an seiner Brust wie eine Schlafpuppe. Seine Arme und Hände erwiderten die Umarmung nicht, sondern waren starr in der Luft hängen geblieben.

"Fye-... ?"

Der blonde Schopf unter ihm bewegte sich. Zwei eisblaue Augen hefteten sich an seinem Gesicht fest.

"Was", wiederholte Fye flüsternd, "Wolltest du bei Eishaki-san?"

Ein kleiner, nagender Schmerz bohrte sich in Kuroganes Magengegend fest wie ein hungriger Wurm. Durch den Stoff ihrer Pullover fühlte er Fyes Herz poltern.

Oder ist es meins?

"Er stand auf meiner Liste, okay?", stieß er endlich hervor, "Wir-... haben geredet und uns entschieden, dass es vorerst vielleicht besser wäre, sich auf was anderes zu konzentrieren als auf die Zahl meiner Opfer, und dann hab ich ihn eben weggebracht, weil-..."

Weiter kam er nicht.

Wortlos schlang ihm Fye beide Arme um den Nacken und riss ihn mit sich zu Boden. Die Fernbedienungen tanzten auf dem Tisch.

Das nächste, was Kurogane bewusst wahrnahm, war der Wohnzimmerteppich unter seinem Rücken. Stöhnend wartete er, bis die um seinen Kopf kreiselnden Teufelchen wieder verschwanden.

"Sag mal, musst du mich eigentlich immer gleich umwer-...", fing er keuchend an.

Doch als er plötzlich Fyes Wange spürte, die sich gegen die Seinige schmiegte, hielt er den Atem an. Sein Herzschlag rutschte in seinen Hals und hüpfte dort nun in einem Fort auf und ab, sodass ihm zum Protestieren ganz einfach die Luft wegblieb. Blonde Haare kitzelten sein Gesicht. Vor Überraschung wie gelähmt ließ er es zu, dass sein Weggefährte sich an ihn drängte und den Kopf in seine Halsbeuge legte.

Auf diese Weise verging ein langes Schweigen. Verwirrt spürte Kurogane, dass seine Haut jäh erbebte, als weich geflüsterte Worte sein wärmetrunkenes Ohr erreichten.

"Du hast ihn verschont... ?"

Müde starrte der Killer an die Decke.

"Ja."

"Du hast ihn nicht getötet? Obwohl du ihn hättest töten müssen?"

"Ja."

"Bereust du deine Entscheidung?"

"Noch nicht."

Fye barg das Gesicht des Schwarzhaarigen in beide Hände und sah ihn besorgt an.

"Aber-... Kurogane, was ist mit deinen-... ?"

Kurogane sah ihn starr an. Dann schüttelte er den Kopf.

"Wir werden das schon irgendwie geheimhalten können."

"Aber was ist, wenn Pantoliano deine Eltern-... ?"

"Soweit wird es nicht kommen. Ich habe Beziehungen, wie du weißt."

"Und wenn-..."

"Ich kann nicht immer nur an das Wohlergehen meiner Eltern denken!", unterbrach Kurogane seinen Mitbewohner mit harter Stimme, "Das hab ich schon lange genug getan! Unser Standpunkt ist es, der jetzt berücksichtigt werden muss! Oder willst du etwa sterben?"

Darauf gab Fye keine Antwort. Sein Blick bekam etwas Abwesendes.

"Aber deine Eltern sollen nicht sterben", sagte er nach einer ganzen Weile, "Niemand soll sterben. Denkst du da anders?"

"Was ich denke?", antwortete der Killer gereizt, "Ich denke, dass ich vorhin wohl besser den Mund gehalten hätte! Wenn es einen Weg gäbe, mit dem wir alle heil da rauskommen, dann hätte ich danach gesucht! Ich bin nicht der Egoist, für den du mich hältst!"

"Ich halte dich doch nicht für einen Egoisten!", rief Fye zornig, "Ich will doch nur, dass-..."

Die Stimme versagte ihm, als Kurogane ihn am Kragen packte. Verzweifelt versuchte er, den Blick abzuwenden, doch der Schwarzhaarige setzte sich auf, fasste ihn am Kinn und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen.

Die Stille zwischen ihnen vibrierte wie eine lebende Kreatur.

"Heute", sagte der Killer schließlich leise, "Hatte ich die Möglichkeit, zu wählen. Ich konnte entscheiden zwischen töten oder am Leben lassen. Ich denke, du weißt mittlerweile, dass ich schon öfter vor dieser Wahl gestanden bin und mich jedesmal für töten entschieden habe. Aber heute stand für mich mehr auf dem Spiel. Denn ich musste wählen, ob du mich von heute an hassen oder schätzen würdest."

In den blauen Augen flackerte es jäh auf. Unter seinen Fingern spürte Kurogane das Kinn des Blondlings beben, dennoch ließ er sich nicht beirren.

"Soll ich dir die Wahrheit sagen?", fragte er ihn ruhig und ließ seinen Kragen nicht los, "Die Wahl fiel mir nicht leicht, weil ich nicht gedacht hätte, dass es für mich eine Rolle spielt, ob du mich hasst oder schätzt. Bis vor kurzem war es mir ehrlich gesagt sogar ziemlich egal. Aber heute morgen habe ich gemerkt, dass ich das jetzt wohl nicht mehr behaupten kann. Und deshalb hab ich den Weg gewählt, der vielleicht Gefahr für meine Eltern, aber dafür unser Leben bedeutet. Weil ich lieber von dir geschätzt als gehasst werden will. Ich werde dich nicht dazu zwingen. Aber ich kann mein Möglichstes tun, dass es so geschieht."

Was hatten seine Hände auf einmal auf Fyes Schultern zu suchen?

Der Schwarzhaarige merkte irritiert auf und hielt in seinen Worten inne, als er die sanfte Last von Fyes Körper so dicht an dem Seinigen wahrnahm. Er hätte nie gedacht, dass sich der Leib des jungen Mannes so leicht anfühlen würde. Dünn und schlankgliedrig.

Fast wie Glas.

"Ich bin froh, dass du Eishaki-san nicht getötet hast", holte ihn Fyes flüsterleise Stimme unvermutet in die Realität zurück, "Auch wenn es uns in Gefahr bringen wird. Und ich bin froh, dass... d-dass du von mir geschätzt werden willst. Ich glaube, Eishaki-san freut sich auch, dass du so entschieden hast."

Der Schwarzhaarige schüttelte nur leicht den Kopf und sah ihn müde an.

"Ich habe mich nicht Eishaki zuliebe so entschieden."

Sein jüngeres Gegenübersah ihn ungläubig an. Doch dann verstand er. Kuroganes Puls machte einen unwillkürlichen Satz, als er wieder diese feinen, unaufdringlichen Fingerspitzen in seinem Nackenhaar spürte.

"Ich danke dir."

Die Worte kamen völlig ungekünstelt, kullerten ihm einfach aus dem Mund, und der Blondling musste lächeln, als er die nur mühsam verhohlene Verwirrung in des anderen Augen bemerkte, die nach wenigen Augenblicken einer absoluten Ruhe wich.

War es das, was man einen vollkommenen Augenblick nannte?

Wenn die Realität von allen Seiten stieß und drängte wie ein aufdringliches Tier- und man sich doch nicht davon bedroht fühlte?

Ja, das musste es sein. Und Kurogane schien genauso zu denken.

"Sag mal-..."

"Ja?"

Die Kinnmuskeln des Killers traten hervor, als er die Zähne zusammenbiss und zur Seite blickte, als würde er sich schämen.

Fye hob überrascht die Augenbrauen.

"Beobachtest du mich?"

"Was-... ?"

Endlich schafften es die wilden, lavafarbenen Augen, sich vom Boden wegzureißen und ihm ins Gesicht zu sehen.

"Beobachtest du mich?", wiederholte Kurogane mit leiser, harter Stimme, "Ich meine-... siehst du mir zu bei dem, was ich tue? Also, als ob du ein Zeuge davon wärst? Von dem, was ich-... eben so alles tue?"

Man konnte es dem Schwarzhaarigen förmlich ansehen, was es ihn an Selbstüberwindung kostete, über solch verboten persönliche, verboten vertrauliche Dinge zu reden. Ein wenig wirkte er wie ein Kind, das soeben mit der Hand in der Keksdose erwischt worden war und trotzdem am liebsten leugnen würde.

Fye wusste nicht wieso, aber es brachte ihn zum Lächeln.

"Wieso fragst du mich das, Kuro-chan?"

"Jetzt sag doch einfach, ob du's tust oder nicht!", presste der Killer unter mittlerweile lichterloh brennenden Wangen hervor.

Der Blondling sah ihn ein wenig ratlos an. Wünschte er sich etwa eine bestimmte Antwort?

Naja. Dann muss ich wenigstens nicht lügen.

"Möchtest du, dass ich damit aufhöre, Kuro-ron?"

Die zinnoberroten Augen öffneten sich, zögernd, fast scheu, als würden sie das, was sein Gehör soeben aufgefangen hatte, erst bestätigen müssen, damit er wirklich daran glauben konnte.

"Tust du's also?"

Der Blondling lächelte ihn fröhlich an.

"Du tust es also."

Kurogane seufzte lautlos und starrte schweigend zu Fye empor. Ohne, dass er es wirklich merkte, begannen sich ihre Blicke ineinander zu verschlingen wie die Finger zweier sich verbindender Hände.

Und er spürte, wie wohl es ihm zumute wurde.

Es war ihm, als hätte er sein Leben lang Jagd gemacht, auf irgendetwas, das er mit Worten selbst nicht benennen konnte; doch er wusste, dass es wunderschön sein musste, dieses Mysterium, das er jagte.

Denn in diesem Moment, in diesem einen Augenblick, fand er einfach kein anderes Wort für den Anblick, der sich ihm hier bot.

Fyes Erscheinung, seine ganze Gestalt, lag vor ihm wie ein schönes Geheimnis.

Ein lebendiges Wesen, fremd durch all seine Eigenheiten, und gleichzeitig so vertraut in seiner Menschlichkeit.

Ein lebendiges Wesen.

Ich glaub's einfach nicht. Eishaki hatte Recht. Was hätte bloß alles schiefgehen können?

Sein Herz hüpfte wie ein kleines, ängstliches Tier, und Fye spürte es auch.

"Würdest du es auch bei mir tun wollen, Kurogane?", fragte er mit leiser Stimme, "Würdest du mich auch bei allem, was ich tue, beobachten?"

Der Schwarzhaarige nickte. "Ja. Ich will es tun."

Der junge Mann sah ihn aus leuchtenden Augen an.

Reichte so wenig, um so glücklich auszusehen?

"Soll das ab heute unser Geheimnis sein?"

"Was... macht man, wenn man ein Geheimnis hat?"

"Man bewahrt es auf. Und es gibt keinen anderen auf der Welt, der dieses Geheimnis weiß. Das ist-... als ob man da ein Zimmer hätte, in das man einziehen kann. Oder sogar mehrere", sagte Fye leise und legte eine Hand an Kuroganes Herzschlag.

Dieser spürte es und dachte an das verschlingende Schweigen in Eishakis Wohnung.

An das verschlingende Schweigen in seiner Wohnung, sich selbst.

"Das trifft sich gut", hörte er sich wie von weiter Ferne sagen, "Bei mir sind sowieso alle Zimmer frei."

Die blonden Haare seines Weggefährten kitzelten an seinem Ohr, als dieser den Kopf wieder in seine Halsbeuge sinken ließ.

"Okay", vernahm er seine Stimme flüsternd an seinem Ohr, "Wie sieht's mit der Miete aus?"

Der Schwarzhaarige sah mit einem müden Blick zu ihm empor.

Du bist mein Lebenszeuge. Und von heute an werde ich der Deinige sein.

Er schüttelte nur den Kopf.

"Geschenkt."
 

Die Uhr im Wohnzimmer tickte.

Im Grunde unterschied sie sich mit diesem Verhaltensmuster in keinster Weise von anderen funktionierenden Uhren des Planeten Erde- Shaolan jedoch starrte sie so anklagend an, als gälte es, sie dafür zu verhaften.

"Mann! Jetzt ist es schon fast sieben Uhr, und Fye-san und Kurogane-san sind immer noch nicht zurück!"

"Sie haben doch geschrieben, dass sie noch bei MedX und einkaufen sind. Vielleicht brauchen sie einfach länger."

Der brünette Teenager stieß ein Seufzen aus und beugte sich prüfend über seinen geöffneten Pappkarton.

"Ich glaub, ich hab die Nuckelflasche verloren", sagte er stirnrunzelnd.

Seine Freundin wähnte sich gerade damit beschäftigt, ganze Kisten voller Babyzubehör vom Eingang die Treppe hoch in die Rumpelkammer des ersten Stocks zu bugsieren und konnte somit kaum mehr als ein mühsames Schulterzucken zurückgeben.

"Nicht schlimm, in dem hier sind noch drei andere."

"Was?!", japste Shaolan, "Mann! Sag mal, wieviele Babies hat Miss Garfield denn jetzt? Eins oder tausend? Ich wette, die wollte sich mit dieser Schlepporgie für die versemmelte Mathearbeit rächen!"

"Ich fand sie nett", meinte Sakura bloß, während sie die Treppe wieder runtergepoltert kam und sich die halb ausgerenkten Schultern rieb, "Außerdem muss sie den Mathemist ja auch nicht ausbaden, oder?"

"Stimmt auch wieder", ächzte ihr Freund frustriert - in einem Fach, in dem man normalerweise als einziger durch seine Noten glänzte, ließ sich eine Fünf eben nur schwerlich verdauen - und stopfte das Zeug in seinem Karton, das gut und gerne für eine ganze Baby-Armada ausgereicht hätte, kurzerhand in die erstbeste Schublade, die sich ihm anbot.

"Shaolan!", empörte sich Sakura sofort über diesen zweifelhaften Sinn für Ordnung.

"Was denn? Erzähl mir nicht, dass oben noch Platz ist! Mit dem ganzen Zeug hier wird's Kyle bei uns haben wie im Schlaraffenland! Wahrscheinlich wird er fett wie ein Marshmallow!"

Sakura musste kichern. "Immer, wenn ich mit dir schimpfen will, bringst du mich zum Lachen!", stellte sie schmollend fest, "Das ist nicht fair!"

"Bin halt ein schlimmer Finger. Kann Fye-san 'n Liedchen von singen. Damals waren wir ziemlich schräg drauf."

"Jepp, hat er mir erzählt. Naja, manchmal zumindest", meinte Sakura achselzuckend.

"Ich weiß", entgegnete Shaolan, "Damals hat er mir auch nie freiwillig was aus dem Nähkästchen erzählt. Eigentlich nur dann, wenn ich mal 'nen spleenigen Moment hatte und ihm nicht mehr von der Pelle gerückt bin. Wir haben damals kaum miteinander geredet."

Sakura sah ihn zweifelnd an. Jedesmal, wenn Shaolan über die Zeit sprach, die er allein mit Fye verbracht hatte- und das war jetzt gute zwei Jahre her- wirkte er seltsam geistesabwesend und schien nie richtig zu wissen, was er sagen sollte.

"Aber wie seid ihr euch dann überhaupt vertrauter geworden?"

Shaolan biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er auf diese Frage antworten, wenn er es doch nicht einmal selbst wusste?

Das halbe Jahr, in dem er auf dem ewigen Ausriss vor Desmond sinn- und ziellos durch Kingstonville geirrt war und dabei nur Fye als seinen dauerhaften Begleiter an seiner Seite geduldet hatte, war für ihn vergangen wie ein wirrer Traum.

Es stimmte, sie hatten anfangs tatsächlich nie mehr als zwei Sätze am Stück miteinander gesprochen- sie waren ganz einfach zu sehr damit beschäftigt gewesen, weiterzuleben.

Verdammt schwierige Angelegenheit.

Vor allem, wenn man eigentlich gar nicht mehr weiterleben wollte und nicht wusste, warum zum Teufel man immer noch da war.

Von sich aus hatte Fye nie etwas gesagt. Shaolan erinnerte sich noch gut an diesen müden, seltsam gläsernen Blick, mit dem der Blonde ihn immer angestarrt hatte, als wäre der Teenager für ihn irgendein ganz und gar unbegreifliches Wunderding, das soeben vom Himmel direkt vor seine Nase geplatscht war. Aber seltsamerweise schien keiner von ihnen irgendwelche Worte nötig gehabt zu haben- alles, was sie gebraucht hatten, war die simple Gegenwart des jeweils anderen gewesen.

Eine lebende Bestätigung, dass es auf diesem grauen Planeten wenigstens ein anderes menschliches Wesen gab, dem es mindestens ebenso dreckig ging wie einem selbst. Es hatte sie nicht auf wundersame Weise geheilt oder zu besseren Menschen gemacht, doch es hatte sie in diesem Leben, auf dieser Welt, festgehalten.

Und dennoch überkam Shaolan an manchen Tagen das Gefühl, dass es da immer noch etwas gab, das Fye vor Sakura und ihm verbarg. Diese kleine, aber feine Distanz zwischen ihnen war nie wirklich gewichen.

Der Junge tauchte nur mühsam wieder aus dem Sumpf seiner Gedanken hoch, als er bemerkte, dass sich Sakura an seine Seite gekuschelt hatte und nun mit einem kleinen Lächeln zu ihm hochsah.

"Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst."

"Schon okay", erwiderte Shaolan müde und legte ihr einen Arm um die Schultern. Als sich jedoch die Türklingel unvermutet zu Wort meldete, schreckten beide hoch.

"Das werden sie wohl sein", meinte Sakura und setzte den Karton ab, den sie eben noch hatte hochbringen wollen, um sich Richtung Hausflur ausfzumachen, "Ich öffne ihnen, bring du solange noch den ganzen Restkram hoch, okay?"

"Okay."

Es klingelte wieder.

"Komme schon!", rief Sakura beschwichtigend, mummte sich fester in den dicken, hellrosa Pullover, den Fye ihr zu Herbstanfang gestrickt hatte- im Hausflur funktionierte die Heizung nicht immer richtig- und zog sich noch schnell ihre lila Lieblingssocken an, um sich in den Eingang wagen zu können. Es klingelte schon wieder.

"Sag mal, seit wann seid ihr denn so ungeduldig?", fragte sie lachend, bevor sie die Tür aufzog- und ihr das Lächeln so abrupt wieder aus dem Gesicht fiel, als wäre es nie dagewesen.

Sie versteinerte.

"Hallo, Schwesterchen", sagte Toya.

Keine Reaktion.

Mit einem Mal schien es, als stäke hinter diesen dunkelgrünen Iriden kein Leben.

Und so fühlte sich Sakura auch plötzlich. Sie konnte sich weder rühren noch etwas sagen. Sie konnte nur ihren Bruder anstarren, der da wie ein aus dem Boden gewachsenes Phantom ihrer nächtelangen Alpträume vor der Tür stand.

Alpträume, in denen sie immer nur weggerannt war.

"Toya-... ?", stammelte sie hilflos und wich verunsichert vor der Tür zurück.

Wie auch schon damals nagelten sie diese dunkelblauen Augen unerbittlich fest, als wollten sie sie zum Stehenbleiben zwingen, ein Gefühl, das Sakura nur zu gut kannte - als ihr Bruder jedoch einen Schritt nähertrat, löste sich der Bann.

Ohne ein weiteres Wort stolperte das Mädchen unter angstvoll aufgerissenen Augen zurück und schlug die Tür mit aller Kraft zu.

"Hau ab!"

"Mach sofort die Tür auf!"

"HAU AB!!"

"Oh nein, das werde ich nicht!! Und jetzt mach auf!!"

"NEIN!!"

"Ach ja?!! Dann muss ich wohl etwas nachhelfen!"

Sakuras Herzschlag explodierte in ihrem Kopf, als sie spürte, dass Toya begann, sich von außen mit der Schulter voran gegen die Tür zu werfen. Das dürftige Holz des Rahmens, den sie vor fast zwei Jahren bei einem Gebrauchtwarenhändler erstanden hatten, stöhnte wie ein rheumageplagter alter Mann. Sofort warf sie sich mit ihrem ganzen Gewicht ins Gegenlot und schob verzweifelt gegen ihren Bruder an. Er war schon immer der Stärkere von ihnen gewesen, und das wusste sie auch - dazu braucht sie nicht erst den jähen Schmerz in ihren Armen und das Ächzen der Tür hören. Als sie bemerkte, dass sie in ihren wollenen Socken auf dem kalten Fliesenboden allmählich nach hinten rutschte, schossen ihr unter einem hilflosen Aufschluchzen jäh die Tränen in die Augen

"Mach jetzt endlich die Tür auf, Sakura!!"

"Nein!"

"MACH AUF!!", brüllte Toya am Ende seiner Geduld, "Oder ich schieße auf das Türschloss!!"

"Mir doch egal!", schluchzte Sakura und kämpfte vergeblich gegen die sich unerbittlich weiter und weiter aufzwingende Tür, "Verschwinde endlich!!"

Es war zwecklos. Gegen die verbissene Kraft ihres Bruders war sie noch nie angekommen. Mit einem ohrenmarternden Krachen flog die Tür auf und schleuderte das Mädchen bäuchlings über die Fliesen, sodass sie aufschrie.

In ihrer Angst verflüssigten sich ihre Knie wie überhitzte Götterspeise.

Ich muss weg von hier.

Aber wohin? In den Keller? Nach draußen? Wild rappelte sich Sakura hoch und stürzte Richtung Keller.

Sie kam keine fünf Schritte weit.

Toya, der mittlerweile die Türkette abgerissen hatte, packte sie von hinten am Genick wie eine ungehorsame Katze und riss sie unbarmherzig zurück. Es kümmerte ihn nicht viel, dass sie augenblicklich wie von Sinnen um sich schlug und nach ihm trat- er hatte bereits genügend Gelegenheiten gehabt, mit diesem Verhaltensmuster seiner kleinen Schwester vertraut zu werden. Solange sie ihn nicht biss oder kratzte, würde sie keine Chance haben.

"Lass mich los!!"

"Das hättest du wohl gerne!", zischte der junge Mann und ließ seine Hände dort, wo sie waren, während er mit einem Fußtritt die Tür wieder hinter sich zuschmiss, "Noch einmal flutschst du mir nicht durch die Finger, Fräulein Gernegroß!"

"Ach ja?!!"

"Ja!! Und schlag dir deine ganzen Fluchtpläne besser gleich wieder aus dem Kopf, Yukito und Johansen warten draußen und werden dich abfangen, wenn du wieder abhauen willst!! Du hast jetzt lange genug Ich bin ein großes Mädchen und komm schon ganz allein zurecht gespielt!! Jetzt werden hier radikal andere Saiten aufgezogen, ist das klar?!!"

Keine Reaktion. Als Toya genauer hinhörte, konnte er Sakura erstickt schluchzen hören.

Natürlich, jetzt versuchte sie es wieder auf die Mitleidstour. Er kannte das- er hatte sich schon viel zu oft von ihren Krokodilstränen täuschen und erweichen lassen. Doch nun war endgültig Schluss damit.

"IST DAS KLAR?!!"

Die einzige Antwort seiner widerspenstigen Beute war ein gut gezielter Tritt auf den Fuß, sodass er aufbrüllte und sie wieder loslassen musste. Von der Kraft des Verzweifelten getrieben entwand sich das Mädchen seinem Griff und stürzte zur Treppe.

"SHAOLAN!!"

Im oberen Stockwerk des Hauses wurde nervensägendes Gerumpel laut. Eine Tür wurde aufgeworfen, polternde Schritte flogen die Treppe hinunter. Toya hielt unwillkürlich kurz den Atem an, als er den schlaksigen, zausig braun beschopften Teenager wieder erkannte, der da in den Hausflur gerannt kam und seine Schwester schützend an sich zog, die ihr Gesicht sofort an seiner Schulter verbarg.

Es war der Bengel.

"Finger weg von meiner Schwester!!", brüllte er augenblicklich und wühlte in seinem Schulterhalfter hektisch nach seinem Revolver. Shaolan hielt die vor Angst kreidebleiche Sakura an beiden Händen und erwiderte Toyas feindseligen Blick, als dieser die Waffe auf ihn richtete.

"Das Ding ist doch nicht mal geladen! Als ob du auf uns schießen würdest!"

Entgeistert starrte Toya den Jungen an. Verfluchter Rotzlöffel!

"Du hältst dich wohl für ein verdammt schlaues Kerlchen, was?!"

"Verschwinde, wenn du nichts besseres zu sagen hast", antwortete Shaolan nur mit harter Stimme.

"Ich verschwinde erst, wenn du mir meine Schwester zurückgibst!!"

"Nein. Sie gehört zu mir. Und wenn du ihr nur ein Haar krümmst, erlebst du hier den Weltuntergang. Kapiert?!"

Toya spürte die Wut in sich hochkochen.

"Verdammt nochmal, haltet ihr euch eigentlich allesamt für Erwachsene, oder was?!", brüllte er mittlerweile völlig am Ende seiner Nerven, "Ihr Teenager seid doch alle gleich!! Ihr denkt, ihr könnt problemlos auf eigenen Füßen stehen, dabei könnt ihr nicht einmal eure Namen buchstabieren! Ihr denkt, ihr kennt die Welt, dabei habt ihr keine Ahnung!! Einen Scheißdreck wisst ihr von der Welt!!"

"Der einzige, der hier keine Ahnung hat, bist du!!", stieß Sakura schluchzend hervor und klammerte sich hilflos an Shaolan fest.

Vor Angst und Aufregung zitterte sie am ganzen Körper, und sie konnte ihre Tränen einfach nicht mehr zurückhalten.

Alles vorbei.

Sie hatte diesen Moment vor sich gesehen. Ganze Nächte voller Alpträume hatten nur von diesem einen Augenblick gehandelt- die Tür ging auf und Toya stand davor. Und nun war es soweit.

Zwei Jahre lang hatte sie es geschafft, sich vor ihm zu verstecken. Zwei Jahre von den fünfen, in denen sie bereits vor ihm davonlief.

Zwei lausige Jahre der Ruhe, die in diesem einen Augenblick ihr jähes Ende gefunden hatte.

Wie hatte sie sich nur der Illusion hingeben können, ihrem Vater und ihrem gesamten alten Leben entronnen zu sein, um endlich ein eigenes Leben beginnen zu können? Ein Leben nur mit Shaolan, Fye-san und Kurogane-san?

Wie hatte sie bloß hoffen können, endlich frei zu sein?

Sakura spürte, wie ihr erneut die Tränen kamen, und wieder schaffte sie es nicht, sie hinunter zu würgen.

Shaolan sah es und warf Toya einen verächtlichen Blick zu.

"Mann, wenn ich nicht wüsste, dass du ihr Bruder bist, würde ich's nicht glauben."

Schweigen.

Toya starrte Shaolan an. Eine kalte Lähmung machte sich in seinen Fingerspitzen breit.

Wie eine Armee aus unzähligen Ameisen kroch sie unerbittlich seine Arme hinauf und drohte ihn zu ertränken.

"Aber-...", fing er an, doch die glänzenden Tränenspuren auf den Wangen seiner Schwester ließen ihn erneut verstummen.

Krokodilstränen, sagte die erste Stimme.

Du solltest dich schämen, sagte die zweite.

Mit einem leeren Blick ließ der junge Mann seine Hand sinken. Er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden.

Hatte er sie nicht schon so oft gesehen?

Sakuras Tränen?

Es war oft gewesen. Und wenn er darüber nachdachte, so fiel ihm auf, dass er sich noch an fast jedes Mal erinnerte.

Er konnte es sehen.

Es war wie eine Kette aus aneinander gereihten Bildern, die vor seinem inneren Auge vorbeizog.

Er sah Sakura zucken, zucken unter den sausenden Hieben ihres Vaters, wieder und wieder und wieder.

Sah sich nach vorne stürzen und seinem Vater in den Arm fallen, damit er aufhörte.

Zwecklos.

Er sah sie an seiner Hand hängen, klein, mit rotgeweinten Augen und von zahllosen Ohrfeigen verschwollenen Wangen.

Er sah sie am Grab ihrer Mutter stehen. Der kühle Herbstwind war um ihre trommelstockdürren Beinchen gestrichen und hatte ihr weites, rotkariertes Kleid gebauscht, das wie ein leerer Sack von ihren schmalen Schultern gehangen war.

"Wo ist Mama hingegangen, Toya? Haut Papa uns, weil Mama jetzt weg ist?"

Er hatte sie immer nur bei der Hand genommen, hatte sie sanft, aber nachdrücklich vom Grab weggezogen, jedesmal, er erinnerte sich noch gut.

"Das verstehst du noch nicht, Sakura. Komm, gehn wir heim."

Er sah sie mitten in der Nacht im Hausflur stehen, eingepackt in ihre dicke, weiße Daunenjacke und mit einem bis obenhin vollgestopften Rucksack auf dem Rücken, panisch, weil er sie bei ihrem Fluchtversuch ertappt hatte. Sie hatte solange geweint, bis ihr Vater wach geworden war und sie beide grün und blau geschlagen hatte.

Er sah die riesigen, schiefen Buchstaben, die sie bei ihrem endgültigen Ausriss mit rotem Filzstift auf ihrer Tapete hinterlassen hatte.

LASST MICH IN RUHE.

Er sah seinen Vater, mit einer Kaffeetasse in der Hand, abfällig lachend, als er die Schrift sah.

"Ach, spätestens morgen kommt die wieder zurück."

Schon erstaunlich, wie gleichgültig er geblieben war, während sich dieses 'Morgen' erst zu einer Woche, dann zu einem Monat und dann zu zwei Jahren ausgedehnt hatte, schleichend und hinterrücks wie die Schleimspur einer Schnecke.

Seinem Vater war es egal gewesen. Sakura war es egal gewesen.

Keiner hatte ihm auch nur eine Chance geben wollen, diese Familie wieder zusammen zu führen. Wieso musste ausgerechnet ihre Familie am Tod ihrer Mutter zerbrechen? Es gab tausende andere Familien, in denen so etwas passierte, und die danach weitermachten, ohne davon völlig kaputt zu gehen!

Dabei wollte er doch nur...

Toya spürte, dass er stutzte.

Ja, was wollte er eigentlich? Warum tat er das alles hier?

Ein flüchtiger Blick auf das verweinte Gesicht seiner Schwester genügte.

Ich will das Lachen wieder sehen.

Ja. Das war es. Er wollte Sakura wieder lachen sehen.

Laut und fröhlich, so wie damals.

Wie rund und weich sich ihre Ärmchen angefühlt hatten, wenn sie sich übermütig auf ihn gestürzt und an seinen Bauch gedrückt hatte! Weich und kitzelig wie winzige Daunenfedern. Ihr zausiger Haarschopf war immer knapp unterhalb seiner Brust geschwebt, und sie hatte den Kopf jedesmal in den Nacken werfen müssen, um zu ihm hochzusehen.

Große, strahlende Augen. Ein kleiner Mund, der entzückt aufquiekte, wenn er sie unter den Achseln kitzelte, der noch etwas unbeholfene Wörter und Sätze stammelte.

"Toya lieb."

Ohne ein einziges Wort löste sich der junge Mann aus seiner Starre und ging langsam auf Sakura und Shaolan zu.

Der braunbeschopfte Teenager ging zwar sofort in Abwehrhaltung, doch das hinderte Toya nicht daran, vor seiner kleinen Schwester in die Hocke zu gehen und sie bei einer Hand zu nehmen. Sie wollte sie ihm wieder entreißen, doch er hielt sie unerbittlich fest.

"Sakura", sagte er leise und sah sie fest an, "Hör mir zu. Bitte. Nur für fünf Minuten."

Sakura hielt in ihren Versuchen inne, ihre Hand seinem Griff zu entwinden und starrte ihn verwirrt an.

"Es ist nicht so, wie du glaubst. Ich bin nicht hier, um dich zu Vater zurück zu bringen. Vater ist weg. Er ist weg, okay?"

In den dunkelgrünen Augen flackerte es als Reaktion auf diese Worte jäh auf, doch seine Schwester rührte sich immer noch nicht.

Auch der Bengel war völlig erstarrt, sein ganzer Körper angespannt, als warte er immer noch darauf, dass sich Toya plötzlich wie ein wilder Urwaldaffe auf Sakura stürzen würde.

Mit einem Seufzen fuhr sich der junge Kommissar über die trockene Stirn.

"Ich sehe schon, du glaubst mir nicht. Aber es ist die Wahrheit. Ich bin nicht gekommen, um dich mit Gewalt zu ihm zurück zu zerren, sondern weil ich dich wiedersehen wollte."

"Aber-... warum--", stammelte das Mädchen mit wackeliger Stimme.

"Ich hab mir ganz einfach Sorgen um dich gemacht, verdammt nochmal, verstehst du das denn nicht?", fuhr Toya sie ungewollt heftig an, sodass sie zurückzuckte, "Du warst erst dreizehn Jahre alt! Und wenn ich jetzt sehe, dass du hier unter diesen, diesen-... Menschen lebst, darf ich ja wohl behaupten, dass meine Sorge berechtigt war! Ich will doch nur unsere Familie retten!"

Er spürte die Farbe aus seinem Gesicht weichen, als Sakura nur den Kopf schüttelte.

"Ich glaube, du bist derjenige, der hier etwas nicht versteht, Toya", sagte sie leise, "Ich brauche unsere alte Familie nicht mehr. Das hier ist jetzt meine Familie."

"WAS?!!", stieß Toya hervor und starrte sie wild an, "Du willst also allen Ernstes behaupten, dass du dich unter diesen-... diesen--"

"Ja, ich will allen Ernstes behaupten, dass ich mich hier wohlfühle!", erwiderte Sakura heftig, "Hier fühle ich mich sicherer als daheim! Shaolan ist jeden Tag bei mir. Fye-san sorgt für uns und bringt mich zum Lachen. Und Kurogane-san ist so stark, dass er den ganzen Stadtteil beschützen kann!"

Toya stutzte ein wenig. Fye-san? Hab ich den Namen nicht schon mal irgendwo gehört?

Rasch besann er sich.

"Aber in diesem heruntergekommenen Viertel wirst du früher oder später-..."

"Nein, werde ich nicht! Kein einziges Wort, das du mir je über das Hippieviertel erzählt hast, war wahr! Die Menschen hier haben teilweise vielleicht ein Rad ab, aber sie sind freundlich und hilfsbereit!"

Der Kommissar spürte sein Herz schmerzhaft gegen seine Rippen pochen.

"Lüg mich doch nicht an! Hier unter diesen Geistesschwachen wirst du niemals ein normales Leben führen können!"

"Normal, normal", äffte Sakura ihn zornig nach, "Was bedeutet für dich 'normal'?! Bedeutet 'normal' für dich 'so wie alle anderen'?!Die Leute hier können 'so wie alle anderen' leben! Sie müssen sich dafür nur ein wenig mehr anstrengen! Genau wie du! Erzähl mir nicht, dass du 'so wie alle anderen' leben konntest, nachdem Mama gestorben ist!"

"Ich hab sehr wohl--"

"Nein! Du hast dich nur wie ein Verrückter in die Schule und später in deine Arbeit reingesteigert!"

"Soso, und was hast du getan?!"

"Ich hab das getan, was jeder hier tut!"

"UND WAS TUT JEDER HIER?!!"

Shaolan stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.

"Mann, man merkt echt, dass du nicht hier lebst. Was hier jeder tut, ist ganz einfach weiterleben! Hast du eine Ahnung, wie schwierig das manchmal sein kann?"

Schweigen.

Toya starrte die beiden entgeistert an und spürte, wie ihm die Worte ausgingen.

"Weiterleben--...?"

"Ja! Jeder in diesem Haus könnte sich ebensogut an den nächstbesten Ast hängen! Fye-san ist arm dran, Kurogane-san ist arm dran, und wir sind auch arm dran! Aber anstatt dass wir uns zusammenhocken und den ganzen Tag lang heulen, versuchen wir, weiterzumachen! Weil das Leben sonst schneller vorbei ist, als man Piep sagen kann!"

Nachdem ihr dieser lange Redefluss einfach ohne weiteres aus dem Mund gekullert war, musste Sakura erst einmal nach Luft schnappen.

Ihr Herz schwirrte vor Angst und Verunsicherung wie ein riesiges Gummiband, und fast glaubte sie zu wissen, dass sich Toya schon im nächsten Moment kompromisslos auf sie stürzen und zur Tür hinausschleifen würde- doch er tat es nicht.

Er kniete ganz einfach vor ihr auf dem Flurboden und starrte sie an.

In seinen Augen lag ein verdächtiges Glänzen.

Wie hilflos er auf einmal aussah.

So hilflos wie in jener Nacht, als er in Schlafanzug und Hausschuhen auf der Treppe erschienen war, als sie gerade zum dritten Mal in dieser Woche ausreißen wollte.

"Warum willst du weg, Sakura? Ich bin doch da! Du hast doch mich!"

"Bitte, Toya, es liegt nicht an dir", stammelte sie und versuchte, seinen Blick möglichst gerade zu erwidern, "Es-... es ist doch nicht so, dass ich dich nicht mehr haben will! Es lag an Vater!"

"Aber Vater ist weg!"

Wieder nahm Toya ihre Hände, doch diesmal schien er nicht an ihnen zu ziehen, sondern sich daran festzuhalten.

"Bitte, Sakura. Komm mit mir. Komm mit mir nach Hause, bitte! Dein Platz ist nicht hier!"

Sakuras Lippen zitterten, und ihre Augen begannen wieder, sich mit Tränen zu füllen, doch sie schüttelte den Kopf.

"Doch, Toya. Mein Platz ist hier bei diesen Leuten. Ich will nicht mehr zurück."

Schweigen.

Die Augen ihres Bruders wurden rund und leer.

"Du willst nicht mehr-... ?"

Seine Hand umklammerte die ihrige auf eine Art, dass Sakura spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Mit einem Mal schien sich alles umzukehren. Wie von weiter Ferne nahm sie wahr, wie sie Toyas andere Hand hochnahm und festhielt.

"Bitte, es-... es tut mir leid!", stotterte sie schwach, "Ich bin nie wegen dir weggelaufen, Toya! Ich-... ich hatte doch nur so Angst vor Vater! Ich hab dich doch nicht gehasst! Ich hasse dich nicht! Ich wollte nur endlich ein Leben ohne Angst beginnen! Und es geht mir wirklich gut hier! Fye-san kann richtig toll kochen, und Kurogane-san beschützt uns, und-... und ich geh auch jeden Tag zur Schule, und ich bin auch immer noch bei den Cheerleadern!"

Keine Reaktion. Als sie versuchte, Toya in die Augen zu sehen, wandte er den Blick ab und starrte den Gang hinunter, Richtung Wohnzimmer.

"Dieser Platz.

"Was-... ?"

"Sag mir, wie du an diesen Platz gekommen bist."

"Das war meine Idee", nahm Shaolan seine Freundin in Schutz, "Fye-san und ich haben damit angefangen, also gib ihr nicht die Schuld. Das ist eine ewig lange Geschichte!"

Keine Reaktion. Der junge Kommissar ließ die Hand seiner Schwester los und stand auf, ohne ein Wort zu sagen.

Langsam glitt seine Augen über die schlichten Wände, den mit Mänteln und Stiefeln vollgestopften Hausflur, den Durchgang zur Küche.

Ein kleiner Gedanke hatte sich während ihrer gesamten Unterhaltung still und heimlich in seinem Hinterkopf festgesetzt und begann sich langsam darin auszubreiten.

Weit vom Präsidium weg. Von Zivilisten bewohnt. Unauffällig.

Sakura und Shaolan starrten ihn ratlos an, als er sich zur Haustür umdrehte.

"Yukito!! Johansen!!"

Einen Moment lang regte sich draußen nichts, bis plötzlich Leben in die geräuschlose Sonntagsstille auf der Straße kam.

Stimmengewirr. Ein aufgehender Kofferraum. Knirschende Schritte auf einem verschneiten Fußweg.

Sakura spürte, wie sich ihre Augen weiteten.

"Yukito-san??", stieß sie ungläubig hervor, als sich ein elfenbeinfarben beschopfter Kopf mit einer Nickelbrille auf der Nase durch den Türrahmen schob und die Umgebung in Augenschein nahm, bevor ein mächtiger, offenbar bis obenhin vollgestopfter Karton und darunter ein Paar schlaksige, in eine hellbraune Kordhose eingepackte Beine nachfolgten.

"Hallo, Sakura!", sagte der junge Gerichtsmediziner freundlich, während er neben Toya zum Stehen kam, "Schön, dich wieder zu sehen! Du bist ja richtig in die Höhe geschossen, seit du das letzte Mal im Präsidium warst! Und du bist Shaolan, richtig?"

"Richtig", erwiderte Shaolan etwas ratlos, dennoch richtete er sich aus seiner abwehrenden Haltung auf. Toya rollte die Augen, und das Mädchen spürte gegen ihren Willen, dass ihre Verunsicherung ein wenig schwand und einem zaghaften Lächeln wich.

Wo Toyas schroffe Art versagte, kam Yukitos Etikette stets ein Stückchen weiter- selbst nach zwei Jahren hatte sich das nicht geändert.

Zu den beiden jungen Männern gesellte sich noch ein großer, hagerer Mann mit Kinnbart und einem etwas bieder wirkenden Bürstenhaarschnitt. Sein Blick war prüfend, hatte aber gleichzeitig ein leichtes, schalkhaftes Funkeln.

"Doktor Johansen... ?"

"Ganz recht! Guten Tag, Prinzessin! Alle Achtung, einen hübschen Palast hast du dir hier gesucht!"

Bei Johansen wusste man selten, ob er einen aufzog oder nur freundlich sein wollte. Doch er nannte sie Prinzessin- ein Spitzname, den er schon seit ihrem ersten Aufeinandertreffen benutzt hatte, da Sakura an diesem Tag für eine Faschingsfeier als Prinzessin kostümiert gewesen war.

Sie erinnerte sich noch gut an seine amüsierte Miene.

"Ohoh, eine kleine Prinzessin in unserem Präsidium? Darf ich um diesen Tanz bitten, Madame?"

Wieder spürte Sakura den Wunsch zu lächeln, doch ihre Verwirrung überwog deutlich.

Warum trug Yukito einen Karton? Hatten sie sie etwa darin einfangen wollen? Wieso schaute Toya auf einmal so grimmig drein? Und wieso waren Johansens Manteltaschen so vollgestopft?

"Toya, warum seid ihr zu dritt-... ?"

Yukito warf dem Kommissar einen fragenden Blick zu, doch dieser ließ seinen Blick beharrlich auf seine Schwester gerichtet.

"Tja", meinte er nach einem langen Schweigen mit einem Achselzucken, "Lass es mich so sagen: ihr beiden seid nicht die einzigen, die eine lange Geschichte zu erzählen haben. Wir hätten da ebenfalls eine auf Lager."

"Eine gute?"

"Würde euch die Socken ausziehen."

"Worauf wartest du dann, Mann? Erzähl sie uns", sagte Shaolan ernst und legte einen Arm um die Schultern seiner Freundin, "Dann erzählen wir dir auch unsere."

"Zu diesem Zweck sind wir hier", gab der junge Mann zur Antwort. Dann wandte er sich an seine beiden Kompagnons.

"Geht und holt das ganze Zeug rein. Wir bleiben."

Sakuras Herz blieb bei diesen Worten fast stehen.

Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie ihren Bruder an. Hilflosigkeit, heiße Hilflosigkeit schoss in ihrem Kopf empor und füllte dort alles aus. Es wurde ihr dunkel vor Augen.

"WAS?!!"

Toya ließ sich nicht beirren. In seinem Gesicht zuckte kein einziger Muskel, als er die fassungslosen Blicke der beiden Teenager gerade erwiderte.

Er hatte niemals viel von Spontanbeschlüssen gehalten- in seinem Beruf waren Spontanbeschlüsse nur selten auf gut funktionierende Gehirne oder sinnvolle Pläne zurück zu führen- doch nun erschien es ihm als der noch einzig mögliche Weg.

Wieso nicht einfach das nehmen, was man zugespielt bekam?

Und wenn Sakura nicht zu Toya kommt, kommt Toya eben zu Sakura.

"Wir bleiben."

Interlude: Doom Loop / Predicament

-"Tötet jemand einen Körper, wird er zum Tode verurteilt; wer aber die Seele tötet, entkommt unerkannt."-

(Khalil Gibran)
 

~~
 

Nacht über Kingstonville.

Eine bleierne, von kaltem Herbstwind durchwehte Dunkelheit lag über der Stadt, deren zahllose Dächer und Straßen lediglich durch das gelegentliche Aufblinken der fernen Mondsichel angehaucht wurden.

Auf den Fluren des St Faithful- Hospitals übernahm allmählich die strikt ab neun Uhr angesetzte Nachtruhe die Herrschaft. Der letzte quengelige Patient wurde ins Bett gesteckt, der letzte entnervte Visitenarzt rauschte mit flatterndem Kittel über den Gang, die letzten Lampen wurden gelöscht. In sämtlichen Korridoren herrschte eine sterile, wohlanständige Stille.

Es machte einen wahnsinnig.

Ashura ächzte lautlos.

Am liebsten hätte er sich herumgewälzt und den Kopf unters Kissen geschoben, um die schmachvolle Tatsache zu verdrängen, dass seine Karriere als Unterwelt-Operateur in diesem Etepetete-Krankenhaus für Schwerreiche vorzeitig enden sollte. Er erinnerte sich noch viel zu gut an den salbungsvollen Unterton des Oberarztes.

"Ja ja, mit dieser Art von Lebensmittelvergiftung ist wirklich nicht zu spaßen. Sie werden mindestens drei bis vier Wochen hier bleiben müssen, bis wir Sie wieder hochgepäppelt haben. Ich denke, Mr. Pantoliano wird nichts dagegen haben.

Diesbezüglich hatte Ashura seine eigenen Gedanken. Bei seiner kurzen Stippvisite hatte der italienischstämmige Ratspräsident ein Gesicht gezogen wie eine geköpfte Mastgans

"Sie bleiben hier und lassen sich weiter behandeln. Ich werde sämtliche Kosten übernehmen. Aber sobald Sie wieder draußen sind, verlange ich, dass Sie weitermachen. Ich benötige eine hohe Absicherung für die nächsten Geschäfte."

Das hatte bereits als Anweisung genügt, denn so war es auch die ganzen letzten Jahre über gelaufen- er brach ein, Pantoliano bezahlte. Nichts einfacher als das.

Doch seit er hier vor fünf Tagen aus einer rabenschwarzen Ohnmacht zu sich gekommen war, bestanden seine einzigen wirklichen Tätigkeiten nur noch darin, auf dem Rücken zu liegen und zu atmen. Der penetrante Druck der Sauerstoffmaske auf seinen Wangen, das Kneifen der Infusionsnadeln, und vor allem der Schmerz, der wie kleine glühende Blitze unablässig durch seinen geschwächten Körper zuckte, zerrten an seinen Nerven und machten ihn vor Rachsucht noch ganz verrückt.

Die arme Kreatur, die es gewagt hatte, ihn zu vergiften, konnte einem wirklich leid tun.

Wenn er dieses Luder Chi nicht erst vor kurzem persönlich abgemurkst hätte, hätte er sie vermutlich zuerst verdächtigt- er hatte diese kleine linkische Bazille sowieso noch nie leiden können- doch bedauerlicherweise war sie tot und verrottete gerade an irgendeiner Böschung des Kingston River. Aber egal, wer es gewesen sein sollte, Ashura wusste bereits, dass er ihn finden und ihm den hässlichsten Tod auf dem Silbertablett kredenzen würde, den er sich während seines Hospitalaufenthalts ausdenken konnte. Auf diesem Gebiet verfügte er über eine rege Fantasie, und Chis Brosche, die ihm nicht einmal die Krankenschwestern hatten abnehmen können, befeuerte seine farbenfrohe Vorstellungskraft noch zusätzlich.

Unwillig unterbrach Ashura den trägen Fluss seiner Gedanken und schloss die Augen, als sich schon wieder diese bohrende Schwäche in ihm auszubreiten begann, die er schon seit fünf vermaledeiten Tagen vergeblich zu ignorieren versuchte. Die lüsterne Vorfreude erlosch.

Wahrscheinlich würde es das Vernünftigste sein, ein paar Stunden zu schlafen, denn je früher er sich wieder erholt haben würde, desto besser. Ashura war zwar nicht gerade ein Abkömmling der Sorte Mensch, die sich durch unbestechlich rationale Denkweise auszeichnete, doch in gewissen Situationen musste man eben Kompromisse schließen. Wenigstens würden ihn seine beiden Zimmergenossen- ein Fettsack mit Magengeschwüren und seine frühverkalkte Mätresse, deren Waden von oben bis unten mit Krampfadern bepflastert waren- nicht an seinem Vorhaben hindern. Beide wähnten sich schon längst im Reich der Träume.

Seufzend starrte Ashura an die Decke und wartete auf den Schlaf.

Gerade, als sich sein Sandmännchen dazu anschicken wollte, ihm den Sand in die Augen zu streuen, bildete er sich auf einmal ein, ein Geräusch gehört zu haben. Unwillig wandte er den Kopf Richtung Tür und lauschte.

Nach einiger Zeit hörte er es wieder. Klang fast wie Schritte auf dem Korridor.

Naja. Wahrscheinlich schaffte es einer dieser senilen Großväterchen mal wieder nicht alleine auf die Toilette, ohne dabei sein Hospitalkittelchen unter Wasser zu setzen. Ashura störte sich nicht daran, bis ihm plötzlich auffiel, dass durch den Spalt der Tür kein Licht fiel. Der Gang war so schwarz und still wie zuvor.

Haben diese Quacksalber seit neuestem den Röntgenblick?

Da war es schon wieder. Es kam näher.

Seit wann bewegten sich die Ärzte dieser Station so leise?

Gegen seinen Willen spürte der Schwarzhaarige, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Sein Blick schweifte in endgültig erwachtem Misstrauen durch den Raum und blieb an der Tür hängen, als die Schritte davor zum Stehen kamen und die Klinke sich unter dünnem, kaum hörbaren Quietschen nach unten drückte. Mühsam kniff Ashura die Augen zusammen, um in der diffusen Schwärze etwas zu erkennen.

Und spürte seinen Herzschlag explodieren.

"Du-... ?!!"

Fye antwortete nicht. Schweigend zog er die Tür hinter sich zu.

Ein verirrter Mondstrahl, der zwischen den nachlässig heruntergezogenen Jalousien hindurch ins Zimmer fiel, warf für wenige Augenblicke einige verstreute Kleckse diffusen Lichts über seine magere Gestalt. Das hellblonde Haar fiel ihm in zahllosen, wirren Strähnen ins Gesicht, sein Gesicht war blass wie dünne Milch, das schmutzig graue, sackartige Hemd schlackerte um seine stockdürren Arme wie Nebelfetzen um einen unseligen Geist, und seine Augen lagen tief und brannten mit lebloser, trüber Glut, wie eine Kerze, die unmittelbar vor dem Ausgehen stand.

Es war, als sähe man einem Toten ins Gesicht.

Dem Blondling schien jedoch sowohl dieser Fakt als auch der entgeisterte Blick seines 'Freundes' herzlich wenig zu bedeuten, denn nun hatte er dessen Zimmergenossen entdeckt. Wortlos näherte er sich ihren Betten.

Der Fettwanst lag ihm am nächsten. Aus seinem halb geöffneten Mund sickerte in regelmäßigen Abständen ein halblautes Schnorcheln hervor. Er lag so ruhig, dass Fye reichlich Zeit hatte, ihm die Hände um den Hals zu legen.

Sein Opfer machte keine Anstalten, sich zu wehren, keine Hand und kein Angstschrei erhob sich, während er es würgte, dieses fette, schnarchende Stinktier- ein wenig ruckte, ein wenig zuckte es noch und wurde blau um die Nase, bevor es bescheiden und kommentarlos aus dieser Welt schied. Seine Bettnachbarin folgte ihm wenige Minuten später.

Beiden zog der Blondling die Decken vorsorglich über den Kopf, bevor er sich wieder von ihnen abwandte und auf dem eckigen Besucherstuhl vor Ashuras Bett Platz nahm.

"Hallo."

Ashura glotzte ihn an. Er wollte antworten, doch seine Zunge klebte plötzlich an seinem Gaumen fest wie ein Stück Beton.

Ein Traum. Das ist ein Traum.

Fye schien es jedoch besser zu wissen. Unsanft zog er dem Schwarzhaarigen die Sauerstoffmaske vom Gesicht und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Sofort stieß sein 'Freund' ein rasselndes Keuchen aus und rang reflexhaft nach Luft, im vergeblichen Versuch, seine geschwächten Lungen am Rebellieren zu hindern.

Der Blondling sah ihm ungerührt dabei zu.

Kaum zu glauben. Er hatte mit allem möglichem gerechnet, mit Wachen Alarmanlagen, Polizisten- und jetzt lag Ashura vor ihm und erstickte fast, weil er ohne die Hilfe einer Maschine kaum mehr atmen konnte.

"Du siehst überrascht aus", stellte er fest.

"Wie-... wie bist du hier-...", presste der Galgenvogel mühsam zwischen den Zähnen hervor, nachdem er das Brennen im Brustkorb endlich niedergerungen hatte.

"Zur Tür."

"Aber-... aber die Oberschwester und der Chefarzt-..."

Statt einer Antwort hob Fye nur müde die Augenbrauen und musterte seine Fingerspitzen. Im hereinfallenden Mondlicht konnte Ashura erkennen, dass vertrocknetes Blut an ihnen klebte.

Und plötzlich verstand er.

"Hast du mich-... ?!"

Ein käferkleines Lächeln bildete sich auf Fyes blutleerem Gesicht.

"Der Gedanke kommt dir erst jetzt?"

"Offen gestanden hielt ich dich für zu blöd."

Keine Reaktion. Die Worte prallten von seinem jahrelangen Opfer ab, als hätte er gegen eine Backsteinmauer geredet.

"Achso. Naja. Sieht aus, als hättest du dich getäuscht. Weißt du, du hast mir doch immer erzählt, dass es jeden irgendwann mal erwischt. Erinnerst du dich?"

Ashura wollte etwas erwidern, doch seine Worte blieben ihm im Hals stecken, als der Blondling in den Taschen seiner abgewetzten Hose herumsuchte und schließlich eine kleine Spritze hervorzog. Nachdem er die Schutzkanüle abgezogen hatte, glänzte die

haardünne Injektionsnadel kalt im Mondlicht.

Keine Frage, auf wessen Kehle er sie richtete.

"Und wenn du nicht willst, dass es dich heute nacht erwischt, gibst du mir meinen Anhänger zurück und sagst mir dann, wer ich bin. Oder ich bring dich um."

Schweigen. Gegen seinen Willen spürte der Schwarzhaarige seinen Herzschlag in den Hals rutschen.

Fye hatte es getan. Fye! Dieses elende Häuflein Nichts, dieser Wurm! Hätte man ihn noch wenige Tage zuvor mit derselben Feststellung konfrontiert, so hätte er vermutlich Tränen gelacht.

Aber jetzt bemerkte er, dass sich sein lange gehegter Verdacht nun doch bestätigte- er hatte es immer vermutet und stets sorgfältig verdrängt, und nun sprang es ihm ins Gesicht wie ein Faustschlag.

Er hatte keine Kontrolle über Fye, er hatte sie nie gehabt. Es war etwas in ihm, etwas Wildes, Unberechenbares, das er nicht schnell genug zerstört hatte- eine gefährliche Flamme, funkenklein und beständig eisigen Winden ausgeliefert, doch auf wohlbehüteten Herd gesetzt und genährt durch sich ewig wiederholende Schläge und Erniedrigungen.

Dieser junge Mann war ein Teufel, der sich hinter einer Engelsmaske verbarg, und eine einzige falsche Antwort von ihm konnte jetzt schon genügen, um von dem elenden, vergewaltigten Wesen, das sich dort hinter diesen eisblauen Iriden zusammenkauerte, angefallen und in die Schwärze hinabgerissen zu werden.

In diesen Abgrund, den er selbst gewühlt und Tag für Tag weiter vorangetrieben hatte.

Nur sehr mühsam würgte Ashura seine Spucke hinunter. Seine nach Sauerstoff lechzenden Lungen prickelten wie von tausenden Nadelstichen durchbohrt, und er musste alle Gewalt aufbringen, um die oberste Schublade der Kommode neben seinem Bett aufzuziehen und den rot glänzenden Anhänger heraus zu holen. Fyes Hände zuckten unwillkürlich, als er das vertraute Blinken der Kette zwischen seinen Fingern erkannte.

"Du hast wirklich alles vergessen, oder?"

Keine Antwort. Nur sehr unwillig wandte der Blondling seine Aufmerksamkeit von der Brosche ab und sah ihn apathisch an.

"Erzähl es mir."

Der Schwarzhaarige seufzte nur. Dann deutete er auf Fyes freie Hand.

"Hast du dich nie gefragt, woher die Wunde da kommt?"

Wortlos drehte der junge Mann seine rechte Hand um. An seinem Handgelenk prangte dieselbe kreisrunde, kaum mit dem bloßen Auge auszumachende Stichwunde, die er bereits am Tag seines Erwachens in dem vermoderten Lagerhaus an sich entdeckt hatte. Sie war weder jemals völlig verheilt noch wusste er, woher sie eigentlich stammte.

Ashura folgte seinem leeren Blick.

"Die Wahrheit ist, dass der Tag von damals nicht der Tag unserer ersten Begegnung war. Unser Aufeinandertreffen, unser Gespräch, auch mein Angebot-... das war alles gestellt. Eine kleine Bühnenszene."

In den eisblauen Augen flackerte es.

"Was-... ?"

"Es war gestellt", wiederholte der Schwarzhaarige mühsam, da das Brennen in seinen Lungen nicht einfach zu weichen gedachte, "Meine Leute und ich kennen dich schon viel länger. Zwar nicht persönlich, aber wir hatten immer ein Auge auf deine Familie und dich. Ihr habt in einem Herrenhaus am Stadtrand gewohnt."

"Und warum hattet ihr immer ein Auge auf mich?"

"Du hast einiges gewusst, was sehr in unserem Interesse gewesen wäre. Deine Eltern waren in der Internationalregierung tätig und hielten es für besonders schlau, ihre gesamten Berufsgeheimnisse in dein Köpfchen reinzustopfen, falls sie mal von einem feindlich gesonnenen Oppositionellen oder sonstwem umgelegt würden. Du solltest 'etwas ganz besonderes' sein, mit dieser Bestimmung wurdest du geboren."

Fye starrte ihn an.

Etwas ganz besonderes.

Da war etwas, das bei diesen Worten auf sonderbare Weise reagierte. Fast war es ihm, als hätte er sie irgendwo schon einmal gehört, oder nein, vielmal- ja, so war es, es konnte gar nicht anders sein- er musste sie schon so oft gehört haben, dass sie sich wie mit einem Schweißbrenner in sein Unterbewusstsein geätzt hatten.

"Und-... was hat die Wunde damit zu tun?", hörte er sich stammeln.

Ashura erwiderte seinen Blick ungerührt.

"Hast du es immer noch nicht begriffen? Du solltest vergessen. Kurz nach deinem sechzehnten Geburtstag haben wir uns entschieden zuzugreifen und uns endlich das zu holen, was wir von deinen Eltern wollten. Und dafür brauchten wir dich. Aber als wir bei euch angeklopft haben, bist du sofort abgehauen. Wir waren für dich wohl sowas wie die 'Bösen'. Deswegen haben wir uns gedacht, dass du uns die Informationen, die wir von dir wollten, vermutlich eher liefern würdest, wenn wir für dich die 'Lieben' wären. Und darum haben wir dir mit einer Spritze ein wenig nachgeholfen, alles Unnötige zu vergessen. Allerdings haben wir uns wohl in der Dosis vergriffen, denn du hast viel mehr vergessen, als wir für dich vorgesehen hatten."

Für einen Moment wusste Fye nicht, wer kälter war- er oder die eiserne Bettstütze, an der er sich mittlerweile festklammerte.

Hinter seiner Stirn begann sich etwas als Reaktion auf Ashuras Worte schmerzhaft zu winden. Es war wie ein Sumpf vor seinem inneren Auge.

Immer wieder stiegen trübe, alptraumhaft verworrene Bilderfetzen daraus hervor und versanken wieder darin wie der Schlamm am Grunde eines aufgewühlten Sees.

Gesichter. Stimmen. Berührungen. Flüchtig, flüchtig wie Wasser, das er vergeblich in den Händen zu halten versuchte.

Als er wieder zu sprechen anhob, klang seine Stimme, als käme sie von weit her.

"S-seit wann-... ?"

"Seit wann wir dich kennen? Schon seit deiner Geburt. Oder besser gesagt", fügte der Schwarzhaarige nach einer Weile hinzu, "Nach eurer Geburt. Eure Eltern haben euch bewacht wie ein Zerberus. Nichts und niemand durfte euch verderben."

Die Kanülenspitze an seinem Hals zuckte.

"Nichts und niemand darf euch verderben."

Das Wabern in seinem Kopf wurde stärker, drängte, pochte. Die trüben Fetzen sprangen wild darin herum, vernebelten ihm den Blick und trieben ihm eine schwere, unangenehme Hitze in den Nacken.

Eure Geburt. Ihr. Du und ich. Wir beide, Brüderchen!

"Brüderchen Fye, du bist wirklich große Klasse!"

"Wisst ihr, ihr beide seht genau gleich aus. Das kann sehr nützlich sein. Und deswegen-... "

Großes, dunkles Haus, spielende Kinder auf der Straße, durch das Fenster, unerreichbar. Leises, verhaltenes Gekicher zweier dünner Jungenstimmchen.

Ein gleiches Gesicht, sein Gesicht- oder war es doch ein anderes?- sah ihn an. Lächelte.

"Brüderchen Fye, du bist wirklich große Klasse!"

Ein bleierner Knoten begann sich in Fyes Hals festzusetzen.

"W-wen-... wen meinst du mit 'ihr' ?"

"Deinen Zwillingsbruder und dich. Mach dir keine Hoffnungen, er ist tot."

Schweigen.

"Wollen wir-... ?"

"Aber Mama hat doch gesagt, wir dürfen nicht rausgehen!"

Die Treppe zu ihrem Zimmer war sehr steil gewesen. Seine Schienbeine hatten oft wehgetan, wenn er hingefallen war.

"Wie oft muss ich euch noch sagen, dass ihr im Haus zu bleiben habt?!"

"Aber Papa-..."

"Kein 'aber', junger Mann! Auf euer Zimmer, alle beide!"

Der Sturm in seinem Kopf weitete sich aus. Die Fetzen kreisten ihn ein wie hungrige Haie, drängten, stießen schmerzhaft von allen Seiten. Es war ein ständiges Auf und Ab, ein reißender Strom von plötzlich aufblitzenden und wieder erlöschenden Bildern hinter seinen Augen.

Ein Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, als zöge ihm jemand einen zentnerschweren Stöpsel aus dem Bauchnabel.

"Was ist mit ihm geschehen?!", stieß er hervor und presste die Nadel gegen Ashuras Kehle, sodass dieser reflexhaft nach Luft schnappte.

"Er-... ist an Krebs gestorben. Da wart ihr neun Jahre alt."

Der Sumpf machte einen Satz. Fieberhaft unterdrückte Fye den plötzlichen Drang, beide Hände gegen seinen Kopf zu pressen.

"Brüderchen! Das stimmt doch nicht, oder? Du bist nicht krank! Die haben mich angelogen, stimmt's? Die haben mich alle ganz schlimm angelogen!"

"Fye, ich-... "

Wortlos beobachtete Ashura das immer wildere Züge annehmende Flackern in des Blondlings Augen.

Er verstand sich nicht auf menschliche Emotionen, sie waren ihm zu kompliziert; doch selbst er hatte in den rar gesäten Augenblicken, da sich die Zwillinge außerhalb des Hauses aufgehalten hatten, klar erkannt, dass diese beiden jungen Wesen vollkommen voneinander abhängig gewesen waren, zwei sich bedingungslos ergänzende Hälften, und tötete man eine davon, so starb auch die andere- wenn auch nicht unbedingt körperlich.

"Tja, du warst nicht der einzige, der darüber verrückt geworden ist. Bei deinen Eltern war danach der Laden dicht. Bis zu dem Tod deines Bruders haben sie es gemacht wie die Geier- ein Junges wird durchgefüttert, das andere muss verrecken. Doch als es dann das durchgefütterte Junge war, das verreckt ist, haben sie kurzerhand alles in dich reingestopft, was du die Jahre davor versäumt hattest. Aber offenbar bist du unter dieser ganzen Gehirnwäscherei endgültig ausgerastet und hast beschlossen, die beiden eigenhändig abzumurksen. Und das ist dir dann auch gelungen."

Das Schweigen donnerte über ihre Köpfe herab wie eine einstürzende Felswand.

Offenbar hatte er zuviel gesagt.

Fyes Gesichtszüge entgleisten.

Ich-... habe meine-... ?

„TU ES NICHT!!“

Der Sumpf in seinem Kopf explodierte. Von einer Sekunde auf die nächste wurden die verschwommenen Fetzen stechend scharf, gleißend hell, sie hämmerten, pressten, brannten sich in sein Hirn wie ätzende Lauge.

"Hilf uns! HILF UNS!! Siehst du nicht, dass wir sterben?!"

"Bitte-... bitte hol die Polizei, hol einen Krankenwagen, bitte-..."

"Wie willst du mit dieser Schuld nur leben?"

Stöhnende Stimmen, blutverkrustete Hände, die sich an seinen Füßen festklammern wollten. Eine zu Tode verwundete, junge Frau, blond wie er selbst. Blut klebte auf den Dielenbrettern, ihrem Hemd, ihrem Gesicht.

"Bitte, Fye-... Yuui-... BITTE!! Es tut uns leid!!“

Fremde Gestalten an der Tür. Grobe Hände. Ungeschlachte Gesichter. Er sah sich herumschnellen, ertappt, mit blutüberströmten Händen. Er sah sich davonstürzen, spürte den stechenden Schmerz in seinem Handgelenk und seiner linken Schulter ein zweites Mal, sah eine dunkle, halb im Regen verflossene Gestalt über sich.

"Setzt ihn dort hinten in dem Lagerhaus ab. Wenn er aufwacht, kümmere ich mich persönlich darum, dass er von sich aus mitkommt."

"Ist das nicht 'n bisschen aufwändig für so 'ne Kaulquappe, Boss?"

Gehässiges Grinsen. Funkelnd gelbe Katzenaugen.

"Tja... unser Fye ist eben etwas ganz besonderes."

Schwärze.

Der rasende Sog versiegte so schnell wie er gekommen war und löste sich auf, liquidierte sich zu einem einzigen, schlammig träge vor seinem inneren Auge vorbeiwandernden Strom aus verworrenen, wahllos aneinandergereihten Bildern wie ein monotoner Nieselregen nach einem Gewitter.

Doch aus all diesen verflossenen Facetten war es eine einzige, die alles andere verschlang und ins Abseits drängte.

Ich bin ein Mörder.

Und Fye spürte, dass er weinte.

Tränen quollen heiß und klebrig in seine glasigen Augen und stürzten zu beiden Seiten seine Wangen hinab. Seine rechte Hand, die sich vor wenigen Minuten noch verzweifelt an der Bettstange festgekrallt hatte, sank wie leblos in seinen Schoß zurück.

"Tja, hab's dir ja gesagt... du warst schon völlig neben der Kappe, als du noch ein Kind warst. Aber du wusstest fast alles über die Geschäf-..."

"GENUG!!"

Der Schwarzhaarige keuchte erschrocken nach Luft, als der Blondling ihn unvermutet mit seiner freien Hand an der Kehle packte und zudrückte, sodass ihm fast die Luft abgeschnürt wurde.

"So wie's aussieht, hast du mir endlich die Wahrheit erzählt", flüsterte er mit wackeliger Stimme, "Das ist gut. Das ist wirklich gut. Dann bleibt mir jetzt wohl nur noch übrig, mich bei dir zu bedanken."

Ashuras Herzschlag setzte für zwei Sekunden aus, als er begriff; mit einem Japsen wollte er den Kopf zur Seite werfen, doch er reagierte zu spät.

Kalt und schmerzhaft bohrte sich die Injektionsnadel in seinen Hals.

"Weißt du, es war nicht leicht", wisperte Fye nahe an seinem Ohr, während er ihm das Gift direkt in die Schlagader injizierte, "Ich hab lange gebraucht, bis ich alles beisammen hatte, ich wollte was Besonderes... es war wirklich nicht leicht..."

Ashura keuchte.

Angst, heiße, schwarze Angst quoll in seinem Kopf empor wie kochendes Teer und verschlang alles, was ihm noch ein rationales Denken ermöglicht hätte, als er das Gift seine Venen emporkriechen fühlte.

Es war kälter als Eis.

Panisch versuchte er, sich zu wehren, doch Fye hielt ihn an den Schultern nach unten gedrückt. Seine sonst so leichenblassen Wangen waren in einem Anfall viehischer Vorfreude von fiebriger Röte überschleiert.

Er hatte es geschafft.

Ja, genauso hatte er ihn sich vorgestellt, diesen Triumph- seinen Triumph! Alles stimmte überein, jede Facette dieser Todesfantasie, die er sich immer wieder aufs Neue zusammengesponnen hatte, wenn die Nächte kalt und der Magen leer gewesen waren.

Ashura starb, hier vor seinen Augen, und er würde nun auf diesem Stuhl sitzenbleiben und jedes einzelne Detail davon in sich aufsaugen.

Er würde beobachten, wie sich das Licht in den gelben Katzenaugen brechen, wie sein krampfhaft zuckender Widerstand, sein Atem, sein Herzschlag zum Stillstand kommen würden, und er würde seinen Blick um nichts in der Welt wieder abwenden. All die Verachtung, die er für ihn empfand, sollte sein verlogener 'Freund' nun zu kosten bekommen, er würde es ihm tropfenweise über die Augen einflößen wie eine scheußlich bittere Arznei- doch ihm selbst würde es schmecken wie Honig.

Dieser Augenblick gehörte ihm allein.

Es hielt ihn kaum mehr auf dem Stuhl. Bebend vor Ungeduld starrte Fye sein Opfer an und wartete auf dessen Tod.

Doch plötzlich begann sich entgegen seiner Erwartung etwas auf Ashuras schweißüberströmten, fleckigen Gesicht zu regen, und ehe er sich versah, hatte ihn sein Opfer auch schon am Kragen gepackt und zu sich hinabgerissen.

"Bravo, bravo, bravo... dann kann man dir ja nur noch gratulieren..."

Seine Stimme klang heiser und brüchig, doch die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Gereizt starrte Fye Ashura an.

"Sei still! Du machst alles kaputt!"

"... Ich sehe schon, ich hatte doch Recht..."

"WOMIT?!!"

Der Schwarzhaarige sah ihn müde an und verzerrte seinen Mund zu einem schwachen Grinsen. Wenn er jetzt schon mal den Löffel abgeben musste, konnte er Fye wenigstens noch gründlich das Süppchen versalzen.

"Womit? Hast du es denn immer noch nicht begriffen? Du bist verloren! Für dich gibt es keine Hoffnung mehr!"

"Ach ja?!", fauchte Fye zurück, "Weißt du, wie egal mir das ist?! 'Hoffnung' , ich und Hoffnung, willst du mich für bescheuert verkaufen?!! Ich gebe einen feuchten Dreck auf die Hoffnung! Ich will, dass du stirbst!"

"So, so, sieh mal einer an... meinst du etwa, du wirst weiterleben können? Wartet deine Chi schon im Kabrio vor dem Hospital, damit ihr zu zweit ins Glück düsen könnt, sobald ich hier drin verreckt bin?"

Der Pfeil saß.

"Stell dir mal vor, wir könnten von hier wegfahren, Fye. Wann immer wir wollen. Wohin würdest du uns fahren?"

"Nach Paris!"

"Ich-... ich weiß genug, um weiter zu-..."

"Gar nichts weißt du... dass du das schon öfter nicht geschafft hast, wissen wir doch alle beide... und dennoch brockst du's dir ständig von neuem ein... hast wohl einen Hang dafür, denselben alten Fehler immer wieder zu begehen, was... ?"

Fyes Hände an seinen Schultern zuckten. Eine Welle unerträglicher Hitze schoss jäh seine Magengegend empor bis hinauf in den Hals. Es wurde ihm dunkel vor Augen, sodass er rasch den Blick abwenden musste.

Er konnte Ashura nicht in die Augen sehen, nicht einmal jetzt.

"S-siehst du nicht, dass-..."

Ein rasselndes Lachen.

"Ach, was soll ich denn sehen? Alles, was ich sehe, ist, dass sich der Kreis von neuem schließt... vermutlich wird es genauso enden wie die letzten Male... du wirst dir wünschen, es niemals getan zu haben, weil du damit weiterleben musst... du willst, dass die Hölle dich endlich verschluckt, damit du nicht schon wieder jemanden überdauern musst, der dir weggestorben ist, aber sie wird dir den Gefallen nicht tun... wie fühlt es sich eigentlich an, jedem Menschen, der einem nahestand, den Tod gebracht zu haben? Wie ist es, wenn das Weiterleben eine Strafe ist?"

Keine Antwort. Das schneeweiße, tränenüberströmte Gesicht des Blondlings über ihm erinnerte ihn plötzlich mehr denn je an einen kleinen Jungen, trotz der Kälte, die langsam in seinem Unterleib aufwärts kroch.

"Keine Antwort parat? Nicht einmal deinen Text hast du gelernt? Tja, dann kann ich dir wohl nur noch viel Spaß für deine nächste Runde im Teufelskreis wünschen... dieser Moment wird wiederkommen. Du wirst jemanden verlieren, dessen Tod du selbst verschuldet hast, und du wirst nichts dagegen tun können... es ist unvermeidlich, Fye..."

Ein Paar weit aufgerissener, eisblau flackernder Augen starrten ihn statt einer Antwort wild an.

"Hilf uns! HILF UNS!! Siehst du nicht, dass wir sterben?!! Wir sterben, und alles ist es deine Schuld-..."

"Wie willst du mit dieser Schuld nur leben?"

Es gibt keine Hoffnung mehr für mich. Es ist unvermeidlich.

Es überlief ihn siedend heiß, und in seinen tränenverschleierten Iriden explodierte die Wut, als er sich aus Ashuras Griff losriss.

"Ich heiße nicht Fye!!"

Sein Opfer starrte ihn verwirrt an, doch er ging nicht mehr darauf ein. Wortlos schlug er die Bettdecke beiseite, löste die Pflaster von seiner Haut und riss ihm sämtliche intravenöse Nadeln aus Armen und Kniekehlen.

Der Schmerz steigerte sich ins Unvorstellbare.

Ashura schrie wie von Sinnen, als die Krämpfe seinen Körper emporrasten wie die Schläge eines Elektrostocks, doch Fye presste ihm beide Hände auf den Mund und hielt seinen konvulsivisch bebenden Leib erbarmungslos nach unten gepresst.

"Bitte, Ashura... jetzt hab ich dich extra zweimal vergiftet, einmal für Chi und einmal für mich, also lass es mich doch wenigstens genießen bis du verreckt bist, bitte-..."

In seiner Stimme pulsierte der Wahnsinn. Der Schwarzhaarige wand sich wie ein Fisch auf dem Trockenen und warf seinen Kopf panisch zur Seite, während die Pulsanzeige förmlich zu explodieren schien. Das hysterische Pfeifen und Piepen wurde immer lauter, aus den gelben Katzenaugen kreischte der Schmerz wie ein gemartertes Tier, ekelhaft feuchtkalte, verkrampfte Hände krallten sich an seinem Hemd fest, zerrten, kratzten.

"Gleich ist es vorbei", flüsterte Fye gepresst, sein Herz dröhnte so laut in seinem Brustkorb, dass es sämtliche Außengeräusche einfach zu überfluten schien, "Gleich ist es vorbei, gleich ist alles vorbei, gleich ist-..."

Ein lauter, anhaltender Piepton unterbrach sein Gestammel.

Verstört hielt er inne und starrte sein Opfer an.

In den gelben Augen seines 'Freundes' war keinerlei Reaktion zu erkennen. Blicklos starrten sie an die Decke.

"A-... ashura... ?"

Keine Antwort. In dem Krankenzimmer blieb alles reglos.

Und still.

Totenstill.

Nach fünf endlosen Minuten schaffte Fye es endlich, seine kalten verschwitzten Hände von Ashuras Mund zu nehmen. Wie von weiter Ferne spürte er, dass er sich auf seinem Stuhl zusammenkauerte und wartete.

Er wartete auf die Freude, die er in seinen verworrenen Träumen stets auf diesen Augenblick angesetzt hatte.

Sie kam nicht.

Der Mond schien immer noch, warf ein trübes Licht über Ashuras ausdrucksloses Gesicht und streute einen letzten Glanz in die gebrochenen Katzenaugen.

Es dauerte lange, bis Fye sich wieder rührte.

Wortlos öffnete er die Hand seines Opfers und wühlte mit zitternden Fingern seine Brosche daraus hervor.

Sie war unbeschädigt, nicht einmal die Kette war kaputt gegangen. Der Stein in seiner Mitte funkelte immer noch so rot wie an dem Tag, an dem Chi ihn ihm geschenkt hatte.

"Sie gehört nur dir, und sonst keinem. Ashura wird niemals Gewalt über dich haben."

Wenn sie nur gewusst hätte, wie sehr sie sich getäuscht hatte.

Endlich kamen ihm die Tränen.
 

~~
 

"Hallo und guten Morgen allerseits! Und wieder einmal ist es Zeit für Kingstonvilles beliebteste Frühstücksnachrichten- Saturday Morning Life mit Mitsi am Morgen und Aufsteh-August! Die heißesten News noch brühwarm vom Fleck weg, die angesagtesten Musikhits von heute, das beste Entertainment, hier bei uns! Also, Aufsteh-August, was gibt es Neues in unserem schönen Kingstonville?"

"Tja, Mitsi, so wie's aussieht, war hier letzte Nacht der Teufel los! Fatale News erreichen mich hier gerade aus der Innenstadt, das wollen wir uns doch gleich mal life anhören!"

"Wir berichten vor Ort aus der Innenstadt. In der vergangenen Nacht war das elitäre Krankenhaus St Faithful Schauplatz eines Massakers. Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren. Bisher berichten Polizisten und Gerichtsmediziner von mindestens elf Toten, darunter fünf leitenden Fachärzten, die nach aktuellen Schätzungen zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens von einem den Augenzeugenberichten nach männlichen Täter-..."

Klick.

Mit einem halblauten Grollen schaltete Kurogane den Fernseher aus und ließ sich auf das Sofa zurücksinken.

Massaker im St Faithful, wie nett. Offenbar war es gerade schwer in Mode, alte Opas mit kaputter Prostata abzustechen.

Konnte in dieser verdammten Stadt denn keine einzige Nacht ohne Leichen vergehen?

Ach komm. Als ob du das jetzt nicht besser wüsstest.

Der Schwarzhaarige seufzte unterdrückt und rieb sich mühsam den Schlaf aus den Augen, bevor er die Fernbedienung auf den Beistelltisch neben der Couch knallte und sich aufsetzte.

Im ganzen Wohnzimmer stank es nach Parfum und verschüttetem Wein.

Hatte er die Kuh eigentlich rechtzeitig vertrieben, bevor sie zu aufdringlich geworden war? Er erinnerte sich nicht mehr. Nicht einmal an ihren Namen oder an ihre Haarfarbe. Vermutlich waren drei Flaschen doch etwas zuviel gewesen.

Zuviel und genau richtig. Genau richtig, um alles zu vergessen.

Er hatte irgendwo mal gehört, dass bei Problemen, die über die Grenzen des Erträglichen hinausgingen, nichts besser Abhilfe leisten konnte als sich bis zum Anschlag volllaufen zu lassen, egal wann, egal womit, Hauptsache man tat es.

Er hatte nicht lange gebraucht, um sich zu entscheiden.

Glas um Glas war gefallen, und mit jedem neuen Glas fiel etwas in ihm mit; doch weder wusste er, was es war noch wohin es fiel, und es war ihm auch beileibe egal gewesen. Er hatte lediglich gespürt, wie angenehm ihm zumute wurde. Alles, alles verschwamm, löste sich auf. Mit jedem neuen Glas waren die bohrenden Schmerzen, der viehische Ausdruck der Todesangst in diesen graublauen Augen, die Form des zerstörten Herzmuskels, aus dem hell und glänzend der Lebenssaft sickerte, das Winden und Zucken des wehrlos zu seinen Füßen ausblutenden Körpers Stückchen für Stückchen zur Seite geglitten, bis nur noch unscharfe Fragmente und zum Schluss gar nichts mehr übrig geblieben war.

Innerhalb weniger Stunden hatte er sein Gewissen in einem horizontlosen Meer aus klirrenden Gläserrändern, bitter schmeckendem Wein und kirschroten Lippen ersäuft.

Das große Nichts.

Ein herrlich sinnloses Vakuum, in dem er bis zum Morgengrauen eingerollt vor sich hingedämmert hatte wie ein Säugling im Schoß seiner Mutter.

Der Preis dieser komatösen Seligkeit war jedoch hoch gewesen- sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihm jemand das Hirn durch die Nase ausgesogen, das trübe Tageslicht, das durch die dünnen Vorhänge ins Zimmer fiel, brannte ihm in den Augen. Jede kleinste Bewegung rief ein glühendes Brennen und Stechen hervor, als würde ihm die Haut in einzelnen Streifen vom Körper gerissen.

Das lag jedoch nicht am Alkohol.

Sein geschändeter Leib zahlte ihm lediglich die Schmach, die man ihm aufgebürdet hatte, mit gleicher Münze zurück.

Mit gefletschten Zähnen stemmte sich der Killer vom Sofa hoch und stolperte mühsam zu den Fenstern, um die Jalousien herunter zu lassen.

Seine Augen gehorchten ihm jedoch nicht. Noch während er nach der Bedienungsleiste für den Rollladen suchte, fiel sein Blick in den hohen, viktorianischen Spiegel, der neben seinem Schrank lehnte.

Geistesabwesend wandte er sich von den Fenstern ab, zog sein Hemd hoch und starrte sein Spiegelbild an.

Eine ihm völlig fremd gewordene Gestalt starrte zurück.

In der Praxis hatte man ihm versichert, dass die Narben spätestens in ein bis zwei Jahren nur noch geringfügig zu erkennen sein würden, doch was er da sah, erzählte ihm das Gegenteil.

Er würde für immer gebrandmarkt sein.

Was würden seine Eltern bloß sagen, wenn sie ihn so zu Gesicht bekämen?

Fast reflexhaft zog der Schwarzhaarige sein Hemd wieder runter.

An sowas durfte er jetzt nicht einmal denken. Wahrscheinlich wäre es ohnehin besser, wenn er sich nie wieder im Schrein blicken ließ. Er musste das jetzt für das Leben der beiden durchziehen,

Er hatte schon genug Schande über seine Familie gebracht.

Lieber würdevoll sterben als würdelos leben.

In einem einzigen Moment hatte er dieses oberste Prinzip seiner Vorväter von sich gestoßen, und hatte es nicht nur missachtet, sondern mit Füßen getreten- in dem Moment seiner Entscheidung.

In dem Moment, da die Ketten gefallen waren.

„Sehen Sie, Joshua, jeder Mensch hat etwas, wofür er jeglichen Preis zu zahlen bereit ist.“

Pantolianos polierte Schuhe fielen ihm wieder ein. Glänzend, dicht vor seinem Gesicht, sorgfältig darauf bedacht, den blutigen Ausschwitzungen seines Körpers nicht zu nahe zu kommen.

Er hätte ihm die Wirbelsäule brechen können und hatte es nicht getan.

Was wäre gewesen, wenn er es getan hätte? Wäre es anders ausgegangen?

Wäre er jetzt nicht nur ein Überlebender ohne Ehre?

Das Klingeln des Telefons riss ihn schmerzhaft aus seinen trägen Gedankengängen in die Realität zurück.

Seufzend schaltete er die Abhörblockade ein, bevor er den Hörer abnahm.

„Am Apparat.“

„Ich bin‘s.“

„Was du nicht sagst“, erwiderte der Killer geistesabwesend und wandte sich vom Spiegel ab. Welcher Mensch auf dieser Erde würde ihn schon freiwillig anrufen außer O’Connor?

„Was gibt es?“

„Hast du die Sache mit diesem britischen Kunstfritzen durchgezogen?“

„Ja.“

„Gut. Ich hoffe, du hast keine unnötigen Spuren hinterlassen?“

„Keine Spuren.“

„Ah, sehr gut, sehr gut. Das Honorar geht an dein Postfach. Oder willst du es gleich aufs Konto haben?“

„Postfach. Können wir dann so langsam zum Thema kommen?“

O'Connor am anderen Ende der Leitung seufzte innerlich.

Du liebe Zeit, mal wieder gesprächig wie ein Felsbrocken. In letzter Zeit konnte man sich bereits glücklich schätzen, wenn Kurogane mehr als drei Worte am Stück mit einem redete.

Na schön, zum Teil war es ja noch verständlich, dass er nach dieser unapettitlichen Foltergeschichte nicht mehr sonderlich gut auf ihn zu sprechen war.

Er würde das Rasseln der Ketten und den fast völlig verbluteten, kraftlos zu Boden stürzenden Körper des Killers wohl nicht mehr so schnell vergessen können. Dem ersten seiner Folterknechte, der nicht schnell genug aus dem Kerker draußen gewesen war, hatte er mit bloßen Händen das Genick gebrochen.

Pantoliano hatte den Zwischenfall mit der größten Genugtuung beobachtet.

„Sehen Sie nun, was ich meine, Joshua? Vom Mensch zum Tier. Schnippschnapp. Nichts leichter als das.“

Er war da zwar etwas anderer Auffassung gewesen, aber nach zwei Wochen Erholung, einigen Terminen beim kosmetischen Chirurgen und etwas Aufbautraining konnte Kurogane doch so langsam wieder vernünftig werden.

Immerhin kam nun eine Menge Arbeit auf ihn zu.

„Also schön. Hör zu. Vielleicht hast du ja schon mitbekommen, was da gestern Nacht in der Innenstadt gelaufen ist. Dieser Vorfall im St Faithful.“

„Hab davon gehört. Was ist damit?“

„Die Ermittlungen laufen bereits. Die Polizei ist schon vor Ort, aber Mr. Pantoliano will, dass du dazustößt und eigene Ermittlungen anstellst.“

„Wofür das?“

O’Connor widerstand nur schwerlich dem Drang, die Augen zu verdrehen.

„Was weiß ich? Frag ihn doch einfach selbst, wenn es dich so verdammt interessiert. Am besten machst du dich sofort auf den Weg, bevor die Spurensicherung noch das ganze Gebiet in Beschlag nimmt. Mr. Pantoliano wartet bereits auf dich.“

Ohne weitere Anweisungen beendete der Ministerialrat die Verbindung und überließ Kurogane seinen Gedanken.

Dieser ächzte unterdrückt.

Na fabelhaft. Damit war die nächste durchsoffene Nacht wohl schon vorprogrammiert. Wieso zum Teufel klingelte dieser verfluchte Italiener nicht einfach einen anderen seiner zahllosen Spezis an?

Wieso fragst du dich das noch? Du kennst die Antwort.

Apathisch starrte der Schwarzhaarige sein Spiegelbild an.

Der Anblick der blank polierten Schuhe wollte einfach nicht mehr aus seinem Kopf.

„Von heute an, mein Junge, gibt es kein ‚Nein‘ mehr. Sie werden tun, was ich Ihnen sage. Nur so kann es funktionieren. Ich denke für Sie, Sie handeln für mich. Sollten Sie sich allerdings dafür entscheiden, zu rebellieren oder einen meiner Befehle zu missachten, werden es Ihre lieben Eltern sein, die die Konsequenzen dieser Entscheidung als erstes zu spüren bekommen. Haben Sie das verstanden? Stehen Sie auf, wenn Sie das verstanden haben.“

Und er war aufgestanden.

Kurogane spürte, wie sich ein bleierner Knoten in seinem Hals festsetzte.

Er konnte nichts mehr tun. Er hatte sich für ein Leben in Schande anstatt für einen Tod in Würde entschieden.

Und nun musste er diese Bürde bis an sein Lebensende tragen.

Es gibt kein Entkommen mehr.

Nach einem langen Schweigen schaffte er der Killer endlich, sich aus seiner Starre zu lösen und sich auf den Weg ins Bad zu machen.

Hoffentlich hatte der kleine Psycho, der für das Blutbad in dem Hospital gesorgt hatte, wenigstens eine schwache Kondition.
 

„... Und dort drüben ist er wahrscheinlich rein.“

„Durch den Haupteingang? Sind Sie sicher?“

„Na, wer kann schon wissen, was für ein Kranker das wieder ist? Vermutlich tanzt er gerade im Superman-Outfit durch die Gegend, reibt sich mit Erdnussbutter ein oder macht sonstwas Abgefahrenes...“

Pantoliano nickte und stellte fest, dass ihm allmählich die Geduld ausging. Er musste einige Mühe aufbringen, um ein väterliches Lächeln auf seine Lippen zu zaubern.

„Nun, ganz so genau wollte ich es nun auch wieder nicht haben, Kevin.“

Kevin Rafferty zuckte die Achseln und klemmte sich den Notizbleistift, mit dem er bis jetzt herumgespielt hatte, hinters rechte Ohr.

„Bitte um Verzeihung, Sir. Aber mein Vorgesetzter hat gemeint, ich soll keine Vermutung unausgesprochen lassen. Das ist jetzt mein erster wirklicher Einsatz. Ich durfte bisher immer nur den Papierkram erledigen.“

Irgendwie fiel es dem Italiener nicht schwer, das zu glauben.

Herrgott, er war Ratspräsident, und jetzt stand er schon seit sechs Uhr morgens auf diesem verdammten Hospitalgelände herum und war lediglich damit beschäftigt, den umherflatternden Schwärmen von Polizisten, Spurensicherungstrupps, Gerichtsmedizinern und aufgebrachten Ärzten aus der Bahn zu springen, auf die polizeilichen Untersuchungsergebnisse zu warten, die wahrscheinlich erst am Tag des jüngsten Gerichts eintrudeln würden, und sich dabei von diesem Frischlingspolizist auf der Nase herumtanzen zu lassen.

Hoffentlich hatte Joshua wenigstens daran gedacht, Kurogane zu kontaktieren, denn das einzige, was er jetzt noch wirklich wollte, war diese Farce schleunigst zu vergessen.

Der Verlust von Ashura würde sich vermutlich schon sehr bald in seinen Finanzen abzeichnen, und dafür wollte er Blut sehen.

Es würde ihm ein Vergnügen sein, Kurogane in dieser Sache ermitteln zu lassen, vor allem, um ihn ein wenig in seiner neuen Rolle zu testen.

Dieser Ausdruck der erzwungenen Gehorsam in den widerspenstigen, magmaroten Augen schaffte es immer wieder, ihn heiter zu stimmen, und seit er ihn in jenem Kerker zum ersten Mal bei ihm beobachtet hatte, konnte er gar nicht mehr genug davon bekommen.

Giuseppe Girolamo Pantoliano, der Drachenbändiger. Klang gar nicht mal so übel.

„Wissen Sie was, Kevin? Gehen Sie einen Kaffee trinken, Sie haben sich eine Pause redlich verdient. Ich habe einen meiner führenden Einsatzleiter herbestellt, er wird sich der ganzen Sache für Sie annehmen.“

Raffertys Pupillen wurden rund wie Murmeln.

„Aber Mr. Fullright hat angeordnet, dass ich-…“

„Kevin, bitte. Seien Sie einfach so frei.“

Der bedauernswerte Gesetzeshüter schien völlig von dem Angebot überfordert, doch Pantoliano achtete gar nicht mehr darauf, als er in dem Menschengewühl endlich das erblickte, worauf er seit über sechs Stunden wartete.

„Ahhh, Kurogane! Hier drüben! Immer nur her mit Ihnen, alter Junge!“

Keine Antwort. Flammend rote Augen starrten ihn apathisch an, als sein neuer Auftragskiller vor ihm zum Stehen kam.

„Sie wollten, dass ich zum Tatort komme, Sir.“

Seine leise, raue Stimme klang scharf wie eine gewetzte Klinge.

Der Junge hasste ihn.

Unwillkürlich musste Pantoliano lächeln. Konnte man sich bessere Ausgangsbedingungen wünschen?

„In der Tat, das wollte ich. Die Ereignisse haben sich überschlagen, und ich denke, es wird nicht das Schlechteste sein, wenn Sie sich ein wenig mit der ganzen Sache befassen. Habe ich Ihnen übrigens schon Mr. Rafferty vorgestellt?“

Der Schwarzhaarige würdigte den beklommenen Detective zu seiner Rechten keines Blickes.

„Was soll ich tun?“

„Keine Sorge, es handelt sich um nichts, was Ihre Fähigkeiten übersteigen wird. Kommen Sie.“

Mit diesen Worten hob der Ratspräsident das knallgelbe Absperrband an und betrat das Untersuchungsebiet. Kurogane folgte ihm. Rafferty starrte beide skeptisch an.

„Ähhh-… Sir? Hören Sie, Sir, eigentlich dürfen Sie da nicht-…“

„… gleich da hinten, wenn Sie mir folgen wollen. Die Ermittlungen haben bereits angefangen, aber viel ist da bisher nicht rausgekommen. Die wenigen Zeugen, die wir haben, stehen noch unter Schock.“

„Und der Täter?“

„Was soll mit ihm sein? Der Täter ist die Essenz der Tat, ich denke, das hat man Ihnen beigebracht?“

In den zinnoberfarbenen Augen flackerte es.

Natürlich weiß ich es. Ich wusste noch viel mehr, bevor du mich zu deiner Tanzpuppe gemacht hast.

„Ja.“

„Hervorragend, ganz hervorragend.“

„Bitte, Sir, ich werde gewaltigen Ärger mit Mr. Fullright bekommen, wenn ich jemand unerlaubt durch die Absperrung-…“

Der Grünschnabel hatte keine Chance. Weder Kurogane noch Pantoliano beachteten ihn, während sie einem Medizinertrupp auswichen und durch den Haupteingang das Hospital betraten. Nicht sonderlich interessiert ließ der Killer seinen Blick durch das sterile Foyer schweifen.

Na, da hatten die Medien mal wieder gehörig übertrieben. Kein einziger Blutstropfen war auf dem Boden zu erkennen, keine zerstückelten Leichen gammelten auf der Einrichtung vor sich hin.

„Der Täter hat sehr sauber gearbeitet“, kommentierte Pantoliano, „Keine Fingerabdrücke, kaum Fußabdrücke, jedenfalls bis jetzt. Der ganze Ärztepulk vermutet, dass der Kerl sämtlichen Opfern die Luft abgedrückt hat, anstatt eine Waffe zu verwenden.“

„Wohin ist er geflohen?“

„Darüber gab es noch keine Vermutungen.“

„Identität?“

„Unbekannt.“

„Motiv?“

„Kurogane, ich bitte Sie!“

Kurogane starrte seinen Auftraggeber gereizt an.

„Was wollen Sie dann von mir, verdammt? Sehe ich aus wie ein Hellseher?!“

Der Ratspräsident schnalzte missbilligend mit der Zunge.

„Aber aber, Kurogane-chan, warum denn so ruppig? Das versuchen wir aber gleich nochmal!“

Keine Antwort.

Pantoliano hätte schwören können, dass der Killer bereit war, ihm an die Kehle zu gehen. In den roten Augen wand sich das unterbundene Biest wie von Sinnen gegen die Ketten, die man ihm angelegt hatte.

Die Wunden, die man ihm zugefügt hatte, gingen tief und es würde noch lange daran zu lecken haben, damit es aufhörte zu bluten- doch er hatte es fraglos vollbracht, er hatte ihn gebrochen und die Energien seines ungestümen Geistes in nutzbare Bahnen gelenkt.

Der Mensch, wie er von der Natur erschaffen wurde, war ein barbarisches Wesen, kulturlos, regellos und streng genommen nicht mehr als ein Tier; doch genauso, wie ein wohlmeinender Förster einen verwilderten, in alle möglichen und unmöglichen Richtungen wuchernden Dschungel auslichten, reinigen und von Ungeziefer befreien musste, um sich an seinen Früchten zu erfreuen, hatte auch er Kurogane gewaltsam eingeschränkt, sein galliges Temperament unterbunden und ihn sich gefügig gemacht- und dazu hatte er nicht einmal einen Köder gebraucht, denn diesen Köder war ihm vor etlichen Jahren bereits geliefert worden.

Pantoliano gab viel auf sein gutes Gespür für den menschlichen Charakter, und es war ihm nicht schwer gefallen zu erkennen, dass Kuroganes gesamtes Leben nur noch von einer einzigen Angst gesteuert wurde- der Angst um das Leben seiner Eltern.

All seine Gedanken waren darauf gerichtet, schnürten ihm die Luft ab und hinderten ihn daran, sich einfach auf ihn zu stürzen wie ein tollwütiges Tier.

Alles, was er selbst jetzt noch tun musste, bestand darin, diese Angst für sich zu nutzen, sie regelmäßig zu schüren, stetig am Brennen zu halten und die Bestie, die ruhelos in diesen flammenden Augen auf- und abtigerte, in einen Käfig aus Misstrauen und Furcht einzupferchen, aus dem sie nur noch entlassen wurde, wenn er es gestattete.

Die perfekte Zwickmühle.

Mit einiger Genugtuung beobachtete der Ratspräsident, wie der pulsierende Wahnsinn in den roten Augen quälend langsam einer kalten Apathie wich.

„… Was genau soll ich dann tun… Sir?“

Der Italiener lächelte.

„Sehen Sie sich hier um. Sammeln Sie Spuren. Finden Sie den Mann, der sich für diese Farce verantwortlich zeichnet. Und wenn Sie ihn erst gefunden haben…“

Statt den Satz zu beenden, fuhr er sich mit dem Daumen über den Hals.

„Kapiert?“

„Ja, Sir.“

Schweigen.

Pantoliano merkte leicht auf, als er aus dem Augenwinkel die kreidebleiche Gestalt von Kevin Rafferty bemerkte, die gerade hastig um die Ecke des Foyers verschwand.

„Haben Sie das Greenhorn dort hinten gesehen?“

„Ja, Sir.“

„Vermutlich hat er uns bespitzelt. Ich nehme an, er macht sich gerade auf den Weg zu seinem Vorgesetzten, um ihm die ganze Story brühwarm weiter zu erzählen.“

„Was soll ich tun?“

Pantoliano klopfte seinem Schützling jovial auf die Schulter, obwohl er sich dafür fast auf die Zehenspitzen stellen müsste.

„Gehen Sie und töten Sie ihn. Und wenn Sie das erledigt haben, fangen Sie an zu ermitteln. Wenn Sie den Kerl gefunden haben, müssen Sie ihn mir nicht mehr vorführen, beseitigen Sie ihn einfach und schaffen Sie die Leiche fort. Ihr Honorar wird entsprechend ausfallen.“

Wortlos starrte der Killer seinen Auftraggeber an. Dieser erwiderte den eisigen Blick ohne jede Hemmung.

Du musst mir gehorchen, Junge, das ist alles, was du noch musst. Mach’s dir doch nicht unnötig kompliziert.Tu Mami und Papi den Gefallen.

„Ja, Sir.“

Ohne sich weiter aufzuhalten machte sich der Schwarzhaarige auf den Weg.

Dieser Polizist würde keine Minute in Anspruch nehmen- Genickbruch und in den Kingston River werfen, und danach würde er sich sofort den Ermittlungen widmen. Er konnte das Blut schon jetzt schmecken. Einen Mörder, der niemals Hinweise auf sein Tun hinterließ, gab es nicht- nun, von ihm selbst einmal abgesehen.

Nun gab es nicht nur für ihn kein Entkommen mehr.

Der Täter konnte einem direkt leid tun.

Human After All

–„Wie es vereinsamte Seelen doch verstehen, in ihrer Angst vor der Liebe umeinander herzutanzen! Sie sind Rehe, die im Echo des anderen den Jäger zu erkennen glauben.“-

(M. Roose )
 

~~
 

Das helle, bunt gemusterte Kandispapier raschelte verheißungsvoll.

Der rotznasige Lümmel machte Augen wie Spiegeleier, als er die bis zum Rand mit duftenden Lebkuchen gefüllte und mit einer roten Weihnachtsschleife umwickelte Tüte über den Tresen gereicht bekam.

„Lass sie dir schmecken“, sagte Fye freundlich und strahlte den Kleinen an.

„Entschuldigen Sie bitte?“, rief eine etwas ältlichere Dame aus der Kaffee-Ecke herüber, in der bereits mehr als ein Dutzend Leute Platz genommen hatten, „Ich hätte gerne die Rechnung!“

Fröhlich wirbelte der Blondling herum.

„Aber gern, einen Moment bitte!“

„Sagen Sie, sind bei Ihnen noch ein paar von diesen Sahnekaramellen zu haben?“

„Natürlich, jeden Dienstag frisch! Nur einen Augenblick!“

„Wo kann ich das hier abstellen?“

„Gleich hier drüben! Darf ich es Ihnen abnehmen?“

So mancher Gast an diesem Morgen beobachtete den beflissenen Konditor amüsiert bei seinen Aktivitäten. Vor diesem jungen Mann konnte man getrost den Hut ziehen, da waren sie sich alle einig- die Neuigkeit von der gewagten Kombination aus Café und Konditorei mit den extravaganten Süßigkeiten im Schaufenster und dem netten Konditor hinter dem Tresen hatte wie ein Lauffeuer am Johannesplatz die Runde gemacht, und die Zahl der Kunden im Café de la Paix hatte sich innerhalb weniger Tage vervielfacht. Und dennoch wurde der Blondling mit allem, was ihm dieser neue Erfolg an Gästen, Hektik, unaufgeräumten Tischen und überladenen Spülmaschinen aufbürdete, völlig selbstverständlich fertig, ohne auch nur einmal eine schiefe Schnute zu ziehen - er bediente Herren wie Damen mit einem unnachahmlichen Charme, steckte den Kleinen Plätzchen und Zuckerkringel zu, hatte fast täglich ein neues Rezept in petto, verbreitete lauter Vergnügen und Gelächter um sich her, und wessen Herz er nicht mit seinem Lächeln und seiner warmherzigen Wesensart schmolz, den erweichte er mit seinen raffinierten Köstlichkeiten. Nicht einmal der ganze vorweihnachtliche Terror schien ihm etwas anhaben zu können, obwohl dieser schon erkennbar über den Einkaufsmeilen der Stadt schwebte.

Schien. Ein schönes Wort.

„Vielen Dank, beehren Sie uns bald wieder!“

Mit großen Gesten verabschiedete Fye die alte Dame, die soeben ihre Rechnung bezahlt hatte, bevor er noch er den kleinen Bengel abfertigte, Sahnekaramellen herbeischaffte und zuguterletzt in die Hocke ging, um den enormen Stapel an benutztem Kaffeegeschirr hochzuwuchten, der sich im Laufe des Morgens bereits in der Ablage neben der Tür angesammelt hatte.

Unter einigem Geklapper und Ächzen balancierte er ihn Richtung Küche.

Weg von den Leuten.

Das Tablett fiel, bevor er den Geschirrberg überhaupt ganz abladen konnte.

Das Lächeln stürzte ihm aus dem Gesicht wie ein Sahnehäubchen von einem klebrig süßen Kuchen, ohne dass er in der Lage war, etwas dagegen zu tun.

Mit einem hilflosen Laut sank der Blondling vorneüber und schlang beide Arme um seinen Bauch. Es wurde ihm sterbenselend im Leibe, eine eisige Gänsehaut überrieselte seinen blutleeren Rücken und kalter Schweiß bildete sich auf seiner blassen, übernächtigten Stirn, während er wie von Sinnen nach Luft rang, um den plötzlichen Brechreiz zu bezwingen. Er schaffte es gerade noch, sich auf einen Stuhl fallen zu lassen, bevor die Krämpfe begannen.

Ich kann nicht mehr.

Gequält versuchte er wieder aufzustehen, um sich ans Geschirrspülen zu machen, den Unrat auf dem Boden zu beseitigen, oder zumindest zurück in den Laden zu gehen, doch seine Arme und Beine zitterten wie Götterspeise.

Mit einem unterdrückten Seufzen ließ sich der junge Mann in dem Stuhl nach hinten sinken und schloss die Augen.

Falls er jetzt tatsächlich zusammenklappen sollte, konnte er es bei seinem Arzt immerhin noch auf Stress und soziale Spannungen schieben. So gesehen wäre das nicht einmal gelogen. Es war nicht gerade ein Freudentanz gewesen, nach der Rückkehr aus der Stadt das Haus als halbes Schlachtfeld und Sakura als heulendes Elend auf dem Sofa vorzufinden, nur um dann wenige Momente später von einem hochneurotischen Polizeibeamten fast an die Wand gedrückt zu werden.

Er konnte sich kaum erinnern, wann es das letzte Mal unter ihrem Dach einen derartigen Krach gesetzt hatte.

„Mr. Flückiger, kraft meines Amtes als leitender Kommissar von Kingstonville sehe ich mich gezwungen, Ihr Haus als kriminalistischen Stützpunkt zu nutzen!“

Was hätte er schon tun können?

Rebellieren? Auf seine Rechte verweisen?

Vermutlich hätte beides keinen Erfolg nach sich gezogen. Wie ein resistentes Bakterium hatte Kinomoto so lange gebohrt, ihn mit Fragen an die Wand gedrängt und nachgehakt, bis er das bisschen an Widerstandswillen, das Fye noch hätte aufbringen können, gänzlich aus ihm herausgepresst hatte.

Wäre es nach Kurogane gegangen, so hätte er den Kommissar wahrscheinlich noch am selben Abend mitsamt seinen Kollegen achtkantig wieder rausgeworfen- im besten Falle. Beide, sowohl Kinomoto als auch er, schienen sich noch am selben Abend unter der Hand den Krieg erklärt zu haben, ja, hatten gewirkt, als wären sie jederzeit bereit, übereinander herzufallen und sich sinnlos ineinander zu verbeißen wie zwei tollwütige Wölfe. Erst, als Sakura sich fast die Augen aus dem Kopf geheult hatte, hatten sie aufgehört, sich anzubrüllen.

Und seitdem?

Sakura und Shaolan schienen es plötzlich vorzuziehen, sich zur Nacht bei Ryo einzuquartieren, Kinomoto und seine Handlanger hatten sich sofort wieder zur Arbeit aufgemacht, Yuko meldete sich nicht und Eishaki war und blieb wie vom Erdboden verschluckt.

Ruhe nach dem Sturm.

Genau genommen kam er mit dieser Funkstille besser zurecht, als er es sich eingestehen wollte – es war nicht so, dass er nicht auch schon vorher ab und an Streit mit einem seiner Mitbewohner gehabt hätte, auch wenn er das stets tunlichst zu vermeiden versuchte – doch…

Doch dass selbst Kurogane seit jenem Abend kein Wort mehr mit ihm sprach, würde ihn über kurz oder lang noch irre machen.

Jedesmal, wenn sich im Haus zwangsläufig ihre Wege gekreuzt hatten, war es gleich abgelaufen. Ein fragender Blick – keine Antwort. Keine Begrüßung. Kein Heywiegehtsdir.

Kein. Einziges. Wort.

Es waren Momente gewesen, da hätte er sich am liebsten auf ihn gestürzt und ihm die Lippen aus dem Gesicht gerissen, um ihnen endlich einen Satz zu entlocken, sei es ein Lob, eine Kritik, eine Beschimpfung- Herrgott, irgendetwas!- wäre da nicht diese Angst vor Kinomoto gewesen.

Und jetzt, was sollte jetzt geschehen? Wieso konnte nicht einfach alles so bleiben, wie es bisher gewesen war? Wieso konnte man sie nicht endlich in Ruhe lassen?

Und was war, wenn Kurogane ihn jetzt hasste?

Gequält spürte Fye, wie ihm über diesem Gedanken die Tränen kommen wollten.

Ich will sterben.

Eine plötzliche Bewegung aus dem Augenwinkel ließ ihn erschrocken aus seinen verworrenen Gedanken hochfahren.

„Na, Herr Zuckersüß? Ausgeschauspielert?“

Hastig versteckte der Blondling seine zitternden Hände unter seiner Schürze und warf dem unerwarteten Eindringling ein strahlendes Lächeln über die Schulter zu.

„Ah, sieh an? Hochwürden bequemt sich also endlich wieder dazu, die Sterblichen zur Kenntnis zu nehmen? Also, dass ich das noch erleben würde, hätte ich nie-…“

„Halt dein Maul.“

Fye erblasste. Das Lächeln rutschte ihm vom Gesicht, noch bevor er daran denken konnte, es festzuhalten.

In Kuroganes Augen flackerte es verächtlich auf, als er sich von der Wand des Durchgangs zwischen Küche und Verkaufsraum löste, an der er bisher gelehnt hatte, und die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloss schmiss. Das Tablett am Boden fegte er kurzerhand mit einem Fußtritt zur Seite, bevor er sich seinem jüngeren Mitbewohner gegenüber an die Spüle lehnte.

Das Schweigen zwischen ihnen trieb Eiszapfen.

„Also schön, darf ich erfahren, was das hier werden soll?“, fand der junge Mann schließlich seine Stimme wieder, „Ein Kreuzverhör? Bekomme ich jetzt das Protokoll, nachdem du vier Stunden lang hier herumgehockt bist und mir Löcher in den Rücken geglotzt hast?“

Ungerührt verschränkte der Killer die Arme vor der Brust.

„Ich sitze so lange in diesem Café rum, wie ich das will.“

„Ach, ist das so? Und du meinst, dass das unbedingt nötig ist?“

Der Schwarzhaarige musterte ihn abschätzig.

„Wenn ich mir so ansehe, in was für einem Zustand du dich befindest, nur weil du wieder zu bockig bist, dich mal auszuruhen, dann ist es das wohl.“

Fyes Wangen erglühten vor Scham. Das magmarote Augenpaar bohrte sich so nachdrücklich in das Seine, dass er den Blick abwenden musste.

„Ich denke ja wohl, dass das meine Sache ist!“, gab er erbost zurück, „Ich muss arbeiten, und ich kann es nicht brauchen, dass du mir dabei die ganze Zeit im Nacken sitzt! Immerhin ist übermorgen Heiligabend! Ich frage mich nur, ob du-…“

„Du fragst dich?“, unterbrach Kurogane ihn schroff, „Willst du wissen, was ich mich frage? Ich frage mich, wie der Laden hier weiter laufen soll, wenn Herr Zuckersüß plötzlich den Geist aufgibt!“

„Nenn mich nicht Zuckersüß“, fauchte der Blonde gereizt.

„Was denn? Willst du denn nicht genau das sein? Jedermanns Liebling. Friede, Freude, Eierkuchen. Darauf stehst du doch, hab ich recht?“

Mit zusammengeknirschten Zähnen hielt Fye den Blick abgewendet. Kuroganes gehässiger Tonfall schnürte ihm die Kehle zu.

„Wenn du wüsstest“, murmelte er heiser.

„So so, wenn ich wüsste?“, erwiderte sein Mitbewohner hart, „Alles was ich weiß ist, dass du mal wieder ein paar saftige Ohrfeigen nötig hättest, um auf den Boden der Tatsachen zurück zu kommen!“

Der junge Mann schluckte mühsam. Ein bitterer Geschmack erfüllte seinen Mund.

„Aber-… aber, warum-…“

„Warum?!“, wiederholte der Killer fassungslos, „Verdammt nochmal, ist dir überhaupt klar, was du in den letzten Tagen alles verbockt hast?!“

Die Worte versetzten Fye einen kleinen, zornigen Stich.

Wieso hatte er sich das nicht gleich denken können? Kurogane war noch immer wütend auf ihn, weil er Kinomoto und dessen Kollegen nicht den Zugang zu ihrem Haus verweigert hatte, und jetzt, nach fehlgeschlagener Schweigestrafe, trachtete es ihn offenbar danach, ihn dafür fertig zu machen.

„Muss das jetzt unbedingt noch sein, Kurogane?“, erkundigte er sich tonlos, „Glaubst du nicht, dass es für eine Gardinenpredigt jetzt etwas spät ist? Wenn es dir nicht passt, dass ich mich dafür entschieden habe, Kinomoto gewähren zu lassen, hättest du den Mund vielleicht ein wenig eher aufbringen sollen, anstatt mich zwei Tage lang nur anzuglotzen wie ein Auto!“

Die magmaroten Augen verengten sich gefährlich.

„Ich an deiner Stelle wäre jetzt sehr vorsichtig, was ich sage.“

„Ach, an deiner Stelle also? Was hätte ich denn dann an deiner Stelle tun sollen?“

„Das fragst du noch?!“, blaffte der Schwarzhaarige, offenbar schien er sich keine Mühe geben zu wollen, sich im Zaum zu halten, „Dieser Kerl taucht einfach mit seinen Hintermännern auf unserer Hausschwelle auf und gibt keine Ruhe, bis er sich bei uns einnisten darf! Hättest du ihn nicht wieder rausschmeißen können?! Jeder andere Mensch mit ein bisschen mehr Grütze im Hirn hätte diese verfluchte Made dorthin geschickt, wo der Pfeffer wächst!!“

Fassungslos starrte Fye sein älteres Gegenüber an.

„Sag mal, weißt-… weißt du eigentlich, was du da gerade redest?!“, stieß er wutentbrannt hervor, „Hast du immer noch nicht kapiert, worum es mir geht?! Es geht hier nicht um die Tatsache, dass Kinomoto leitender Kommissar von Kingstonville ist! Das ist völlig irrelevant!“

„ACH JA?!!“

„Ja!! Von mir aus kann Kinomoto ein Bulle, der Weihnachtsmann, Rockefeller oder sonstwer sein, es interessiert mich einen Dreck! Das Entscheidende an der Sache ist, dass Kinomoto Sakura-chans Bruder ist!“

Keine Antwort. Der Gesichtsausdruck des Killers war nicht zu entschlüsseln.

Aus irgendeinem Grund reizte Fye das noch mehr.

„Du hast es immer noch nicht begriffen, oder? Kannst du dir eigentlich vorstellen, wieviel Sakura-chan bereits wegen des Bruchs mit ihrem Bruder durchmachen musste?! Die beiden haben einen Neuanfang mehr als verdient! Sollen sie ihn jetzt, wo die Chance dafür da ist, etwa nicht haben? Du hast keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man noch im Kindesalter seine Familie verliert und allein-…“

Er hatte einen sehr empfindlichen Nerv getroffen.

Noch bevor er seinen angefangenen Satz beenden konnte, hatte Kurogane ihn mit beiden Händen am Kragen gepackt und zu sich hochgerissen.

„Was sagst du da? Ich hab keine Ahnung?! Ich hab keine Ahnung?!!“, zischte er und versetzte seinem jüngeren Gegenüber einen harten Stoß vor die Brust, sodass dieser mit einem kläglichen Laut nach Luft schnappte, vor Schreck unfähig, sich zu wehren, „Soll ich dir die Fresse polieren?!“

Ohne auf eine Antwort zu warten warf er sein Opfer mit dem Rücken voran gegen die Wand und schloss die Hände um seinen Hals. Die Teller und Tassen tanzten in der Spüle. Fye würgte fassungslos und verkrampfte sich ebenso panisch wie erfolglos gegen den Griff dieser lieblosen Pranken. Eine fleckige Röte stieg in seinen blassen Wangen aufwärts, als er dem vor Wahnsinn brennenden Blick seines Weggefährten begegnete.

„K-kuro-…“

Statt einer Erwiderung schlug ihm der Killer ins Gesicht.

„Ich hab also keine Ahnung, was?!“, geiferte er und stieß ihn mit dem Hinterkopf voran hart gegen die Wand, „Sag es doch nochmal, ich glaube, ich habe dich nicht ganz verstanden!! Komm schon! SAG ES!!“

In den eisblauen Augen gefror das Entsetzen.

„Aber-… er soll-… Kinomoto soll eine-…“

Wieder ein Schlag ins Gesicht. Fester als der Vorhergehende.

„Kinomoto soll also eine Chance bekommen?! Und was mit uns?! Was ist mit unserer verdammten Chance?!! Sollen wir etwa schon wieder darauf verzichten, nur damit dieser Idiot seinen Willen bekommt?! Ich will nicht mehr verzichten!! Ich hab mein ganzes Leben lang verzichtet!!“

Fye spürte, wie ihm bei Kuroganes Gebrüll vor Wut die Tränen in die Augen schossen. Egal wie hysterisch er auch strampelte, er entkam seinem Griff nicht.

„Wieso willst du immer nur an dich selbst denken?!!“, schrie er verzweifelt zurück, „Warum denkst du nie an die anderen?! Wir müssen Rücksicht auf die anderen nehmen!!“

Der Schmerz explodierte weiß und brennend vor seinen Augen, als ihn ein dritter Hieb ins Gesicht traf. Der metallische Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus.

„Wenn wir nicht langsam mal auch auf uns selbst Rücksicht nehmen, sind wir bis Neujahr tot!! Dieser Neurotiker hat doch schon Blut geleckt, als er deinen richtigen Namen rausgekriegt hat, du Nullhirn!!“, brüllte ihn der Killer an, ohne über seine Worte nachzudenken, „Mach ruhig so weiter, vielleicht kriegst du es ja hin, uns allen im Knast Zellen reservieren zu lassen! Ich will bloß wissen, was mich wieder geritten hat, als ich zu euch gekommen bin!! Du hast mir rein gar nichts genutzt!!“

Keine Antwort.

Der Blondling erstarrte wie von einem Blitzschlag getroffen.

„W-… was…?“, krächzte er schwach.

„Sieh einer an, taub bist du auch noch?! Du bist-…“

„… völlig unfähig. Du kannst gar nichts.“

„Manchmal frage ich mich ernstlich, ob du überhaupt zu rationalem Denken fähig bist, junger Mann. Du enttäuschst deine Mutter und mich.“

„Bei deinem Anblick weiß ich nicht, ob ich heulen oder kotzen soll.“

Es begann von vorne. Alles begann von vorne.

Angst, kälter als Eis, schloss sein Herz in einen eisernen Würgegriff.

„… hier derjenige, der gar nichts begriffen hat“, hörte er wie von weiter Ferne die Stimme des Killers verschwommen an sein Ohr dringen, „Verstehst du nicht, was du getan hast? Du hast uns auf dem Silbertablett serviert. Kinomoto gibt einen Dreck auf diese Chance. Er will mich finden und hinter Gitter bringen. Du hast ihn auf die Spur angesetzt, und jetzt wird er kein Halten kennen, bis er alles ausgebuddelt hat, was ihr über die Jahre hinweg unter den Teppich gekehrt habt.“

Keine Reaktion.

Fye stieß einen winzigen, heiseren Kehllaut aus, als sich der quälende Verdacht zur Einsicht verhärtete. Und dann verstand er.

Kinomoto würde nicht wie Sakuras Bruder handeln. Er hatte nie beabsichtigt, so zu handeln. Er würde wie der oberste Kommissar von Kingstonville handeln.

E würde Shaolan Desmond auf den Hals hetzen, er würde Kurogane entlarven und wegen wiederholten Mordes lebenslänglich verhaften, und ihn würde er in eine Anstalt für Gemeingefährliche stecken lassen, oder ihn auf die Straße werfen.

Dorthin, wo er all das zurückgelassen hatte, was er für immer losgeworden zu sein gehofft hatte- und das ihn nun wieder einholen würde.

Genau wie letztes Mal. Genau wie jedesmal.

„Dieser Moment wird wiederkommen. Du wirst jemanden verlieren, dessen Tod du selbst verschuldet hast, und du wirst nichts dagegen tun können... es ist unvermeidlich, Fye…“

Er hatte ihr Schicksal besiegelt. Sie waren verloren.

„Sag mal, hörst du mir überhaupt zu, häh?!“, zischte Kurogane soeben, da der Blondling ihn immer noch nicht ansah, und wollte schon zum nächsten Schlag ausholen- als er plötzlich bemerkte, dass Fye lächelte.

Klein. Verwackelt.

„Was grinst du mich so-…“

„Ich hasse dich“, wisperte der Blondling leise.

Seine Worte stürzten wie Steine in das plötzliche Schweigen.

Ja, das war es. So musste es wohl sein.

Er mochte Kurogane so sehr, dass er ihn am Ende nur noch hassen konnte, wieso wurde ihm das erst jetzt klar?

Anders ging es gar nicht. Es würde niemals anders gehen.

Sein Herz hämmerte vor Angst und Schmerz wie besessen gegen seine Rippen, es bebte und schwankte wie ein Gefäß, das jeden Moment zu zersplittern drohte, doch all diese wirren Eindrücke wurden vollkommen von Kuroganes Gesichtszügen überspült, die nur wenige Handspannen über den Seinigen schwebten.

Versteinert.

Als der Killer nach zwei endlosen Minuten endlich seine Sprache wieder fand, klang seine Stimme seltsam tonlos.

„… So ist das also?“

„Ja.“

Wortlos starrte der Kurogane ihn an.

Eine Maske starrte zurück.

Dieses Lächeln, so klein und windschief, als hätte es ihm irgendjemand auf das Gesicht gemalt. Müde, tränenverschleierte Augen, blau wie das Glas in den Fenstern der Theaterhäuser.

„Du bist erbärmlich, Fye“, hörte sich der Schwarzhaarige mit rauer Stimme sagen, „Im Ernst. Du bist ein Witz.“

Dann ließ er ihn ohne ein weiteres Wort los, wandte sich um und ging.

Kein Ruf, kein Wort, kein Laut folgte ihm in das belebte Café nach.

Seine schweren Schritte verloren sich zwischen dem Geklapper der Tassen und Teller, dem Gelächter der Kinder und den Gesprächen der Erwachsenen.

Mit einem Krachen fiel die Tür ins Schloss.

Und Fye stand da und weinte.
 

Der Kaffee schmeckte ungewöhnlich scheußlich.

Noch scheußlicher als sonst. Und das wollte etwas heißen.

Stirnrunzelnd musterte Kodai-sensei die lauwarme, faulholzfarbene Brühe in seiner Tasse. Seit zwanzig Jahren war er jetzt Lehrer an dieser Schule, und, bei Gott – er wusste, was es bedeutete, Schmerzen zu haben. Aber das hier ging zu weit.

„Seit wann wurde unserer Abteilung eigentlich der Bohnenkaffee gestrichen?“, erkundigte er sich bei einem vorbeikommenden Kollegen. Wenigstens musste er nicht brüllen, da im Moment Unterricht war, doch bedauerlicherweise kam sein Mitstreiter nicht mehr zum Antworten. Ein großer, schlanker Jemand mit kurzen, kastanienbraunen Haaren fegte wie ein geölter Blitz um die Ecke und rannte ihn schier über den Haufen.

„W-… was zum-… ? Li-kun??“

Der Teenager antwortete nicht mehr. Er rannte einfach blindlings weiter- und das nicht ohne Grund, denn kaum, dass er um die Ecke gebogen war, polterte ein zweiter Jemand vorbei, ein großer, hagerer Mann mit einem kantigen, rostrot bestoppelten Gesicht.

„Shaolan!! Komm sofort zurück!!“

Wieder keine Antwort. Atemlos schlitterte der Junge um eine weitere Ecke, die ihn einen weiteren Schulkorridor führte. Panisch sah er sich nach einem Unterschlupf um, das Keifen seines Verfolgers in den Ohren.

Nur Türen, Türen, nichts als Türen.

„SHAOLAN!! Verdammt nochmal, komm endlich her!!“

„Mr.Blake, was soll-…“

„…noch während der Unterrichtszeit, das verbitte ich mir!!“

„Li-kun!! Wieso befinden Sie sich nicht in Ihrem Klassenzimmer?!“

Zähnefletschend ignorierte der Junge das sich stetig nähernde Gebrüll und stürzte sich einfach auf die erste Tür, die sich ihm anbot. Keine zwei Herzschläge später fand er sich auch schon in einem heillosen Chaos aus Eimern, Wischbesen, nach Lysol stinkenden Lappen und Kisten voller Reinigungsmittel wieder.

Die Abstellkammer.

Sofort ergriff er die sich bietende Gelegenheit beim Schopf, verriegelte die schwere Tür von innen, schob zwei Putzwagen vor und machte sich hinter den Schränken mit den Reinigungsmitteln so klein wie möglich. Gerade noch rechtzeitig, bevor Desmond in Begleitung von Kodai-sensei und dessen Kollegen völlig außer Atem um die Ecke gebogen kam. Er keuchte wie ein sexuell erregter Zuchtbulle und stierte fast ebenso wild aus den Augen, als er direkt neben der Abstellkammer zum Stehen kam und sich nach seinem ungehorsamen Pflegesohn umsah.

„Shaolan!!“

Hinter dem Schrank hielt Shaolan angstvoll die Luft an, als ob Desmond seinen Atem wittern konnte, obwohl ihm vor Luftmangel fast das Herz explodierte.

„SHAOLAN!! Zum Teufel nochmal, wenn du jetzt nicht auf der Stelle-… !!“

Die einzige Reaktion, die sein Auswurf bewirkte, war ein verächtliches Zähneknirschen.

Die Lehrer schienen indessen von Desmonds Erregung etwas überfordert.

„Nun beruhigen Sie sich doch, Mr.Blake, ich bitte Sie-…“

„Ich beruhige mich erst, wenn ich diesen verfluchten Taugenichts gefunden habe!“, bellte der Rotbart sofort gereizt zurück, „Und jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit der alten Masche von wegen er würde mich anrufen!“

„Ich bin mir aber sicher, dass er das wird!“, versuchte ihn der andere vergeblich zu beschwichtigen, „Erstens ist er ein ehrlicher Junge, und zweitens-…“

„Ehrlicher Junge?!! Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?! Eins kann ich Ihnen versichern, dieser Rotzlöffel ist das punktgenaue Gegenteil von dem, was in Ihren Schulakten steht!! Ich weiß alles über ihn! Alles, kapiert?!“

Shaolan musste die beiden bedauernswerten Lehrkräfte nicht einmal sehen, um ihren Widerwillen spüren zu können, sich mit Desmond unterhalten zu müssen.

„Und das wäre, wenn man fragen darf?“

„Ich weiß, dass er zusammen mit Geistesschwachen und Gemeingefährlichen unter einem Dach wohnt! Ich weiß, dass er jeden Tag mit ihnen zusammensteckt! Er lässt sich mit dem Abschaum dieser Gesellschaft ein, und wie Sie sicher wissen, färbt das mit der Zeit ab. Ich will ihn finden, bevor er noch völlig unter diesen Abartigen verlottert.“

Halb unbewusst spürte Shaolan, dass er mit jedem neuen Wort, das sein Pflegevater gegen die Wände bellte, die Fäuste fester ballte, bis sich seine Fingernägel tief in das Fleisch seiner Handflächen gruben. Sein leerer Blick bohrte Löcher in die Wand.

Ich hasse dich. Ich hasse dich. Ich hasse dich.

Die beiden Lehrer schienen nur schwerlich ihre Sprache wieder zu finden.

„Aber-… aber Mr.Blake, wir können Ihnen versichern, dass Li-kun in keinster Weise-…“

„Versichern! Versichern! Darauf gebe ich nichts! Ich will, dass Sie ihn sofort abfangen, wenn Sie ihn das nächste Mal hier sehen, und ihn dann zu mir bringen!!“

„Mr.Blake, hören Sie-… Li-kun ist zwar noch nicht volljährig, aber er hat wie jeder andere Schüler hier ein Recht auf freie Meinungsäußerung, und deswe--…“

„Der Junge leidet unter Realitätsverlust! Er hat wohl geglaubt, er könnte sich mit seinen ulkigen Freunden ein Utopia oder sowas in der Richtung aufbauen!! Es wird so langsam mal Zeit, dass er lernt, wie es wirklich dort draußen in der Welt zugeht!! Und dort tanzen nicht alle glücklich miteinander Ringelreihen!!“

„Mr. Blake! Mäßigen Sie sich doch, um Gotteswillen! Sie haben kein Recht, einfach hier herein zu kommen und alles nach Li-kun umkrempeln zu wollen! Ich-… ich warne Sie! Wir können Sie jederzeit anzeigen!“

Ein unwilliges Knurren.

„Hören Sie mir gut zu. Ich werde mich nicht nochmal mit Ausreden abspeisen lassen. Entweder Sie sorgen Sie dafür, dass Sie den Jungen zwischen die Finger bekommen, oder ich werde meinerseits meinen Anwalt hinzuziehen. Und ich glaube nicht, dass das dem Ruf dieser Schule sonderlich gut tun würde.“

Die beiden zögerten. Man konnte die Rädchen hinter ihrer Stirn rotieren hören.

„Also-… also schön, wir werden uns darum kümmern.“

„Ich werde Sie beim Wort nehmen.“

„Gern. Aber wenn Sie nun bitte die Liebenswürdigkeit besäßen, das Gebäude zu verlassen? Wir melden uns, sobald wir mit Li-kun gesprochen haben!“

„Das hoffe ich für Sie.“

Schritte, die sich entfernten. Erst von einem, dann von zwei weiteren Paar Füßen.

Gequält schloss Shaolan die Augen und ließ sich mit dem Rücken voran gegen die lysolstinkende Wand sinken. Seine Fingernägel in seinen Handflächen schmerzten wie glühende Kohlen.

Wieso war er jetzt von seinen Lehrern enttäuscht? Was hätte er denn anderes von ihnen erwarten können? Dass sie ihn in Schutz nahmen, verteidigten, sogar angesichts eines drohenden Prozesses? Eindeutig nein. Lehrer neigten aus Berufsgründen dazu, sich stets vor der größeren Macht zu verneigen, und diese größere Macht war in diesem Fall zweifellos Desmond.

Er würde immer die größere Macht sein.

Ein plötzliches Piepen ließ den Teenager erschrocken aus seinen Gedanken hochfahren. Es kam aus seiner Hosentasche. Seufzend wühlte er sein antikes Handy aus den Tiefen seiner Jeans empor.

„Hallo?“

„Shaolan! Alter! Alles klar bei dir?“

Ganz verbergen konnte der Junge seine Überraschung ja doch nicht.

„… Ryo?“

„Erraten, Mann. Und, bist du ihm entwischt?“

„Sonst würde ich jetzt wohl kaum mit dir reden, oder?“

„Okay, okay, ‘tschuldigung, blöde Frage. Ich war nur ’n bisschen überfordert, als du auf dem Weg hierher plötzlich einfach weggerannt bist. Du riechst den Hund wohl schon auf zehn Meilen gegen den Wind, was?“

Shaolan seufzte lautlos. Egal, ob Lehrer ihn anbrüllten, wild gewordene Zootiere das Land verwüsteten oder Killermeteoriten aus dem All einschlugen, Ryo hatte stets einen passenden Spruch auf der Pfanne. Ob das seine Umwelt auch ertrug, stand allerdings auf einem anderen Blatt.

„Hör schon auf. Wo bist du überhaupt gerade?“

„Das wollte ich dich gerade fragen, Mann. Ich hab mich gerade aus Französisch losgeeist. Hab gesagt, dir wäre schlecht und ich würde mal nach dir sehen.“

Diesmal seufzte der Teenager wirklich.

„Eines Tages werden dich deine ganzen Ausreden noch richtig tief in den Mist reiten, hab ich dir das schon gesagt?“

„Ja, so an die zwanzigtausendmal“, entgegnete Ryo ernsthaft, „Was hätte ich Miss Garfield denn auftischen sollen, die Wahrheit etwa? Die hätte vor Schreck doch höchstens ihre Monatsbinde verloren.“

„Witzbold.“

„Tatsache. Also, jetzt sag schon, wo bist du?“

„In der Abstellkammer neben dem Bio-Fachraum“, erwiderte Shaolan tonlos, „Hör zu,Ryo, du hast einen Monsterärger am Hals, wenn Miss Garfield rausfindet, was wirklich los ist. Du riskierst schon mit diesem Anruf viel zu viel. Geh lieber in den Unterricht zurück, mir-… mir geht’s gut, ich komm schon noch nach.“

Er konnte Ryos Stirnrunzeln fast schon durch die Leitung hindurch sehen.

„Aaaahah, klar. Immer nur so weiter Baby, ich steh ja so drauf, wenn du mich anlügst.“

„Mir fehlt aber nichts! Ich mache keine Witze, Ryo!“

„Whooow!! Uh!! Baby!!“

Vollends am Ende seiner Nerven starrte Shaolan die Hörmuschel an.

„Hör endlich auf mit dem Quatsch! Warum rufst du überhaupt an?!“

„Mann, weil ich dachte, dass dir was an meiner Gesundheit liegt.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Das hat insofern damit zu tun, als dass Sakura mir die Augen auskratzen wird, wenn ich ihr keine guten Neuigkeiten von ihrem Süßen bringe. Sie ist halb krank vor Sorge, und ich Idiot sage noch, klar, Ryo-kun erledigt das, aber du ziehst es ja offenbar vor, hier in der Abstellkammer zu sitzen und Mister Verratzt-und-verraten zu spielen, bis du alt und grau bist. Da werde ich wohl auf meine sexy Pupillen verzichten können…“

Die Suada seines Kumpels endete in einem tiefen Seufzen.

„… Und außerdem dachte ich noch, dass wir sowas wie Freunde wären, Mann. Was ist bei euch denn bloß los? Ist jemand in eurer Nachbarschaft gestorben?“

Nun war es wieder an Shaolan, zu seufzen.

Herrgott, was sollte er bloß auf solch eine Frage antworten? Dass er sich seit ein paar Tagen wie der letzte Heinz auf Erden fühlte? Dass er Desmond am liebsten irgendwo tief unter der Erde gewusst hätte?

Er kam selten bis an den Punkt, an dem er sich wünschte, jemanden tot zu sehen, doch jedesmal, wenn Desmond über Sakura und seine Freunde als ‚Abartige‘ sprach, wusste er, dass dieser Punkt für ihn nicht unerreichbar war.

Es musste ein mächtiges Gefühl sein, jemanden umzubringen. Berauschend. Beängstigend.

„He! Shaolan!“, rüttelte ihn Ryos Stimme erneut wach, „Erde an Shaolan, bitte kommen! Mann, wenn du nicht darüber reden willst, sag es doch einfach!“

„Das ist nun mal eine verzwickte Geschichte, Ryo“, erwiderte der Junge kraftlos, „Aber fest steht, dass es größtenteils mit Sakuras Bruder zu tun hat…“

„Ihr Bruder? Ist das nicht dieser Superbulle?“

Ryo klang ziemlich baff. Kein Wunder eigentlich, denn Sakura hatte nie sonderlichen Wert darauf gelegt, ihre Streitigkeiten mit Toya vor ihm breit zu treten- er hatte ihre Verwandtschaft lediglich per Zeitung herausgefunden.

„Ja. Er ist letzten Sonntag einfach auf der Szene erschienen und hat sich nicht wegbuhen lassen, bis er sich bei uns eingenistet hatte.“

„… Was?! Wohnt der jetzt etwa bei euch?“

„Ja. Mann. Eigentlich habe ich gar nichts gegen ihn, aber-… aber eigentlich würde ich ihn am liebsten umbringen.“

Wie idiotisch sich das anhörte. Himmel, seine Gedanken waren wohl der endgültige Beweis dafür, dass in seinem Leben gerade alles den Bach runterging.

„… Na großartig. Und was sagen deine Herren und Damen Mitbewohner dazu?“

„Na was wohl? Sie sind nicht gerade zufrieden mit der Situation.“

Das war noch sehr beschönigt ausgedrückt. Seit sich Sakuras Bruder am vergangenen Sonntagabend kompromisslos bei ihnen eingenistet hatte, waren die Dinge völlig aus dem Ruder gelaufen. Entweder wurde wegen den lächerlichsten Kleinigkeiten stundenlang gestritten, oder man schwieg sich so lange an, bis einem die Stille fast das Hirn zum Sieden brachte.

„Verstehe. Wollt ihr dann heute Nacht nochmal bei mir unterschlüpfen?“

Nachdenklich senkte Shaolan den Blick. Es war zwar vielleicht nicht die vernünftigste Entscheidung gewesen, einfach nachts abzuhauen und sich zum Schlafen bei Ryo zu verkriechen – und vor allem war es auch anstrengend, da sein Kumpel ein leidenschaftlicher Hacker war und oft noch bis vier Uhr morgens vor dem Monitor saß – aber vorerst war es wohl die einzige Lösung.

„Ich weiß nicht. Vermutlich schon. Wenn wir’s uns noch anders überlegen, rufe ich dich einfach an. Ach, und übrigens würde ich dir empfehlen, für die nächste Zeit mit dem Hacken aufzuhören.“

„Häh? Wieso das denn?“

„Na, wegen Sakuras Bruder. Der gehört dem Typus Blutsauger an. Ich hab so das Gefühl, dass er alles aussaugt, was ihm zu nahe kommt, wenn du verstehst.“

„Ich hatte nicht vor, den City Deposit oder so abzuzocken, Mann.“

„Ja, aber nach der Sache mit den Daten der Schulakten damals…“

„Okay, okay, ich denke dran.“

Sein langjähriger Kumpel seufzte hörbar, was sich über die Leitung anhörte wie ein verstärktes statisches Rauschen.

„Mann. Klingt nach einer verdammt üblen Geschichte.“

Shaolan ächzte unterdrückt. Wenn Ryo von ‚verdammt üblen Geschichten‘ sprach, konnte man sich sicher sein, dass einem das Leben gründlich den Mittelfinger gezeigt hatte.

„Ihr sollt da nicht auch noch mit reingezogen werden. Wer Desmond zwischen die Griffel gerät, hat schon verspielt. Ich muss ihm nur solange entwischen, bis ich volljährig bin. Dann verliert er sein Recht auf die Wertpapiere meiner Eltern.“

„Das sind noch fast zwei Jahre, Mann.“

„Ich weiß“, erwiderte der Junge kleinlaut.

Verdammt. Zwei Jahre konnten so lang sein.

Doch wenn er jetzt schon volljährig gewesen wäre, hätte das irgendetwas zu der Gesamtsituation beigetragen? Es schien, als hätte sich die kleine Familie, die sie über zwei Jahre gemeinsam aufgebaut hatten, mit einem Schlag vollkommen entzweit, und Shaolan spürte, wie sehr diese Einsicht nicht nur ihm, sondern auch seiner Freundin zu schaffen machte. Es häuften sich die Momente, da er sich einfach nur die halb vergessenen Tage zurückwünschte, in denen er noch zusammen mit Sakura und Fye ihr Haus eingerichtet, miteinander gelacht und stundenlang halb im Scherz, halb im Ernst über dieses Ding namens Zukunft geredet hatte.

Dieses Gefühl war es, diese simple und gleichzeitig so unbändige Freude über das unverhoffte Glück, alles hinter sich zu lassen und noch einmal ganz von vorne anfangen zu dürfen – und das nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen, denen es ebenso dreckig ergangen war wie ihm.

All das schien mit einem Mal so fern.

„Sorry, Mann“, meinte Ryo bedrückt.

„Reg dich ab“, antwortete Shaolan tonlos, „Nur noch zwei Jahre, und Desmond kann baden gehen. Und zwar in dem Alkohol, in dem er sich ersäufen wird.“

„Mann, wer von uns beiden war nochmal der mit den blöden Witzen?“

Gegen seinen Willen spürte Shaolan, wie ihm statt einer Antwort ein verirrtes kleines Lachen aus dem Magen in die Kehle stieg.

„Schon gut, die blöden Witze gehen an dich.“

„Verbindlichsten Dank. Ist nur zu deinem Besten, Mann.“

„Ich krieg das schon hin.“

„Also gut, was soll ich deinem Mäuschen dann sagen? Denk an meine Augen, Mann.“

Der Junge überlegte für eine Weile.

„Sag… sag ihr, dass alles okay ist.“

„Damit wird sie sich nicht zufrieden geben, und das weißt du auch.“

„Also schön, sag ihr, ich bin ihm entwischt, er hat nichts rausgekriegt, und ich bin gleich wieder da. Und heute Mittag holen wir Claire und Kyle ab.“

„Was, ziehen die etwa auch ein? Was wird das bei euch, ‘ne Kuschelparty?“

„Schön wär’s. Wieviel Geld hast du jetzt eigentlich schon wegtelefoniert?“

„Sechs Dollar. Das kann ich mir aber wieder vom City Deposit zurückzocken.“

„Ryo!!“

„‘tschuldigung, kleiner Scherz am Rande. So zur Auflockerung der Situation.“

Shaolan rollte die Augen, unschlüssig, ob er ächzen oder grinsen sollte.

„Weißt du noch, was du sagen musst?“

„Alles okay, du bist entwischt, nichts rausgekommen, du bist gleich wieder da, Vergrößerung der Wohngemeinschaft, winkewinke, Punkt.“

„Geht doch. Dann sehen wir uns später.“

„Alles klar. Ach, und, ehh-… Shaolan?“

„Ja?“

Ryo schien ein wenig unsicher, was er noch sagen wollte.

„… Ähm. Bloß nicht emo werden, kapiert?“

Gegen seinen Willen musste der Teenager lächeln.

„Okay.“

Es klickte in der Leitung. Nachdenklich verstaute Shaolan das Handy wieder in der Tasche. Doch bevor er abermals in Gedanken versinken konnte, rappelte er sich schnell hoch, klopfte sich den Staub von der Hose und schob schließlich die Putzwagen an ihren alten Platz, bevor er die Tür leise aufzog und sich auf dem Korridor nach allen Seiten umsah. Keine Menschenseele in Sicht.

Der Junge schluckte schwer, während er auf den Gang trat und die Tür wieder hinter sich schloss.

Vielleicht war es ja so, wie Ryo sagte. Vielleicht war die Angelegenheit mit Desmond wirklich nur halb so wild. Er musste ihm nur noch zwei Jahre lang entkommen, und dann hatte er es geschafft. Vielleicht mussten sie alle nur wieder nach vorne blicken, damit es weitergehen konnte.

Und Toya?

Sollte er doch bei ihnen rumsitzen und schnüffeln und spionieren, bis er schwarz wurde! Bei ihnen gab es doch nicht einmal etwas, was dieser Neurotiker hätte anprangern können!

Diese Gedanken waren es, die Shaolan endgültig beflügelten. Etwas zuversichtlicher gestimmt machte er sich auf den Rückweg ins Klassenzimmer.

Ja, wieso hatte er eigentlich nicht gleich daran gedacht?

Toya konnte ihnen nichts anhaben, auch wenn er monatelang Trichterohren und Schnüffelnüstern machte. Nicht das Geringste.

Sie waren doch keine Mörder oder so.
 

„Das sieht wirklich gut aus.“

„Wenn Sie meinen…“

„Allerdings, ich meine, mein Bester. Da haben Sie ausnahmsweise was richtig gemacht. Ich denke, Sie können im Amt bleiben. Mahlzeit!“

Ohne Zögern wickelte Johansen das stattliche, mit Gurken, Salat, Tomaten und Artischocken belegte Sandwich aus und biss hinein, dass es nur so schnalzte.

Yukito seufzte tief und musste sich zusammenreißen, um seinem Chef nicht die ganze Zeit beim Essen auf den Mund zu starren, eine nervöse Angewohnheit, die er schon in seiner frühesten Frischlingszeit als Pathologe angenommen hatte.

Sein Hintern fühlte sich seltsam festgefroren an. Naja, war wohl aber auch nicht weiter verwunderlich, wenn sie jetzt schon den halben Mittag auf der Eingangstreppe von Haus Nummer dreiunddreißig herumsaßen und auf einen Hoffnungsschimmer warteten, der sich entweder sehr viel Zeit lassen oder gleich gar nicht kommen würde.

„Verzeihen Sie mir meine Direktheit, Johansen, aber ich denke, wir haben im Moment größere Sorgen als unser leibliches Wohl, oder?“, meinte er schließlich.

Der hagere Gerichtsmediziner mit dem eisgrauen Backenbart rollte mit den Augen und gab es auf, in Ruhe sein bescheidenes Mittagessen verspeisen zu wollen.

„Mussten Sie mich ausgerechnet jetzt daran erinnern? Mit ‚Essen‘ habe ich stets ‚Wohlbefinden‘ assoziiert! Sie haben in den letzten Tagen mehr Weltanschauungen umgekrempelt als Leichen, Tsukishiro!“

„Glauben Sie mir, mit einer Leiche im Haus würde ich mich gleich wohler fühlen“, gab Yukito trocken zurück und fuhr sich lustlos durch das völlig windzerzauste Haar, „Aber dieser Pantoliano hat es ja als sinnvoller erachtet, die Polizei aus der Sache auszuschließen. So langsam funktioniert in dieser Stadt nichts mehr so, wie es eigentlich funktionieren sollte.“

„Nicht nur in dieser Stadt, mein Bester“, erwiderte Johansen gedankenvoll und nickte Richtung Straße. Mit einem unterdrückten Seufzen folgte Yukito seinem Blick. So wie es aussah, würde Toya wohl noch eine ganze Weile länger telefonieren, obwohl er jetzt schon seit über zwei Stunden damit beschäftigt gewesen war, in einem Fort auf dem Bürgersteig vor dem Haus auf- und abzutigern und dabei lautstark mit seinem Handy zu debattieren. Gedankenverloren lauschte der junge Pathologe den Wortfetzen, die der kalte Wind bis zu ihnen an die Hausschwelle herauftrug.

„… Doch, natürlich bin ich mir bewusst, dass du-… JA, ich weiß! Sag mal, für wie vernagelt hältst du mich eigentlich?! Natürlich hast du mir schon öfter einen Gefallen getan, aber-… he, jetzt komm mir bloß nicht wieder mit von wegen-…“

Johansen schüttelte nur den Kopf, während Yukito die Stirn runzelte.

„Ich wünschte, er würde endlich freiwillig darüber reden.“

„Lassen Sie’s fürs Erste lieber ruhen, wenn Sie als alter Mann sterben wollen“, antwortete sein älteres Gegenüber brüsk, „Der Gute steht auch schon so kurz vor dem Infarkt. So wie ich ihn kenne, hat er die Sache mit seiner Schwester noch am selben Abend wieder bereut.“

Oh ja, und wie er das hatte. Es hatte fast drei Stunden gedauert, ihn von den Akten wegzuzerren und ihn dazu zu überreden, endlich etwas zu Abend zu essen.

Wie müde seine Augen ausgesehen hatten.

„Naja, er war etwas… ab vom Schuss.“

„Ging’s Ihnen etwa anders?“

„Gute Frage“, gab Yukito nüchtern zurück, „Meine Mutter war nicht gerade erbaut, als ich ihr gesagt habe, dass ich für die nächsten Wochen vom Plan verschwinde.“

„Tja. Meine Frau wollte mich pfählen, aber zum Glück hatte sie ihre Brille gerade nicht auf.“

Die in den Wind gepfiffene Ironie verfehlte ellenlang ihr Ziel, da sein junger Handlanger immer noch geistesabwesend Richtung Straße starrte.

„Tsukishiro… lassen Sie ihm einfach die Ruhe, die er braucht, okay? Ich weiß, Sie machen sich Sorgen, aber die macht er sich wohl auch. Die macht sich doch jeder zurzeit… Jesus Maria, wie ich solche Gefühlsgeschichten hasse.“

Yukito gab keine Antwort.

Glaubte Toya etwa im Ernst, dass er ihm diese ‚Pflichtbewusster-Gesetzeshüter-Kingstonvilles‘-Masche abnahm? Er hatte doch Augen im Kopf! Als ob er es einfach wegstecken könnte, dass Sakura seit diesem verratzten Sonntagabend fast kein Wort mehr mit ihm sprach!

„Aber Sie sehen doch, dass er damit nicht allein klar kommt! Es überfordert ihn!“

Johansen stieß ein tiefes Seufzen aus, bevor er sein Sandwich zur Seite legte und seinen Gehilfen von der Seite musterte.

„Wollen Sie wissen, was ich denke? Ich denke nicht, dass es ihn überfordert. Er muss sich einfach nur wieder eingewöhnen.“

Yukito sah seinen Vorgesetzten fragend an.

„Woran gewöhnen?“

Der Pathologe hob nachdenklich die Augenbrauen und lehnte sich auf der Treppe zurück, bevor er wieder zu sprechen begann.

„Gute Frage. Vielleicht an die Situation, in der wir uns nun befinden. An die Menschen, mit denen wir nun in unmittelbarem Umgang stehen. Ja, vielleicht ist es gerade das. Haben Sie die Leute dieses Stadtteils schon einmal näher beobachtet, Tsukishiro? Dieses-… hmnh, es ist schwer in Worte zu fassen. Wärme trifft es vielleicht. Vertrauen. Auf jeden Fall verstehe ich nicht, warum diese Leute von der Stadtverwaltung als Verrückte und Hippies angesehen werden. Möglicherweise ist es ganz einfach die Art dieser Menschen, mit der wie uns vertraut machen müssen.“

Johansen grinste flüchtig, als er den ungläubigen Gesichtsausdruck des jungen Spundes bemerkte.

„Sie wirken überrascht, junger Freund.“

„Allerdings. Ich weiß nicht, was das alles soll. Sie reden, als wären wir böse schwarze Killerfische vom anderen Stern. Wir sind doch auch Menschen!“

Sein Vorgesetzter lächelte müde, ein Gesichtsausdruck, den der Brillenträger bei ihm noch so gut wie nie beobachtet hatte.

„Genau daran habe ich zu zweifeln angefangen, seit wir hier sind, Tsukishiro. Jetzt arbeite ich schon seit fast zwanzig Jahren als ‚Pathologe‘ in dieser Stadt. Und heute blicke ich zurück und frage mich, ob ich denn jemals mehr gewesen bin als das. Ich war öfter mit Toten als mit lebendigen Menschen zusammen, und jetzt spüre ich erst die Auswirkungen davon. Wenn man nicht oft genug mit lebendigen Menschen zusammenkommt, werden sie einem fremd.“

„Aber wir kommen doch mit lebendigen Menschen zusammen!“, wandte Yukito stirnrunzelnd ein, der aus dieser seltsamen Nachdenkerei seines Chefs nicht schlau wurde. Dieser schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht. Waren diese Personen, mit denen wir all die Jahre über zusammenkamen, Menschen? Oder waren sie ‚Kollegen‘, ‚Zeugen‘ und ‚Vorgesetzte‘? Es scheint mir jedenfalls so. Ich kenne kenne Kinomoto bis heute ebenfalls nur als ‚Kommissar Kinomoto‘. Aber wer weiß, vielleicht war es ja auch genau das, was er erreichen wollte- allen fremd zu bleiben.“

„Möglicherweise“, erwiderte sein junger Handlanger bedrückt – wer sollte das besser wissen als er? – , „Aber das ist doch noch kein Grund, einfach-…“

„Ich habe nicht vor, über Kinomoto zu urteilen, falls Sie das denken“, antwortete Johansen ruhig, „Ich habe kein Recht dazu. Denn mal ganz unter uns, sind wir denn besser? Wir sind drei schöne Witzfiguren, wenn Sie mich fragen. Die ulkigen Leutchen, die hier wohnen, sind uns in so mancher Hinsicht um eine ganze Nasenlänge voraus.“

„Vielleicht liegt das ja auch an den Menschen selbst.“

Der Mann mit dem Backenbart lachte gedankenverloren.

„Ja… ja, das kann auch sein. Immerhin ist der Homo Sapiens ein ziemlich eigenartiges Wesen, nicht wahr? Immer, wenn man in die Nähe eines Menschen kommt, muss man bereit sein, von ihnen verwirrt zu werden. Sie sind durchwachsen. Sie trauern, genießen und leiden, und vor allem tun sie in einem Fort unlogische Dinge. Über dem ehrgeizigen Ziel, den Mensch und sein Denken systematisch zu zerlegen und zu bändigen, sind schon ganze Generationen von Philosophen verzweifelt. Der Mensch durchschaut seine Existenz auf dieser Welt nicht… fast scheint es, als wäre er sich selbst zu kompliziert. Seltsam, oder?“

Yukito sah den Mann, mit dem er jetzt schon seit fast vier Jahren zusammen arbeitete, schief von der Seite an.

„Sie sind seltsam, Johansen.“

„Und das fällt Ihnen erst jetzt auf?“, gab der Pathologe mit einem sarkastischen Stirnrunzeln zurück. Yukito lächelte nur gedankenverloren. Wenn jetzt auch schon Johansen damit anfing, kritisch über sich selbst und sein Tun nachzudenken, konnte das nur bedeuten, dass-… ja, dass möglicherweise irgendwas mit ihnen allen vor sich ging. Der Stein war losgetreten.

Toyas Rückkehr beendete seinen Gedankengang.

„Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht für euch“, erklärte er stirnrunzelnd und schob sein Handy zurück in die Tasche an seinem Gürtel, „Welche wollt ihr zuerst hören?“

„Die gute“, entschied Yukito ohne Umschweife.

„Also schön. Wir haben ein paar Verbündete in unserer Angelegenheit gefunden.“

„Herrje, wie haben Sie das bloß geschafft, um Himmels willen?“, erkundigte sich Johansen in gespieltem Unglauben, „Haben Sie Ihren langen Arm des Gesetzes durch die Leitung geschoben und Ihren armen Gesprächspartner mit Ihrer Kanone bedroht?“

„Lassen Sie den Quatsch, Johansen“, knurrte Toya unwillig, während er sich neben seinen beiden Leidensgenossen auf der kalten Eingangstreppe niederließ, „Ich habe soeben Arashi angerufen, und-…“

„Arashi?!“, japste der Pathologe entgeistert, „Etwa diese Arashi?! Arashi Kishu?! Sagen Sie mal, geht’s Ihnen noch gut?! Wie sollte uns diese überdrehte Action-Barbie schon helfen können?! Sie schafft es doch nicht einmal, pünktlich zur Arbeit zu kommen, bei diesem Kleinkind von Ehemann, den sie-…“

„Ja, genau diese Arashi Kishu“, unterbrach Toya entschieden den entgeisterten Auswurf seines unfreiwilligen Kollegen, „Sie ist verlässlich, hat präzise Methoden, und darüber hinaus sind Ehemänner mit einem Hang zur Infantilität doch nichts Ungewöhnliches, finden Sie nicht?“

„Herrgott, Sie und Ihre subtilen Komplimente“, murrte Johansen, „Mal ganz unter uns, Sie sind ein partieller Oberarsch.“

„Tja. Aber eben nur partiell. Und weil der andere Part ein kluges Köpfchen ist, haben wir jetzt zumindest schonmal Arashis Unterstützung zugesichert bekommen. Sie holt auch noch ein paar andere Jungs ran. Mit ein bisschen Glück haben wir schon bald eine vollständige Observationstruppe beisammen.“

“Du meinst also, dass sie sich in unserer Sache umhorcht und Meldung macht, wenn sich irgendetwas tun sollte?”, hakte Yukito nach.

„Exakt“, bestätigte Toya und nickte, „Damit stehen unsere Chancen bereits ein wenig besser als zuvor. Bisher ist uns der Mörder jedesmal zuvorgekommen, demnächst kann er sich das abschminken.“

„Ist die Wahrscheinlichkeit auf ein nächstes Opfer denn groß?“

„Sagen wir so, die Tendenz steht ja doch ziemlich hoch, bei der Blutspur, die dieser Irre in Kingstonville hinterlassen hat“, konstatierte Johansen.

„Wenn es einen nächsten Mord geben wird, sind wir besser vorbereitet als die letzten Male“, fügte Toya hinzu, „Arashi macht sich daran, alle Superreichen, Gewerkschaftschefs und Aktionäre dieser Stadt ausfindig zu machen und sie überwachen zu lassen. Natürlich nur undercover, wir wollen schließlich nicht unnötig auf uns aufmerksam machen.“

Sein bebrillter Freund hob die Augenbrauen.

„Glaubst du wirklich, du kommst damit durch, ohne dass Fullright was spitzkriegt? Der hat seine Augen und Ohren doch mittlerweile überall!“

Der Kommissar stieß ein resigniertes Seufzen aus.

„Genau das ist ja die schlechte Nachricht. Justin hat mir heute den nächsten Ermittlungsschritt des Dezernats auf dem Silbertablett serviert. Die Aufklärungseinheit des Polizeipräsidiums steht im Begriff, aufgelöst zu werden.“

„Was?!“, stießen Johansen und Yukito unisono hervor, „Wieso aufgelöst?“

Die dunkelblauen Augen des jungen Mannes verengten sich.

„Fünf kleine Worte: das Präsidium ist am Ende. Die offizielle Meldung ist zwar noch nicht draußen, aber Justin und dieser Joshua O’Connor haben bereits per Telefon Verhandlungen darüber geführt, wie und wann die Männer der Aufklärungseinheit in die Dezernatstruppen eingewiesen werden sollen.“

„Was? Hast du das Gespräch etwa abgehört? Heimlich?!“

„Jepp.“

Mit einem Stöhnen vergrub Yukito das Gesicht in den Händen, während Johansens Augenbrauen in seinem Unglauben beinahe mit seinem Haaransatz zusammentrafen.

„Moment, das ist nicht Ihr Ernst, oder? Das würde dann ja heißen, dass das gesamte Personal der Aufklärungseinheit einfach zu diesen Kalaschnikov-Fuzzis im Dezernat gesteckt wird!“

„Genau das heißt es. Das Präsidium wird bereits nach den Weihnachtsfeiertagen nur noch aus Verkehrs- und Überwachungspolizei bestehen.“

„Aber dann wirst du ja auch deinen Posten verlieren!“, rief Yukito empört, „Was soll diese Nummer wieder? Was denkt sich Pantoliano bloß dabei?“

„Vermutlich gar nichts“, erwiderte Toya geringschätzig, „In drei Tagen sind Fullright und ich keine Kommissare mehr, sondern ‚führende Einsatzleiter‘. Eins kann ich euch sagen, etwas in diesem Dezernat stinkt, dass die Englein vom Himmel fallen.“

„Mein Lieber, ich denke viel eher, dass Ihre Aversion gegen Giuseppe Pantoliano da die Hauptrolle spielt.“

„Das hat nichts mehr mit Aversion zu tun, Johansen!“, gab der Kommissar gereizt zurück, „Benutzen Sie einfach mal Ihren Verstand! Alle Fäden, wir bisher zurückverfolgt haben- Yamazawa, Navras, die Delnattes, Grant, Laroche- alle diese Fäden enden im Dezernat! Jedes einzelne der bisherigen Opfer hatte entweder Geld wie Heu oder genügend Einfluss, dass jeder halbwegs gebildete Bürger in dieser Stadt seinen Namen kannte, und dazu hatten alle Opfer bereits in irgendeiner Weise mit dem Dezernat zu tun – zum Beispiel gemeinsame Aktienanteile oder den gleichen Lieferanten der Sicherheitsanlagen! Alles liegt parallel! Wenn nicht alles völliger Käse ist, was wir bisher an Fakten auf dem Tisch haben, lautet mein Spontanvorschlag, dass Pantoliano irgendwo in seinem stillen Kämmerlein sitzt und ein Faulei der Extraklasse ausbrütet!“

Yukito und Johansen starrten Toya an.

Seine Spontanvorschläge trafen meistens ins Schwarze.

„Und, ähh… und was unternehmen wir?“, wagte der bebrillte Pathologengehilfe zu fragen, nachdem sein Leidensgenosse wieder zu Atem gekommen war, „Ich meine, jetzt?“

„Wir stürzen uns geradewegs in den Misthaufen“, lautete die simple Antwort.

„Klingt nett. Und was wäre das im Klartext?“, erkundigte sich Johansen.

Der Kommissar sah sich kurz auf der Straße um, als fürchte er etwaige ungewünschte Mithörer, bevor er mit gesenkter Stimme wieder zu sprechen begann.

„Also schön, hört zu. Wir unternehmen folgendes. Yukito, du knöpfst dir noch einmal in allen Details die Akten über die Verstorbenen vor, die wir bisher haben. Kau alles nochmal durch, überprüfe die Ergebnisse der Obduktionen, nimm die Fotos vom Tatort zur Hilfe, lass nichts aus, okay?“

„Okay.“

„Arashi weiß bereits, was sie zu tun hat. Sie überwacht mit ihren Leuten die Personen, die als nächstes Opfer in Frage kommen könnten. Sie, Johansen, sichern in den nächsten Tagen noch so viele Unterlagen wie möglich, bevor die Aufklärungsabteilung ihre Archive schließt. Ihre Stimme hat bei diesen Korinthenkackern, die das Archiv verwalten, sowieso mehr Gewicht als die Meine.“

„Müsste sich einrichten lassen“, willigte der Pathologe ein, „Und was werden Sie tun, Mister Jack Bauer? Sonst bleiben Sie am Ende noch ohne Beschäftigung.“

„Die habe ich bereits – ich werde Justins Telefone anzapfen. Sein Bürotelefon hab ich schon drangekriegt, das dürfte bei seinen übrigen Anlagen kaum schwerer werden.“

Yukito stieß ein unterdrücktes Stöhnen aus.

„Toya, muss das denn-…“

„Ja, das muss sein! Keine Widerrede!“

„Schon guuut, schon guuut…“

„Vielleicht könnte es sich auch lohnen, wenn wir uns mit diesem galligen schwarzhaarigen Kerlchen unterhalten“, fügte Johansen hinzu, „Dieser… na, wie heißt er doch gleich…“

„Kurogane?“

„Ja, genau. Fye-san, hat mir erzählt, dass der ebenfalls dort arbeiten würde. Da ließe sich sicher noch einiges an Informationen gutschreiben.“

„Das werde ich ebenfalls erledigen“, sagte Toya sofort, „Mit diesem wandelnden Herzinfarkt hab ich sowieso noch eine Rechnung offen.“

„Ich weiß, dass Sie keine Ratschläge von mir annehmen, Kinomoto, aber ich an Ihrer Stelle würde da lieber mit Fingerspitzengefühl rangehen“, erklärte der alteingesessene Pathologe mit kritisch gehobenen Augenbrauen, „Ich will ja nicht behaupten, ein begnadeter Verhaltensforscher zu sein, aber ich glaube, vor zwei Tagen hätte der Kerl Sie am liebsten umgebracht.“

„Das hat auf Gegenseitigkeit beruht. Mir einfach meine Schwester wegnehmen zu wollen!“

„Hör endlich auf damit, Toya“, sagte Yukito müde, „Lass es einmal gut sein, okay? Du hast selbst gesagt, dass du jetzt, wo wir schon einmal das Glück haben, hier bleiben zu dürfen, nicht mehr so daherreden wirst.“

„Ich rede daher, wie ich es für angebracht halte!“, erwiderte der Kommissar heftig.

„Wir sollten nicht noch mehr Unfriede in dieses Viertel bringen, findest du nicht auch?“, erwiderte sein langjähriger Freund ruhig, „Seit wir hier sind, ist es als wäre eine Bombe eingeschlagen. Sakura-chan hat vielleicht auch ein paar Fehler gemacht, aber sie ist doch auch schon so völlig durcheinander. Und damit ist sie sicher nicht die einzige.“

Das wirkte. Wie ein Speisekarpfen mit Schluckauf klappte der junge Kommissar den Mund zu und schwieg. Johansen runzelte die Stirn. Offenbar sah er seine Theorie auf das Vollste bestätigt.

„Sehen Sie’s so“, meinte er nach einer Weile achselzuckend, „Immerhin können Sie demnächst mit ihr darüber reden.“

„Häh? Wieso demnächst?“

Der Pathologe nickte in Richtung Straße.

„Weil Sie gerade um die Ecke gebogen kommt.“

Wie auf Knopfdruck wirbelte Toya herum und stierte in Richtung Bürgersteig, wo gerade tatsächlich seine Schwester mit ihrem Freund, dem Bengel, den Gehweg hochgeschlendert kam. Sie beide hatten ihre Schultaschen auf dem Rücken und trugen jeweils noch zwei große weiße Rucksäcke. Zwischen ihnen ging eine kleine, zierlich wirkende junge Frau mit langen rotblonden Locken, die ein ebenfalls weißes, dick eingepacktes Bündel auf den Armen trug. Alle drei waren in ein Gespräch vertieft.

„Ah, das wird wohl Claire Leeds sein“, bemerkte Yukito, bevor er seine Brille einem erneuten gründlichen Putzgang unterzog, „Sakura-chan hat mir erzählt, dass sie zwei Häuser weiter wohnt. Sie hat kürzlich ein Baby bekommen und zieht jetzt auch hier ein.“

„Das hat sie dir erzählt?“

Sein bebrillter Freund lächelte ihm fröhlich zu.

„Na hör mal, immerhin sind wir jetzt sowas wie eine Hausgemeinschaft! Hey, wie wär’s, wenn du schon mal vorgehst und die drei in Empfang nimmst? Miss Leeds freut sich sicher, dich kennen zu lernen!“

Toya glotzte ihn an wie das Ei des Kolumbus.

„… Meinst du?“

„Natürlich, wieso auch nicht? Und Sakura-chan und Shaolan-kun werden es dir sicher auch nicht übel nehmen, wenn du ihnen ein paar von diesen Taschen abnimmst! Na, worauf wartest du? Nun geh schon!“

Mit diesen Worten versetzte er seinem Kumpel einen gut gezielten Stoß in den Rücken, sodass er mit einem erstickten Aufjapsen geradewegs die Treppe bis zum Gartentor hinuntertaumelte – eine Position, von der die drei ihn nicht übersehen konnten. Johansen grinste, als er diesen so köstlich seltenen Ausdruck heilloser Verwirrung auf Toyas Gesicht gewahrte.

„Das nenne ich mal ein Husarenstück, Tsukishiro.“

„Was denn?“, gab sein junger Handlanger leichthin zur Antwort, „Ich wollte ihm nur eine Gelegenheit geben!“

„Gelegenheit wofür?“

Yukito legte nur den Kopf schief und sah mit einem kleinen Lächeln Richtung Straße.

Sakura winkte. Und ehe man sich versah, hatte Toya auch schon das niedrige Gartentörchen aufgestoßen und trat auf die Straße, um ihnen entgegenzukommen.

„Zum Gewöhnen.“
 

Später Abend.

Die bleiche Wintersonne hatte sich bereits vor etlichen Stunden restlos verabschiedet und einem wolkenlosen, sternenbesprenkelten Nachthimmel Platz gemacht. Auf der Serpentinenstraße, die zum Hippieviertel hinaufführte, war das in der Rush Hour übliche Verkehrschaos Kingstonvilles in der Ferne nur als abgedämpftes, dissonantes Rauschen zu vernehmen.

Gedankenverloren lenkte Kurogane seinen Wagen den Hang hoch und nahm die letzte Steigung, die ihn noch von der Beethovenstraße trennte.

Zeit war wirklich eine paradoxe Angelegenheit.

In einem Moment hatte er das Rathaus betreten und sinnlose Formulare ausgefüllt, im nächsten saß er plötzlich in einer Versicherungsfiliale und unterschrieb einen Kontrakt zur Überweisung des zu erstattenden Schadensersatzes, im übernächsten lungerte er tatenlos in irgendeiner verrauchten Kneipe am Johannesplatz herum und vergällte sich mit irgendeinem billigen Fusel schier den Magen – und jedesmal, wenn er einen Blick auf seine Handuhr geworfen hatte, war der Stundenzeiger schon wieder um ein Millimeterchen voran gekrochen.

Immer weiter Richtung Abend.

Der Magen des Schwarzhaarigen fühlte sich an wie Blei, als er in der Dunkelheit allmählich Haus Nummer dreiunddreißig näherrücken sah.

Was zum Henker tat er hier eigentlich? Er hätte sich genausogut irgendwo absetzen können, zum Beispiel im nächstbesten billigen Truckstop außerhalb der Stadtgrenze, den billigsten Gin trinken, den es für Sodbrandfreunde zu kippen gab, den beißenden Zigarettenqualm der anderen Nachtschwärmer einatmen, und nichts denken, nichts. Wäre das nicht hundertmal leichter gewesen, statt diesem verfluchten Ding nachzugeben, das sich ‚Gewissen‘ schimpfte und zum verlassenen Kriegsschauplatz zurück geschlichen zu kommen wie ein geprügelter Hund?

Ein Teil von ihm schien zumindest davon auszugehen. Dieser Teil war es auch, der nicht einmal sonderlich überrascht gewesen war, als Kinomoto bei ihnen eingefallen war – wäre eine gemeinsame Zukunft für sie alle denn überhaupt möglich gewesen, selbst wenn dieser paranoide Kommissar nie bei ihnen auf der Schwelle erschienen wäre? Er bezweifelte es.

Die Grenzen dieser Viererkiste, in der sie sich allesamt verschanzt hatten, waren für seinen Geschmack viel zu eng gezogen. Wenn mehrere Menschen, die so von Grund auf verschieden waren wie sie, für längere Zeit in ein und demselben Haus wohnten, war es stets nur eine Frage der Zeit, bis es zu Konflikten kam – egal ob mit oder ohne Einfluss von außen. Die langen Jahre der Ausbildung in den Kadettenlagern hatten ihn diese Erfahrung mehr als einmal gelehrt.

Hinzu kam das, was jeder einzelne von ihnen bereits durchgemacht hatte. Es hatte Tage gegeben, in denen ihm dieses unscheinbare Häuschen in dieser noch unscheinbareren Straße wie eine einzige Mistgrube vorgekommen war. Eine Mistgrube, in der so viele Dinge verscharrt und beerdigt lagen, dass man lieber erst gar nicht zu graben anfing, aus Skepsis, was da alles zum Vorschein kommen mochte. Und jetzt hatten sie sich einen Mann ins Haus geholt, dessen größte Leidenschaft es offenbar war, in solchen Mistgruben herumzuwühlen.

Hätte Sakura ihn nicht mit ihrem gefühlsschwachen Herumgeheule abgebremst, so hätte er Kinomoto und seine lächerlichen Hilfswichtel noch am selben Abend umgebracht, auch wenn er nicht verstand, warum ihn angesichts von Kinomotos plötzlicher Präsenz solch eine Wut überkommen hatte – solch ein Verhalten war nicht nur unprofessionell, sondern konnte einen auch noch Kopf, Hut und Kragen kosten, wenn man sich in seiner Branche das tägliche Brot verdiente.

Und doch glaubte er den Grund zu kennen, denn der andere Teil in ihm fragte ganz einfach nur nach dem Warum.

In diesem verlausten, heruntergekommenen Stadtviertel voller verkorkster Individualisten hatte sich ihm etwas geöffnet. Eine Chance.

Eine Chance, sich wieder aufzurappeln, seine Knochen einzusammeln und nochmal neu in den Boxring zu steigen, den andere Leute ‚Leben‘ nannten…

Er hatte Ruhe gefunden.

Hier.

Doch jetzt, wo Kinomoto und seine Spießgesellen hier aufgetaucht waren, schienen all diese Dinge zur schieren Sinnlosigkeit verkommen zu sein – die Ruhe war verschwunden, zerstoben die müde Illusion von einem neuen, vielleicht ein bisschen besseren Platz inmitten dieser chaotischen Welt.

Warum macht ihr alles kaputt?

Mit einem unterdrückten Seufzen schob der Schwarzhaarige seine Gedanken zur Seite. Es würde nichts bringen, sich unnötig den Kopf darüber zu zerbrechen, allenfalls würde er eine weitere schlaflose Nacht verbringen, und deren hatte er in letzter Zeit wahrlich schon genug gehabt. Fürs erste würde es wohl das Beste sein, wenn er die Sache mit Kinomoto so weit wie möglich bereinigte, sein Katana versteckte und sich dann bei Fye für den Krach am Vormittag entschuldigte.

Ein kleiner, bohrender Schmerz meldete sich in seiner Magengrube, als er an den Blondling dachte.

Herrgott, wieso hatte er sich nicht ein einziges Mal beherrschen können…

So langsam fragte er sich, ob er sich Sorgen um seine Gefühlschemie machen musste, wenn er Fye mit der Absicht eines Gesprächs aufsuchte und ihm keine zwei Minuten später fast die Zähne in den Hals schlug. Darüber hinaus war er mit der impulsiven Art des Blondschopfs schon vertraut genug, um bezüglich seines jetzigen Zustandes eine ganze Diashow der schlimmsten Vorahnungen vor seinem inneren Auge ablaufen zu sehen.

Was, wenn sich der Blondschopf womöglich etwas angetan hatte?

Pulsadern aufschlitzen, Schlaftabletten nehmen, sich erhängen, den Kopf unter Wasser halten, aus dem Fenster springen, es gab doch so verdammt viele Möglichkeiten, viel zuviele Möglichkeiten…

Fast hatte der Schwarzhaarige es eilig, den Wagen in die Einfahrt vor Haus Nummer dreiunddreißig zu lenken und den Motor abzustellen. Hastig warf er die Autotür zu, schloss ab, wollte sich umwenden, um die Treppen zum Eingang hochzupoltern, schnell, schnell, schnell musste es gehen, doch mitten auf seinem Weg erhaschte er plötzlich etwas aus dem Augenwinkel.

Etwas Dürres, Windzerzaustes. Auf der Veranda.

Mit einem tiefen Seufzen blieb der Killer stehen und blickte zum Haus empor.

Es war Fye.

Regungslos wie eine Statue stand der Blondling auf der kleinen Parterreterasse, die zum Seiteneingang der Küche führte, und starrte durch das geschlossene Fenster nach drinnen. Warmer, freundlicher Lichterschein drang aus der Wohnung durch die kalte Glasscheibe und warf einen weichen Glanz auf seine blassen, fein geschnittenen Züge.

Sein Gesichtsausdruck war nicht zu entschlüsseln.

Ein elendes Gefühl kroch Kuroganes Magengrube empor, als er lautlos die Treppe zum Hauseingang hinaufstieg, die schmale Holztür der Veranda aufschob und schließlich neben seinem Mitbewohner zum Stehen kam. Ruhig verschränkte er die Arme hinter dem Rücken und wartete.

Nach einem langen Schweigen ließ er seinen Blick langsam, fast vorsichtig zur Seite wandern und suchte den seines jüngeren Weggefährten.

„Fye?“

Keine Antwort. Der Ausdruck der eisblauen Augen blieb so teilnahmslos wie zuvor. Kurogane seufzte.

„Fye…“

Keine Antwort.

„… Hör zu, es tut mir leid. Dieser Streit heute Morgen, das-… ich hätte mich nicht so aufregen sollen. Es war falsch, wegen dieser Geschichte mit Kinomoto gleich so durchzudrehen. Ich war unfair dir gegenüber. Und schlagen wollte ich dich auch nicht“, fügte er leise hinzu und wagte es, dem Blonden behutsam eine Hand auf die Schulter zu legen und diese leicht zu drücken, „Es tut mir leid, hast du gehört?“

Keine Antwort. Unter seinen Fingern jedoch zuckte es.

Wie schlank sich seine Schulter anfühlte. Fast zerbrechlich.

Dieser junge Mann irritierte ihn. Er verunsicherte ihn mit dieser unbewussten Zartheit, diesem Feinen, Freien, das er überall an sich und in sich trug. In seinen Gesichtszügen, seinen Augen, Worten, Gesten.

Es verwirrte ihn zutiefst.

„… Sieh nur.“

Ein Flüstern, leiser als ein Hauch, ließ den Killer unvermutet aufmerken. Ein wenig skeptisch sah er seinen Mitbewohner von der Seite an, doch er tat wie ihm geheißen und warf einen Blick durch das Fenster. In der Küche war es vollkommen dunkel, doch auf dem Korridor dahinter war Licht, und auf diese Weise konnte der Schwarzhaarige einen kleinen Teil des Wohnzimmer sehen – die Wanduhr, die rechte Seite des großen Schranks und das Sofa. Und auf diesem Sofa saß Claire.

Sie hielt Kyle im Arm und wiegte ihn sanft von einer Seite zur anderen. Sie schien ihm etwas vorzusingen oder zu erzählen, denn ihre Lippen bewegten sich. Neben ihr saßen Sakura und Shaolan, die ihre Ferienaufgaben über den gesamten Fernsehtisch ausgebreitet hatten, und sahen ihr dabei zu. Und neben dem Sofa stand-…

Kurogane spürte, wie seine Augenbrauen fast augenblicklich ungläubig in die Höhe schnellten. Kaum zu glauben, es war tatsächlich dieser verfluchte Kinomoto. Er hielt eine Tasse mit dampfendem Tee in der rechten Hand und war ebenfalls damit beschäftigt, Claires Bemühungen Aufmerksamkeit zu zollen.

Niemand brüllte. Niemand versuchte, irgendwen irgendwohin zu zerren. Kein Streit. Keine Debatten. Gar nichts.

„Ist das nicht wunderbar?“, wisperte Fye unvermutet mit einem kleinen, traumverlorenen Lächeln auf den Lippen, jedoch ohne seinen Blick abzuwenden, „Ich freue mich für sie. Sie sehen alle so glücklich aus, findest du nicht auch?“

Kurogane sah ihn ruhig an.

„Wieso gehst du dann nicht dorthin, wo alle sind?“

Endlich wandte ihm der Blondling das Gesicht zu und sah ihm in die Augen.

„Es geht nicht.“

„Warum geht das nicht?“, fragte er leise und ließ seine Hand auf der Schulter des jungen Mannes liegen, um ein Ausweichen von seiner Seite zu verhindern.

In den eisblauen Iriden flackerte es jäh auf.

„Ich,-… ich bin nicht wie sie.“

Seine Stimme war von einem käferkleinen, gequälten Zittern erfüllt, unterschwellig und dennoch bemerkbar, wie ein See, dessen Oberfläche sich unter einem kalten Windstoß zu kräuseln begann. Befremdet spürte Kurogane, wie sich etwas in ihm als Reaktion darauf schmerzhaft zusammenzog.

„Wie kommt das?“, erkundigte er sich ruhig.

„Ist es dir denn noch nie aufgefallen?“, fragte Fye nur tonlos zurück, „Schon seit dem Tag, an dem ich Shaolan-kun und Sakura-chan kennengelernt habe, wusste ich, da ist irgendetwas, das uns voneinander unterscheidet. Weißt du, ich-… ich habe die beiden sehr gern. Wir verbringen unser Leben zusammen. Wir haben uns gemeinsam all das aufgebaut, was du hier siehst.“

Er senkte müde den Blick, ehe er fortfuhr.

„Aber ich fühle mich nicht verbunden zu ihnen. Sie sind mir heute noch genauso fremd wie damals. Und sie werden mir immer fremd bleiben. Denn für die zwei besteht noch Hoffnung.“

Fast glaubte der Killer spüren zu können, wie sehr es den Blondling bei diesen Worten in der Kehle würgte. Das Etwas in seiner Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen.

„Was sagst du da?“, hörte er sich heiser fragen. Fast gelang es ihm nicht, den Blick seines jüngeren Mitbewohners zu erwidern, ohne sofort wegsehen zu müssen.

Wieviel Schmerz konnte in einem Paar Augen Platz finden?

„Hoffnung, Kurogane. Es ist die Hoffnung, die uns voneinander trennt. Sie alle – Sakura-chan, Shaolan-kun, ihr Bruder und seine Freunde – sie alle sind noch von dieser Welt. Sie haben noch etwas, etwas das sie packen können, wenn alles um sie herum schwarz wird. Ein letztes Streichholz. Und ihr Leben hat ein Morgen, eine Zukunft. Verstehst du? Wenn sie sich nachts zum schlafen hinlegen, müssen sie keine Angst vor dem Aufwachen haben…“

Die Lippen des jungen Mannes hoben sich kaum merklich zu einem schwachen, verrutschten Lächeln an.

„… Und es gibt Momente, da hasse ich sie dafür.“

Stille. Trotz seines Vorsatzes, Ruhe zu bewahren, konnte Kurogane spüren, wie er Fye anstarrte.

„Sieh mich nicht so an!“, stieß dieser verzweifelt hervor und wandte sich hastig von seinem Mitbewohner ab, als wären dessen Blicke Nadelstiche auf seiner Haut, „Ich weiß selbst, dass ich nicht so reden sollte, nach allem, was wir gemeinsam durchgestanden haben! Ich weiß, wie hirnverbrannt das klingt! Du hältst mich jetzt für einen Abartigen, stimmt’s? Du denkst, ich wäre verrückt! Du musst das doch denken, so wie ich mich die ganze Zeit über benehme, ich-…“

Mitten in seinem Ausbruch brach er plötzlich ab und starrte seine Hände an. In den diffusen Schatten des Mondlichts wirkten sie seltsam fahl. Seine Augen schienen wächsern wie die eines Toten.

„… Aber wer weiß, vielleicht bin ich es ja auch“, wisperte er nach einem langen, bleischweren Schweigen, seine Stimme kaum mehr als ein tonloses Beben. Als er den Blick wieder hob, schien er durch seinen Mitbewohner hindurch zu starren, als würde er ihn gar nicht wahrnehmen.

„Vielleicht bin ich ja wirklich verrückt. Immerhin haben das die Ärzte gesagt. Und die Polizisten. Und was Ärzte und Polizisten sagen, stimmt immer.“

„Fye-…“, fing Kurogane an und wollte ihm erneut eine Hand auf die Schulter legen, doch der Blonde wehrte ab und fuhr wütend zu ihm herum. In seinen Augen loderte der Wahnsinn auf kleiner, kalter Flamme.

„Sei still!“, zischte er und stieß seine Hand von sich, „Das alles ist so ungerecht, verstehst du das nicht?! Wo haben die beiden bloß dieses verdammte Glück her?! Was haben sie gemacht, damit sie so arglos geblieben sind, damit man sie in Ruhe leben lässt?! Ist das bei ihnen bloß so, weil sie noch Kinder sind?!“

Tränen glänzten in den leblosen hellblauen Augen auf, und bereits im nächsten Augenblick verkrallten sich seine Hände auch schon in die Ärmel von Kuroganes Mantel, bohrten, zerrten und gruben sich schmerzhaft tief darin fest.

„Wieso kann ich nicht ein einziges Mal auch Glück haben?!“, schluchzte er und stemmte seinen Kopf so fest gegen die Brust seines älteren Gegenübers, dass er dessen Herzschlag an seiner Stirn spüren konnte, „In meinem Leben ist alles schiefgelaufen, ich habe alle, die mir nahestanden, entweder selbst getötet oder sie sterben lassen, und alle, von denen ich wollte, dass sie sterben, sind am Leben geblieben!! Sie sind in mir drin und gehen nicht aus mir raus, sie reden in meinem Kopf, am Tag und in der Nacht, und ich schaffe es einfach nicht, sie zu--…“

Mit einem hilflosen Aufjapsen hielt er jäh in seinem Auswurf inne, als er von dem Schwarzhaarigen hart bei den Schultern gepackt und sein Kopf nach oben gerissen wurde, sodass sich ihre Blicke begegneten.

Wie ruhig diese magmaroten Augen ihm auf einmal zu sein schienen, wie ruhig.

Wie warm.

„Genau deswegen kann ich nicht an Gott glauben“, stieß er kläglich hervor, indes die Tränen weiter unerbittlich seine Wangen hinabrollten, „Chi hat immer gesagt, Gott sei voller Gnade und Gerechtigkeit! Aber-… aber wie grausam muss ein Gott nur sein, wenn er einem Menschen ein Schicksal wie das Meine mit auf den Weg gibt? Wo ist da die Gnade, von der sie jeden Tag geredet hat, und wo ist die Gerechtigkeit? Wie könnte ich noch an Gott glauben, wenn er mir immer nur seine Grausamkeit vor Augen geführt hat, und nie seine Gnade und Gerechtigkeit?! Wieso hilft Gott mir nicht endlich, wenn er so gnädig und gerecht ist?!!“

„Ist das alles, was du dir jemals von einem Glauben an Gott versprochen hast? Dass er dir Gnade und Gerechtigkeit gibt und sich dadurch alles in deinem Leben mit einem Schlag zum Besseren wenden würde?“, fragte Kurogane lediglich zurück.

Als wieder keine Antwort kam und der blonde junge Mann ihn nur anstarrte, als hätte er ihm soeben ins Gesicht gespuckt, seufzte er unterdrückt und legte ihm beide Hände auf die Schultern.

„Hör nun gut zu, was ich dir sage, Fye“, sagte er ernst, „Ich bin weder ein aufrichtiger noch ein besonders kluger Mensch. Das weißt du ebenso gut wie ich. Aber wenn es etwas gibt, das ich mit Sicherheit weiß, dann ist es die Tatsache, dass du nicht der einzige Mensch bist, der eine solche oder eine ähnliche Bürde zu tragen hat, wie sie dir auferlegt ist. Jedem einzelnen Menschen auf diesem Planeten ist irgendwann einmal in irgendeiner Hinsicht Ungerechtigkeit, Willkür, Grausamkeit oder Schmerz widerfahren. Der Mensch besitzt schon seit er selbst denken kann den Drang, alles zu kontrollieren und zu überblicken, und es gibt heute kaum mehr etwas, das nicht von ihm beherrscht wird. Aber er kann trotz allem weder Glück noch Unglück vollkommen aus seinem Leben ausschließen, weil dies Dinge sind, die einfach nicht in unserer Hand liegen. Ob sie stattdessen in der Hand von Gott oder einer anderen höheren Gewalt liegen, können wir nicht wissen. Aber dafür können wir uns etwas vor Augen halten. Niemand von uns – kein einziger Mensch auf der Welt – hat das Recht auf Glück allein für sich gepachtet. Glaube mir.“

Schweigen.

Noch immer hing das hell eisblaue Paar Augen an seinem Gesicht fest, doch auf einmal erschienen sie dem Killer auf seltsame Weise völlig anders als wenige Momente zuvor.

Fast war es ihm, als blicke er in das fragende Gesicht eines Kindes, das zu seinen Füßen saß und voller Verwunderung seinen Worten lauschte, als lese er ihm eine noch nie zuvor gehörte Geschichte vor. Eine Geschichte, die für es allein durch den Klang seiner Stimme an Wahrheit gewann.

Unwillkürlich spürte Kurogane seine Kehle eng werden.

Wieviel Kindlichkeit in diesen blauen Augen verborgen lag.

Ohne dass er wusste wieso er es tat, strich er seinem jüngeren Gegenüber mit einem Zeigefinger leicht über dessen blasse Wange.

„Glaube mir, Fye“, wiederholte er leise.

Hilflos schlug der Blondling die Augen nieder. Diese so unerwartet sanfte Berührung kribbelte auf seiner Haut wie ein leichter elektrischer Schlag.

Doch als er den Blick wieder hob und Kurogane ansah, glaubte er zu erkennen, was er ihm hatte sagen wollen. Denn nun sah er alles.

Er sah das Ausgebrannte, diese unendliche Müdigkeit, die sich hinter dem rastlosen Funkeln dieser roten Augen versteckte. Er hörte förmlich panische, von Grauen unterwühlte Kreischen hunderter Stimmen und das ewig gleichförmige Marschieren tausender Füße, das monotone Verrinnen und Vertröpfeln geronnenen Blutes, und sah die unzähligen angst- und schmerzverzerrten Gesichter, die sich über Jahre hinweg solange in diesen flammenden Iriden eingegraben hatten, dass sie nun unlösbar in ihnen verwurzelt waren.

Und nun spürte er, dass seine Wangen vor Schuldgefühlen brannten.

Ein Egoist. Ich bin so ein verdammter Egoist.

„Als-… als ich heute morgen gesagt habe, dass du keine Ahnung hättest, wie es sich anfühlt, von seiner Familie getrennt zu werden…“, hörte er sich wispern, „Habe-… habe ich dir da Unrecht getan…? Ist etwas mit deiner Familie passiert? Mit deinen Eltern?“

Der Killer gab keine Antwort, sondern erwiderte nur ruhig seinen scheuen Blick.

„Ist deinen Eltern etwas zugestoßen?“

Keine Antwort.

„Sind sie tot?“, presste Fye gequält hervor und grub seine Hände noch fester in Kuroganes Mantelärmel, „Sind sie tot, Kurogane? Hat man sie umgebracht?“

Der Schwarzhaarige senkte nur kurz den Blick und seufzte lautlos.

„… Ich weiß, wie es sich anfühlt.“

Fye wusste nicht, woran es lag – an dem rauen, teilnahmlosen Klang seiner Stimme, diesem Ausdruck der Erschöpfung, der über seinem Gesicht lag, oder einfach an dem, was er sagte – doch bei diesen Worten spürte er, wie der Schmerz, der schon den ganzen Tag über in seinem Schlund gebrütet und gebrannt hatte, nun endgültig überbordete.

Verzweifelt stürzte er sich auf ihn und schlang beide Arme um seinen Nacken, sodass dieser unwillkürlich zum Abfangen seines Gewichts zwei Schritte nach hinten stolperte, drängte sich an ihn, hielt sich an ihm fest.

„Es,-… ich-…“, stammelte er gequält und fühlte neuerliche Tränen in seinen Augenwinkeln brennen, als er zum Gesicht seines Weggefährten emporsah, doch dieser schüttelte den Kopf und legte seinerseits die Arme um ihn, langsam, zögernd, als wüsste er nicht, ob der Jüngere nun real oder nur ein Traumbild war.

„Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest.“

Statt einer Erwiderung schmiegten sich die schlanken Arme nur fester um seinen Nacken. Er schloss die Augen und strich seinem jüngeren Gegenüber in einer behutsamen Bewegung durch das blonde Haar, das im gespenstischen Einfall des Mondlichts wie bleiches Silber anmutete.

Ein leichtes Kribbeln wogte über seine Haut, als die dünne Stimme des Blondlings unvermutet dicht neben seinem Ohr zu flüstern begann.

„Weißt du, kurz-… kurz bevor wir uns zum ersten Mal begegnet sind, da… als ich den Bürgersteig fegen musste und du an der Hauswand gestanden bist, weißt du noch…?“

„Ja.“

Wieder suchte der Blick des Jüngeren den Seinen.

„Und als wir miteinander geredet haben, da dachte ich, wie schön es vielleicht gewesen sein könnte, wenn-… w-wenn wir uns schon früher getroffen hätten. Schon Jahre früher. Als wir noch klein waren, und-… und als wir…“

Seine Stimme versagte, als ihm klar wurde, dass er den Schwarzhaarigen noch immer umarmt hielt.

So warm.

„Und als wir… ?“, hakte dieser nur ruhig nach.

„Als wir noch Menschen waren.“

Eine einzelne Träne funkelte im Auge des Blonden auf und zog auf seiner Wange eine glänzende Spur hinter sich her.

„Ich war kein Mensch mehr, Kurogane“, stammelte er halblaut, „Ich war irgendetwas, aber kein Mensch. Ich konnte nicht weinen, und jedesmal, wenn ich lachen musste, erschrak ich vor mir selbst. Aber-… aber als ich dein Gesicht gesehen habe, war irgendetwas… anders. Obwohl du mich angesehen hast, als könnte dich nichts auf der Welt mehr anekeln als ich, war es mir auf einmal, als wären da nur wir. Als gäbe es außer uns keinen einzigen Menschen mehr auf der Welt. Und ich wollte laut sein, reden und lachen, weil uns keiner gehört hätte. Für… für zwei Sekunden. Für zwei Sekunden war ich ein bisschen mehr Mensch als sonst.“

Schweigen.

Für einen Moment sah es aus, als wollte der Schwarzhaarige etwas erwidern, doch dann blieb er ruhig. Mittlerweile standen die beiden jungen Männer völlig still auf der mondbeschienenen Veranda.

Irgendwann – keiner der beiden konnte sagen, ob nur wenige Minuten oder ganze Stunden vergangen waren – hob Fye wieder zu sprechen an.

„Einmal hat mir Chi erzählt, dass es nur auf diese zwei Sekunden ankäme“, erzählte er wispernd, „Wenn du dich dafür entscheidest, jemanden zu mögen, wirst du in all seinen Taten etwas Gutes erkennen, ganz egal was er tut. Und wenn du dich dafür entscheidest, jemanden nicht zu mögen, wirst du in all seinen Taten etwas Schlechtes erkennen, ganz egal was er tut. Und ob man jemanden mögen will oder nicht… das entscheidet man nur in diesen zwei Sekunden, wenn man einander zum ersten Mal sieht. Waren es bei uns auch nur diese zwei Sekunden, Kurogane?“, fragte Fye leise und sah ihm zum ersten Mal an diesem Tag gerade und furchtlos in die Augen, „Haben wir uns nur in zwei Sekunden dazu entschieden, uns zu mögen? Oder war es mehr als nur das? Was denkst du darüber?“

Leise Verwunderung stahl sich in den Blick der roten Iriden.

„Du magst mich also doch?“

Ein kleines Lächeln breitete sich auf den blassen Lippen seines jüngeren Weggefährten aus, als dieser den Blick senkte.

„Ich liebe dich.“

Stille.

Er liebt-… ?

Wie von weiter Ferne spürte Kurogane bei diesen Worten seinen Herzschlag explodieren, doch gleichzeitig spürte er es wieder nicht.

Das jäh aufschießende Blut in seinen Wangen nahm er ebenso wenig wahr wie die Gänsehaut, die sich über seinen gesamten Körper zog, oder seinen fassungslosen Blick, mit dem er Fye anstarrte.

Alles rauschte an ihm vorbei, als befände er sich unter Wasser und triebe in dem nicht abfallenden Spiel der Gezeiten.

„Fye-…“

Wieder dieses kleine, müde Lächeln.

„Wie du siehst, kann auch ich nicht alle Bereiche meines Lebens kontrollieren.“

Ein seltsames, flatterndes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, als würde ein faustgroßer, zentnerschwerer Stöpsel aus seinem Bauchnabel gezogen.

„Aber-…“, hörte er sich heiser stammeln, „Aber seit wann--… ?“

Tränen glänzten in den hellblauen Augen auf, als der Blondling die Hände von seinen Mantelärmeln nahm und gequält den Kopf schüttelte.

„Ich weiß es nicht! Mein Herz schlägt einfach schneller als dass mein Kopf denkt, das ist bei mir schon immer so gewesen! Ich weiß es einfach nicht! Aber die letzten Wochen und wir, wir gemeinsam, das-… das war für mich das Glück!“

Keine Erwiderung kam zurück. Auf einmal wirkte der Blick seines älteren Mitbewohners so leer, als würde er direkt durch ihn hindurchstarren.

Das war für mich das Glück“, wiederholte Fye, seine Stimme kaum mehr als ein kleines, klägliches Wispern, „Und ich will nicht mehr ohne dich leben. Ich liebe dich, Kurogane, verstehst du das nicht?“

Vergeblich versuchte der Killer, ihn erbost anzustarren, doch weder aus seinem Gesicht noch aus seinem Inneren konnte sich in diesem Augenblick noch wirkliche Wut hervorarbeiten.

„Bist du jetzt völlig von Sinnen, du Idiot?“, hörte er sich nach einem langen Schweigen in einem seltsamen Anfall von wütender Hilflosigkeit hervorstoßen, die er von sich selbst noch gar nicht kannte, „Wie zum Teufel kannst du mich nur lieben?“

„Weil du mich und mein Leben ein bisschen menschlicher gemacht hast“, lautete die leise, aber bestimmte Erwiderung, „Weil du bei mir warst, als meine Seele bloßlag. Und weil ich nun endlich wieder weiß, was ich zu tun habe. Darum.“

Der Schwarzhaarzige stutzte.

Wissen, was ich zu tun habe.

So wie die Fyes Lippen diese Worte formten, schienen sie etwas in ihm zu wecken.

Inmitten all der trüben, verworrenen Gedanken, die in seinem kreisten, war es ihm auf einmal, als würde er seinem alten Schwertkampflehrer wieder ins Gesicht blicken.

Die deutlich geformten Wangenknochen, der Bart, die klugen, stets ruhig blickenden dunklen Augen.

„Wenn du ein bisschen Geduld hast, wirst du dieses lebendige Wesen finden. Das lebendige Wesen, das du schützen willst. Oder vielleicht findet dieses lebendige Wesen sogar vorher dich. Und dann, mein Junge, wirst du wissen, was du zu tun hast.“

„Munashii-sensei…“

Ja, so musste es sein.

Fye liebte ihn, weil er ihm Gewissheit gegeben hatte.

Sie beide hatten einander Gewissheit gegeben. Ruhe. Friedfertigkeit. Und manchmal sogar Momente, in denen selbst er hatte lachen können.

Lachen! Er!

Wie hatte er das nur vergessen können?

Diese jähe Erkenntnis war es, die alle Wut in Kurogane zum Schweigen brachte.

Sämtliche Geräusche der Nacht – der ferne Lärm der Autos, das Murmeln des Windes, das Rascheln der dürren Zweige auf der Straße – all das schien sich nach und nach an seinem Ohr zu vermischen, zu vermengen und sich zu einer einzigen Stimme zu vereinigen.

Und diese Stimme sprach eine vollkommen klare, unmissverständliche Sprache.

Dann weiß ich, was ich zu tun habe.

Eine seltsame, noch nie zuvor gefühlte Emotion von Wärme kam über ihn und füllte ihn vollkommen aus, als er das Gesicht des Blondlings in beide Hände barg und die Stirn an die Seine lehnte.

„Kurogane-…“, stammelte der Blonde schwach und sah ihn verunsichert an, doch der Schwarzhaarige verschloss ihm mit einer Hand den Mund.

„Sag nichts“, flüsterte er leise, „Sag jetzt nichts.“

Stille.

Für wenige Bruchteile eines Moments war noch die unausgesprochene Frage in den hellblauen Iriden zu lesen – doch löste sich diese bereits im nächsten Augenblick im Nichts auf, als die Hand fiel und sich Kuroganes Lippen weich auf die Seinen senkten.

Die plötzliche, zitternde Gewissheit ihres Kusses raste durch seine Venen wie Feuer.

Was-…

Instinktiv wollte sein Körper gegen die ungewohnte, drängend warme Nähe dieses atmenden, herzklopfenden fremden Lebens aufzucken, sich wehren, doch sein älterer Weggefährte nahm seine hilflos bebenden Hände auf und hielt sie fest.

Für einen kurzen Moment wagte Fye es, die Augen zu öffnen, die ihm bereits hatten zufallen wollen.

Und voller Verwunderung gewahrte er, dass ihm erst dadurch die wahre Intensität dieses Augenblicks bewusst zu werden schien.

Es überrollte ihn wie ein einziger Schauer aus Wärme.

Er sah Kuroganes geschlossene Lider, die auf einem dichten schwarzen Kranz Wimpern dicht vor den Eigenen ruhten.

Er spürte die sanfte Berührung ihrer Hände. Den gleichmäßigen Hauch seines Atems, der an seinen Wangen entlangfloss.

Schmeckte die Wärme seiner Lippen.

So warm…

Wie von selbst sanken seine Lider nach unten und die nächtliche Welt verschwamm vor seinen Augen. Dieser Augenblick gehörte ihnen allein.

Aus einem Kuss wurden zwei Küsse, drei, vier, fünf…

Selbst als ihre Lippen nach endlosen Minuten endlich wieder voneinander loskamen und sie, noch immer in einer Umarmung, langsam wieder zu sich fanden, war es ihm, als könne er ihre Berührung noch immer spüren.

Sehnige, warme Hände ergriffen sein Kinn und zogen es behutsam nach oben.

Ein flammend zinnoberfarbenes Augenpaar blickte ihn an.

Ruhig. Unverwandt.

„Wir sind Menschen, Fye“, hörte er Kuroganes leise Stimme an sein wohlig benommenes Ohr dringen, „Wir sind Menschen. Und wenn wir bis heute keine Menschen mehr waren, können wir es jetzt wieder sein.“

Wieder blickte ihn das Kind hinter diesen eisblauen Iriden ungläubig an.

Doch dann nickte es. Eine einzelne Träne funkelte im Augenwinkel des Blonden auf und zog auf seiner Wange eine glänzende Spur hinter sich her, als er sich schutzsuchend an seinen Weggefährten schmiegte und den Kopf in seine Halsbeuge sinken ließ.

„Ja. Ja, das will ich gern.“

Der Schwarzhaarige spürte, wie sich auf seinen Lippen ein Schmunzeln bildete.

„Ich auch.“

Sanft senkte er sein Gesicht in das weiche blonde Haar und schloss ihn in die Arme.

Fest.

Der Mond, der noch bis vor wenigen Minuten hinter den schweren Wolken der Nacht verborgen gewesen war, trat nun langsam aus ihrem Schatten hervor und tauchte alles in samtenes, silbriges Licht.

Und noch während die beiden jungen Männer in ihrer schweigenden Umarmung versunken auf der Veranda verharrten, begann es in winzigen, feinpudrigen Flocken zu schneien.

Alles war still.
 

Erstaunlich, wie rasch sich der emotionale Zustand eines Menschen ändern konnte.

Pantoliano war hochzufrieden.

Bedächtig nickte der Ratspräsident vor sich hin, während er über Breitwandmonitor seine beiden Opfer in spe auf der Veranda der kleinen, klapperigen Hütte beobachtete.

Du liebe Zeit, wie hielt es dieser so an Versace, Rothschild und Smith&Wesson gewöhnte Schwarzkopf nur in solch einem verlausten Bananenkarton von Haus aus, mit dieser erbärmlichen Ausstattung, mit diesen erbärmlichen Witzfiguren von Menschen?

Nun, offenbar besser als er vermutet hatte, denn nun schien er ja eine ausgleichende Zerstreuung gefunden zu haben.

Großzügig überging der italienischstämmige Binnenpolitiker O‘Connors bangen Gesichtsausdruck, den er schon zeigte, seit er in dem Sessel neben ihm saß – sprich: seit sie die beiden Turteltäubchen vor Haus Nummer dreiunddreißig beobachteten, und das nun schon seit gut einer Stunde – und aktivierte das kleine Mikrophon auf der Schaltfläche neben dem Bildschirm.

„Fahren Sie mal etwas näher ran, Roy, ich will mehr sehen.“

Als Reaktion zoomte das Bild der Spionkamera, die schon seit Beginn des Abends auf den Hauseingang gerichtet war, etwas näher an die Veranda heran und fing die beiden großen, schlanken Gestalten in ihrer Mitte nun um einiges schärfer ein.

Sie schienen miteinander zu reden. Und sie knuddelten sich wie zwei schüchterne Kindergartenkinder, Gottchen nein, wie süß.

„Sehen Sie, Joshua?“, meinte er über seine Schulter und deutete stolz auf den Monitor, als würde dieser seinen sämtlichen Besitz und nicht nur irgendwelche Typen auf irgendeiner Veranda zeigen, „Genau, wie ich es Ihnen gesagt hatte! Das ist ja fast noch besser als in Coronation Street!“

„Ja, also-…“, stotterte der sichtlich perplexe Ministerialrat geistreich zurück, während die Umarmung der beiden Observierten noch enger wurde.

Er war wirklich alles andere als erpicht darauf, zwei Kerlen beim Herumfummeln zuzusehen – noch dazu, wenn es sich bei einem der beiden Kerle um Kurogane handelte – und sehnte sich schon seit Beginn des Abends nach einem heißen Bad inklusive Massage, doch was sollte man schon tun? Job war eben Job und Geld war Geld, auch wenn man sich dazu seit neustem die Fummeleien von liebeskranken Klapsmühlenflüchtlingen ansehen musste.

Pantoliano hingegen schien anders darüber zu denken – offensichtlich aus Gründen heraus, die O’Connor nur ahnen konnte – und verfolgte jede Bewegung der beiden.

Sie redeten noch immer miteinander. Kurogane streichelte diesen blonden Tropf, als wäre er sein Ein und Alles, und jetzt-… tatsächlich, sie küssten sich!

Fast hätte Pantoliano mit der Faust triumphierend auf den Tisch gehauen.

Sie küssten sich, da bestand kein Zweifel – oder die Kamera war kaputt, was Pantoliano jedoch stark zu bezweifeln wagte. Es mochte stimmen, dass die Sicherheitsanlagen des Dezernats unter aller Sau waren, was er beizeiten noch ändern würde, doch seine Spionageausrüstung konnte in diesem Land niemand so schnell toppen. Händereibend wandte er sich von dem Monitor ab.

Lange, tiefschürfende Gespräche, innige Umarmungen, zärtliche Küsse.

Perfekt.

„Also, was denken Sie?“, erkundigte er sich bei dem Ministerialrat und nickte in Richtung Bildschirm, auf dem der Kuss noch immer andauerte, „Schnuckelig, nicht wahr?“

„N-nun, es-…“

Pantoliano lachte bloß und zeigte ein Lächeln, das O’Connor zuletzt auf den ledrigen Lippen eines lauernden Krokodils beobachtet hatte.

Ein Krokodil, das sich seiner Beute sicher war und sich langsam und lautlos ins Wasser gleiten ließ, um sie endlich zwischen die Zähne zu bekommen.

„Sie haben ja so recht, Joshua, mein Junge. Es wird höchste Zeit, dass wir ein wenig Wirbel in die Sache bringen. Schließlich schuldet uns unser Yuui-chan immer noch einen gehörigen Batzen an Informationen, nicht wahr? Einen so gehörigen Batzen, dass ich ihm dafür mit Freuden jede Rippe einzeln ausreißen werde!“

Wieder dieses Lächeln.

„Dieses Menschenkind weiß genug, um uns nicht nur eine goldene Nase zu schaffen, Joshua. Wenn die Zahlen erst gesichert, der Code geknackt und diese arme Missgestalt tot ist, werden wir uns im Gold wälzen können, bis wir daran verrecken, mein Lieber, verrecken!“

O’Connor erblasste kaum merklich.

Gegen Gold hatte er ja nichts, aber er konnte es nicht wirklich leiden, wenn sich sein Vorgesetzter schon wieder derartig in einen seiner goldenen Träume von Macht und Reichtum hineinsteigern musste. So langsam wurde ihm das unheimlich. Doch wie gesagt, Job war Job.

Deswegen nickte er.

„Sie sagen es, Mr. Pantoliano. Soll ich die Jungs anläuten?“

Der Ratspräsident lächelte liebenswürdig.

„Ach wo denn, mein Junge, das werde ich gerne für Sie erledigen. Bleiben Sie nur sitzen, ich lasse uns zur Feier dieses putzigen Küsschens einen doppelten Scotch bringen! Aber zuvor noch die Arbeit.“

Mit diesen Worten holte er sein schmales, silbriges Mobiltelefon aus der Brusttasche seines seidenen Jacketts hervor und drückte eine einzelne Wahlaste, um die Verbindung herzustellen.

„Dean?“

„Ja, Boss?“, hörte auch der zusehends beunruhigte O’Connor die leise, statisch verzerrte Antwort vom anderen Ende der Leitung.

„Sie können anfangen.“

„Mit wem?“

Der Italiener überlegte für eine Weile.

„Der Blondschopf. Fangen Sie mit dem Blondschopf an.“

„Mit Vergnügen, Boss.“

Es klickte in der Leitung. Zufrieden verstaute Pantoliano sein Handy und widmete sich wieder dem Geschehen auf dem Monitor.

Der Kuss war gelöst, die Umarmung jedoch dauerte noch immer an.

Er führte selten Selbstgespräche, doch wenn es zu einer Situation passte, liebte er es einfach, dramatisch zu werden.

„Das bereitet dir einen gewissen Gefallen, wie mir scheint, was?“, murmelte er und nahm die Augen nicht auch nur eine Sekunde lang von der zarten blonden Gestalt, die in den Armen des schwarzhaarigen Riesen lag, als wolle sie für immer in ihnen versinken, „Dann genieße es noch solange du kannst, Kleiner, denn dir wird nicht mehr viel Zeit bleiben. Ladies und Gentlemen, die Jagd kann beginnen.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (215)
[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10] [11...20] [21...22]
/ 22

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Lady_Ocean
2015-05-06T09:51:36+00:00 06.05.2015 11:51
Es ist wirklich schon lange her, seit ich "Chrysalis Soul" entdeckt, mich sofort in deinen Stil und die Geschichte verliebt und mit jedem Kapitel, jedem Satz mitgefiebert, mitgelitten, mitgehofft habe. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Was denkst du, Souly, ob man sich Hoffnungen machen darf, irgendwann zu erfahren, wie es weiter geht? Wie die Geschichte vielleicht endet? Ich habe sie jedenfalls nie aufgegeben. Dafür hat sie mich viel zu tief bewegt. Von allen KuroFye-FFs, die ich bisher gelesen habe, mag ich diese hier noch immer am liebsten (und danach kommt "Supernova"). Ich habe sie nie vergessen und werde sie nie vergessen.
Von:  kiala-chan
2012-11-04T10:52:13+00:00 04.11.2012 11:52
mit dieser ff hast du wahres schriftstellerisches talent bewiesen, ich bin so mitgerissen! ;_;
die rolle als profikiller passt sehr gut zu kurogane. ich finde, damit kommt seine kaltblütige seite sehr gut rüber. zu lesen wie er sich dann langsam verändert und sich v.a. fye gegenüber öffnet hat echt spaß gemacht. das erinnert mich an den manga, wo er erst ziemlich mitleidslos mit dem leben seiner "gegner" umgeht und später auf der reise herausfindet, was wahre stärke bedeutet :D
fyes charakter ist auch super getroffen ^^ oh er musste so viel leiden ;_; Ashura hat sein schicksal wirklich verdient >.<
und ich finds toll, dass kuro-pon und fye hier zusammenkommen, die kussszene ist supersüß >//<
da möchte man sofort wissen wies weitergeht, wäre echt toll, wenn du weiterschreiben würdest :)
Liebe Grüße

Von: Maryhase
2011-09-01T21:25:18+00:00 01.09.2011 23:25
Sonja, ich liebe dich!!!!!!!!!!!
Endlich der lang ersehnte Kuss!!!!
Aber das Ende gefällt mir nicht...
Die Spannung zerreist einen ja förmlich...
Aber was nun?
Es geht nicht weiter... das ist sehr unschön...
Wir hoffen du schreibst weiter XD

Liebe Grüße,
Lisa
Caro

PS: Du WIRST weiterschreiben!!!!!!!!!!! Ansonsten schießt dich Lisa auf den Mond, sagt sie...
Von: Maryhase
2011-08-31T21:52:22+00:00 31.08.2011 23:52
!!!!!!!!!!!!!!!!
So! Jetzt haben wir NUR noch EIN Kapitel vor uns!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
Und wir wollen dich jetzt schon höflichst darum bitten, endlich weiterzuschreiben!!
BITTEEEEEEEEEEEEEEEE!!!!!!!!!!!!!!
Ganz liebe Grüße,
Lisa
Caro
Von: Maryhase
2011-08-29T22:29:40+00:00 30.08.2011 00:29
HUIIIIII ^^
Ja du siehst richtig!!
Lisa und ich haben heute drei Kapitel gelesen XD
Wobei...
So wie sich meine Kehle anfühlt...
Aber es war so spannend!!!
Also Sonja!!!
Fang schon mal mit Kapitel 21 an, es dauert nicht mehr lang bis wir dort sind ^^

Liebe Grüße,
Lisa (hat wieder zugehört und Sims gezockt)
Caro (hat jetzt Halsschmerzen XD)
Von: Maryhase
2011-08-28T21:41:23+00:00 28.08.2011 23:41
ARGH!!!!!!!!!!!!!!
Und ich dachte, da kommt jetzt so eine tolle Szene!!!
Kurogane und Fye...
Wann kommt es endlich?! >////<
TT_TT
Lange kann es ja nicht mehr dauern ^^
Muahahaha!!!!
YUUUUUKOOOOOO!!!!
Wird sie jetzt wirklich Kuroganes Anwältin?!
Das wäre lustig!!!

Liebe Grüße,
Caro
Von: Maryhase
2011-08-27T20:17:54+00:00 27.08.2011 22:17
hey XD

der bentley hier, hieß nicht zufällig auch kermit?
auch wenn er schrottreif ist...
lisa und ich mussten sehr lachen als der bentley kam ^^

liebe grüße,
caro (vorleser ^^)
lisa (zuhörer)
Von: Maryhase
2011-08-26T21:35:48+00:00 26.08.2011 23:35
endlich erfährt man ein klein wenig von der vergangenheit der beiden ^^
freue mich schon,
auf die weiteren kapitel

liebe grüße,
caro =3
Von:  swiss-chocolate
2011-06-07T16:50:12+00:00 07.06.2011 18:50
Ich hab die FF erst vor Kurzem entdeckt und ich kann nur sagen: Wow.
Man kann sich beängstigend gut in die Personen hineinversetzten (ist positiv gemeint xD).
Die Story ist einfach genial! Auch wenn die Vergangenheit der beiden extrem traurig ist. Aber es wäre ja auch langweilig wenn alles Freide Freude Eierkuchen wäre.
Die perfekte Mischung aus Drama, Romantik und Humor.
Pantoliano ist einfach das grösste Ar***loch!! Ich reg mich jedes Mal über ihn auf! O’Connor tut mir iregnedwie leid.
Mit der Geschichte hast du mich vollkommen begeistert, gratuliere. ^^
Ich hoffe ich kann mich bald an einem neuem Kapitel erfrauen.
Glg idi_chan
Von:  Imiak
2011-05-02T20:39:41+00:00 02.05.2011 22:39
Liebes,
neben all meinen Lieblingsbüchern, die sich im Lauf der Jahre immer mal wieder verändert haben, ist deine Fanfic auch nach 4 Jahren für mich noch immer eines der besten, ehm... Literaturstücke, die ich kenne. Und eins, das ich immer wieder lese (:
Das wollte ich dir einfach sagen, auch wenn oder gerade weil sie so lange stilllag. Ich finde du hast ein riesiges Potential, einmal sprachlich, aber vor allem auch für wunderbare, spannende und dabei gleichzeitig berührende Handlung.
Das bleibt auf jeden Fall für mich auf immer eine ganz ganz besondere Geschichte.
Und wenn du sie irgendwann fortsetzt, dann freue ich mich umso mehr, aber egal was wird, wollte ich unbedingt gesagt haben, wie wahnsinnig toll und lebendig du schreibst und wie sehr ich die FF immer noch liebe! =)
Alles Liebe,
Imi <3


Zurück