Zum Inhalt der Seite

Der Bulle und der König

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Opa Hige

Nach der Ursache fragte keiner, doch jeder merkte, wie Takashi allmählich umgänglicher und braver wurde. Es war angenehm. Sehr angenehm. Denn auch, wenn die Wachen es liebten, Insassen zu schikanieren, so wollten sie doch nicht bei jedem Mucks springen müssen. Nun durfte Takashi sich auch in den freien Stunden frei bewegen, zumindest innerhalb der dicken Mauern des Gefängnisses. So durfte er auch andere Insassen besuchen.
 

Besonders gern war er bei Opa Hige. Opa Hige war bereits seit vor Takashis Geburt hier. Angeblich hatte er seine Schwägerin ermordet, doch diejenigen Knastbrüder, die sich mit Menschenkenntnis brüsteten, bestanden darauf: dieser Mann konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Klapprig war er schon in jungen Jahren gewesen, dazu schrullig und etwas ängstlich. Die ersten fünf Jahre seiner Haft hatte er in einer Viererzelle verbracht, dort wurde er jedoch so schikaniert, dass man ihn letztendlich in eine Einzelzelle umsiedelte. Hier konnte er ungestört seinen Hobbies nachgehen: er las gern Bücher, besonders solche, die von der Schönheit der Natur oder Aspekten des menschlichen Seins handelten, und ließ sich davon – und von der Einsamkeit – zu Haikus inspirieren, die er dann in seinem orangenen Notizblock niederschrieb.
 

Takashi mochte ihn. Er war nicht stolz darauf, hier als Koksschlampe bekannt zu sein und Opa Hige war ihm als einziger aufgefallen, der nicht jedes Mal, wenn Takashi seine Zelle verließ, mit den anderen mitspottete. Er würde ihn nur traurig ansehen und sich dann wieder seinen Tätigkeiten widmen. Immer öfter ließ er sich von Takashi „entlöhnte“ Gesellschaft leisten und er erinnerte sich noch gut an das erste Mal: Takashi hatte krampfhaft versucht, witzig zu wirken, trug dadurch jedoch nur zu seiner eigenen Erbärmlichkeit bei. Unbeeindruckt hatte Opa Hige ihn aufgefordert, sich zu ihm zu setzen und ihm beim Schreiben Gesellschaft zu leisten.
 

So saß Takashi auch heute wieder bei dem alten Hige an dessen kleinen Tisch, auf dem ein alter, zerzauster Pinsel in einem schmutzigen Tintenbehälter stand. Takashi war Higes Inspiration für viele Haikus. Warum, das wusste er nicht. Anfangs hatte Takashi gelacht, doch nun saß er artig am Tisch, stützte seinen Kopf auf seine Hände und sah gespannt zu, wie Opa Hige den Pinsel nahm und einsatzbereit übers Papier hielt. Jeden Moment würde der Pinsel landen und einen ersten schwarzen Strich ziehen. Nach zehn Minuten stand das Haiku auf Papier. Takashi versuchte, die nicht gerade schön geschriebenen Kanji zu entziffern.
 

„Unbe... unbe.. rechenbar? Unberechenbar....“

„Unberechenbar“, räusperte Opa Hige sich pikiert. War seine Handschrift so unleserlich? „Unberechenbar wie ein Haiku, in aller Einfachheit fasziniert mich die Sonne.“

„Komisches Haiku“, lachte Takashi, doch insgeheim wusste er, dass es wohl eher an seiner eigenen Allgemeinbildung haperte, denn die Schule war für ihn oft nur eine Gelegenheit gewesen, Schlaf nachzuholen. Opa Hige sah ihn amüsiert an.

„Weil ein Haiku unberechenbar ist“, erklärte er, „Und trotzdem einfach. Und bei aller Einfachheit fasziniert es mich. Aber ein halbes Kind wie du, versteht so was sicher noch nicht. Auch die Einfachheit kann faszinieren, wenn man sie lässt. Es muss nicht alles aus Hollywood kommen, um zu unterhalten.“

„Und die Sonne?“

„Die Sonne, mein Junge, braucht man zum Leben und um sich wohl zu fühlen. Wie ich meine Haikus.“

„Aaaha“, nickte Takashi und zeigte wissend auf Opa Hige, „Hab verstanden!“

„Ach, wirklich?“, fragte Hige sarkastisch und schmunzelte.
 

Die Sonne war groß, rund, gelb und heiß, und vor sich hatte der alte Mann auch etwas in der Art: groß, rund, gelb – na ja, Blond mit schwarzem Ansatz - und hitzig. Der Besitzer dieses Kopfes war unberechenbar und doch simpel. So sah er Takashi.
 

„Bub“, seufzte Hige, „Du erinnerst mich an meinen Enkel. Der müsste jetzt so in deinem Alter sein. Das mag gemein klingen, aber ich freue mich, dass du hier bist.“

„Das hat wirklich was Fieses an sich“, nickte Takashi. Dann lachte er: „Fragt sich nur, wie lange noch.“

„Darüber mag ich nicht nachdenken. Solange du nicht tot bist, lebst du und solange du lebst, solltest du nicht ans Sterben denken. Sieh mich an, ich warte jetzt schon seit dreiundzwanzig Jahren auf meine Hinrichtung, die ein halbes Jahr nach meiner Einweisung hätte sein sollen.“
 

Bei diesen Worten verließ Takashi sein Grinsen und er sah Opa Hige ungläubig an. Wie konnte ein Mensch es so lange an einem solchen Ort aushalten? Takashi war doch schon nach wenigen Tagen wahnsinnig geworden. Opa Hige merkte Takashi an, was der gerade dachte.
 

„Für einen hyperaktiven Spinner wie dich muss es hier schrecklich sein, aber ich mag die Ruhe, die Abgeschiedenheit. So kann ich nachdenken und den ganzen Tag in meinen Gedanken versinken.“

„Onkelchen, sind Sie nie einsam?“

„Nicht, seit die Sonne in meine Zelle scheint.“

„Ich muss blöd sein, nix kapisch! Die Sonne scheint doch fast immer!“
 

Opa Hige gab Takashi einen liebevollen Klaps auf die Schulter und sparte sich weitere Erklärungen. Er wartete noch kurz, bis die Tinte getrocknet war und legte sein Notizbuch zur Seite. Dann beugte er sich rüber zu Takashi und griff seine Hände, die eigentlich seine haarige Sonne stützen sollten.
 

„Auch, wenn ich dich auf diesem Weg kennengelernt habe“, sagte er, „Willst du nicht versuchen, wieder von dem Zeug wegzukommen? Ehe es dich ganz zerstört?“

„Wie soll ich das machen?“, lachte Takashi traurig und sah auf seine von Opa Higes leidenschaftlich gedrückten Hände. „Immer, wenn es aufhört zu wirken, tu ich alles für mehr!“

„Und wenn du sie bittest, dich wieder in Einzelhaft zu tun? Oder zu mir? Wenn du keine Gelegenheit mehr kriegst, da dran zu kommen, kommst du vielleicht ganz schnell davon los.“

„Sogar die Polizei hat die schon aufgefordert, mich von Yamai zu trennen, na und? Die spinnen hier alle, die wollen gar nicht, dass hier alles gesittet abläuft.“

„Die Polizei? Ach, dieser stattliche junge Mann mit dem bösen Blick? Ich weiß nicht, was ihr für eine Beziehung habt, aber er scheint dich sehr zu mögen.“

Takashi lächelte traurig. „Dachte ich auch immer, aber irgendwie, wissen Sie, eigentlich zeigt er davon nicht viel. Er war nie da, wenn ich ihn brauchte, dann verhaftet er mich auch noch. Ich weiß ja, er ist halt ungeschickt, aber irgendwie ist er zu anderen immer netter. Liegt vielleicht an mir, vielleicht bin ich wirklich lästig?“
 

Die letzten Wort bekam Takashi nur mühsam heraus, als ihm plötzlich Tränen über die eingefallenen Wangen liefen. Mutlos ließ er den Kopf hängen und schluchzte.
 

Der alte Hige hatte die praktische, doch zugleich lästige Gabe, die Leute auch ohne Worte zu verstehen. Er hatte Takashi bereits durchschaut, als er diesen mit einem sorglosen Grinsen hinter einem Amerikaner hatte hertrotten und um die Ecke verschwinden sehen. Sein Mund konnte noch so breit grinsen, wenn seine leuchtenden Augen die Tränen kaum halten konnten.
 

Kein anderer hatte sich die Mühe gemacht, in Takashi hineinzusehen, anstatt nur in ihn hineinzustoßen, was wiederum jeder freiwillig und gern tat. Wie zur Belohnung, kam nur Opa Hige in den Genuss eines warmen Lächelns und eines lebendigen Körpers, der nicht nur wie tot dalag und sich machen ließ. Bei diesem alten Mann, der nur etwas Warmes im Arm halten wollte, konnte Takashi für kurze Zeit vergessen, was Yamai ihm alles eingeredet und angetan hatte, was aus seiner Freundschaft mit Makoto geworden war und dass jeder Wärter, der zu ihm in die Zelle kam, ihn zum Galgen führen konnte. Bei Opa Hige durfte er noch er selbst sein, das hatte er am Anfang hart aber herzlich gelernt: grinsend und an jeder Hand ein Primo, hatte er bei Opa Hige im Türrahmen gestanden und gesagt: „Moin! Ich bin Takashi, zehn Jahre alt und ab null komma sechs schluck ich!“. Opa Hige war, im Gegensatz zu allen anderen, nicht sofort aufgesprungen, um Takashi an den Haaren in die Knie zu reißen und ihn mehr schlucken zu lassen, als ihm lieb war. Da hatte er gesessen, da an seinem kleinen Tisch, und Takashi einen trübseligen Blick zugeworfen. Ein Blick voller Mitleid. „Junge“, hatte er geseufzt, „Verschon mich mit deinem fürchterlichen Schauspiel, du erreichst nicht mal das Niveau der Theatergruppe meiner Schule.“ Anfangs hatte er ihm noch etwas zugesteckt, doch irgendwann kam Takashi umsonst, ohne es zu merken.
 

Opa Hige. Ein netter alter Mann, der als Einzelgänger bekannt war, war für Takashi zu einer seltsamen Mischung aus Onkel und Freund geworden. Er konnte schon immer gut mit allen Menschen auskommen, doch nie im Leben hätte Takashi gedacht, sich so gut mit einer so viel älteren Person mit einem völlig anderen Hintergrund zu verstehen. Immerhin hatte dieser Mann den Zweiten Weltkrieg und die Bombe miterlebt, hatte nicht das Glück, eine sorglose Jugend in der Sonne Ikebukuros zu verbringen. Takashi hatte ein gewisses Vorurteil gegenüber Zeugen des Zweiten Weltkriegs: er hatte bisher immer geglaubt, diese Leute seien humorlos, finster, verbittert und stünden der heutigen Jugend völlig verständnislos gegenüber. Doch Opa Hige verstand ihn besser, als manch ein Makoto.
 

„Ach Gottchen“, brummte Opa Hige, als Takashi sich noch immer nicht beruhigte, „Ist ja gut, ist ja gut, Junge, was machst du auch für Sachen...“
 

Takashi hatte noch genau vierzig Minuten bis zum Abendessen. Bis dahin musste er zusehen, dass er seine Tränen trocknete. Aus Rücksicht auf den alten Mann, aß er meist allein, um die auf ihm lastende Aufmerksamkeit der anderen nicht auf den wehrlosen Alten zu übertragen. Es passte sicherlich vielen nicht, dass der Mann den Jungen einerseits zu monopolisieren versuchte und andererseits nichts dafür tat – schließlich wollten Yamai und Hebi an ihm verdienen. Es war offensichtlich, dass Opa Hige Takashi so zu beschützen versuchte.
 

Nur diesmal schien es anders und Takashi sah besorgt mit an, wie Hige sich nicht abhängen ließ und sich demonstrativ neben ihn setzte, als sie zum Abendessen in die Kantine kamen.
 

„Sie wissen schon, dass Sie sich gerade Feinde machen?“, lachte Takashi entsetzt.

„Kind, ich bin fünfundsechzig und zum Tode verurteilt, ob durch Schläge, den Galgen oder Herzinfarkt, ist doch egal.“

„Wenn Sie meinen, Opa...“
 

Wenig später kam ein Wärter herein, sah kurz zu Opa Hige hinüber und flüsterte dann seinem Kollegen etwas zu, der darauf eine ernste Miene zog.
 

Takashi sah besorgt hin und her zwischen Opa Hige und den Blicken der anderen. Zur Not würde er eingreifen, doch wie viel Kraft hatte er noch? Nach so vielen Jahren plötzlich auf diesen Alten loszugehen, das würde wohl so schnell keiner, und doch, in letzter Zeit spielte hier alles verrückt, schien es kein Gesetz und keinen Anstand mehr zu geben. Benjamin, der Afroamerikaner, hatte sich inzwischen aus Angst Matsuuras Bande angeschlossen und kein Wort mehr mit Takashi geredet. Es hätte ihn kaum gewundert, wenn im nächsten Moment jemand aufspringen und einen anderen mit dem Plastikmesser erstechen würde.
 

„Hige!“, tönte es von der Tür, kurz ehe das Abendmahl beendet war. Ein Wärter winkte ihn zu sich.

„Iss ruhig meinen Teil auf, Junge“, lächelte Hige. „Und halt die Ohren steif.“
 

Mit diesen Worten stand Opa Hige auf, seufzte schwermütig und ging zur Tür. Takashi sah ihm leicht verwirrt hinterher und rieb sich geistesabwesend die Schulter, die der Alte kurz zuvor noch so herzhaft umarmt hatte, als wolle er sichergehen, dass er ihn noch dort fühlen könnte.

Eine gute Stunde verging, doch der alte Hige kam nicht zurück.
 

„Andoh, kommst du mal mit?“
 

Takashi sah auf, vor ihm stand ein Wärter. Gleichgültig folgte er ihm und war angenehm überrascht, als der Mann ihn nicht zum Klo, sondern in Opa Higes Zelle brachte. Doch wo war Opa Hige? Auf dem Tisch lag das Buch, das er zuletzt gelesen hatte – „Geständnis einer Maske“ von Yukio Mishima - und sein Haikublöckchen.
 

„Er hat uns gebeten, dir diese zwei Sachen zu geben.“
 

Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit und zitternd kniete er sich an den Tisch zu Opa Higes Sachen.
 

„Wieso bittet er Sie darum? Wir sehen uns jeden Tag, überhaupt, warum will er die Sachen nicht mehr?“

„Es war sein letzter Wunsch. Er wurde vor einer Viertelstunde gehängt.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück