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Anuschka und der König der Zeit

von

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Eine Hexe in der U-Bahn

Anuschka blickte sich nach der seltsamen Frau um. Sie saß auf einem der in Vierergruppen angeordneten Plastiksitzen, summte leise vor sich hin und drehte einen karmesinroten Stein in ihren Händen hin und her. Das Mädchen wusste sofort, dass die Frau nicht in die U-Bahn gehörte. Lag es an ihrer seltsamen, faltenreichen Kleidung? An der Art, wie sie die anderen Fahrgäste, die sie mit ihren sensationslüsternen Blicken malträtierten, geflissentlich übersah? Oder einfach nur an den spitzen Ohren?

Das lange, dunkelblonde Haar der Frau hing in zwei dicken Zöpfen über ihren Rücken und verlockte einen kleinen Jungen, der hinter ihr auf seinem Sitz kniete, dazu, daran zu zupfen. Ruhig wandte die Fremde sich um und lächelte dem Kind zu. "Na", sagte sie mit rauher, für eine Frau ungewöhnlich tiefer Stimme, "ist dir langweilig?" Und auf ein eifriges Nicken ihres jungen Gegenübers fuhr sie fort: "Dann hör jetzt gut zu!"

Die Fremde begann zu summen, ein tiefer, klarer Ton, der langsam an- und abschwoll.

Anuschka wurde seltsam ruhig und während immer mehr Töne wie süßer Honig von den Lippen der Frau tröpfelten, hörte sie in ihrem Kopf eine herrliche, glockenklare Stimme erzählen: "Weit, weit entfernt, noch hinter dem Weltenozean, liegt das fremde Land der Feen..." Die uralte und höchstberühmte Geschichte handelte von Tínruel Lorbeth, dem Feenhelden, der den Menschen den Frieden und die Zivilisation gebracht hatte. Auf dem großen Platz vor dem Rathaus der Stadt stand sein steinernes Abbild, trotzte Müllbergen, Platzregen und Graffiti.

Nur mit Mühe riss sich Anuschka von den Worten der Legende, die sie auswendig aufzusagen wusste, los – sie musste an der nächsten Station aussteigen. Zu ihrer Verwunderung blickte die Frau ihr direkt in die blauen Augen. Sie winkte ihr, während sie stetig weitersummte, herzukommen. Das Mädchen tat wie geheißen und bekam von der Frau sowohl den roten Stein als auch eine Visitenkarte in die Hand gedrückt.
 

Magdalena

Hexe und Kräuterfrau des Zirkels

des Mondlichts

Zum Roten Platz 34

Rodengarth

Provinz Glorvin
 

war darauf zu lesen.

"Rodengarth, Hauptbahnhof", ertönte eine klare, kühle Frauenstimme und mit einem leisen Zischen öffneten sich die Türen der U-Bahn. Anuschka trat hinaus in die geflieste Bahnhofshalle und ließ die Hexe, den verzückt lauschenden Jungen und die Pendler zurück.

Ein miserabler Tag

Nachdem Anuschka die U-Bahn verlassen hatte, machte sie sich mit raschen, großen Schritten auf den Weg zu ihrer Arbeit.

Sie war als Säugling bei den Gütigen Schwestern von Mellencourt auf den Treppenstufen ausgesetzt worden. Allerdings hatte sie im Alter von zehn Jahren ihre Grundschulausbildung absolviert und war von dem kleinen Dorf in die nahe Hauptstadt der Provinz Glorvin, Rodengarth, gezogen, um die Schwestern nicht weiter zu belasten. Dort hatte sie sich bei eine netten, kinderlosen Ehepaar in den besten Jahren eingemietet. Sie besaß eine kleine Kammer mit Waschraum und Toilette unter dem Dach und wurde von der freundlichen, pausbäckigen Frau Quedenau bekocht. Um sich die Miete zu verdienen, arbeitete Anuschka in Glen O'Connor's Gemischtwarenladen.

Der alte Glen hatte sie als Aushilfe für seine Tochter, die sich bei einem Sturz von einer Leiter an der Hand verletzt hatte, engagiert und die beiden waren so gut miteinander ausgekommen, dass sie die Stelle auch behalten durfte, als Lizzy wieder genesen war.

Während sie in die Pinienkernallee einbog, die große Geschäftsstraße, in der auch Glen's Laden zu finden war, schweiften Anuschka's Gedanken ab zu der Hexe Magdalena. Ihre Füße gingen die bekannte Strecke automatisch und dies gab ihr Gelegenheit, die seltsamen Ereignisse in der U-Bahn zu überdenken.

Ganz eindeutig hatte die blonde Frau eine magische Melodie gesummt und obwohl das Mädchen kein Experte in Sachen Magie war, konnte sie sich denken, dass das ein sehr fortgeschrittener Zauber sein musste.

Ob sie der Addresse auf der Visitenkarte einen Besuch abstatten sollte?

Abenteuer hatte sie noch nie gescheut und ihre Neugier hatte sie oft in die verzwicktesten Situationen gebracht (wie sollte man einen abergläubischen Nachtwächter davon überzeugen, dass man nur deshalb bei Vollmond auf das Dach gestiegen war und ein Tänzchen aufgeführt hatte, weil man sehen wollte, wie gut man auf dem Dachfirst balancieren konnte?). Mit rotem Kopf biss sie sich bei dem Gedanken an diese Begebenheit auf die Unterlippe – es war sehr peinlich gewesen, die Blicke der Nachbarn, die von neugierig bis verächtlich alle Variationen aufgewiesen hatten, zu ertragen.

Ihre Ankunft bei Glen's Laden holte das Mädchen in die Gegenwart zurück.

Das Pappschild, das in der verstaubten Glastür hing, verkündete, dass das Geschäft geöffnet war. Anuschka trat ein und brachte dadurch eine eiserne Glocke über der Tür dazu, ihren leisen, angenehmen Ton verlauten zu lassen. Im Schaufenster, das zur Straße hinausging, waren eine Kiste mit Zwiebeln, eine Packung Schraubenzieher, ein großes Glas Zitronenbonbons und andere Kleinigkeiten, die das Leben versüßten, ausgestellt. Staub wirbelte durch die trockene, nach Zimt duftende Luft und glänzte im warmen Licht der Deckenlampe golden. Dies und die Stille, die herrschte, nachdem der Laut der Glocke verklungen war, verlieren der Atmosphäre in dem kleinen, mit bis zu der Decke reichenden Regalen vollgestellten Raum einen Hauch Nostalgie, was auch daran liegen mochte, dass Gemischtwarenläden wie der des alten Glen selten geworden und durch große, klimatisierte Supermärkte ersetzt worden waren. Anuschka fühlte sich jedes Mal heimisch, sobald sie auch nur einen Fuß über die Türschwelle setzte.

Als nach einer halben Minute noch niemand aus dem Lagerraum, zu dem man gelangte, wenn man die eiserne Brandschutztür hinter dem Verkaufstresen öffnete, gekommen war, um sie zu begrüßen, rief Anuschka: "Glen? Lizzy? Hallo!" Dann machte sie zwei zögerliche Schritte auf den hölzernen Tresen zu. "Anuschka, Mädchen? Bist du das? Warte, ich bin unterwegs!" Das war Glen's Stimme, die genau so runzelig klang, wie ihr Besitzer war. Langsam schob sich der massige Brustkorb des Mannes durch den engen Spalt, den sich die Tür zum Lagerraum geöffnet hatte. Ein Keuchen und Schnaufen entrang sich ihm, woraus Anuschka schloss, dass er etwas Schweres trug. "Kann ich dir behilflich sein, Glen?", fragte sie, aber in diesem Moment hatte es ihr Arbeitgeber bereits durch die Tür geschafft und wuchtete eine zugenagelte Holzkiste auf den Tresen.

Über sein rundes, faltiges Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, als er das Mädchen begrüßte. "Das hier", verkündete er glücklich, "ist die Lösung all unserer Probleme! Diese Kiste ist angefüllt mit Raritäten: alte Vasen aus Mok, Töpfereien von der Nordküste - und das Beste ist, dass es solche Antiquitäten niemals in einem Supermarkt zu kaufen geben wird! Schnell, schnell, Mädchen, räum' die Vasen in das Regal dort drüben, wo sie jeder sehen kann! Ich werde das restliche Zeug im Schaufenster ausstellen." Und mit diesen Worten begann der alte Mann, die Dinge, die ihm im Weg waren, auf den Boden zu werfen. "Das brauchen wir nicht mehr, und das...", murmelte er dabei unablässig vor sich hin.

Zu gern hätte Anuschka gefragt, woher Glen die Kiste hatte oder warum seine Augen so seltsam glänzten, aber sie schwieg lieber und machte sich ans Einräumen – das kam ihr die beste Methode vor, hinter das Geheimnis zu kommen.

Die Vasen waren wahrhaftige Kunstwerke. Eine jede von ihnen war einzigartig und sicher unbezahlbar. Während sich das arbeitende Mädchen dem Gedanken an den fernen Herkunftsort der Behälter hingab, driftete sie immer weiter ab und wurde unaufmerksam – bis plötzlich ein lautes Klirren zu vernehmen war. Über ihre Träumerei ware ihr ein blaurot gefärbtes Meisterwerk aus der Hand geglitten und am Boden zerschellt. Sofort bückte sie sich und begann, die Scherben aufzusammeln.

Glen kam aufgeregt angewuselt. In seinen vor Erregung geröteten Augen spiegelten sich Wut und Verzweiflung – wahrscheinlich war Anuschka gerade ein Vermögen zu Bruch gegangen. Normalerweise hätte der Arbeitgeber die Sache einfach übergangen und ihr vielleicht mit einem Zwinkern gesagt, sie solle ihm zur Strafe einen Tee kochen, eine Tätigkeit, die das Mädchen nicht ausstehen konnte.

Heute allerdings, an diesem verdrehten Tag voller Hexen und Geheimnisse, sprühten seine Augen Funken, sein Mund Spucketröpfchen und seine Zunge böse Worte. "Du Träumerin! Kannst du nicht besser aufpassen? Was für ein Schlamassel! Weißt du denn gar nicht, was du angerichtet hast? Was für ein Geschäft mir deinetwegen durch die Lappen geht? Ich hätte reich werden können, verstehst du? Reich!!"

Er tigerte verdrossen auf und ab, während seine Untergebene weiterhin Tonstücke in ihre Hand sammelte. Dann schien der Mann einen Entschluss gefasst zu haben. "Ich werde dich entlassen, jawohl, das werde ich. Nichtsnutzige, tolpatschige Angestellte, die bei der Arbeit träumen, sind eher eine Last als eine Hilfe. Geh'!", keifte er, "Geh' und komm' nur als Kunde wieder!"

Resigniert und wie von einem Schlag ins Gesicht betäubt verließ Anuschka das Geschäft, in dem sie immerhin vier Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Was sollte sie nun tun? Jetzt, da sie keine Arbeit mehr hatte, würde sie kaum bei den Quedenaus wohnen bleiben können. Natürlich, eine Arbeitsstelle war in der Hauptstadt immer schnell gefunden, doch die rüde Behandlung und die nahezu grundlose Standpauke durch Glen hatten sie tief verletzt. So war er noch nie mit ihr umgegangen, er hatte sie immer als Partnerin geschätzt und nicht als Untergebene malträtiert. Das Mädchen merkte, wie ihr die warme Tränenflüssigkeit die Nase hochstieg. Wahrscheinlich hatte sie gerade einen Freund verloren, einen der wenigen, die sie hatte.

"Wohin, wohin?", murmelte sie fahrig, während sie durch die Straßen hastete. Zurück zu ihrer Wohnung? Nein. Dann hätte sie erklären müssen, was passiert war, und nach Reden war ihr im Moment wirklich nicht zumute. Sie lenkte ihre Schritte in Richtung des Königsparks. Die ruhige Atmosphäre, die jetzt, am Vormittag, wenn die Kinder in der Schule und die Väter bei der Arbeit waren, dort herrschte, würde ihr gut tun. Niemand begegnete ihr auf ihrem Weg über vom kalten Novemberregen nasses Kopfsteinpflaster und sie war froh darüber, denn so würde ihr auch niemand einen guten Tag wünschen – das würde er bestimmt nicht werden.

Endlich erreichte das Mädchen sein Ziel. Sobald sie durch das geöffnete schmiedeeiserne Tor trat, das in eine mannshohe steinerne Mauer eingefasst war, überkam sie die tröstende Ruhe des Parks. Sie wanderte auf Kieswegen durch die Grünanlage und die nassen Steine unter ihren Füßen rieben sich vom Druck ihres Gewichtes aneinander und knirschten im Rhythmus ihrer Schritte.

Langsam ging sie auf das Herz des Parks zu, das mit ein weiteres Standbild des allgegenwärtigen feeschen Volkshelden Tinruel Lorbeth geschmückt war. Das verklärte marmorne Gesicht des jungen Mannes blickte sehnsuchtsvoll zum wolkenverhangenen Himmel. Unwillkürlich kam Anuschka der Gedanke, er suche wohl nach der Sonne hinter all diesen grauen Massen verdunsteten Wassers. Eine geraume Zeit lang blickte das Mädchen einfach nur gemeinsam mit dem Helden in den Himmel und dachte nicht an das Schlimme, was ihr widerfahren war. Dennoch musste sie sich aus ihrem tranceähnlichen Zustand lösen, als eine junge, aber seltsam hart klingende Stimme hinter ihr in befehlsgewohntem Ton sagte: "Mädchen! Wenn du hier sein willst, musst du uns Tribut zahlen."

Abrupt drehte Anuschka sich ihm. Vor ihr befand sich eine Gruppe der jungen Männer, die man gemeinhin als "Halbstarke" bezeichnete: dicke Jacken mit künstlichem Pelzkragen, ein falscher Brilliant im Ohr, ein Taschenmesser in der Hand und ein breites, unverschämtes Grinsen auf dem mit Pickeln übersäten Gesicht. Die Angesprochene seufzte resigniert. Nicht nur, dass sie ihre Arbeit und einen Freund verloren hatte, jetzt wurde sie auch noch von einer Bande Halbstarker bedroht.

Die Situation war nicht ungefährlich, doch mit etwas Glück und den richtigen Worten würde sie sich geschickt aus dem Schlamassel herausmanövrieren können. Allerdings... Sie hatte keine große Lust, an einem solch misslungenem Tag auch noch Diplomatin zu spielen. "Haut einfach ab und lasst mich in Ruhe!" "O-hoh, jetz' werd' mal nich' aufmüpfig, Kleines! Was willst du denn machen, wenn wir dich nich' in Ruhe lassen?" Der unangenehme Junge kam einen Schritt näher und musterte sie mit prüfendem Blick. Dann drehte er sich zu seinen Kumpanen um und rief ihnen zu: "Ich glaub', ich weiß schon, was ich mit der hier mach'!" Der Rest der Gruppe johlte verkniffen grinsend, während Anuschka verzweifelt dachte, Hätte ich doch nur meinen Mund gehalten, hätte ich doch nur meinen blöden Mund gehalten, mein übergroßes, vorlautes Maul... Ihre Hände ballten sich in ihren Taschen so fest zusammen, dass sich ihr ihre Fingernägel in die Handflächen bohrten.

Plötzlich spürte sie etwas Glattes, Kaltes in ihrer Faust. Es war der rote Stein, den ihr die Hexe gegeben hatte. Na großartig, jetzt kann ich ihm den Stein an den Kopf werfen und hoffen, dass mir das einen Vorsprung verschafft. Schon zog sie die Hand mit dem Stein aus der Tasche und wollte zum Wurf ausholen, als ihr Gegenüber ihren Arm mit eisernem Griff packte und lachend sagte: "Erbärmlicher Versuch, Kleines." Dann packte er sie mit der anderen Hand am Kinn, und obwohl sich Anuschka mit aller Macht sträubte, schaffte er es, sie nah genung an sich heranzuziehen, dass sie seinen stinkenden Atem riechen und die aufdringliche Wärme seines Körpers spüren konnte. Der Junge schloss genüsslich die Augen und unter dem anfeuernden Gejohle und Geschreie seiner Gruppe tat Anuschka dasselbe – allerdings nur, um die ihr bevorstehende Schmach etwas zu lindern.

Sobald ihre Lider geschlossen waren, bemerkte Anuschka etwas Seltsames. Der rote Stein, den sie immer noch in der Hand hielt, strahlte eine angenehme Wärme ab.

Verwundert ob dieser Tatsache öffnete sie die Augen wieder, um nachuzuschauen, was geschehen war. Ihr bot sich als Erstes kein schöner Anblick, aber nachdem sie ihr Gesicht mühevoll von dem Jungen, der sie festhielt, abgewandt hatte, sah sie das rötliche Leuchten, das von ihrer Faust ausging. Anstatt sich weiter darüber Gedanken zu machen, musste das Mädchen sich jetzt erst einmal etwas Luft verschaffen. Sie schrie: "Lass mich los!" und im selben Moment erklärte sich auch der Sinn und Zweck der Wärme des Steines: Ein dünner Feuerstrahl schoss aus dem Mineral direkt auf den Jungen zu, der noch immer versuchte, sie näher heranzuziehen. Als er die Flammen bemerkte, ließ er sie mit einem Aufschrei los, und während die Halbstarken versuchten, ihren Anführer zu löschen, rannte Anuschka, was ihre Beine hergaben.

Hagebuttentee

Das Haus der Hexe war das schönste Haus, das Anuschka je gesehen hatte. Zwischen den Beton- und Backsteinfassaden der Nachbarhäuser stach es angenehm dadurch heraus, dass es, wie nur wenige Häuser im Zentrum Rodengarths, einen Garten hatte. Das kleine Fachwerkhäuschen schmiegte sich in die enge Lücke zwischen zwei riesigen Backsteinbauten mit bröckelnder Fassade. Es hatte zwei Fenster zum Garten hinaus und ein schiefes Ziegeldach, übersät mit Löchern. Im Garten selbst wucherten meterhohe Rosensträucher, deren halbverwelkte Blüten schwer, aber angnehm dufteten. Ein Kiesweg führte von einem Tor, von dem die weiße Farbe bereits abblätterte, zu einer Holztür mit einer Klinke.

Vorsichtig stieß das junge Mädchen das Gartentor auf. Es quietschte und schwang in rostigen Angeln herum. Sie machte einen zögerlichen Schritt auf das Grundstück und wurde auf die angenehmste Weise überrascht: Statt des nasskalten Novemberwetters herrschte in dem Garten warmer Sonnenschein. Goldene Lichtstrahlen fielen vom Himmel, als wären sie nur für die Hexe und ihr Haus durch das Universum gereist, und verbreiteten einen anheimelnden Schein. Auch das konnte nur ein Werk von sehr fortgeschrittener Magie sein.

Nachdem sie das kleine Tor hinter sich geschlossen hatte, ging Anuschka langsam über den Weg aus weißen Kieseln auf die Tür des Hauses zu. Dort bleib sie stehen.

Nach ihrer überstürzten Flucht aus dem Königspark war sie zunächst ziellos durch die Stadt geirrt, bis es beinahe Mittag war. Dann hatte sie Hunger bekommen und musste sehnsuchtsvoll an das Schinkenbrot denken, das in ihrer Tasche in Glen's Laden lag und auf seinen Verzehr wartete. Natürlich konnte sie nicht zurückgehen, ohne einen weiteren Tobsuchtsanfall Glen's zu provozieren und wenn sie zum Haus der Quedenau's ginge, würde sie neugierige Fragen, die noch Salz in ihre Wunden über den Verlust eines guten Freundes streuen würden, wohl kaum vermeiden können. So beschloss sie, der Hexe, die sie am Morgen getroffen hatte, einen Besuch abzustatten, wie diese ihr durch das Überreichen der Visitenkarte vorgeschlagen hatte. Zum Roten Platz 34 – das klang leicht zu finden, denn der Rote Platz lag nicht weit vom Park entfernt, in dessen Nähe sie sich nun wieder befand. Und hier stand sie nun, eine hungrige, nervöse Fremde mit zerzaustem Haar und einer Menge Fragen. Ob die Hexe Magdalena sie einlassen würde? Sicher. Schließlich hatte sie ihr sowohl Karte als auch Stein gegeben. Das war doch praktisch eine Einladung. Und wenn nicht? Nun, sie musste sowieso den Stein zurückgeben.

Alle Zweifel nutzten nichts, sie hob die Faust und klopfte dreimal laut und vernehmlich an die Tür.

Sofort vernahm sie eilige Schritte und noch ehe sie ihre Entscheidung bereuen konnte, wurde die Tür geöffnet und im Türrahmen stand die lächelnde Hexe, genau so, wie Anuschka sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie lächelte freundlich und begrüßte das fremde Mädchen an ihrer Pforte: "Willkommen. Tritt ruhig ein."

Der Gast tat wie geheißen und gelangte in einen schummrigen, mit dunklem Teppich ausgelegten Flur, in dem es leicht nach Lavendel duftete. Lavendel und Rosen – diese Pflanzen passten nicht in das Bild einer Hexe.

Das Mädchen folgte dem Schemen vor ihr weiter in das Haus hinein und stellte erstaunt fest, dass die Diele länger war, als das ganze kleine Gebäude von außen ausgesehen hatte. An den mit dunklen Holzbohlen ausgekleideten Wänden hingen Porträts von Anuschka unbekannten Frauen, die alle dieselbe faltenreiche Kleidung wie Magdalena zu tragen schienen. Sogar eine enge Wendeltreppe ging nach rechts oben ab.

Schließlich gelangte das ungleiche Paar in ein sonniges Zimmer mit weißen Spitzengardinen vor den Fenstern, in dem sich viele Pflanzen, zwei ältere Sofas und ein niedriger Kaffeetisch mit gedrechselten Beinen, auf dem ein zierliches Teeservice auf einem Silbertablett stand, befanden. Mit einem wohlwollenden Blick deutete die Besitzerin des Hauses auf eines der Sofas und Anuschka setzte sich schüchtern und steif auf dessen Kante.

Sobald ihr Hosenboden das Sofa berührt hatte, fing die blonde Hexe mit ihrer angenehmen dunklen Stimme an zu sprechen: "Ich freue mich, dass du zu mir gekommen bist. Das beweist, dass du Mut hast. Nun, ich denke, nach unserer Begegnung in der U-Bahn hast du sicher etwas Ungewöhnliches erlebt?"

Ansuchka hatte nichts zu verlieren. Sie erzählte ihrem Gegenüber von den schrecklichen Ereignissen in Glen's Laden, von der Begegnung im Park, den seltsamen Flammen aus dem Stein und von ihrem Beschluss, die renommierte Kräuterfrau, die vor ihr in einem dunkelgrünen, gepolsterten Ohrensessel saß, aufzusuchen. Nicht einmal das vergessene Schinkenbrot ließ sie aus.

Als das Mädchen geendet hatte, ließ Magdalena einen Ton erklingen, der wie süßer Wein von ihren Lippen perlte und zu Anuschka's Bedauern rasch verklang. Dafür erschien auf dem Silbertablett ein filigran gearbeiteter Porzellanteller, auf dem sich belegte Brote stapelten, und die mit Blumenranken bemalte Teekanne hob sich schwankend und goss je einen Schuss dampfenden, roten, aromatisch duftenden Tee in zwei Tassen mit golden angemalten Henkeln.

Schüchtern griff Anuschka nach der Tasse, die ihr am nächsten stand, worauf ihr ihre Gastgeberin mit einem freundlichen Lächeln mitteilte, sie könne ruhig tüchtig zugreifen, so hungrig, wie sie sein müsse, und sich selber eins der Brote nahm.

Nach einem zufriedenstellenden Mahl wischte sich das Mädchen glücklich und gesättigt ein wenig Mayonnaise aus dem Mundwinkel und auf ein Pfeifen Magdalena's hin verschwand der leergeputzte Teller wieder, woraufhin sich die Hexe fröhlich summend und däumchendrehend in den Sessel zurücksinken ließ. Anuschka fühlte sich ein wenig fehl am Platz.

Verhalten räusperte sie sich, was ihr die Frau im Ohrensessel wohl aus ihrem Tagtraum erwachen ließ. "Verzeih, Anuschka", entschuldigte sich die Hexe und ihre spitzen Ohren nahmen ein sattes Dunkelrot an, "Nach einem ausgiebigen Mahl pflege ich immer ein wenig vor mich hin zu dämmern." Abschliessend klatschte sie in die Hände. "So, nun lass mich ein wenig erzählen. Als wir uns heute morgen trafen, spürte ich in dir etwas Außergewöhnliches. Darum überreichte ich dir, wie es seit langen Zeiten Tradition im Zirkel des Mondlichts ist, einen Gegenstand, in deinem Fall der rote Stein, den ich zuvor mit einem einfachen Zauber belegt hatte, um zu sehen, ob es dir gelänge, diesen Zauber auszulösen. Sollte das der Fall sein, so besäßest du in der Tat Kräfte, die ... über den Durchschnitt der Bevölkerung Glorvins hinausgehen."

Anuschka lauschte aufmerksam der ruhigen und melodiösen Stimme, die ihr von nie geahnten Geheimnissen erzählte. "Wenn du diese deine Kräfte weiter ausbilden möchtest, so werde ich mich als Lehrmeisterin deiner annehmen und du wirst es zu beträchtlichem Ruhm bringen. Willst du allerdings deine Fähigkeiten verfallen lassen, so kannst du trotzdem jederzeit wiederkommen, um ein wenig zu plaudern."

Schmunzelnd unterbrach sich die Rednerin selbst: "Ich kann es dir an der Nasenspitze ansehen, dass ich in dir eine Menge Fragen aufgeworfen habe. Frage mich ruhig! Denn wer fragt, beweist, dass er noch lebt und unter uns weilt."

Überlegt öffnete Anuschka den Mund und fragte leise: "Sind Sie sich sicher, dass sie mit mir das richtige Mädchen für ihre Dinge ausgewählt haben?"

Diese Frage schien die Hexe zu amüsieren. "Hast du nicht dein Talent unter Beweis gestellt, indem du die jungen Männer im Park vertrieben hast? Niemand außer dir hätte das bewerkstelligen können."

"Gut ", erwiderte das jüngere Mädchen und fragte weiter: "Warum wollen Sie mich zu einer ähm... Hexe...", das altertümliche Wort kam ihr in diesem Zusammenhang nur schwer über die Lippen, "... ausbilden? Was bringt Ihnen das?"

"Nun, zunächst einmal freut sich der Zirkel über jedes weitere Mitglied. Die Hexe, die dich ausbildet, wird zu deiner Mentorin, in deren Zirkel du später eintrittst – gesetzt den Fall, du möchtest eine Hexe werden ", fügte Magdalena erklärend hinzu, "Zweitens wäre es nicht gut, deine Kräfte schlummern zu lassen. Ich habe schon Begabte mit schlummernden Kräften gesehen, die ihre Liebsten mit ihren Küssen aus Versehen in Frösche verwandelten oder ihren Feinden schreckliche Entstellungen anhexten – unbewusst. Nicht nur, dass das nicht sonderlich beliebt macht, eine Hexe oder andere Begabte muss sich auch für ihre Taten verantworten. Es ist bereits vorgekommen, dass Frauen mit schlummernden Kräften zum Feuertode verurteilt wurden. " Und mit dem Heben einer Augenbraue fügte sie an: "Sicher erinnerst du dich an die großen Magierkriege? Unter dem Vorwand, die arkanen Kräfte der Frauen seien unrein, wurde das Hexentum von den Magiern beinahe ausgemerzt."

Sie lachte kurz und trocken. "Und nun gibt es keine männlichen Magier mehr, nur noch uns Hexen. Eine wahre Ironie des Schicksals!

Aber zurück zu deiner Frage. Der dritte und letzte Grund, warum ich es mit Freuden sehen würde, wenn du dich dafür entschließen würdest, meine Schülerin zu werden, ist, dass ich persönlich dich sehr sympathisch finde."

Magdalena zeigte ein entwaffnendes Lächeln und die Porzellankanne goss gluckernd einen Schuss aromatischen Hagebuttentee in Anuschka's Tasse. Das Mädchen war dankbar dafür, dass sie ihr Gesicht hinter dem Dampf des heißen Tees verstecken konnte, während sie einen weiteren Schluck trank.

Solcherlei Freundlichkeiten waren ihr bisher immer befremdlich gewesen, zumal sie ihr Gegenüber erst seit wenigen Stunden kannte.

Anuschka selbst war nicht sehr extrovertiert und hatte nur sehr wenige Freunde wie den alten Glen und das Ehepaar Quedenau, wobei Glen nun nicht mehr als Freund zählen konnte... Tränen schossen in des Mädchens Augen und hastig nahm sie noch einen Schluck Tee, um ihren Kummer zu verbergen.

Sie atmete ein paar Mal durch, bevor sie die nächste Frage stellte: "Was macht eine solche Hexe aus? Was kann sie und was würden Sie mir beibringen, wenn ich Ihre Schülerin würde?"

Wieder schmunzelte Anuschka's Gastgeberin. Die Hexe schien eine sehr vergnügte Frau zu sein. "Nun", antwortete sie, "wenn ich dir das sagen würde, dann wären wir bereits mitten im Unterricht. Würde ich einer uneingeweihten Person die Geheimnissee des Zirkels und des Hexen-Seins offenbaren, so würden diese doch sicher ihren mysteriösen Reiz verlieren." Und mit einem Zwinkern fügte sie an: "So etwas verdirbt das Geschäft." Dieser kleine Scherz zauberte auch auf Anuschka's Gesicht ein Lächeln.

"Übrigens", sprach die Hexe weiter,"Verzichte doch bitte auf dieses förmliche 'Sie'. Es reicht, wenn du mich mit 'Magdalena' ansprichst, ich duze dich schließlich auch. Ich finde, durch diese Siezerei werden alltägliche Begegnungen so kalt und unpersönlich." Die Angesprochene nickte nur und errötete leicht ob dieser Vertraulichkeit.

Dann hatte Anuschka für's Erste keine Fragen mehr. Sie bedankte sich für die erwiesene Gastfreundschaft und versprach, wiederzukommen – allein schon, um ihre neu entdeckten magischen Kräften unter Kontrolle halten zu können. Sie verließ das seltsame Haus der Hexe wieder, wobei sie abermals den Garten, in dem trotz aller herbstlicher Kühle die Sonne schien, bewunderte. Der milde Duft der beinah verblühten Rosen umschmeichelte angenehm ihre Nase und verlieh ihr ein Gefühl des Willkommenseins. Ja, sie hatte ihr Versprechen nicht zu Unrecht gegeben: Sie würde wiederkehren.

Als sie das niedrige, schlecht geölte Gartentor hinter sich ins Schloss fallen ließ, brach die Feuchtigkeit eines Nachmittags im Herbst wieder über das junge Mädchen herein. Seufzend streckte sie die Glieder, was ihr einige schräge Blicke einbrachte, und ging auf eine Betontreppe auf dem Roten Platz zu, die in die Tiefe führte und neben der ein lädiertes Plastikschild mit der Aufschrift "Roter Platz, Rodengarth-Zentrum, U-Bahn-Station" stand.

Viele aufregende Gedanken brodelten in Anuschkas Kopf, als sie sich mit der U-Bahn wieder auf den Weg zu ihrem Heim bei dem Ehepaar Quedenau machte. Sollte sie Magdalenas Angebot annehmen? Die Hexe schien eine äußerst freundliche und zuvorkommende Frau zu sein, die nur das Beste für ihre Umgebung und die Menschen darin wollte.

Die Bahn ratterte an kalten Betonwänden vorbei und nach zwanzig Minuten, die dem Mädchen wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, erreichte sie ihr Ziel. Nur zu gern ließ Anuschka die Bahn mit ihren ungemütlichen Plastiksitzen und schweigsamen Fahrgästen zurück – jetzt, wo sie den direkten Vergleich zu weichen Polstermöbeln und Magdalenas angenehmer Gesellschaft hatte. Mit einem seltenen Lächeln stieg sie schließlich die Treppe in dem Backsteinhaus, das sie und die Quedenaus beherbergte, hinauf und drehte ihren Haustürschlüssel, den sie zum Glück immer in der Hosentasche trug, in dem alten Schloss der verkratzten Tür herum.
 

Als Anuschka die gepflegte Wohnküche betrat, erhaschte sie nur einen flüchtigen Blick auf Frau Quedenau's geblümte Schürze und fühlte sich schon von den Armen ihrer molligen Vermieterin umschlossen.

Die Frau schluchzte los: "Oh, mein Mädchen, Anuschka, meine Gute! Wo bist du nur gewesen? Glen hat hier angerufen, er war ganz aufgelöst und erzählte irgendeine wirre Geschichte von ein paar Tontöpfen, und dass er einen schrecklichen Fehler gemacht habe und du weggelaufen seist. Was ist denn geschehen? Bist du wirklich weggelaufen? Nun rede doch, Mädchen! Oder geht es dir nicht gut? Warte nur, ich mach' dir einen schönen heißen Kakao und dann erzählst du mir alles."

Nach diesem atemberaubenden Wortschwall gelang es dem Mädchen endlich, sich aus der Umarmung zu lösen, allerdings nur, weil Frau Quedenau nun anderweitig beschäftig war. Sie klapperte eifrig mit einem Kessel und schlug die Türen des Küchenschrankes auf und zu, wobei sie es trotzdem schaffte, weiter zu reden. "Nun setz' dich erst einmal, Anuschka, und ruh' dich aus! Das muss ja ein schrecklicher Tag für dich gewesen sein. Erzähl' mir einfach alles, dann wird es dir besser gehen!"

So aufgefordert begann das Mädchen zum zweiten Mal an diesem Tag seine Geschichte, wobei es sich an der warmen Kakaotasse regelrecht festhielt und nur hin und wieder einen kleinen Schluck nahm. Fasziniert und ein wenig entsetzt lauschte ihr Frau Quedenau, sie staunte über das Haus am Roten Platz, war wütend auf die Halbstarken im Park und ergänzte schließlich, als Anuschka zum Ende ihres Berichtes gekommen war, sie werde sofort aufbrechen und die Tasche mit dem Schinkenbrot aus dem Gemischtwarenladen holen und bei der Gelegenheit auch noch ein Wörtchen mit Glen reden und Anuschka vielleicht eine Tüte Zitronenbonbons mitbringen...

Die rundliche Frau schlüpfte in ihren abgewetzten beigen Mantel, warf ihrer Mieterin, die für sie mehr eine Tochter war, ein rasches Wort des Abschieds zu und war verschwunden. Die Tür fiel hinter ihr mit einem dumpfen Knall ins Schloss und das Mädchen saß alleine in der Wohnung.

Sie trank ihren Kakao aus und stellte die leere Tasse in das Spülbecken, dann löschte sie das Licht in der Küche und stieg die schiefen, steilen Treppenstufen zu ihrer kleinen Kammer im Zwielicht eines Novemberabends hinauf. Notfalls hätte sie den Weg auch blind gewusst. Allerdings verhinderte das nicht, dass sie sich den Kopf an dem Querbalken über ihrer niedrigen Türe stieß, wie sie es seit ihrem zwölften Lebensjahr tat. Sie stieß einen leisen Fluch aus und tastete nach dem Lichtschalter, doch als sie ihn gefunden hatte, überlegte sie es sich doch noch einmal anders und legte sich im Dunkeln auf ihr Bett, ganz allein mit den Geschehnissen des Tages und ihren Gedanken dazu.

Ich habe heute eine Lehrstelle bei einer Hexe angeboten bekommen, dachte sie, und einen alten Freund verloren. Macht es das wieder wett? Naja, vielleicht hat Glen es nicht so gemeint... Was war bloß heute mit ihm los? Ich habe ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Ihr Blick wanderte zur Zimmerdecke und huschte über die Dachbalken. In der Dunkelheit hörte sie auf dem Dachboden die Krallen des Marders, der hier seit dem Sommer lebte, über den Boden scharren.

Dann dachte sie wieder an das wundersame Haus, in dem sie Magdalena heute besucht hatte. Die Hexe war sehr freundlich zu ihr gewesen, obwohl sie sich heute erst kennengelernt hatten – in einer Großstadt wie Rodengarth passierte das einem vierzehnjährigen, arbeitslosen Mädchen nicht oft. Ein dumpfes Glücksgefühl stellte sich in Anuschkas Brust ein, als sie sich ihre Rückkehr in den sonnigen Garten und das gemütliche Wohnzimmer, in dem es nach Lavendel roch, vorstellte. Ob sie als Lehrling bei der Hexe wohnen würde? Würde sie Gelegenheit haben, die Quedenaus zu besuchen? Sicher. Eine Frau wie Magdalena würde ihr nicht die Gesellschaft der wenigen Personen, die sie ihre Freunde nannte, verwehren.

Das Quietschen der schlecht geölten Scharniere der Eingangstür ließ das Mädchen aufhorchen, kurz darauf hörte sie jemanden die Stiege zu ihrer Kammer erklimmen und ein dumpfes Geräusch, als sich ihr Besucher offensichtlich den Kopf am Türbalken stieß.

Das Licht ging an und Frau Quedenau stand in ihrem beigen Mantel, noch ein wenig außer Atem von dem Aufstieg, im Türrahmen. In der Hand hielt sie eine Tüte aus braunem Packpapier, der ein verheißungsvoller Duft entströmte. Sie schwenkte die Tüte mit einem fröhlichen Lächeln, das ihr altes Gesicht wieder jung machte, hin und her und begann zu sprechen: "Anuschka! Was sitzt du denn hier oben im Dunkeln? Schau, ich habe dir ein halbes Hähnchen vom Bahnhof mitgebracht. Hier hast du auch eine Papierserviette." Mit diesen Worten reichte sie ihrer Untermieterin die Mahlzeit und schaute ihr beinahe ein wenig fasziniert dabei zu, wie sie sie in kürzester Zeit verschlang.

Nun, nachdem ihr Hunger gestillt war, fragte Anuschka Frau Quedenau nach Glen. Die alte Frau antwortete, sie habe ihn in seinem Laden nicht mehr angetroffen, aber Anuschka habe Recht gehabt, die Vasen im Schaufenster seien wirklich außergewöhnlich schön gewesen!

Jedenfalls sei sie zu Glen und Lizzy nach Hause gegangen. Glen sei hundeelend zumute gewesen, weil er Anuschka entlassen habe, und Lizzy habe ihn erst zur Schnecke gemacht und dann den Kopf auf den Tisch gelegt und geweint. Nun, sie, Frau Quedenau, habe dann Lizzy wieder etwas getröstet und Glen eine wahrhaft herzzerreißende Entschuldigung abgenommen, an deren genauen Wortlaut sie sich leider nicht mehr erinnern könne – ihre grauen Zellen spielten auch nicht mehr so mit, wie sie wolle. Es sei aber darauf hinausgelaufen, dass Glen Anuschka auf jeden Fall wieder bei sich einstellen werde, wenn sie das noch wolle.

Im Laufe diesr Erzählung wurde Anuschka immer fröhlicher und ein weiteres Lächeln stahl sich an diesem Tag auf ihr Gesicht. Sie würde zu Glen zurückkehren. Sie hatte ihren Freund nicht verloren, im Gegenteil, sie hatte heute sogar noch eine wertvolle Bekanntschaft hinzugewonnen.

Das Mädchen erzählte der alten Frau, die neben ihr auf dem Bett saß, den Mantel halbgeöffnet, auf dem Schoß die kläglichen Überreste eines halben Hähnchens, von ihrem Beschluss, ihre arkanen Kräfte bändigen zu wollen. Frau Quedenau konnte dem nur zustimmen, wer weiß, was passieren könnte, wenn eine unkontrollierte Hexe in Rodengarth umherlief, die ihre Feinde nur mit einem simplen Stein brennen lassen konnte?

Magie

Der nächste Morgen war neblig und dunkel. Anuschka quälte sich nur mit Mühe aus ihrem warmen Bett und torkelte im Halbschlaf ins Badezimmer. Ihr Spiegelbild blickte sie missmutig und unausgeschlafen an. Dann fiel ihr Blick auf das Lederband, das das Mädchen im Spiegel um den Hals gebunden hatte. Ein karmesinroter Stein war daran festgeknotet, dessen Anblick Anuschka sofort hellwach machte. Heute würde ihr Unterricht beginnen! Nun würde sie lernen, was es bedeutete, eine Hexe zu sein. Schnell nahm sie eine heiße Dusche und flocht dann ihr nasses rotbraunes Haar zu einem dicken Zopf, schlüpfte hastig in eine dunkle Jeans und kämpfte eine Weile mit einem schwarzen Pullover, der nicht über ihren Kopf passen wollte.

In der Küche saß Herr Quedenau am Frühstückstisch und war gerade im Begriff, einen Schluck aus seiner roten Kaffeetasse zu nehmen, da sah er Anuschka im Türrahmen stehen. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln und erklärte, sie könne heute dieselbe U-Bahn wie er nehmen, er hätte sie auf seinem Weg zur Arbeit sehr gerne bei sich. Das Angebot freute das Mädchen sehr, jetzt würde sie jemanden haben, mit dem sie sich auf dem Weg zu ihrer ersten Unterrichtsstunde unterhalten konnte, um der Nervosität ein wenig vorzubeugen. Sie nickte und wandte sich dann Frau Quedenau zu, die mit Argusaugen über einen Topf mit Milch wachte, der auf dem Gasherd stand. "Guten Morgen!", grüßte Anuschka. Die rundliche Frau drehte sich um und nahm dabei den Topf vom Herd. "Guten Morgen, Anuschka, Liebes! Ich hab' dir Milch für Kakao warm gemacht, heute brauchst du eine besondere Stärkung zum Frühstück. Nun setz' dich schon!" Das Mädchen gehorchte und rutschte auf die Eckbank, vor der der Küchentisch stand. Sie legte ein Brötchen auf ihren Teller und begann, es aufzuschneiden, während Frau Quedenau eine weitere Tasse aus den unergründlichen Tiefen des Küchenschrankes ans Tageslicht brachte.

Anuschka liebte es, so zu frühstücken, auch wenn die Quedenaus nicht oft Zeit dazu hatten. Wenn sie selten einmal daran dachte, wie es wohl wäre, wenn ihre Eltern sie bei sich behalten hätten, stellte sie sich das traute Familienglück meist so vor wie ihr heutiges Frühstück: Man saß beisammen, manchmal still, manchmal fröhlich plaudernd, aber immer wussten die anderen am Tisch, wie es um einen stand. Und sie war von Herzen froh, dass sie dieses Glück auch ohne eine richtige Familie genießen durfte.

Als das Mädchen aufgegessen hatte, hatte auch ihr Vermieter seine morgendliche Routine hinter sich gebracht und sie verließen gemeinsam das alte Backsteinhaus. Der alte Mann und seine Begleitung, die für ihn fast wie eine Tochter war, machten sich auf den Weg zur U-Bahnstation. Sie redeten nicht viel, waren aber in vertrautem Schweigen vereint und wussten, was sie voneinander zu halten hatten. Erst in der U-Bahn, im allgemeinen lauten Gedränge einer arbeitenden Bevölkerung, begann der alte Mann ein Gespräch. Die Freunde plauderten über alles, was ihnen in den Sinn kam und Anuschka war im Geheimen dankbar dafür, dass Herr Quedenau die Unterhaltung nicht in Richtung ihrer ersten Unterrichtsstunde lenkte. Sie war so schon nervös genug.

Als sie am Roten Platz ausstieg und ihren Vermieter in der überfüllten U-Bahn zurückließ, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Mit großen Schritten überquerte sie den Platz. In diesem Moment bedauerte das Mädchen, dass die Hexe so nahe an einer U-Bahnstation wohnte, ein kleiner Spaziergang hätte vielleicht ihrer Aufregung Abhilfe schaffen können. Aber schon hatte sie das Hexenhaus mit dem wundervollen Garten erreicht. Von außen sah er aus wie ein Garten im November: Kahle Buschgerippe, Regentropfen, die an dunklen Ästen hängen. Doch Anuschka wusste es besser. Mit einem Lächeln schob sie den Riegel des Gartentürchens zurück und trat ein. Sofort überflutete sie anheimelndes Sonnenlicht und in ihr keimte der triumphierende Gedanke: Ha! Es war doch kein Traum!

Sie schritt den Kiesweg entlang und erreichte die Tür. Als sie die Hand danach ausstreckte, um zu klopfen, begann sie vor Anspannung ein wenig zu zittern.

Noch ehe ihre Fingerknöchel die Tür berührt hatten, wurde diese schon aufgerissen und das fröhliche, feengleiche Gesicht Magdalenas strahlte ihr entgegen. Die Frau begrüßte ihre Schülerin freudig: "Komm' herein, immer nur herein! Ich freue mich wirklich, dass du da bist, und ich muss sagen, ich bin ziemlich aufgeregt. Du bist meine allererste Schülerin, musst du wissen. Geh' einfach durch den Flur", sie nahm Anuschka, die bereits mit sanfter Gewalt in den Korridor geschoben worden war, ihren Mantel ab, "und durch die zweite Tür, die nach links führt. Ich brauche noch ein Weilchen, ich muss noch etwas vorbereiten."

Mit einem zwinkernden Auge wandte sich die Hexe zur Treppe und hängte den Mantel ihrer Besucherin an eine Garderobe aus dunklem Eichenholz, bevor sie sich daran machte, die enge Wendeltreppe zu erklimmen. Auf den mit Teppich ausgelegten Stufen erzeugten ihre Schritte ein dumpfes Geräusch, das sich nach oben entfernte.

Wiederum wunderte sich Anuschka, dass in einem so kleinen Haus Platz für einen langen Korridor und ein zweites Stockwerk war, aber im Moment konzentrierte sie sich darauf, ihren Unterrichtsraum zu finden. Sie schritt durch den dämmrigen Flur und dann durch die Tür, die ihr beschrieben worden war.

Das Mädchen gelangte in einen hellen Raum, in dem auf dem Boden einige bunte Kissen in warmen Farben lagen. Die Wände waren in einem hellen und freundlichen Ton verputzt und ein Fenster zeigte den wundervollen Garten, in dem goldene Sonnenstrahlen zarte Rosenblüten beschienen. Anuschka atmete tief durch und versuchte, ihre Aufregung zu bändigen oder wenigstens für einen Moment zu vergessen. Was, wenn von ihr verlangt wurde, etwas zu zaubern? Würde sie es womöglich nicht schaffen und wieder nach Hause geschickt werden? Oder, noch schlimmer, würde sie ihre Macht nicht kontrollieren können und ganz Rodengarth in Schutt und Asche legen?

Andererseits war ihre Magie ein wunderbares Geschenk und sie durfte nichts unversucht lassen, um sich dessen würdig zu erweisen. Und wer wusste, ob sie nicht eine einigermaßen passable Schülerin wurde? In den ersten Stunden würde es ja nur darum gehen, wie sie ihre Magie nicht einsetze. Und das konnte sie gut, folglich würde sie sich nicht allzu sehr blamieren.

Magdalena kam durch die Tür herein und trug auf ihren Armen und unter ihrem Kinn eingeklemmt eine Schale mit Plätzchen und ein seltsames Gestell aus Kupfer, das beinahe aussah wie ein abstraktes Kunstwerk. Anuschka musste zweimal hinschauen, um zu erkennen, wie es zusammenhing und was es darstellte. Offensichtlich war dies ein antikes Astrolabium, und zwar eines in erstaunlich gutem Zustand. Ob es durch Magie zusammengehalten wurde?

Die Hexe lächelte freundlich und keuchte ein wenig, als sie die Tür hinter sich mit Hilfe ihres Ellenbogens wieder schloss. Dann stellte sie die Schale und das Astrolabium auf den Boden und wies aufmunternd auf die Kissen. Ihre Schülerin setzte sich etwas steif und blickte sie dann aufmerksam an.

"So", meinte Magdalena glücklich, "dies wird deine erste Unterrichtsstunde. Ich bin fast so aufgeregt wie bei meiner ersten Unterweisung... Heute morgen bin ich um vier Uhr aufgewacht, stell' dir vor!" Sie strahlte Anuschka an und diese konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Sie freute sich, dass sie nicht die Einzige war, die sich in einer neuen und ungewohnten Situation befand. Geschickt ließ sich die Hexe im Lotossitz auf einem Kissen gegenüber ihrer Schülerin nieder und begann mit der Lektion. "Ich dachte mir", sagte sie, "ich versuche erst einmal, dir die Magie zu erklären, damit sie dir nicht mehr allzu fremd ist. Nun, zunächst musst du wissen, dass Magie eine Kraft ist, ähnlich wie die Schwerkraft. Sie ist da und beeinflusst unser Leben auf der Erde. Allerdings ist sie in den heutigen Zeiten so abgeflaut, dass wir sie kaum noch bemerken. Hast du dich schon einmal gefragt, warum du am Lied eines Vogels Gefallen findest? Es ist die Magie, die darin mitschwingt. Wolltest du wissen, warum du ein warmes Gefühl in der Magengrube bekommst, wenn dir jemand zulächelt? Zauber liegt in seiner Geste. All die kleinen Dinge, die unser Leben angenehm und besonders machen, verdanken wir dieser Kraft, die gemeinhin als Magie bezeichnet wird.

Sie ist immer da und strömt normalerweise fast gleichmäßig vor sich hin. In diesem arkanen Strom musst du dir allerdings einige Wellen und Untiefen vorstellen: Das sind die Menschen, die die Fähigkeit haben, die Magie nach ihrem Willen zu formen und zu lenken. In uns allen steckt ein magischer Funke, aber er bleibt in den meisten Fällen unangefacht oder verkommt zu Dingen wie dem "Zweiten Gesicht" oder dem "Bösen Blick".

Magie ist vielseitig einsetzbar. Durch bestimmte Worte oder Gesten geben wir Hexen, die einzigen Menschen, die heute noch bewusst Magie praktizieren, ihren Strömen eine gewollte Richtung. Viele denken bei Magie an Schaden, der durch sie verursacht wird, an Zauber, die, einmal gewebt, ganze Armeen zu Asche verbrennen lassen – dein Defensivzauber gestern ist zum Beispiel ein solcher. Oh, du brauchst nicht so skeptisch zu schauen, es ist normal, dass sich die erste instinktive Magie auf Schutz und Flucht konzentriert – Dinge, bei denen wir gerne einmal Hilfe annehmen. Mach' dir keine Sorgen, ich bin sicher, der Junge ist inzwischen wieder vollkommen genesen. Wenn du, wie du sagst, aus einem Reflex heraus reagiert hast, dann dürftest du einen sehr unkontrollierten Zauber mit instabiler Matrix verwendet haben, dessen arkaner Strom sich wohl verästelt hat und in Nebeneffekte – ah, ich sehe schon, ich sollte mich erklären.

Nun, wenn eine Hexe einen Zauber weben will, dann konzentriert sie sich auf die Kraft, die in ihrem Körper und ihrer Umgebung fließt. Diese Kraft kann stärker oder schwächer sein, je nach Talent der Hexe und Art ihrer Umgebung. In der U-Bahn reicht sie gerade mal dazu, einem kleinen Jungen eine Geschichte zu erzählen, in einem Park kann man sich damit aufdringliche Jugendliche vom Leib halten und in, sagen wir mal, einem Regenwald dürfte eine Hexe mit entsprechender Begabung dazu fähig sein, die Bäume zum Reden zu bringen.

Du siehst also, je natürlicher und verwilderter unsere Umgebung ist, desto mehr Magie fließt und desto mehr davon können wir in unsere Zauber mit einbeziehen.

Hat die Hexe also geprüft, wieviel Kraft ihr zur Verfügung steht, so besinnt sie sich auf die Form, die sie dem Strom geben will: In welche Richtung soll er fließen? Wie stark soll er sein? Und welche Merkmale soll er tragen?

Möchte man einen Lebenden Zauber, also einen Zauber, der heilt, verändert, fühlt oder kommuniziert, weben, so muss man die Magie aus sich selbst ziehen, denn dieses Leben fühlt man am stärksten.

Will man dagegen einen Kalten Zauber, also einen, der schadet, täuscht, bewegt oder verstärkt, beschwören, dann ist die Kraft aus der Umgebung zu beziehen, weil sie dann unpersönlicher ist – sie wurde der Hexe nicht aus dem eigenen Herzen entrissen, ist also nicht körperwarm.

Natürlich kann man in beiden Fällen beliebig an Kraft tauschen und ergänzen, aber wenn du die Magie für einen Heilungszauber aus einem Fels ziehst, wirst du weniger Erfolg haben."

Anuschka nickte. Das Zaubern schien doch eine kompliziertere Sache zu sein, als sie gedacht hatte. Magdalenas Blick wanderte nun zu dem Astrolabium und sie fuhr in ihren Erklärungen fort: "Wie genau wirkt nun diese Kraft? Um das zu demonstrieren, habe ich dieses Astrolabium mitgebracht. Anuschka, bitte lege diesen Ring an. Ich kann noch nicht riskieren, dich selber einen Hellsichtszauber wirken zu lassen, selbst nicht unter meiner Aufsicht." Die Hexe förderte aus den unendlichen Tiefen ihres weiten, faltenreichen Gewandes einen kupfernen Ring zu Tage. Er fühlte sich an Anuschkas Finger seltsam kühl und fremd an.

Nun blickte die Frau auf das Astrolabium vor ihr auf dem Boden und murmelte einige melodiöse Worte. Sofort begannen sich die kupfernen Kügelchen um sich selbst zu drehen und bewegten sich an Kupferdrähten um Kupfersonnen. Der warme Glanz des Metalls war aber nicht alles, was die aufmerksame Anuschka bemerkte. Gleichzeitig strömte faseriges blaues Licht durch das Modell und ließ es unheimlich schimmern. Verwirrt blinzelte das Mädchen und blickte ihre Lehrmeisterin fragend an. Magdalena lächelte abermals und wies ihr, sich ein Plätzchen zu nehmen, bevor sie sagte: "Trügest du keinen verzauberten Gegenstand an deinem Leib, so könntest du den Arkanen Strom nicht bemerken. Nimm den Ring ruhig ab und schau noch einmal hin, du wirst das blaue Licht nicht mehr erkennen." Nachdem ihre Schülerin getan hatte, wie es ihr gesagt worden war, fuhr die Frau fort: "Hast du gesehen, wie der Strom an den Drähten gezogen und die Kugeln angestoßen hat? Das ist die Krafteinwirkung der Magie der Bewegung. Ein Kalter Zauber wurde auf einen Gegenstand gelegt. Mit einem Lebenden Zauber würde das nicht funktionieren. Kannst du dir denken, warum?"

Erschrocken, dass ihre Meinung gefragt war, verschluckte sich Anuschka beinahe an ihrem Vanilleplätzchen, bevor sie, etwas außer Atem, antwortete: "Ähm... weil die Magie... die der Zauber benötigt, nicht von einer Hexe stammen kann, wenn er in einen Gegenstand eingeschlossen ist?"

"Genau so ist es", entgegnete Magdalena und schenkte dem Mädchen ein stolzes Lächeln.

"Also gut, meine Liebe", fuhr die Frau schließlich fort, "zu guter Letzt möchte ich dir noch ein kleines Kunststück zeigen. Falls du dich entschließen solltest, wirklich eine Hexe zu werden, dann wirst du dich, nachdem du gelernt hast, deine Kräfte zu kontrollieren und zu bändigen, zuerst daran versuchen."

Dann nahm sie den verzauberten Ring, den Anuschka zwischen die Plätzchenschale und das Astrolabium gelegt hatte, und warf ihn in die Luft, wo er schweben blieb. Sie schloss die Augen und auf ihrer Stirn erschien eine steile Falte, die klarmachte, dass sie sich sehr konzentrierte. Die Kupferfarbe des Rings begann zu fließen und sich zu einem warmen Goldton zu verändern.

Plötzlich blieb die Zeit stehen und Anuschka hörte nur noch ihr Herz schlagen. Um sie herum war es dunkel. Nach Momenten der Finsternis glomm vor ihr ein schwach leuchtender, hellblauer Punkt auf, der größer und breiter wurde, zu strömen begann, sich verästelte, in alle Richtungen floss. Die Melodie ihres pochenden Herzens vereinigte sich mit diesem mächtigen Strom, dem Mädchen wurde warm und sie fühlte, wie eine unbeschreibliche Energie knisternd durch ihre Adern pulsierte und ihren ganzen Körper mit Wärme und einem blauen Licht erfüllte.

Und genau so abrupt, wie ihr Unterricht unterbrochen worden war, wurde er fortgesetzt. Anuschka saß auf einem orangefarbenen Kissen und blickte ihre Lehrmeisterin sehr verwirrt, aber auch etwas verklärt an. Diese lächelte geheimnisvoll und in ihren Augen schimmerten Erinnerungen an alte Zeiten.

Die Schülerin begann zu sprechen: "Was... was war das eben?"

Sanft lächelnd erklärte Magdalena: "Du hast dich in den Arkanen Strom begeben. Wenn um dich herum größere Mengen an Lebender Magie fließen, etwa durch einen Zauber, kannst du sie spüren, und, wenn sie konzentriert genug sind, für einen Moment das wahre Wesen der Magie schauen." Sie hielt kurz inne und blickte verträumt auf einen Punkt in der Ferne. Dann sprach sie weiter: "Mein erstes Erlebnis dieser Art war während eines Heilzaubers, den meine Mentorin sprach. Damals war ich bereits zwei Jahre in der Lehre... es ist ungewöhnlich, dass ein unausgebildetes Mädchen schon bei einem solch kleinen Funken Magie in den Strom gelangt. Das wird nicht jedes Mal passieren, wenn jemand um dich herum einen Lebenden Zauber spricht, ich werde dir eine Methode zeigen, mit der du dich in dieser Dimension festhältst.

Nun, Anuschka, ich schätze, du hast heute noch vor, zur Arbeit zu gehen. Glen hat dich wieder eingestellt, nicht wahr? Das ist gut." Wieder schenkte die Hexe ihrer Schülerin ein Lächeln, bevor sie fortfuhr: "Wenn du gehst, nimm dir ruhig noch einige Plätzchen mit. Wir können die nächste Stunde ansetzen, wann du möchtest, aber diese hier ist vorüber. Mehr habe ich für einen Tag nicht vorbereitet." Sie lachte und auch Anuschka zeigte ein vorsichtiges Lächeln, bevor sie, wie geheißen, ein weiteres Plätzchen griff und nachdenklich kaute. Dann sagte sie: "Dieser... Arkane Strom... ich habe noch nie etwas Schöneres gesehen oder gespürt." Magdalena nickte wissend.

"Wenn ich eine Hexe bin, werde ich die Magie oft spüren, nicht wahr? Bitte, Magdalena... ich möchte deine Schülerin sein."

Wogegen die Hexe natürlich nichts einzuwenden hatte.

Der Flug des Adlers

Schon oft war Anuschka durch Rodengarth unterwegs gewesen, aber noch nie hatte sie so gute Laune gehabt wie jetzt. Während sie auf die U-Bahn wartete, beobachtete sie voller Interesse ihre Umwelt und malte sich aus, was die Menschen um sie herum denken könnten. In der Bahn lächelte sie jedem, der ihr ins Gesicht sah, freundlich zu und bot einer alten Dame ihren Platz an.

Ihre gute Laune wurde nur durch ein Erlebnis ein wenig auf die Probe gestellt. Als sie die Strecke von Magdalenas Haus zur Pinienkernallee schon halb bewältigt hatte, rempelte sie ein Junge an, kein Jahr älter als sie. Daran wäre normalerweise nichts Ungewöhnliches zu finden gewesen, doch an diesem Tag waren Anuschkas Sinne, vielleicht, weil sie ihre Umwelt aufmerksamer wahrnahm, schärfer als sonst und sie bemerkte, wie eine Hand wie zufällig in ihre Jackentasche rutschte. Beflügelt durch ihre gute Laune griff sie nach dem Handgelenk des Jungen und hielt ihn fest. "He, was soll –" er bemerkte den Ausdruck in ihren Augen, der erkennen ließ, dass sie ihn durchschaut hatte.

Da senkte er seine Stimme: "Hör' mal, ich kann verstehen, wenn du mich nicht magst, aber ich versuche auch nur, mich über Wasser zu halten... Lässt du mich los? Du bist ab jetzt selbstverständlich tabu für mich..." Nun merkte Anuschka ihrerseits, dass ihr Gegenüber versuchte, all seinen lausbübigen Charme in das Grinsen zu stecken, das er zeigte. Allerdings fand sie das nicht gerade überzeugend.

"Ich lass' dich nicht los", murmelte sie so leise, dass kein anderer Fahrgast den kleinen Überfall auf sie mitbekam. Sie wusste zwar, dass der Junge bestraft werden musste, aber eine öffentliche Demütigung diesen Ausmaßes wollte sie ihm dann doch ersparen. Zunächst wollte sie versuchen, ob sie nicht einen Kompromiss mit dem Dieb aushandeln konnte. Normalerweise hätte sie sich nicht in anderer Leute Leben eingemischt, aber heute war der Tag, an dem sie beschlossen hatte, eine Hexe zu werden. Warum sollte sie nicht auch eine Hilfe für jemanden sein, der diese ganz offensichtlich benötigte?

Als der Junge seinerseits ihre Hand packte, schreckte sie auf. "Was –" "Schschscht!", unterbrach er sie, "Findest du ein händchenhaltendes Paar nicht auch unauffälliger als ein Mädchen, das einen verlotterten Kerl am Handgelenk gepackt hält und ihn böse anstarrt?" Darauf hatte Anuschka nichts zu erwidern. Wie kam es nur, dass alle Jungen in ihrem Alter sie plötzlich als Objekt der Begierde betrachteten?

Der Dieb sprach weiter: "Du willst mich nicht loslassen, aber du willst mich auch nicht auffliegen lassen. Deine Sorte kenne ich: Du hast vor, einen anständigen Menschen aus mir zu machen. Keine Chance." Wieder huschte ein Grinsen über sein Gesicht, aber jetzt wirkte es ehrlicher und auch weitaus attraktiver. "Aber ich hab' dir was anzubieten. Wir... "

Die klare, kühle Stimme der Ansagerin unterbrach ihn: "Rodengarth, Hauptbahnhof. Bitte in Fahrtrichtung links aussteigen."

Nun musste Anuschka rasch handeln: Entschlossen packte sie die Hand des Jungen fester und zog ihn mit sich aus der U-Bahn. "Hey", protestierte er halblaut, "ich hab' aber bis zum Blauen Platz bezahlt!" Anuschka blickte ihn scharf an. "Na gut, ich hab' überhaupt nicht bezahlt..."
 

Auf dem Weg zu Glens Gemischtwarenladen fand Anuschka Einiges über den jungen Taschendieb heraus. Sein Name war Turi und er stammte von einer Familie der Steppennomaden. Er war genauso alt wie sie selbst und lebte seit zwei Jahren in der Stadt. Zwar behauptete er, sein Aufenthalt hier sei einer spontanen Laune entsprungen, aber die angehende Hexe vermutete aufgrund seines unsicheren Blicks, wenn er über seine Vergangenheit sprach, dass etwas Anderes hinter Turis Fortgehen steckte.

Die beiden gingen eine Abkürzung durch den Königspark, was Anuschka unangenehm an den vorigen Tag erinnerte. Sie überlegte kurz, sich ihrem neuen Bekannten anzuvertrauen, hielt das dann aber doch für keine gute Idee – es war sicherlich besser, wenn sie so wenig wie möglich von sich preisgab.

Doch die gestrigen Geschehnisse ließen sich nicht leugnen. Als hätte eine höhere Macht es auf sie abgesehen, trafen Turi und das Mädchen ausgerechnet auf dieselbe Gruppe von Halbstarken, deren recht zweifelhafter Zuneigung sie sich am Vortag hatte erwehren müssen.

Wie Magdalena es vorausgesagt hatte waren im Gesicht des Jungen, den sie mit ihrem Zauber abgewehrt hatte, keinerlei Spuren einer Verletzung zu sehen, doch seine Augen blickten kalt auf sie herab und Anuschka ahnte, dass ihr "Wegzoll" diesmal nicht bei einem simplen Kuss bleiben würde. Aggression quoll den Jugendlichen aus den Poren wie eine ansteckende Krankheit und auch Turi bemerkte die Anspannung, die in der Luft lag. Rasch verlagerte der Junge aus der Steppe sein Gewicht so auf beide Beine, dass er nur sehr schwer aus dem Gleichgewicht zu bringen war und ließ seine Fingerknöcheln knacken, um sich zu lockern. Dann sagte er mit fester, lauter Stimme: "Was wollt ihr? Lasst uns durch!"

Die einzige Antwort, die er bekam, bestand aus einem höhnischen Lächeln.

Anuschkas Herz pochte schnell und auch ihre Gedanken flogen. Was konnte sie tun? Nichts. Diese Tatsache bohrte sich ernüchternd in ihren Geist und ließ sie verzagen. Sie konnte es nicht wagen, zu zaubern, um Turi und andere Menschen nicht in Gefahr zu bringen. Sie konnte nicht um Hilfe rufen – es war wie gestern Vormittag und sie befanden sich in einem abgelegenen Teil des Königsparks. Nicht einmal mit ihren Fäusten konnte sie sich verteidigen, dazu war sie zu schwach.

Dann schlug ihr einer der Jungen so hart ins Gesicht, dass sie nach hinten umkippte und nun auf dem Kiesweg saß. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, vor Schmerz aufzuschreien.

Turi sah, wie seine neue Bekanntschaft fiel und fällte einen Entschluss. Er legte seine Hände als Trichter um seinen Mund und stieß ein lockendes, gurrendes Geräusch aus. Für einen Moment glaubte Anuschka, blaue Funken um seine Brust tanzen zu sehen und ein Brausen zu hören, aber sie schob diese Erscheinung auf die Benommenheit, die von dem Schlag herrührte.

Nun kam auch Bewegung in die übrigen Jungen: Sie umkreisten Turi, ihre Fäuste und Beine schnellten vor und trafen ihn mit aller Kraft. Der Junge in ihrer Mitte tat sein Bestes, um den Attacken auszuweichen, aber der Kreis der Angreifer schloss sich immer enger und ließ ihm kaum noch Platz.

Anuschka saß auf dem Kiesweg und hatte vor Entsetzen die Hände über den Mund geschlagen. Sie wusste, dass Menschen grausam sein konnten, aber eine solch professionelle, stille und gewalttätige Grausamkeit war ihr noch nie untergekommen. Den angreifenden jungen Männern kam kein Laut über die Lippen, aber ihre Gesichter verzogen sich nach und nach zu hämischen, genussvollen Grimassen der Gewalt. Auch Turi schwieg still und nahm den Schmerz hin, den sie ihm zufügten. Es sah beinahe so aus, als sei er gelangweilt.

Ein Rauschen ertönte und das Licht der Sonne, die die Szenerie bisher beschienen hatte wie ein gnadenloser Richter und stiller Beobachter, der sein Gesicht niemals abwand, verdunkelte sich von den Schwingen tausender Vögel. Verwirrt blickten die Angreifer auf. Am Himmel flogen Tauben, eine so große Zahl, dass es keinen Sinn machte, sie zählen zu wollen. Zwischen ihren raschelnden grauen Federkleidern blitzte hin und wieder ein Sonnenstrahl durch und während sie nach oben blickte, schirmte Anuschka ihr Gesicht mit dem Unterarm ab, um nicht überraschend geblendet zu werden.

Über das Gesicht ihres Begleiters huschte ein Lächeln und er streckte seine Faust aus. Eine fette graubraune Taube mit weißen Federn auf der Brust landete darauf und während der Junge aus der Steppe leise gurrende Geräusche von sich gab, legte sie den Kopf schief und betrachtete ihn auf Art der Vögel mit einem Auge. Als der Junge keine weiteren Geräusche mehr vernehmen ließ, flog sie auf und wie auf ein geheimes Zeichen hin stürzten sich aberhunderte von Tauben auf die Bande von Halbstarken, die bis dahin stumpf in den Himmel gestarrt und sich gewundert hatten.

Die Vögel hackten mit ihren Schnäbeln und kratzten mit ihren Krallen, und wer von ihnen nicht nahe genug an einem der Jungen war, um ihn zu verletzen, der schlug mit den Flügeln und gurrte und hinderte die Halbstarken an der Flucht.

Anuschka erhob sich staunend und beobachtete das Spektakel. Federn wirbelten durch die Luft und sanken lautlos und sanft zu Boden. Die Tauben gurrten, die Halbstarken schrieen und schlugen blindlings um sich – ein einziges Durcheinander. Der Anblick war derart faszinierend, dass das Mädchen sich wohl kaum hätte losreißen können, hätte ihr neuer Begleiter sie nicht wieder am Handgelenk gepackt und von den Kämpfenden weggezogen.

Die beiden rannten, so schnell sie ihre Beine trugen, aus dem Park. Erst auf der Pinienkernallee, als sie wieder in einen langsamen Trott verfielen, beruhigte sich Anuschkas fliegender Atem allmählich. Sie blickte Turi, den sie jetzt nicht mehr Bekanntschaft, sondern Freund nannte, verwundert an. Dann merkte sie, dass sie sich noch immer an den Händen hielten, erschrak und nestelte fahrig ihre Finger aus seiner warmen Hand. Wie in der U-Bahn grinste der Junge aus der Steppe sie verschmitzt an und diesmal merkte Anuschka, dass sie ihn doch auf eine Weise gern mochte. Er war ein anständiger Kerl, mit wie vielen kleinen Gaunereien er sich auch durchschlug. Trotzdem schien es in seinem Leben ein Geheimnis zu geben. Vielleicht hing es mit den Tauben zusammen, die ihnen auf seinen Ruf hin zu Hilfe gekommen waren, oder mit dem geheimnisvollen, wilden Glanz in seinen Augen.
 

In der staubigen Luft des kleinen Gemischtwarenladens saßen vier Personen um einen kleinen Tisch hinter der Ladentheke: Anuschka mit einem fröhlichen Lächeln, Lizzie mit umgebundener Schürze, Glen mit reumütiger, aber glücklicher Miene und Turi, der gerade davon erzählte, wie er eine Giftnatter gefangen hatte, indem er sie mit seinem Gesang angelockt hatte. Diese Erzählung schmückte er mit so vielen lustigen Details, dass alle wussten, dass sie kaum wahr sein konnte, aber der Junge versicherte ihnen immer wieder, es habe sich genau so ereignet, wie er es berichte.

Trotz der allgemeinen guten Laune trat nach Ende der Geschichte eine kurze, unangenehme Stille ein. Glen wagte nicht, Anuschka anzusehen, und das Mädchen erhob ihren Blick nicht zu ihm. Als sie sich dann endlich in die Augen sahen, merkten die Freunde, wie sehr sie sich verletzt hatten und dass so etwas nie wieder passieren durfte. Dann nahmen sie sich kurz, aber herzlich in den Arm und Anuschka kam es vor, als hätte sie sich nie mit Glen gestritten. Wieder einer dieser Glücksmomente, den sie den vielen wundervollen Menschen um sie herum zu verdanken hatte und die sich in letzter Zeit häuften.

Ein Räuspern unterbrach die Versöhnung. Turi streckte mit einem vorsichtigen, halben Lächeln die Hand in die Luft und fragte: "Sagt mal, bin ich hier der Einzige, der nicht weiß, worum es geht?" Nun war es für seine neu gewonnene Freundin eine Selbstverständlichkeit, ihm ihre Erlebnisse zu erzählen: Wie seltsam Glen gewesen war, seit er die Töpfe geliefert bekommen hatte, wie er Anuschka entlassen hatte und wie sie im Park angegriffen worden war. Sogar von Magdalena und ihrer Zauberkraft erzählte sie, und erstaunt rissen alle die Augen auf, selbst Glen, der während des ersten Teils der Erzählung den Blick wieder verschämt auf den Boden gerichtet hatte.

Als sie fertig gesprochen hatte, blickte Anuschka in Erwartung einer Reaktion zu Turi. Dieser zeigte aber nicht das erwartete Erstaunen ob der seltsamen Ereignisse um seine Freundin, sondern seine Augen waren in Schreck geweitet und nur zögernd sah er Anuschka an. "Ich... ich glaube...", begann er stockend. "Ach, Anuschka, ich bin Schuld, dass ihr euch gestritten habt!"

Stille herrschte. Nur draußen auf der Allee rauschte ein Auto vorbei, dessen Insassen sich herzlich wenig um die dramatischen Enthüllungen in dem kleinen Gemischwarenladen mit den staubigen Fensterscheiben kümmerten.

"Ich... Also, ich bin ein Taschendieb, das weißt du ja, Anuschka. Aber... natürlich brauchte ich, um in einer Großstadt Fuß zu fassen, ein bisschen Unterstützung. Also habe ich mich einer Bande von Jungen wie mir angeschlossen, die in die Stadt gekommen sind, weil... naja, warum, das spielt ja keine Rolle. Jedenfalls organisieren wir hin und wieder etwas größere Diebsstücke, und seit Neuestem schmuggeln wir sogar Vasen aus Mok und diverse Töpfereien, ich glaube, aus dem Norden. Nachts stellen wir sie dann vor die Haustüren von Leuten, von denen wir wissen, dass sie verzweifelt genug sind, nicht nachzuprüfen, woher die wertvolle Ware kommt, und die sie dann verkaufen... Natürlich treiben wir dann nach einer Weile einen Teil ihrer Einnahmen für uns ein, man muss ja auch von etwas leben...

Und, naja, ich war derjenige, der eine Kiste mit weiterer Schmuggelware vor Glens Tür gestellt hat." Als er sah, mit welchem Entsetzen Anuschka ihn anblickte, verstummte er. Erst nach einem kurzen Moment wagte er, weiterzusprechen. "Anuschka, du kennst mich doch... na gut, tust du nicht... nicht wirklich jedenfalls... Ach, es tut mir Leid! Du weißt, ich bin ein Dieb, aber ich würde doch niemals wollen, dass sich meinetwegen zwei Freunde zerstreiten! Und jetzt, wo ihr euch doch sowieso wieder vertragen habt..."

Der kalte Blick des Mädchens ließ ihn wiederum schweigen. Eine ganze Minute lang war es wieder still, bis Anuschka sagte: "Turi. Ich kann kaum glauben, dass ich dich erst so kurz kenne und du mich schon verletzt hast. Heute im Park hast du vermutlich mein Leben gerettet. Ich bin deine Freundin, und ich werde dir verzeihen. Aber dieser Schmuggel muss aufhören. Wer weiß, wie viel ihr dadurch schon zerstört habt? Turi, ich will, dass du mich zu eurem Anführer bringst, wer immer das sein mag. Ich werde ihm ins Gewissen reden und er wird sich fügen müssen." Mit einem grimmigen Lächeln nickte sie zur Bekräftigung ihrer Aussage. "Oh ja, das wird er. Und, Turi, ich möchte auch, dass du keine Geheimnisse vor mir hast. Du wirst mir alles erzählen: Wo du herkommst, warum du in Rodengarth bist und – weshalb du mit den Tauben reden kannst. Was ist das für ein Zauber? Tu' nicht so überrascht, ich habe gesehen, wie die Magie um dein Herz tanzte. Wie hast du das gemacht? Ich dachte immer, mittlerweile könnten nur noch Frauen zaubern. Ein Lebender Zauber war es bestimmt, oder?"

Hätte ihre Lehrmeisterin Anuschka hören können, sie wäre stolz auf ihre wissenschaftliche Neugier gewesen. Glen und Lizzie blinzelten verwirrt, von Magie verstanden sie nichts, und auch Turi zeigte sich ob solcher Fachausdrücke etwas desorientiert. Anuschka verabredete mit ihrem neuen Freund, dass er am nächsten Tag mit zu ihrer Unterrichtsstunde bei Magdalena kommen würde. Sie wusste, dass die Hexe nichts dagegen haben würde, im Gegenteil. Und auch für den Rest ihres Arbeitstages blieb Turi in dem kleinen Laden und unterhielt Glen, dessen Tochter und dessen Angestellte mit seinen Geschichten vom Steppenvolk.
 

Schließlich, als Glen den Schlüssel in der Tür seines Ladens herumdrehte und die blasse Novembersonne dem Horizont zustrebte, war die Arbeit vorüber. Mit einem freundlichen Blinzeln meinte Glen, er vertraue Anuschka Turis Obhut an, ein junges, hübsches Mädchen wie sie könne doch nicht nach Einbruch der Dunkelheit alleine in einer Großstadt herumstreunen. Im rotgoldenen Licht der untergehenden Sonne merkte niemand, wie die Röte auf Anuschkas Wangen kroch, und sie war froh darum. Gemeinsam mit Turi setzte sie sich in die U-Bahn, die sie nach Hause bringen würde, und der Junge begann gleich, sein Versprechen einzulösen und ihr von seiner Vergangenheit zu erzählen.

Turi war als Sohn eines Jägers und dessen Geliebten in einem Zelt auf einer weiten, offenen Grasfläche im Osten geboren worden. Seine Kindheit war bestimmt gewesen von der Jagd mit dem Vater nach den schmackhaften Wildkaninchen und Murmeltieren, die ihre Löcher zwischen den Ginstersträuchern gruben, vom Speerfischen in einem der seltenen Sümpfe, in dessen Nähe der Stamm des Jungen öfter sein Lager aufgeschlagen hatte, vom Gebbat-Spiel auf dem Rücken der gedrungenen, flinken Hengste, die die Nomaden züchteten, und von der Verehrung der geheimnisvollen Pferde-, Kriegs- und Muttergottheiten der Steppenleute.

Abends, wenn der Wind über die silbern wogenden Grasflächen fegte und Staub und Kräutersamen mit sich brachte, saß der ganze Stamm um das knisternde Lagerfeuer versammelt, dem hin und wieder ein leuchtender Funke entwich und in den klaren Sternenhimmel entfloh. Man erzählte sich Geschichten, sang Lieder, briet Wildkaninchen und röstete Brot auf Stecken über den Flammen und die Männer rauchten Pfeife und tranken den starken, bitteren Kräuterschnaps, der so verführerisch würzig duftete.

Doch das Leben des Jungen war nicht lange so idyllisch geblieben. Am Tag, an dem sich Turis Geburt zum elften Mal jährte, überfiel ein verfeindeter Stamm das Nachtlager und raubte Frauen und Pferde; sie hieben den Männern mit ihren Krummsäbeln die Köpfe ab, Pfeile zischten durch die Luft, Bogensehnen sangen und der Boden tränkte sich langsam mit dunklem Blut. Turi war mit zwei anderen Jungen in die offene Steppe gelaufen. Er hatte keine Sorge, sich zu verirren, an den gelben Blüten kleiner Blumen, an den Bauten der Murmeltiere und an den Sternen würde er sich orientieren und den Lagerplatz immer wieder finden.

Als die Jungen am nächsten Tag wieder zurückkehrten, war von ihrem geliebten Heim und ihren Familien nichts mehr übrig als ein Scheiterhaufen, der aus den noch schwelenden Überresten ihrer Väter errichtet worden war und einige verkohlte Zeltplanen.

Verstört und schockiert waren die Kinder durch das Grasland nach Westen geflohen. Bis sie wieder sprechen konnten, dauerte es einige Tage. Zu Fuß machten sie sich auf den Weg in die große Stadt, wo sie hofften, die schrecklichen Erlebnisse vergessen und sich ein anderes Leben aufbauen zu können.

Als sie nach einigen Wochen die Steppe verlassen hatten und zum ersten Mal in ihrem Leben auf einem Weg aus Pflastersteinen marschierten, geschah es, dass einer von Turis Begleitern auf der Suche nach essbaren Beeren von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Unerfahren in der Heilkunst, mussten seine Freunde zusehen, wie er im Fieber dalag und dahinsiechte, er fantasierte und redete im Fieberschlaf, sein Körper glühte. Die beiden anderen Gefährten konnten nichts tun, als ihm hin und wieder ein wenig Wasser einzuflößen. Am nächsten Morgen war der Junge tot.

Doch das Schicksal hielt noch mehr für die gebeultelten Kinder bereit. Als sie gerade glaubten, auf einem abgelegenen Gutshof ein festes Auskommen gefunden zu haben, indem sie auf den Feldern bei der Getreideernte halfen, bekam Turis Freund seine Hand zwischen ein Getreidebündel und die Sense eines Bauernjungen. Sein Blut spritzte auf die Gerste, die Hand fiel mit einem dumpfen, ploppenden Geräusch, das Turi niemals vergessen hatte, wie er mit einem Schaudern anmerkte, auf den feuchten Erdboden.

Da war es zum ersten Mal geschehen, dass Anuschkas Freund etwas Seltsames bewirkt hatte. All der Schmerz, der sich in dem Jungen aufgestaut hatte, all die Wut und Enttäuschung über seine plötzliche Einsamkeit und sein Schicksal entluden sich auf den armen Bauernjungen, der seinem Freund unabsichtlich die Hand genommen hatte. Turi erinnerte sich, dass er geschrieen hatte wie eine wütende Adlermutter, der man das Junge weggenommen hatte, und dass daraufhin eine Krähe erschienen war und auf den Sohn des Gutsherren eingehackt hatte. Die Wunden über dessen Gesicht sprachen für sich, und der abergläubische Gutsherr jagte die Jungen aus der Steppe fort.

Nun blieb ihnen doch nichts anderes übrig, als ihr Glück in Rodengarth zu versuchen. Die Wunde seines Freundes heilte äußerlich erstaunlich gut, es war ein sauberer Schnitt gewesen, und bereits nach zwei Tagen hörte der Stumpf auf zu bluten. Aber die Wunde auf seiner Seele konnte dem Jungen niemand nehmen, und so kam es, dass er nie wieder ein Wort gesprochen hatte.

"Den Rest kennst du", endete Turi die Erzählung, "ich habe mich hier meinen Freunden angeschlossen und mein Schicksal selbst in die Hand genommen. Mandari habe ich auch mit hergebracht, obwohl..." Er verstummte und Anuschka legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter.

"Ich glaube, für heute hast du mir genug erzählt", sagte sie leise. "Ich danke dir, Turi."

König der Diebe

Wieder in ihrem stillen, dunklen Zimmer, lag Anuschka auf ihrem Bett und lauschte auf den Marder unter dem Dach, bis sie einschlief. Sie träumte wirr von Blut auf goldenem Getreide und dürren Gräsern und von dem Gesicht einer wunderschönen Frau, die nach ihr rief, aber immer knapp außer Reichweite blieb.

Am nächsten Morgen wachte sie wie gerädert auf und nur der Gedanke an ihre nächste Unterrichtsstunde ließ sie aus den Laken kriechen. Herr Quedenau war bereits unterwegs zur Arbeit und Frau Quedenau ließ sich auch nicht blicken – auf Anuschkas Frühstücksteller fand sich ein Zettel mit den Worten: "Bin einkaufen. Du brauchst den Tisch nicht abräumen. Bis heute abend!"

Einige Brötchen und eine U-Bahnfahrt später stieg Anuschka die Treppen von der Haltestelle auf den Roten Platz hinauf. Dort erwartete sie eine freudige Überraschung und entgegen aller Gewohnheit rief das Mädchen laut und glücklich: "Turi! Hallo!" und rannte ausgelassen winkend und lachend auf ihren Freund zu. Einige Pendler rümpften die Nase und entrüsteten sich über die frühmorgendliche Ruhestörung, aber die beiden Freunde bemerkten sie nicht einmal mehr.

Gemeinsam traten sie durch das quietschende Gartentor und Turi staunte über den wunderschönen Garten, in dem immer die Sonne schien. Das Wiedersehen mit Magdalena war sehr herzlich und sie freute sich auch, Turi kennenzulernen. Zu dritt betraten sie das Zimmer, in dem Anuschka auch am vorigen Tag unterwiesen worden war und ließen sich auf den weichen, bunten Kissen nieder.

Diesmal ergriff die Schülerin als Erste das Wort und erzählte von der erstaunlichen Gabe ihres Freundes. Die Hexe Magdalena hörte aufmerksam und interessiert zu und schlug vor: "Ich hätte nicht übel Lust, mir deine Zauberkraft genauer zu betrachten, wenn du nichts dagegen hast, Turi. Dazu müsstest du allerdings noch einmal wiederkommen, am besten gleich morgen, bis dahin habe ich die Salbe fertig, die ich dazu brauche. Und jetzt fangen wir mit dem Unterricht an, was meinst du, Anuschka?" Die Angesprochene lächelte bekräftigend.

In der nächsten halben Stunde führten Magdalena und Anuschka einige meditative Übungen zur Entspannung durch und Turi beobachtete neugierig, wie das goldene Licht der Morgensonne, das durch das Fenster in das Zimmer hereinfiel, das Gesicht seiner neuen Freundin überirdisch schön strahlen ließ und einen warmen Schein auf ihren rotbraunen Zopf und ihre geschlossenen Augenlider zauberte.

Dann schlugen sowohl Lehrmeisterin als auch Schülerin die Augen wieder auf und begannen mit der Unterweisung. Anuschka lernte, sich in einen Zustand der geistigen Entspannung zu versetzen, in dem kein Gefühl mehr die spiegelglatte Oberfläche ihres Meeres aus Gedanken aufwühlen konnte. Mitten über diesem Meer sah sie vor ihrem inneren Auge eine blau leuchtende Kugel schweben und ahnte schon, was das war.

An ihrer Seite spürte sie einen Windhauch und Magdalena stand neben ihr. Mit einem sanften Lächeln erklärte die Hexe: "Du befindest dich in Trance, Anuschka. Hab' keine Sorge, ich werde dich begleiten und anleiten. Im Laufe deiner Ausbildung wird es noch öfter geschehen, dass du in Trance fällst. Nun aber höre: Diese schwebende Kugel ist deine Magie. Sie ist genauso lebendig wie du und wächst und reift mit dir, in dir. Du wirst nun in sie eintauchen und mit ihr kämpfen. Du musst mit ihr klären, wer von euch beiden der Herr ist in eurer Beziehung. Siegst du, kannst du deine Hexenausbildung nahezu gefahrlos beginnen. Siegt deine Magie, wirst du von ihr beherrscht werden und wie ein wildes Tier: Nur auf das Überleben bedacht und nicht selten aggressiv. In einem Wort, du wirst gefährlich. Damit du etwas Unterstützung hast, bin ich hier, aber ich kann dir den Kampf nicht abnehmen."

Zwischen ihren Schulterblättern spürte Anuschka einen Stoß und tauchte in die Magiekugel ein. Sie schnappte erschrocken nach Luft, denn sie hatte bemerkt, dass es ihre Lehrmeisterin gewesen war, die sie hineingestoßen hatte. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich auf das vorzubereiten, was jetzt kam.
 

In dem sonnigen Zimmer saßen Magdalena und Turi auf dem Boden und die Hexe hielt Anuschkas schlaffen Körper in den Armen. Der Junge neben ihr betrachtete sorgenvoll die in Trance zuckende und murmelnde Freundin. Magdalena versuchte, ihm die Sorgen zu nehmen, indem sie erklärte, was vor sich ging: "Sie muss ihre Magie bezwingen, damit sie keine Gefahr mehr für sie darstellt. Das ist zwar risikoreich, aber Anuschka ist ein starkes Mädchen. Trotzdem ist deine Sorge nicht unberechtigt... Eine so lebendige Magie habe ich noch nie gefühlt. Es ist fast, als hätte sie ein eigenes Bewusstsein neben dem des Mädchens. Ich verstehe, wenn dir das nichts sagt", fügte sie an, als sie sah, wie verwirrt der besorgte Junge neben ihr dreinblickte. "Anders ausgedrückt, eigentlich müssten Anuschka und ihre Magie wie ein und dieselbe Person sein, aber das Magische in ihr ist sehr selbstbewusst. Ich frage mich..."

Sie sprach nicht weiter, denn der Körper, den sie in den Armen hielt, begann in einem unheimlichen blauen Licht zu glühen und hob sich einige Zentimeter vom Grund. Ein für die beiden andere Personen in dem Raum unspürbarer Wind spielte in den Haaren des Mädchens, von denen einige sich aus dem stramm geflochtenen Zopf befreit hatten, und dann ließ das blaue Glühen nach und sanft wie eine Feder sank Anuschka zu Boden.

Urplötzlich schlug sie die Augen auf und begann zu keuchen, als sei sie gerade mit knapper Not vor dem Ertrinken gerettet worden. "Hab' ich es geschafft? Bin ich wieder zurück?" stieß sie hervor. Magdalena lächelte und bejahte glücklich.

"Nun hast du deine Magie gezähmt. Sie wird dir nicht mehr gefährlich sein, solange du dich an meine Anweisungen hältst. Wenn du möchtest, kannst du nun wieder gehen. Aber denke daran, immer noch nicht zu zaubern! Wenn du nicht weißt, wie du die Kraft leiten sollst, kann immer noch etwas schief gehen.

Eine Aufgabe habe ich noch für dich: Wenn dich etwas aufregt oder du Angst hast, dann denke bitte wieder an das stille Meer in deinem Geist und entspanne dich. Die Magie ist dein Freund und wird dir helfen. Nun, du hast noch eine Unterredung mit dem König der Diebe, nicht wahr? Ich würde mich an deiner Stelle beeilen. Er hat es gar nicht gerne, wenn man zu seinen Audienzen zu spät erscheint."

Wieder einmal konnte Anuschka über die Allwissenheit ihrer Meisterin nur staunen. Gemeinsam mit Turi verließ sie das Haus und die Kinder machten sich auf den Weg in das verflochtene Gewirr der Gassen und Kanäle der Hauptstadt Rodengarth.
 

Nun zeigte sich ein anderes Gesicht der Stadt, das nicht vom kalten Glas und Stahl der U-Bahnröhren, aber auch nicht von den heruntergekommenen Backsteinhäusern der Innenstadt geprägt war. Auf den ungepflasterten Gässchen zwischen Häusern, die so eng aneinander standen und so schief waren, dass man meinen mochte, sie stützten sich gegenseitig mit ihren Dachgiebeln, teilten sich schlammige, halbvereiste Pfützen den Platz am Boden mit verdreckten Stoffetzen, Pferdeäpfeln und Küchenabfällen. Dieser eigentlich erschreckende Anblick wurde aber aufgewogen durch die Menschen, die diese Gegend der Stadt bewohnten. Laufende Kindernasen pressten sich an verschmierte Glasscheiben und helle, glänzende Augen folgten dem jungen Dieb und dem Mädchen mit dem rotbraunen Zopf auf deren Weg durch die Gassen, so weit es ging. Die Leute, die auf den Straßen unterwegs waren, grüßten freundlich und wechselten meist einige Worte mit Turi, bevor sie das eigenartige Gespann weiterziehen ließen, daher kamen sie nur schleppend voran. Anuschka hielt bei den ersten dieser Unterhaltungen den Blick fest auf ihre Schuhspitzen gerichtet, in der Überzeugung, dass sich die Fremden sowieso nicht für sie interessieren würden.

Doch sie täuschte sich: Eine Fremde war in den Gassen schon lange nicht mehr aufgetaucht, und vor ehrlichem Interesse und guten Wünschen zur Erreichung ihres Ziel konnte das Mädchen sich kaum retten. Unter dieser Flut von gut gemeinter Freundlichkeit drohte sie beinahe zu ertrinken, den Rettungsring des Vertrauens und der Höflichkeit und Dankbarkeit, den andere Menschen in diesem Augenblick hätten werfen können, besaß sie nicht einmal. Verwirrt blinzelnd lief sie neben Turi her und nickte nach einer Weile nur noch freundlich, aber nichtssagend zu jeder Segnung und jeder Frage mit der sie konfrontiert wurde. Ihr Freund bemerkte ihr seltsames Verhalten und beschloss, sie möglichst schnell in die Katakomben der Diebesbanden zu bringen.

Vor vielen Hunderten von Jahren hatte der Schmuggel in der großen Hauptstadt schon einmal geblüht und die organisierten Banden hatten unter den ordentlich gepflasterten Straßen ihre Gänge und Stollen gegraben, um unbehelligt diverse Halblegalitäten abhandeln zu können. Als die Stadtwachen dann schließlich einen Eingang zu diesem Katakombennetz gefunden hatten, legten sie Feuer an die Gänge und die Schmuggler, die doch auf alles andere vorbereitet waren, hatten sich augenscheinlich zu sehr auf die Sicherheit ihres Schlupfwinkels verlassen: Sie verbrannten und erstickten bis auf den letzten Mann in ihrem selbst erschaffenen Versteck.

Jahrhunderte nach dieser blutigen Episode in der Geschichte der Stadt hatte ein Straßenkind, keiner wusste mehr, ob es ein Mädchen oder Junge gewesen war, die Katakomben wiederentdeckt – und sie eigneten sich wunderbar für aufregende Versteckspiele und verbotene Erkundungen. Als die Kinder auf die erste skelettierte Leiche gestoßen waren, hatten sie sich erst furchtbar erschrocken und waren schreiend weggerannt. Doch als sich nach zwanzig Schritten noch immer kein erboster Rachegeist erhoben hatte, um ihnen die Kehlen durchzuschneiden, stellten sie fest, dass der Tote doch nur tot war. Nun wurden die Spiele noch spannender: Diejenigen, die ein wenig lesen konnten, fanden immer mehr Listen über Schmuggelgut, Einnahmen und Ausgaben, je tiefer sei in die Gewölbe vordrangen, und der Schmuggel, der so lange geruht hatte, vom Feuer beendet, blühte unter den Händen von Kindern wieder auf. Und weil das Kriminalamt nicht geahnt hätte, dass ungebildete, rotznasige Gören von der Straße mehr vermochten, als auf dem Wochenendmarkt Äpfel und Nadeln zu stehlen, lebte es sich gut auf den Straßen von Rodengarth – oder besser, darunter. Die Gänge waren an einigen Stellen ausgehöhlt und wenn man die Eingänge zu diesen Höhlen mit Fellen oder Planen verhängte, gaben sie hervorragende Zimmer ab. Noch heute gingen die Kinder aus den Katakomben regelmäßig auf den Straßen Streife, um Neuankömmlinge einzusammeln und zu sich zu holen.

Davon berichtete Turi, während er Anuschka durch Gassen und Hinterhöfe führte, während sie über Mauern kletterten und ab und zu ein gackerndes Huhn aus ihrem Weg scheuchten. Vor einigen Mülltonnen blieb der Junge schließlich stehen, drehte sich um und lächelte seine Begleiterin strahlend an. "Du wirst sehen", begann er eifrig, "es wird dir da drinnen gefallen! Sie sind alle furchtbar nett und ich freue mich schon so, sie dir vorzustellen – ich hab gestern Abend von dir erzählt und, bei Tínruel, sie waren vielleicht begeistert! Eine echte Zauberin, eine Hexe, und dazu noch so ein hübsches und kluges Mädchen..." Er verstummte und blickte errötend zu Boden wie ein Spion, der zu viel verraten hat.

Anuschka überging seinen Ausrutscher, indem sie anmerkte: "Aber... wie wollen wir denn reinkommen?" Ein Grinsen huschte über Turis Gesicht, so schnell wie eine Ratte das Licht flieht. Dann klopfte er mit den Fingerknöcheln gegen die blecherne Mülltonne ganz links in der Reihe. Der Deckel hob sich und saß nun wie ein grotesker Hut auf dem Kopf eines kleinen, dreckverschmierten Jungen. Er konnte unmöglich älter als zehn Jahre sein, doch den beiden Neuankömmlingen gegenüber gebärdete er sich äußerst herrschaftlich. "Wer begehret Einlass zu den Katakomben der Altehrwürdigen? So spreche er und nenne seinen Namen, denn verheimlichen kann er nichts!" "Aber Lister, du kennst mich doch!", lachte Turi. Der Junge in der Mülltonne wischte sich mit dem Handrücken die laufende Nase. "Die da aber nicht. Wer weiß, wenn du wieder anschleppst?", fragte er mit einer hellen Stimme, die nicht mehr ganz so herrschaftlich klang, wenn sie nicht die althergebrachten Worte benutzte, die wohl die ersten Kinder, die die unterirdischen Gänge genutzt hatten, geprägt hatten.

"Das ist Anuschka, von der ich euch gestern erzählt habe." Turis Brust schwoll vor Stolz. Er hatte eine echte Hexe hergebracht!

Der Tonnendeckel verlor das ohnehin nur instabile Gleichgewicht und fiel mit einem unangenehmen Scheppern zu Boden. Während der Junge sich aus seinem Behältnis lehnte, um ihn wieder aufzusammeln, merkte er an: "Ich finde, du hast übertrieben. Augen wie Saphire hat sie keine und ich wette, wenn sie mit den Fingern schnippt, werden ihre Feinde nicht von Feuerbällen verzehrt." Doch als das fremde Mädchen seinem prüfenden Blick standhielt, schob er sich nur den Deckel auf dem Kopf zurecht und hopste mit seiner Tonne beiseite. Vormalig verdeckt von dem Behältnis tat sich nun vor den beiden Freunden ein Erdloch in die Tiefe auf. Turi kniete sofort nieder und machte sich daran, hinunterzuklettern, doch Anuschka zögerte angesichts der schlammigen Ränder des Lochs, seiner unbekannten Tiefe und der Dunkelheit, die an seinem Ende lauerte.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, entzündete der Dieb in der Grube mit raschen, geübten Handgriffen eine der Fackeln, die an jedem Eingang zu den Gewölben gelagert waren. Im warmen Schein des Feuers wurde sein Gesicht strahlend hell erleuchtet und im Licht der orangeroten Flammen traten die markanten Züge deutlich hervor: Die hohen Wangenknochen, die geschwungene, beinahe hakenförmige Nase, die schmalen Augen, die trotzdem freundlich wirkten und den warmen Glanz der Fackel reflektierten...

"Kommst du jetzt oder hast du es dir anders überlegt?" Ohne Zögern folgte Anuschka dem hellen Schein der Fackel und dem Gesicht ihres Freundes in die Dunkelheit.
 

Es war etwas Ungewöhnliches, dass der König der Diebesbanden jemanden empfing, der ihn nicht der Geschäfte wegen besuchte, und er ließ Anuschka das merken. Seit einer halben Stunde saß sie nun schon neben Turi auf der unbequemen Holzbank und wartete darauf, in die größte Halle eingelassen zu werden. Inzwischen hatte sie fast die Hälfte der Diebe und Schmuggler, die in den Gängen lebten, kennengelernt, so schien es ihr. Und alle waren sie mit Turi befreundet – er war wirklich zu beneiden.

Auf der anderen Seite der Bank saß Merten, ein kleingewachsener, molliger Junge mit flachsblondem Haar, der laut Turi die lustigsten Geschichten erzählen konnte, wenn er genug süßen Wein getrunken hatte. Weiter warteten Delilah und Antonius mit ihnen, von denen die meisten glaubten, dass sie Geschwister waren – wer konnte das schon so genau wissen. Aber die Art, wie sie die Gabel beim Essen führten und auch ihre Gesichter waren sich ähnlich genug, um den Vermutungen Glauben zu schenken.

Wer Anuschka aber am meisten faszinierte, war ein hochgewachsener, schlanker Junge, der älter als die anderen Diebe schien. Sein Name, hatte Turi erzählt, sei Peregrin und er sei derjenige gewesen, der ihn und Mandari gefunden hatte, als die beiden Jungen durch die Stadt geirrt waren. Der Ältere hatte bis jetzt noch kein Wort an Anuschka gerichtet und nur Turi zur Begrüßung zugenickt. Schweigsam lehnte er an der Wand, die Arme verschränkt und den Blick in weite Ferne gerichtet. Sein schwarzes Haar fiel glänzend über seine Stirn und verdeckte zum Leidwesen der jungen Hexe einen Großteil seines Gesichts.

Bevor sie dazu kam, weiter über ihn nachzudenken, wurden sie und ihr Freund endlich in den Thronsaal gerufen. Mit vor Aufregung pochendem Herzen trat Anuschka durch eine hohe Flügeltür aus dunklem Holz – wie mochte sie wohl unter die Erde geraten sein? Die Höhle, in die sie nun gelangte, war wirklich enorm groß. Die Wände sahen nicht so aus, als seien sie mit Werkzeugen bearbeitet worden, und ein dumpfes Rauschen ließ ahnen, dass sich der König samt Hofstaat in einer Höhle unter dem Meer angesiedelt hatte.

Gemeinsam mit Turi ging das Mädchen still und aufmerksam um sich schauend auf den hohen, steinernen Thron zu, der sich am Ende des großen Saales von Menschenhand gemeißelt in einem Stück aus dem Boden erhob. Darauf saß, zu Anuschkas größtem Erstaunen, ein Kind.

Ein kleiner Junge, kaum älter als zehn Jahre, angetan mit einer purpurnen Robe und einem zarten Goldreif auf dem von einer Wolke dunklen Haars umgebenen Kopf thronte über den Dieben und Schmugglern Rodengarths. Er unterschied sich nur rein äußerlich von dem kleinen Lister, der draußen in der Kälte in seiner Mülltonne hockte und sich in diesem Augenblick vermutlich wieder mit dem Handrücken die laufende Nase abwischte. Wäre sie nicht in einer ernsten Angelegenheit hier gewesen, hätte Anuschka laut losgelacht. Ein Kind, dass alle Verbrechen der Stadt organisierte und nach dessen Pfeife die hartgesottensten Diebe tanzen sollten? Unmöglich!

Schon hatte sie tief Luft geholt und war einen Schritt vorgetreten, um den kleinen Rotzlöffel in seine Schranken zu verweisen, da zupfte sie Turi, der sich, wie sei verwundert bemerkte, halb verbeugt hielt und es vermied, dem jungen König in die Augen zu sehen, am Ärmel. Er flüsterte ihr zu: "Bitte, unterschätze den König nicht. Er mag das Äußere eines Kindes haben, aber wenn du ihn reizst, hat das unangenehme Folgen. Pass auf, was du sagst, er kann einem verdammt gut die Worte im Mund herumdrehen. Ich weiß das, glaub mir." Dann schenkte er ihr ein vertrautes, Trost spendendes Zwinkern und verließ rückwärts und mit weiterhin gebeugtem Rücken den Thronsaal. Anuschka war mit dem König allein.

Vorsichtig und mit der Etikette nicht vertraut ließ sie sich auf ein Knie nieder, was hoffentlich als ein Knicks oder etwas Ähnliches angesehen wurde.

Schon räusperte sie sich und wollte ihr Anliegen vorbringen, da sprach der Junge sie an. "Man teilte Uns ihren Begehr bereits mit. Aber was hat sie vorzubringen, das Uns überzeugt?" Das Mädchen blickte auf. Dass ein kleiner Junge sich so ausdrückte... Doch sie war ja von Turi gewarnt worden, dass der junge König mit Worten äußerst geschickt war. Nun kam ein weiteres Problem auf sie zu. Zwar wusste sie genau, was sie wollte – dem Schmuggel und somit eine Wiederholung von Ereignissen wie denen zwischen ihr und Glen ein Ende setzen – aber die Mittel dazu hatte sie ganz sicher nicht. Was hatte eine junge Hexe in der Ausbildung schon einem König zu bieten?

"Ist ihr die Zunge am Gaumen festgefroren oder warum redet sie nicht? Wir haben keine Zeit für derartige Spielchen!" Sie räusperte sich. "Mein... König... ich... ich dachte, ich könnte Euch ein Angebot machen. Wie Ihr vielleicht erfahren habt, bin ich mächtig, die Magie zu beeinflussen. Als Eure Verbündete wäre ich von großem Nutzen und alles, was Ihr tun müsst, um Euch meiner Unterstützung und Loyalität sicher zu sein, ist, diesen Schmuggel mit den Vasen und Töpfereien zu stoppen..." Puh, dachte sie, das war ja doch gar nicht so schlecht.

"Soso. Sie meint also, Wir wären ihrer Hilfe bedürftig? Und was bringt sie zu dieser fälschlichen Annahme? Als Dieb braucht man andere Fertigkeiten als das Herbeizaubern lustiger Vöglein oder bunter Funken. Wenn sie also nichts vorzubringen hat, was Uns interessiert, dann sollte sie wohl doch besser gehen." Der König sah direkt in die Augen des jungen Mädchens, das vor seinem Thron kniete. Kalt wie Eis war sein Blick und er drang ihr bis ins Mark. Sie begann unmerklich zu zittern und merkte, warum dieser besondere Mensch schon im Kindesalter ein König geworden war. Verzweiflung schwappte in einer Welle über Anuschka und sie konnte das Gefühl, sich unsäglich blamiert zu haben, nicht unterdrücken. In sich spürte sie das Tosen und Branden eines aufgewühlten Ozeans und darüber schwebte eine leuchtende Kugel, aus der Blitze zuckten... Rasch suchte sie im Geiste einen der Blitze zu fassen, egal, was passieren möge, Hauptsache, sie versuchte irgendetwas.

Und tatsächlich erhielt sie Hilfe, wenn auch von einer anderen Seite als erwartet. Unbemerkt war eine Person neben dem Mädchen aufgetaucht und hatte sich geflissentlich verbeugt. Nun sagte sie mit leiser, angenehmer Stimme: "Mein König. Ich bin sicher, dieses unerfahrene Mädchen hatte keineswegs vor, Euch zu kränken – sie vermag es ja gar nicht. Ich bitte Euch als Euer engster Berater und langjähriger Freund, ihrem Anliegen Gehör zu schenken und ihren Wunsch zu berücksichtigen. Sicher ist es weder zu Eurem Nachteil noch zum Nachteil der Schmuggler. Und wenn Ihr ihre bedingungslose Loyalität gewonnen habt, so wie Ihr die meine seit Jahren besitzt, so wird Euch das gewiss von Nutzen sein."

Anuschka erblickte den schweigsamen Peregrin an ihrer Seite. Unverwandt sah der Junge den König an und zwischen den beiden schien ein unsichtbares Kräftemessen stattzufinden, eine Spannung wie von einem kurz bevorstehenden Gewitter lag in der Luft. Schließlich schien der junge König einzulenken.

"Nun gut", begann er, "Wir haben ja noch andere Einnahmequellen. Es soll zu Unseren Ungunsten nicht sein. Allerdings schuldet sie Uns einen großen Gefallen, dessen ist sei sich hoffentlich bewusst?" Anuschka nickte mit einem großen Kloß in der Kehle und wagte nicht, den König direkt anzusehen. "Dann beenden Wir hiermit die Audienz. Sie darf gehen."

Rückwärts, wie sie es bei Turi gesehen hatte, entfernte sich das Mädchen aus dem Saal. Ihr Herz klopfte wild. Das war knapp gewesen! Wenn ihr Peregrin nicht zu Hilfe geeilt wäre... Peregrin! Sie drehte sich nach ihrem Helfer um, um sich zu bedanken. Doch er war nirgends mehr aufzufinden.
 

In den Katakomben der Diebe verbrachte Anuschka einen wundervollen Tag. Zur Feier ihres Sieges über den Schmuggel hatte Turi paradoxerweise einige Flaschen Honigwein in seine Quartiere geschmuggelt und nun ging die Flasche im Kreis herum. Die süße Flüssigkeit stieg zu Kopf und löste so manche Zunge. Merten erzählte wundervolle Geschichten von einem Königreich ohne Armut, Delilah umarmte Anuschka fröhlich und der blasse Antonius bekam rote Wangen. Im Schein eines Feuers wurden aus flüchtigen Bekanntschaften enge Freundschaften und die Zeit verging wie im Fluge. Bald kehrte Anuschka nach Hause zurück und schlief zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
 

Draußen zwischen den Mülltonnen standen Turi und Peregrin. Die beiden hatten sich abgesetzt, um durch die frische, kalte Luft wieder etwas nüchterner zu werden. Am klaren Novemberhimmel über ihnen funkelten die Sterne, aus dem Loch im Boden hinter ihnen drang Gelächter und warmer Fackelschein. Turi räusperte sich verhalten und ergriff das Wort: "Und? Was hältst du von ihr?"

"Diese Anuschka?" Peregrin blickte zum Himmel. "Sie ist hübsch."

Peregrin

Die große Stadt konnte für den, der alleine hier unterwegs war, verwirrend sein. Zum Glück hatten Anuschka und Turi Gesellschaft. Sehr zur Verwunderung des Steppenjungen hatte der schweigsame Peregrin sich den beiden angeschlossen und begleitete sie nun zu Magdalena. Er sagte nicht viel, aber seine Anwesenheit sagte doch etwas über sein Verhältnis zu seinen Begleitern aus. Die drei waren mit der U-Bahn gefahren und hatten den Roten Platz überquert. Ein paar Gässchen weiter lag das vertraute kleine Häuschen und schmiegte sich zwischen zwei andere, klotzige Bauten. Mit einem erwartungsvollen Lächeln schwang Anuschka das niedrige Gartentor auf und schritt den Kiesweg entlang, hinter ihr Turi und Peregrin. Noch bevor sei die Tür erreicht hatte, schlug sie fröstelnd den Kragen ihres Mantels hoch – es war wirklich November geworden.

Sie blickte sich im Garten der Hexe um. An kahlen Buschgerippen hingen Wassertröpfchen, die der Morgennebel hinterlassen hatte. Schlamm und Eis bildeteten Pfützen zwischen den ansonsten strahlend weißen Kieseln; der Himmel war wolkenverhangen und grau. Die Sonne schien nicht.

Alarmiert fuhr sei zu den beiden Jungen herum. Auch Turi stand das Erstaunen ins Gesicht geschrieben. Peregrin, der ja zum ersten Mal hier war, bemerkte, dass etwas nicht stimmte. "Was ist los?", fragte er, gerade so laut wie nötig. Gerade wollte Anuschka zu einer Erklärung ansetzen, da fiel ihr ihr Freund ins Wort: "Nichts, nichts, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir sind nur ein wenig nervös, heute werde ich ja schließlich eingehend studiert." Er grinste überzeugend echt.

Die junge Hexe akzeptierte das Schmierentheater vorläufig und klopfte nun doch an. Magdalena öffnete. "Ach, das werden ja mit jedem Tag mehr! Schön, dich kennenzulernen, junger Mann." Sie warf einen Blick nach draußen. "Brr, so ein scheußliches Wetter hatten wir schon lange nicht mehr. Kommt rein, kommt rein, ich mach' uns eine Kanne Tee!"

Durch den bekannten Flur führte Magdalena ihre Besucher in die Küche, ein gemütlicher kleiner Raum, der mit knarrenden Holzbohlen ausgelegt war. In der Ecke stand ein wuchtiger Tisch aus Eichenholz, daneben ein alter Ofen und ein Stapel Feuerholz. Die Wände waren weiß getüncht und der Ofen strahlte eine angenehme Wärme aus. Kaltes, graues Licht fiel durch die Spitzenvorhänge vor dem Fenster. Anuschka und ihre Begleiter nahmen am Tisch Platz und beobachteten Magdalena, wie sie Wasser aufsetzte und dabei vor sich hin summte.

Ihre Schülerin nutzte die Gelegenheit und studierte Peregrin aufmerksamer. Im Gegensatz zu Turi konnte man ihn wirklich als hübsch bezeichnen, auf der Straße und in der U-Bahn hatten sich einige Leute nach dem jungen Mann umgedreht. Seine großen dunklen Augen lagen verborgen wie zwei tiefe Waldseen hinter einem dünnen Vorhang aus glänzend schwarzem Haar und blickten stets versonnen und etwas abwesend. Sein Gesicht besaß fein geschnittene Züge und er hatte einen athletischen, wenn auch etwas zu schlank wirkenden Körperbau. Als er unvermittelt den Kopf wandte und Anuschka direkt ansah, blickte sie schnell zur Seite und merkte widerwillig, wie ihre Wangen heiß wurden. Was hatte sie ihn auch so angestarrt!

Der Teekessel pfiff. Lächelnd drehte sich Magdalena zu ihren Gästen um und summte einen kurzen Ton. Die Türen des Küchenschrankes klappten auf und vier weiße Teepötte schwebten wie an unsichtbaren Fäden gezogen auf den großen Küchentisch, wo sie sich mit einem dumpfen Klonk niederließen. In der Zwischenzeit hatte die Hexe den Tee in eine Kanne gefüllt und ein Schwall aromatischer, dampfender grüner Flüssigkeit schwappte in jede Tasse.

Rasch versteckte Anuschka ihr Gesicht hinter der Teetasse – genau so, wie sie es bei ihrem ersten Treffen mit Magdalena getan hatte, fiel es ihr ein. Die Hexe ließ sich ihren Besuchern gegenüber nieder und sog genüsslich den Duft des heißen Getränkes vor ihr ein. Sie lächelte wieder und sagte dann: "Nun, heute möchte ich ohne Umschweife gleich zum Thema kommen: Ich habe versucht, eine Salbe herzustellen, die, wenn man sie auf die Augenlider aufträgt, die Sicht schärft. Ich wollte sie benutzen, um die magische Sicht zu schärfen und Turi genau zu untersuchen –", sie wandte sich an den Jungen, "- du weißt doch, wegen deiner Fähigkeit, die Vögel zu beeinflussen. Ich muss jedoch gestehen", fuhr sie fort, "dass ich es noch nicht ganz geschafft habe... Und außerdem wollte ich die Gelegenheit nutzen, deine Ausbildung weiterzuführen, Anuschka. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mir einen Teil deiner Kraft leihen würdest, um die Salbe – materiell fertig ist sie schon – mit den entsprechenden Zaubern zu versehen.

Dies alles sind Zauber der Verstärkung, du brauchst also nicht fürchten, wieder in den Strom zu gelangen." "Aber ich fürchte mich ja gar nicht davor!", protestierte Anuschka, "im Gegenteil! Das ist der schönste Ort, an dem ich jemals war, und ich –" Sie hielt, erschrocken ob ihres ungewöhnlich heftigen Gefühlsausbruches, inne und senkte dann das errötende Haupt. "Ich meine... was ist denn schlimm daran, wenn ich im Strom bin?", murmelte sie.

"Naja", begann Magdalena, "schlimm ist es nicht direkt... aber es wirkt sich auf dein Wesen aus." Ihre Augen huschten durch die Küche und blieben für den Bruchteil einer Sekunde an Peregrin hängen, bevor sie sich wieder ihrer Schülerin zuwandte. "Ich werde dir das ein andermal erklären. Wenn ihr ausgetrunken habt, schlage ich vor, dass wir uns in den Kräutergarten begeben, wo ich schon alles vorbereitet habe." Damit versenkte sie ihr Gesicht wieder in dem wohlriechenden Dampf, der von ihrer Teetasse aufstieg. Eine Weile lang schwiegen die vier Personen am Tisch einträchtig, aber dann schrie Peregrin auf.

"Au!" Erschrocken fuhren die anderen zu ihm herum. "Ich...", begann er, "hab' mich nur am Tee verbrannt. Alles in Ordnung." Er blickte wieder in seine Tasse, sichtlich verlegen ob seines lauten Schreis. Magdalena lächelte sanft und kramte in ihrem Gewand. Dann holte sie eine kleine Dose hervor und schob sie mit einem Augenzwinkern über den Tisch. "Eine Salbe aus Ringelblumen und Rosenöl. Du kannst die verbrannte Lippe damit einreiben, das wird helfen." Ihre offene und freundliche Art entlockte auch Peregrin ein Lächeln und er steckte seinerseits das kleine Behältnis aus Horn ein.

Schließlich erhob sich die kleine Gruppe und Magdalena ging voraus durch den Flur und das Wohnzimmer, durch eine niedrige Holztür, die Anuschka bei ihrem ersten Besuch nicht bemerkt hatte. Dahinter lag ein kleines Reich aus tropischer Hitze und Feuchtigkeit, Pflanzen in Hängetöpfen, Glaswänden und dem Geruch von Erde. Auf einem nicht allzu breiten Tisch stand ein ausgeschalteter Bunsenbrenner, über dem in einer Hängevorrichtung ein Zinnkessel schwebte. In seinem Inneren schwappte eine übelriechende, graubraune Flüssigkeit. Magdalena strahlte, ganz offensichtlich stolz auf sich und ihr Werk. "Nun, meine Schülerin", begann sie ohne Umschweife und ihre kristallblauen Augen zwinkerten fröhlich, "Bitte, leih' mir deine Kraft." Dann griff sie nach Anuschkas Unterarm.

Dieser wurde seltsam heiß und es fühlte sich an, als würde sich jeder Muskel darin anspannen. Dann war alles vorbei und die Flüssigkeit im Kessel begann unter Magdalenas kundigen Händen sanft blau zu schimmern. "Los, los!", strahlte die Hexe, "du hast ihr den letzten Schliff gegeben, du darfst sie ausprobieren! Schließ' die Augen!" Anuschka gehorchte voller Vertrauen auf ihre Lehrmeisterin.

Was mit einem widerlich schleimigen Gefühl auf ihren nunmehr geschlossenen Augenliedern quittiert wurde. Magdalena schmierte ihr offenbar die nun einen sanften Geruch nach Minze verströmende Flüssigkeit auf die Lider. Natürlich, wo sonst hätte eine die Sicht schärfende Salbe auch Anwendung finden sollen. Die Wirkung trat ein, sobald das Mädchen die Augen aufschlug. Alles war in einen sanften blauen Schimmer getaucht, das blaue Licht um die Pflanzen auf den Regalborden und in den Hängetöpfen pulsierte sacht und beruhigend. Anuschka fixierte Turi. Ein großer Lichtknoten hatte sich über seiner Brust gebildet, da, wo das Herz saß. Weitere ließen sich auch leicht finden. "Hier", sagte Anuschka und deutete mit zwei Fingern eine waagerechte Linie vor Turis Augen an, "hier bündelt sich das Licht. Und an der Stirn und am Herzen."

Neugier packte sie. Sie blickte zu Magdalena: Die magische Kraft schien sich bei ihrer Lehrmeisterin sowohl über dem Herzen als auch an ihren spitzen Ohren zu bündeln. Ermutigt wagte sie auch einen scheuen Blick zu Peregrin – und staunte: Gerade, als die Wirkung der Salbe nachzulassen begann und das blaue Licht verblasste, erhaschte sie noch einen Blick auf den schönen Jungen, der in dem überirdischen Licht geradezu gebadet schien und im blauen Schein erglühte, bevor das Leuchten endgültig aus Anuschkas Wahrnehmungsbereich verschwand. Sie rieb sich die Augen und atmete heftig aus. "Das war... seltsam."

Magdalena indes hatte sich über ein großes, in stabiles Leder gebundenes Buch gebeugt und murmelte vor sich hin, während sie las. Schließlich drehte sie sich zu ihren Besuchern um und sagte zu Anuschka: "Die Kraft, die du gesehen hast, war, wie du dir denken kannst, Magie. Sie bündelt sich dort, wo sie besonders gebraucht wird – also bei Menschen über dem Herz, das sie am Leben hält. Turi gebraucht für seine Magie Kopf und Augen... hmm... Das könnte natürlich bedeuten, dass er seine Sehkraft verstärkt, aber das glaube ich nicht. Die Tauben haben auf einen Lebenden Zauber, einen Kommunikationszauber reagiert. Augen, Augen... und Vögel..." Sie schnippte mit den Fingern. "Ein Adler vielleicht? Das könnte es sein... der König der Vögel, unglaublicher Scharfblick und eine nicht zu unterschätzende Schläue, alle Vögel müssen ihm gehorchen..." Sie sah Turi an.

Der sagte unvermittelt: "Mein Name bedeutet in der Sprache meines Volkes auch "Adler". Angeblich hat sich kurz nach meiner Geburt einer auf dem Zelt meiner Familie niedergelassen und die ganze Nacht über die Seele meiner Mutter gewacht. Zum Dank wurde ich ihm geweiht..."
 

Eine weitere Unterweisung fand an diesem Tag für Anuschka nicht statt. So hätte sie eigentlich Zeit gehabt, mit Turi noch ein wenig durch die Stadt zu streifen, bevor sie sich zur Mittagsschicht zu Glens Laden aufmachen musste. Allerdings hatte Turi gemeint, er habe noch "das ein oder andere zu erledigen" – was auch immer der Junge damit meinen mochte.

Anuschka und Peregrin standen auf dem Roten Platz, sahen fehl am Platz aus und harrten in verlegenem Schweigen aus. Das Mädchen wagte nicht, den Blick von ihren Händen zu heben und Peregrin anzusehen. Was sollte sie jetzt tun? Sie würde gern noch ein wenig Zeit mit dem hübschen, seltsamen jungen Mann verbracht, aber eine geheimnisvolle Kraft sagte ihr, dass dies ein ganz schlechter Zeitpunkt sei – sicher war ihr Haar durcheinander und der kalte Novemberwind ließ ihre Augen tränen, und besonders hübsch sah sie in ihrem abgetragenen Mantel auch nicht aus...

"Du willst doch sicher auch nicht hier in der Kälte stehen bleiben, oder, Anuschka?" Das Herz der Angesprochenen begann wie auf Kommando, bis zu ihrem Hals zu schlagen, sodass es ihr schwer fiel, überhaupt zu antworten. "Nein, nicht wirklich..." "Wie wäre es, wenn wir uns irgendwo in ein Café setzen? Du musst jetzt noch nicht arbeiten, oder?" Peregrin erweckte den Eindruck eines jungen Hundes, der gerne ein Stöckchen geworfen haben wollte.

"Natürlich komme ich gerne mit", strahlte Anuschka, die jetzt, da sie gemerkt hatte, dass auch ihrem Gegenüber die Situation unangenehm war, etwas weniger aufgeregt war. Der Junge schien genau zu wissen, wo er hinwollte und führte sie zielstrebig durch die Stadt. Passanten, Mauern und Geräusche verschmolzen zu einem unwichtigen, grauen Strom der Umwelt, als Anuschka realisierte, dass sie nun allein mit Peregrin etwas unternahm – fast wie ein richtiges Liebespaar... Gern hätte sie seine Hand genommen, aber dies war etwas anderes als das zwanglose Herumstreifen und die tiefe Freundschaft mit Turi. Eine Unsicherheit hatte von dem Mädchen Besitz ergriffen, die ihr Herz flattern und ihre Hände zittern ließ, die sie aber gleichzeitig wunderschön fand... Ein seltsames Gefühl.

Peregrin brachte sie zu einem kleinen Café, in dem kaum Menschen saßen und das mit seinem altmodischen Mobiliar und der staubigen Luft ähnlich wie Glens Laden anmutete. Anuschka konnte sich nicht erinnern, was sie zu essen oder zu trinken bestellt hatten, und es war ihr auch herzlich egal – eine wundervoll lange Zeitspanne unterhielt sie sich mit Peregrin über die unterschiedlichsten Dinge, erzählte ihm unwichtige Kleinigkeiten und große Geheimnisse, und er lauschte ihr andächtig, als gäbe es nichts Wichtigeres.

Ewig hätte sie so sitzen bleiben können, wenn nicht der Gongschlag einer großen Standuhr auf die Uhrzeit hingewiesen hätte. Heftig setzte sich Anuschka auf. "Ich muss ja los! Glen wartet sicher schon..." Peregrin meinte, er würde sie gern noch begleiten, und Anuschka nahm das Angebot lächelnd an. Da sie sich beeilen mussten, erbot sich ihr Begleiter, eine Abkürzung zur U-Bahnstation zu nehmen, und so machten sie sich auf durch einige verwinkelte Gassen, in die das Licht es schwer hatte, einzudringen, so eng standen die Häuser beieinander. Einige waren so windschief, dass sich ihre Giebel in der Mitte der Straße fast berührten.

In den Schatten zwischen einem Kellerabgang und einer Hauswand regte sich etwas. Das hätte Anuschka normalerweise nicht erschreckt, streunende Katzen oder Landstreicher, die ein ruhiges Plätzchen suchten, waren immer eine Erklärung – wenn das Etwas nicht dunkler gewesen wäre als die Schatten selbst. Peregrin bemerkte ihr Zögern und folgte ihrem Blick. Auf einer Treppe, die zu einem Hauseingang führte, materialisierte sich etwas mit menschlichen Umrissen, aber der Farbe der unendlichen Schwärze zwischen den Sternen.

Alarmiert drehte sich Anuschka auf der Suche nach einem Fluchtweg um – diese Gestalt konnten nichts Gutes bedeuten. Die Gasse hinter ihr war angefüllt mit schwarzem Dunst, der pulsierend über der Erde schwebte und dünne Rauchfinger nach ihr ausstreckte. "Was ist das?!", rief sie erschrocken aus und rückte unwillkürlich näher an Peregrin heran, der die Fäuste geballt hatte und die Schatten argwöhnisch beäugte. Dann war ein Summen wie von einem wütenden Bienenschwarm zu hören, blaues Licht blitzte, ein heller Strahl zischte wie eine Lanze auf Anuschka zu – und bevor sie Zeit gehabt hatte, vor Schreck zu schreien, hatte Peregrin die Hand ausgestreckt und mit einem einzigen Wink den magischen Blitz in einem harmlosen Rauchwölkchen verpuffen lassen.

Nicht, dass sich die Wesen in den Schatten davon hätten beeindrucken lassen. Aus der Wolke, die unheilverkündend noch immer über dem Pflaster schwebte, zuckten weiterhin die Blitze, und in den Schatten meckerten gehörnte Gestalten ein bösartiges Lachen, während sie verderbnisbringende Zauber webten. Die Gasse war erleuchtet von zuckendem blauen Licht und erschrockenen Schreien, von Heulen und Jammern, wenn Peregrin, der erstaunliche Kräfte besaß, magische Entladungen in die dunklen Wolken schleuderte, und von Triumphgeheul, wenn Anuschkas Beschützer getroffen wurde. Es war, wie in einem schlimmen Alptraum gefangen zu sein. Der unheimliche Gegner konnte sich in jedem noch so kleinen Schatten verstecken, er war mächtig und griff mit erbitterter Härte an... Und keiner wusste, warum.

Peregrin sah aus, als würde er nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben. Er keuchte stark und auf seiner Stirn lieferten sich kleine Schweißperlen ein Rennen. Aus allen Richtungen kamen magische Blitze geflogen, das Meckern und Heulen wurde immer lauter, und Anuschka wurde es immer schwerer, auszuweichen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine weitere, konstante Bewegung in all dem Durcheinander – ein Schatten huschte an einer Hauswand entlang und suchte sich, so seltsam es auch klang, wohl einen Ort, von dem aus er besser zielen konnte.

Vor dem Platz an seinem – es war nicht wirklich mit "Körper" zu beschreiben – wo sich bei einem Menschen das Herz befunden hätte, bildete sich knisternd und funkensprühend eine Kugel aus blauem Licht, die unheilverkündend summte. Noch bevor die Gestalt die Finger aus Schatten bewegt und in Peregrins Richtung gedeutet hatte, hatten Anuschkas Beine schon reagiert und das Mädchen fand sich vor ihrem Begleiter wieder, die Arme schützend ausgebreitet.

Die Kugel bahnte sich mit einem knisternden und heulenden Geräusch, das wie ein entzündeter Feuerwerkskörper klang, ihren Weg durch die Gasse. Das Heulen und Jaulen der Schattengestalten schwoll zu einer Kakophonie des Triumphes an, als Anuschka und Peregrin völlig in dem blendend hellen blauen Licht verschwanden – und dann wieder auftauchten. Erschöpft sank Anuschka zu Boden. Der rote Stein auf ihrer Brust glomm noch immer in schwachem blauem Licht. Vor ihren Augen tanzten angreifende Schatten und die Dunkelheit der Ohnmacht, beidem erlag sie und verlor das Bewusstsein,

Nun war es Peregrin zu viel. Ein wütendes Knurren stieg aus seiner Kehle auf, er ballte die Fäuste, die in unheimlichem blauem Licht zu glühen begannen und mit einer Stimme, die der eines angriffslustigen Wolfes gleichkam, sagte er: "Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen! Wir sind euch weit überlegen!"

Wie ein Alptraum, der von der aufgehenden Sonne vertrieben wird, huschten die Schatten von dem wütenden Jungen weg, sprangen von Dunkelheit zu Dunkelheit weiter fort, tiefer in die Stadt hinein, und ihr meckerndes Lachen erklang noch eine Weile in der Ferne. Dann war endlich wieder alles still.

Zwischen den Giebeln der Häuser krochen die mutigsten Sonnenstrahlen wieder hervor und kitzelten die erschöpfte Anuschka wach. Peregrin kniete sich neben sie, als sie verwirrt die Augen aufschlug, sich aufsetzte und die Gasse auf- und abschaute. "Wo sind sie hin?" "Weg. Einfach nur weg." Peregrin lächelte ein seltenes Lächeln. Mit einiger Mühe gelang es Anuschka, komplett aufzustehen – doch sofort gaben ihre Beine zitternd unter ihr nach, als sie realisierte, welcher Gefahr sie soeben entkommen war. Schluchzend vor Angst und gleichzeitig Erleichterung blieb sie auf dem Boden sitzen und ließ sich von Peregrin sanft im Arm halten.

Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, flüsterte sie, noch immer atemlos: "Danke." Als Antwort hielt Peregrin sie noch ein bisschen fester.
 

Auf dem Weg zu Glens Laden blickten sich die zwei Freunde immer wieder nervös um. Jede Bewegung erschreckte sie, hinter jeder Ecke, in jedem Schatten schien Gefahr zu lauern. Von ihrem Kampf auf Leben und Tod hatte seltsamerweise kein einziger Passant etwas bemerkt – und auch die knisternden blauen Feuerbälle hatten an den Wänden und selbst an den Holzbalken, die sie getroffen hatten, nicht ein Flöckchen Asche zurückgelassen. Was mochte das bedeuten? Warum hatte jemand Anuschka und Peregrin angegriffen? Wer waren diese furchtbaren Wesen aus den Schatten, die sich so gut verbergen konnten und so gefährlich waren?

Am liebsten wäre Anuschka gleich zu Magdalena gelaufen und hätte ihr in ihrem Zuflucht bietenden Haus bei einer warmen Tasse Tee ihr Herz ausgeschüttet, sich trösten lassen, eine Erklärung gefunden... Doch Glen wartete auf sie. Das Mädchen wollte keinen weiteren Streit riskieren und deshalb pünktlich zur Arbeit erscheinen. Peregrin ließ es sich nicht nehmen, seine Freundin zur Pinienkernallee zu geleiten, um ihr wenigstens minimalen Schutz bieten zu können.
 

Magdalena zeigte sich ob des Angriffes auf ihren Schützling und deren Freund entsetzt. Am Abend desselben Tages noch saß Anuschka in Magdalenas Wohnzimmer auf dem Sofa, hielt in der Hand einen großen Becher mit heißem Tee und erzählte, was vorgefallen war. Die Erinnerung ließ sie noch immer zittern. Als sie geendet hatte, sprach ihre Lehrmeisterin: "Du liebe Güte. Das ist... also, damit hätte ich wirklich nicht gerechnet. Wer könnte dir denn etwas antun wollen? Du hast doch niemandem etwas zu Leide getan... Du liebe Güte... Und was war das mit dem Stein? Kannst du mir genau erklären, was du getan hast? Eigentlich sollte der Defensivzauber schon längst wieder aus dem Stein gelöst sein..." Anuschka zuckte die Schultern. Sie war erschöpft und verängstigt. Mit Glen und Lizzy hatte sie nicht gewagt, über den Angriff zu sprechen, hatte nur schnell Peregrin vorgestellt und er hatte sich dann aus dem Staub gemacht. Der stille Junge schien noch schüchterner zu sein als sie selbst. Während der Arbeit hatte sie alles daran gesetzt, die schrecklichen Gedanken an die ausgestandene Gefahr zu verdrängen, aber jetzt...

"Ich habe eine Idee", verkündete Magdalena und riss sie so aus ihrem dumpfen Brüten, "meinst du, deine Vermieter haben etwas dagegen, wenn du ein paar Nächte wegbleibst?"

Verwirrt blickte das Mädchen die Hexe an. "Was meinst du?" "Naja", fuhr die Frau fort, "du brauchst größtmöglichen Schutz, jetzt, da jemand hinter dir her ist, meinst du nicht auch? Und da dachte ich... nun, es klingt albern, aber... Möchtest du nicht ein paar Tage hier bleiben? Es findet sich bestimmt ein Zimmer für dich und außerdem könnten wir so intensiv an deiner Ausbildung arbeiten, und ich wäre immer in deiner Nähe, um dich notfalls zu beschützen... Möchtest du?"

Dieses Angebot entlockte Anuschka selbst nach den erschreckenden vorherigen Ereignissen ein Lächeln. Sie mochte zwar die Quedenaus und ihre Bleibe dort, aber bei der fröhlichen, exotischen Magdalena in ihrem seltsamen Haus zu wohnen, erschien ihr noch besser. "Natürlich will ich!", antwortete sie daher, "Wann kann ich kommen? Weißt du was, ich hole gleich meine Sachen – wenn ich darf? Naja, also, du hast mich ja eingeladen, also darf ich, aber... musst du noch irgendetwas vorbereiten? Soll ich erst später kommen? Soll ich alles mitnehmen, was ich besitze?" Magdalena lachte. "Oh, ich merke, du freust dich genauso sehr wie ich! Ja, es ist wirklich am besten, du nimmst einfach all deine Sachen mit... Ich hoffe, deine Vermieter haben nichts dagegen, wenn du nicht mehr bei ihnen wohnst? Ich weiß ja nicht, wie lange du bleiben möchtest... Also, ich schlage vor, ich bringe dich jetzt erst einmal nach Hause, da packen wir, du kommst zu mir, und dann machen wir uns auf die Suche nach einem Zimmer. Es könnte sein, dass im Obergeschoss noch eines auftaucht. Auf geht's!"
 

Das Ehepaar Quedenau war, nachdem rasch Anuschkas gefährliche Situation geschildert worden war, gleich mit ihrem Umzug einverstanden. Auch freuten sie sich sehr, einmal die Lehrmeisterin ihrer jungen Freundin kennenzulernen.

Frau Quedenau und Magdalena unterhielten sich bei einer Tasse Tee am Küchentisch blendend, während Anuschka in ihrer Dachkammer hastig all ihre Kleidung und sonstigen Besitz in eine Tasche warf. In Gedanken war sie schon ganz bei dem wundervollen Haus, in dem sie bald leben würde, gemeinsam mit Magdalena, die sie lieben gelernt hatte und die ihr beibringen würde, eine Hexe zu sein... Natürlich würde sie die Quedenaus besuchen kommen. Oder sie könnte sie ja einmal zu sich einladen, ihnen den stets sonnenbeschienen Garten zeigen, die gemütliche Küche, den sonderlichen Wintergarten des Hauses...

Endlich, das letzte Stück befand sich in der Tasche. Nun, da sie in ihrem kahlen Zimmer stand, überkam Anuschka ein Hauch von Wehmut. Noch einmal lauschte sie auf kratzende Marderpfoten unter dem Dach, noch einmal blickte sie aus ihrem Fenster und rüttelte an der Regenrinne, um ihre Festigkeit zu prüfen.

Dann schwang sie sich aufs Fensterbrett, umklammerte die Metallrinne mit Armen und Beinen und begann zu klettern. Geschickt zog sie sich auf den Dachfirst des windschiefen Hauses. Dort oben fand sie ihr Gleichgewicht, indem sie beide Arme weit ausbreitete. Ihr bot sich ein herrlicher Anblick. Sie konnte sehr weit sehen, und vor ihr breitete sich ein Meer aus rostroten Ziegeldächern, von einer gnädigen Abendsonne rotgolden beschienen, aus. Ab und an huschte eine Katze zwischen den Schornsteinen hindurch, ein erschreckter Schwarm von Tauben flog auf, man hörte Kinder in den Gassen schreien, weinen und lachen, Karren rumpelten über die kopfsteingepflasterten Straßen, in der Ferne schlug eine Glocke. Ein leichter Wind kam auf.

Über diesen schönen Blick hätte man fast vergessen können, dass Rodengarth zwar die Hauptstadt der Provinz war, aber nicht wirklich die beste Stadt, um darin zu leben. Das Armenviertel war größer als alle anderen, nirgendwo gab es so viele Diebe und Mörder, und trotzdem dachten arme Landbewohner, sie könnten hier ihr Glück machen. Anuschka fröstelte und machte sich mit einem Seufzen an den Abstieg. Auch sie hatte geglaubt, hier schnell viel Geld machen zu können, und fast wäre sie auch wie mancher Dorfbewohner geendet: Tot in einer Gasse liegend aufgefunden... Wenn nicht Peregrin gewesen wäre, der sie beschützt hätte. Sie schwang sich ganz in ihr Zimmer, griff die Tasche und polterte die enge Treppe in den Flur hinunter. Wieder einmal hatte sie sich am Türrahmen den Kopf gestoßen. Etwas außer Atem betrat sie die Wohnküche. Magdalena und Frau Quedenau saßen auf der Eckbank und plauderten über die Verwendung von Salbei. "Ich bin soweit", sagte Anuschka. Ihre Vermieterin erhob sich und schloss sie wieder einmal in die Arme. "Ach, Anuschka, Liebes, ich werde dich schrecklich vermissen. Du wirst uns besuchen kommen, ja? Weißt du, du bist für mich wirklich viel mehr als eine Untermieterin, du gehörst schon fast zur Familie..." Herr Quedenau, der aus dem Fenster gesehen hatte, dreht sich zu ihnen um und nickte zustimmend. Anuschka machte sich von ihrer Freundin los. Sie lächelte und sagte: "Ich ziehe ja nicht mal in eine andere Stadt. Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen zu machen! Und wenn ihr möchtet, komme ich euch gleich morgen wieder besuchen." Die Quedenaus waren es zufrieden.
 

Der Weg durch die Stadt zurück zum Roten Platz dauerte nicht lange, auch wenn Anuschka und Magdalena immer wieder vorsichtig um die nächste Ecke spähten, stets in Erwartung eines neuerlichen Angriffs. Voll freudiger Erwartung rannte Anuschka fast durch den Garten auf die Haustür zu. Magdalena kam langsamer hinter ihr her, sie freute sich offenkundig, dass ihre Schülerin heute so ausgelassen war. Als sie an der Tür angekommen war, streckte sie die Hand aus, berührte das knorrige, von der Sonne beschienene Holz – und fing an, es liebevoll zu kraulen. Verdutzt blickte Anuschka sie an. Ihre Lehrmeisterin lächelte nur. Nach einigen Sekunden schwang die Tür auf und gab den Blick auf den Flur frei. Die beiden Frauen traten ein. "In Ordnung", begann die ältere, "Lass' uns mal im Obergeschoss nachschauen. Ich bin sicher, das Haus hat etwas für dich vorbereitet." Anuschka war nicht ganz klar, was sie damit meinen könnten, aber sie schulterte ihre Tasche und folgte Magdalena die mit Teppich ausgelegten Stufen der Wendeltreppe hinauf.

In diesem Stockwerk war sie noch nie gewesen. Wieder lag ein Flur vor ihnen, die Wände eichenholzgetäfelt, von einigen orangeroten Sonnenstrahlen, die durch die Fenster schienen, spärlich ausgeleuchtet. Zwei Türen zweigten von dem Gang ab. "Ah", machte Magdalena, "ich sehe, das Haus hat mich nicht enttäuscht." Freundlich tätschelte sie die Täfelung. Dann bemerkte sie Anuschkas fragenden Blick und begann zu erklären: "Dieses Haus hier ist vermutlich das magischste Bauwerk in ganz Rodengarth. Es passt sich den Vorlieben und Bedürfnissen der jeweiligen Besitzerin an und außerdem hat es ausgeklügelte Verteidigungsmechanismen. Mit kleinen Zeichen macht es mich darauf aufmerksam, wenn sich ein Feind nähert.

Ich schätze, du wirst dich in deinem neuen Zimmer wohl fühlen", sie stieß eine der Türen auf, "Schließlich hat das Haus es nach deinen Vorlieben wachsen lassen und eingerichtet." Magdalena hatte Recht. In dem kleinen, aber nicht zu engen Zimmer mit den dunklen Vorhängen vor dem Fenster, das auf den Garten hinausging, fühlte Anuschka sich auf Anhieb wohl. Sie stellte ihre Tasche auf dem Bett ab und setzte sich daneben. Hier würde sie also wohnen. Zufrieden lächelte sie.

Magdalena, die sich in dem neuen Zimmer umgeschaut hatte, ließ verlauten: "Ich muss sagen, du hast einen guten Geschmack. Als ich noch in der Lehre war, lebte ich auch bei meiner Meisterin, von der ich dieses Haus geerbt habe, und damals war das hier kein niedliches Fachwerkhäuschen, sondern so eine Art aus einem Pilz gewachsener Turm. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich an das nächtliche Schnaufen, das von den Wänden ausging, gewöhnt hatte..."
 

Der nächste Morgen begann mit einer Überraschung, denn während Magdalena gegen die Tür des neuen Zimmers klopfte, um ihre Schülerin aufzuwecken, rief sie: "Anuschka, beeil dich! Du hast Besuch!" Dann entfernten sich ihre Schritte über den Flur und die Treppe hinab. Besuch. War Turi gekommen? Nur mit Mühe wälzte sich Anuschka aus ihrem gemütlichen Bett, kämmte sich kurz die Haare und schlurfte dann schlaftrunken ins Erdgeschoss, um zu frühstücken. Was sie in der Küche erblickte, machte sie auf einen Schlag wach.

Peregrin saß an Magdalenas Küchentisch und schien auf sie gewartet zu haben. Anuschkas Wangen wurden heiß. Warum hatte sie auch im Schlafanzug herunterkommen müssen? Nun, sie hatte gedacht, es mit Turi zu tun zu haben... Am liebsten wäre sie wieder zurückgegangen und hätte sich umgezogen, aber jetzt so einfach die Flucht zu ergreifen, war nicht mehr möglich. "Guten Morgen", sagte sie und versucht ein Lächeln. Allerdings schimmerte ihre dumpfe Verzweiflung durch und das Lächeln wirkte recht angestrengt.

Mit einem ungewohnten nervösen Zittern in der Stimme sagte Peregrin: "Tut mir leid, wenn ich... wenn ich zu früh bin oder so... Aber, weißt du, ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wegen... du weißt doch noch, was gestern passiert ist..." Anuschka nickte. Wie hätte sie diesen schrecklichen, unvorhergesehenen Angriff auf ihr Leben vergessen können? "Naja, ich sehe, es geht dir gut." Er erhob sich. "Ähm...", machte Anuschka, die den Gedanken, Peregrin könne schon wieder gehen, noch schrecklicher fand als die Tatsache, dass er sie gerade in ihrem alten Schlafanzug sah. "Warum bleibst du nicht noch ein wenig?", sagte Magdalena, die sich unbemerkt genähert hatte und nun im Türrahmen stand. Sie lächelte den jungen Mann und fuhr dann fort: "Wie geht es deiner Lippe? Du hast dich doch gestern verbrannt." Auch Peregrin ließ ein schmales Lächeln sehen. "Alles wieder in Ordnung. Hier", er kramte in der Tasche, die er bei sich trug, "du kannst deine Salbe wiederhaben." Er setzte sich wieder, zu Anuschkas großer Erleichterung. "Und natürlich werde ich deine freundliche Einladung nicht ausschlagen." Magdalena stellte eine Schale Müsli vor ihrer Schülerin auf den Tisch und lächelte sie aufmunternd an. Das Mädchen setzte sich und tauchte den Löffel in die Milch. Sie vermied es tunlichst, ihren Besucher anzusehen. Durch ihren Kopf huschten nur noch alberne Gedanken über ihr Aussehen und verklärte, rosafarbene Visionen von... Nein, das wollte sie sich jetzt nicht vorstellen! Vielleicht später, ja, aber jetzt erst einmal frühstücken, dafür brauchte sie schon ihre ganze Konzentration...

Ein dumpfes Grummeln in der Ferne kündigte ein aufziehendes Gewitter an.
 

Anuschka hatte den ganzen Tag mit Peregrin verbracht. Ihre Lehrerin hatte sich mit einem milden Lächeln und einigen Worten über Pflanzenpflege in ihren Wintergarten zurückgezogen und so war sie mit dem hübschen Jungen allein gewesen. Zu ihrem großen Erstaunen war sie noch nicht vor Flatterhaftigkeit gestorben und hatte es sogar geschafft, sich anzuziehen. Peregrin und sie waren in ihr Zimmer hinaufgegangen und hatten sich dort angeregt unterhalten – einige Stunden bereits, wie Anuschkas empörter Magen ihr mitteilte. Aber für solche Nebensächlichkeiten wie Essen hatte sie jetzt keine Zeit. Gerade sagte Peregrin: "Sag', Anuschka... Es mag komisch klingen, aber... Als ich dich das erste Mal gesehen habe, da hatte ich dich sofort gern." Er machte eine kleine, verlegene Pause und erwartete anscheinend eine Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Die nervöse Anuschka nahm mit klopfendem Herzen ihren ganzen Mut zusammen, trat auf den schönen Jungen zu und schlang zärtlich ihre Arme um seinen Hals.

Während draußen der Regen gegen die Fensterscheiben pladderte, küssten sich Anuschka und Peregrin.



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von: abgemeldet
2007-12-03T16:17:27+00:00 03.12.2007 17:17
es wird immer besser ^^

das adjektiv "schweigsam" mag zwar in bezug auf peregrin stimmen, aber da er kurz zuvor immerhin gesprochen hat, würde ich es austauschen.

das, auf das nächste kapitel wartende, johnny.
Von:  Trahho
2007-07-14T12:14:11+00:00 14.07.2007 14:14
Wow! Ich war wie verzaubert und hab garnicht gemerkt, wie die Zeit vergeht.
Mach weiter so!
Von: abgemeldet
2007-05-07T14:58:31+00:00 07.05.2007 16:58
schöne geschichte, elfchen. vllt zeichne ich ja wirklich ein bild... auch wenn ich es nicht kann XP.


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