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Swan

von

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Längst vergangene Zeiten

sie war die Kleine auf dem Schulhof

der keiner Briefchen schreibt

das zahnbespangte Lächeln

das immer unerwidert bleibt

dessen Name niemals fällt

wenn man Sportmannschaften wählt

chancenlos

eine Schleife unter vielen

dessen Knoten niemals hält

dessen Brötchen eigentlich immer

auf die Butterseite fällt

damals hat sie dich gewollt

mehr als alles auf der Welt

chancenlos
 

(Annett Louisan – „Chancenlos“)
 

Es war nur eine Nachricht bei einer dieser Communities. Ich hatte in meinem Leben schon unzählige davon bekommen. Jeden Tag kamen viele solcher Nachrichten bei mir an, Antworten auf Nachrichten meinerseits, Nachrichten von Freunden, die sich nach einer längeren Weile wieder meldeten, Nachrichten von neuen Personen, die zufällig über mein Profil gestolpert waren und die aus irgend einem Grund Lust hatten, mich einmal anzureden, oder sogar reine Spam-Nachrichten. Aber noch nie hatte mich eine Nachricht so sehr irritiert wie diese, und im ersten Moment denke ich, dass das irgend so ein Scherz sein muss. Eine ziemlich grausame Art von Scherz, muss ich hinzufügen. Aber wenn ich darüber nachdenke – eigentlich weiß keiner meiner Freunde besonders viel von diesem Abschnitt meines Lebens. Nicht genug, um auf die Idee einer solchen Nachricht zu kommen. Das ist alles Ewigkeiten her, zum Glück vielleicht, es ist eine andere Galaxie in meinem Universum, und ich bin wirklich nicht sehr darauf aus, sie wieder aufzuwärmen.
 

Aber ich sehe einfach nur seinen Namen, und es gibt keinen Zweifel daran, dass es eben dieser ist, denn es ist ein Name, den ich niemals in meinem ganzen Leben wieder vergessen werde, denn er hatte Jahre davon dominiert – und höchst wahrscheinlich weiß der Besitzer dieses Namens gar nichts davon. Ich kann nicht gut beurteilen, ob und wie offensichtlich ich mich damals aufgeführt habe, denn ich habe zu dieser Zeit nicht so viel über mein eigenes handeln nachgedacht – irgendwann wäre es einfach zu deprimierend geworden. Weiß er möglicherweise doch davon? Denn wie ließe sich diese Nachricht sonst erklären?
 

Ich kann sie noch nicht anklicken. Der Name allein ist in meinen Augen schon schockierend genug. Ich muss mich erst einmal beruhigen, bevor ich diesen Knopf drücken und lesen kann, was Nathan Grean mir nach all diesen Jahren geschrieben hat.
 

*
 

Glaub mir, niemand vom Gymnasium würde mich heute, vier Jahre später, noch erkennen. Nicht, weil ich mich so radikal verändert habe. Na gut, das könnte wohl auch ein Grund sein, denn rein äußerlich verbindet mich sehr wenig von meinem früheren Erscheinungsbild – von der Kleidung über die Brille bis zum Haarschnitt hat sich so gut wie alles an mir verändert. Aber vor allem bin ich nicht mehr so schüchtern, beinahe panisch, wenn es darum geht, mit anderen Leuten zu sprechen, wie ich es damals war, und ich bin auch nicht mehr das Mauerblümchen von damals. Ich habe Freunde gefunden, ich habe einen Weg gefunden, mein eigenes leben zu führen, ich habe irgendwie sogar mich selbst gefunden. Ich habe gelernt, Spaß zu haben, ohne dass ich dafür mich selbst aufgeben musste.
 

Sie würden mich nicht mehr erkennen, weil sie mich damals gar nicht wirklich gesehen haben. Auf eine seltsame Art und Weise schien ich unsichtbar zu sein, und es war in den seltensten Fällen ein Vorteil. Ich war, rein von der Veranlagung her, wohl durchschnittlich hübsch und durchschnittlich intelligent, was im Grunde eigentlich nicht der Weltuntergang gewesen wäre, aber gepaart mit überdurchschnittlicher Schüchternheit, einer ganzen Menge an Tollpatschigkeit, Brille und Zahnspange kam es dem ziemlich nahe.
 

Damals hätte vieles passieren können. Ich hätte in eine Depression abrutschen können, und es wäre niemand da gewesen, der mich aufgefangen hätte. Oder ich hätte so bleiben können, wie ich damals war, was geheißen hätte, dass ich nie die Freunde gefunden hätte, die ich immer so sehr brauchte und gebraucht hätte, dass ich immer noch auf mich ganz allein gestellt war. Natürlich war es nicht vollständig meine eigene Schuld. Vielleicht fing es schon ganz früh an, dass ich das Selbstvertrauen verlor: es gab so viele Kinder in meinem Alter, ich hätte mit jedem gespielt oder geredet, wenn sie mich – zumindest in frühesten Jahren – danach gefragt hätten. Aber Kinder können ignorant sein, und sie hatten alle bereits ihre Gruppen, zu denen sie gehörten. Und später, wenn aus diesen Kindern Jugendliche wurden, die durchaus offen dafür waren, einmal mit neuen Leuten zu reden, dann traute ich mich nicht mehr.
 

Ich war im Grunde in der Lage, mit all dem umzugehen. Wirklich. Über die Jahre verwandelte ich mich in eine komplette Einzelgängerin, und in all der zeit gewöhnte ich mich auch daran.
 

Und dann kam da diese Situation, in der ich erstmals darüber verzweifelt war, unbeliebt zu sein oder sogar unsichtbar, und darüber, dass ich es nicht schaffte, mich dagegen zu wehren. Diese Situation hieß Nathan Grean.
 

Das erste Mal, als ich Nathan Grean gesehen habe, fand ich ihn gar nicht so toll. Nicht im abwertenden Sinne, einfach nicht aus der Masse hervorstechend. Nicht, weil er nicht gut aussah, im Gegenteil. Ich bin wirklich nicht oberflächlich. Wenn ich es wäre, wäre damals vielleicht alles anders gelaufen. Ich hätte mir teure Markenklamotten gekauft oder meine Eltern darum gebeten, mir sie zu finanzieren. Daran hat es nie gescheitert. Wir sind nicht arm, das ist nicht der Grund, aus dem ich damals in alten, viel zu großen Sweatshirts herumlief. Der Grund war so simpel und banal, dass die meisten Jugendlichen ihn nie nachvollziehen könnten, damals wie heute; nicht einmal, wenn sie nachgefragt hätten, denn sie alle definierten sich über ihre Kleidung und ihren materiellen Besitz. Ich trug diese unattraktiven Shirts, weil ich sie ganz einfach bequem fand. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlt, andauernd an einem Top herumzupfen zu müssen, weil der Ausschnitt ungefähr bis zum Bauchnabel reicht und bei einer falschen Bewegung zu viel preisgeben könnte. Wie nervig ein kneifender String ist, der nur dazu da ist, um eine sexy Rückenansicht zu verschaffen. Wie unangenehm eine zu enge Hose sein kann, in die man sich gezwängt hat, weil der Stolz es verbietet, einfach die nächste Größe zu nehmen. Wie es sich anfühlt, von einem Piercing oder auch nur von Ohrsteckern eine Entzündung zu bekommen. Wie es ist, von den neuen supersexy hohen Riemchensandalen schmerzhafte Blasen an Zehen und Fußballen zu bekommen, die sich bei jedem Schritt noch mehr bemerkbar machen, diese Schuhe aber um alles in der Welt nicht ausziehen zu wollen, nur um umwerfend auszusehen. Bis zu einem gewissen Grad bin ich mir selbst dafür dankbar, dass ich mir all das immer erspart habe. Aber es gibt immer ein Mittelmaß. Auch zwischen dem extremen Beispiel einer oberflächlichen Tussi, wie ich es eben angeführt habe, und einem hässlichen Entchen, wie ich es war.
 

Wäre ich von einem Tag auf den anderen plötzlich oberflächlich, fixiert auf mein Äußeres gewesen, hätte ich den Blick in den Spiegel wohl nicht mehr ertragen. Das zahnbespangte, unbeholfene Lächeln; die Brille mit den dicken Gläsern, die mir sogar hätte stehen können, wenn ich nur das richtige Modell ausgewählt hätte; die unreine Haut, die nur mit irgendeiner Lotion oder einer Gesichtscreme behandelt werden hätte müssen, um akzeptabel auszusehen und sich halbwegs weich anzufühlen; der lieblose, unspektakuläre Haarschnitt und das dazugehörige strohartige Haar, das meist auch noch einfach und langweilig zurückgebunden wurde. Mir sagte damals keiner, dass ich teils aus dem Grund eine Außenseiterin war, weil ich mich eben schon äußerlich nicht an die anderen anpasste, noch nicht einmal den Standards gerecht wurde.
 

Heute sagen mir manche, dass diese Einstellung doch gar nicht schlecht war. Dass es nicht um das Aussehen geht, und so weiter. Ich fühle mich geschmeichelt, dass man mich damit trösten möchte. Aber davon abgesehen, dass ich das damals nicht aus Überzeugung machte, sondern aus purer Unwissenheit, gibt es einen Unterschied. Den Unterschied zwischen der natürlichen Veranlagung, schön oder hässlich (was übrigens die wenigsten von Natur aus sind), dick oder dünn, groß oder klein zu sein, und dem, was man aus diesen natürlichen Begebenheiten macht. Ich hätte mich ja nicht etwa auf einen OP-Tisch legen müssen, noch nicht einmal eine peinlich genaue Diät mit Kalorienzählerei führen (ich war eigentlich sowieso recht hager damals) oder teure Schminke kaufen müssen, sondern lediglich das hässliche Haarband abnehmen, die furchtbaren Stirnfransen und den Spliss loswerden, eine andere Brille oder Kontaktlinsen aussuchen und mir Kleidung kaufen müssen, die nicht drei Nummern zu groß war, die ich dann nur noch farblich zusammenpassend mischen hätte müssen.
 

Soweit zu diesem Aspekt. Ich hätte ihn selbst ändern können, hätte ich nur ein Problem in dieser Richtung gewittert.
 

Dann gab es natürlich noch ein weiteres, ich möchte nicht ausnahmslos alles auf die gesellschaftliche Oberflächlichkeit schieben. Und es war sogar noch um einiges gravierender als das erste. Ich war schüchtern. Und damit meine ich nicht nur, dass ich mich nicht traute, auf neue Personen zuzugehen. Das war natürlich noch zusätzlich der Fall. Nein, ich meine eine geradezu krankhafte Form der Schüchternheit. Wenn ich einmal angesprochen wurde, was ohnehin nur in den seltensten Fällen vorkam, dann tat ich oft so, als hätte ich es nicht gehört oder nicht mitbekommen, dass ich gemeint war. Und wenn ich dann, meist gezwungenermaßen, doch noch eine Antwort gab, fiel sie sehr, sehr leise aus, in der absurden Hoffnung, dass eine mögliche blöde Aussage nicht verstanden, sondern der Einfachheit halber einfach hingenommen und ignoriert wurde.
 

Im Gegensatz zu dem Problem mit meinem äußeren Erscheinungsbild war ich mir dieses anderen durchaus bewusst. Mir war klar, dass ich schüchtern war, viel zu schüchtern. Das hieß allerdings nicht, dass ich in der Lage war, es zu ändern. Denn einmal damit angefangen, wurde ich in einen immerwährenden Teufelskreis katapultiert. Es hatte damit angefangen, dass ich nie auf Leute zugegangen war, woraus sich ergab, dass wenige mit mir redeten, woraus sich wiederum ergab, dass ich im Reden ungeübt war und mir, sobald ich etwas sagen sollte, dessen niemals sicher war. Und so wiederum sank mein Selbstvertrauen, ich traute mir immer noch weniger zu, andere anzusprechen, fing auch noch an, das Antworten zu meiden. Und daraus ergab sich schließlich, dass selbst wenn jemand versuchte, mit mir ein Gespräch zu beginnen – was im Laufe der Jahre, in denen ich mich immer mehr verkroch, immer seltener und seltener vorkam – ich nicht mehr darauf einging, keinen Mucks herausbrachte und denjenigen, der mich ansprach, nur noch aus großen Augen anstarrte.
 

Es ist kein schales Klischee, dass ich damals eine absolut weltfremde Person war; ich war es tatsächlich. Und manchmal war es mir auch absolut egal, ich registrierte es noch nicht einmal so richtig. Ich musste eigentlich nicht beliebt und von Menschen umgeben sein, um glücklich zu sein. Wenigstens nicht ständig. Doch dann gab es diese dunklen, hoffnungslosen Momente, in denen ich mir meiner Einsamkeit bewusst wurde und Angst bekam, immer so alleine zu sein. Damals konnte ich mir nicht erklären, warum mich alle mieden, ich verstand nicht, dass es im Grunde genommen eine Situation war, die sich – auch durch mein eigenes Verhalten – immer weiter zugespitzt hatte. Ich hatte keine Freundinnen und Freunde natürlich schon gar nicht. Ich konnte mich schlicht und einfach an niemanden wenden und fing darum noch dazu an, Probleme in mich hineinzufressen, und davon hatte ich genügend.
 

Wenn man nicht in einer Situation ist wie ich damals, weiß man vielleicht nicht, wie viel Verzweiflung es bedarf, bis man sich endlich aufrafft und sich sagt, dass man etwas dagegen unternehmen muss, bevor es zu spät ist. Vielleicht läuft es unter normalen Umständen genau umgekehrt. Man verliert Tag für Tag mehr vom letzten Rest der Motivation, bis man sich einfach ergibt, sich sagt, dass es doch keinen Sinn hat und man für den Rest seines Lebens dieser ungeliebte Außenseiter bleiben wird. Ich weiß nicht, ob es an einem gewissen Kämpfergeist liegt, der trotz des mangelnden Selbstvertrauens irgendwo unter der Unsicherheit verborgen zu liegen schien, aber von einem Tag auf den anderen, vielleicht sogar von einer Stunde auf die andere, habe ich beschlossen, dass ich mich da wieder herausziehen musste. Und als ich mir dieser Sache erst sicher war, war es gar nicht so schwierig, wie man vielleicht erwarten möchte.
 

Aber dieser Teil der Geschichte soll später noch folgen. Bleiben wir bei der chronologischen Reihenfolge, so, wie ich es selbst erlebt habe. Eigentlich wollte ich diese Erzählung mit Nathan Grean beginnen, bevor ich zu ganz anderen Dingen abgeschweift war, von denen es aber vielleicht wichtig war, sie im Vorfeld zu erklären.
 

Es ist auch heute nicht leicht, von ihm zu sprechen. Der Schmerz von damals, einer von vielen, aber einer der größten, vielleicht sogar der tiefgehendste, sitzt tief, wird vielleicht niemals ganz verblassen, und das ist mit Sicherheit auch der Grund, aus dem mich seine plötzliche Nachricht so sehr irritiert, noch bevor ich sie gelesen habe. Nathan Grean hat mich niemals abgewiesen. Aber das musste er gar nicht, denn so weit kam es natürlich nie. Ich habe ihn nie angesprochen, wie ich es auch sonst bei niemandem getan habe. Der einzige Grund, aus dem er vielleicht wenigstens meinen Namen kannte, war, dass er in der selben Klasse war wie ich. Allerdings soll das meine damalige Liebe zu ihm nicht abwerten. Vielleicht habe ich kaum je ein Wort mit ihm persönlich gewechselt, aber das tat ich mit niemandem, und trotzdem konnte ich mir von den meisten ein – wie gesagt nicht ausschließlich, nicht einmal Großteils oberflächliches – Urteil bilden. Statt der aktiven Erzählerin, Kommentatorin oder gar Entertainerin war ich die passive Zuhörerin und Beobachterin, und allein dadurch kann man so vieles über andere Menschen erfahren und erkennen. Ich kannte viele Leute genau, die noch nie einen Blick in meine Richtung geworfen hatten. Dafür, dass ich selbst nicht in der Lage war, gesellschaftliche Regeln umzusetzen, kannte ich sie eigentlich ziemlich gut.
 

Nathan Grean war, wie gesagt, ein Junge aus meiner Klasse. Er war da schon seit der vierten Klasse, und ich hatte ihn schon früher faszinierend gefunden, aber damals übten beinahe alle Menschen eine Art Faszination auf mich aus. Die freundlichen, sozialen Menschen, die mir vollem Bewusstsein durch die Welt wandelten, lösten Ehrfurcht bei mir aus; darüber, dass sie, trotz eines gesunden Selbstbewusstseins, das Wohl der anderen über das eigene stellten. Ehrgeizige Menschen, auch Streber, wie man sie ja abfällig zu nennen pflegt, bewunderte ich für ihre Selbstdisziplin, die wichtigen Dinge, die Pflichten, von denen zu trennen, die Spaß machten, und die Freizeit auch einmal für Dinge zu nutzen, die vielleicht nicht so erfreulich waren. Gutaussehende Menschen bewunderte ich aus naheliegenden Gründen; für die Schönheit, die die Natur ihnen beschert hatte, das sichere Händchen, mit dem sie sie betonten. (Ich kam aber gar nicht au die Idee, sie als Vorbilder zu sehen. Irgendwie schien das ein Privileg zu sein, das ich mir selbst nicht zugestand.) Kurz, ich konnte eigentlich an jedem etwas Bewundernswertes finden, außer an mir selbst vielleicht. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Eigenschaft mir bis heute erhalten geblieben, nur dass ich heute nicht mehr vor jedem aus diesem Grund kusche, und ich bin fast ein wenig stolz auf sie. Ich erkenne nun lediglich in jedem Menschen etwas, was mir Grund gibt, ihn zu respektieren.
 

Irgendwann, als ich zwölf oder dreizehn war – den Anfang meiner Schwärmerei kann ich tatsächlich nicht genau festlegen, da das sich Verlieben ein längerer, sich steigernder Prozess ist, der sich nicht plötzlich einstellt, und weil das verliebt sein für mich außerdem niemals etwas wirklich Schönes, sondern eher eine Kette aus frustrierenden Ereignissen darstellte – begann er, mir aufzufallen. Im Sinne von „aus der Menge herausstechen“. Anfangs, abgesehen von meiner Grundbewunderung, gar nicht besonders. Nathan hatte dunkelbraunes, beinahe schwarzes Haar, das meist eigentlich einigermaßen ordentlich gekämmt war. Und er hatte äußerst blaue Augen. Seine ganze Mimik war interessant, und vielleicht war sie eines der ersten Dinge, die mich an ihm so begeisterten. Meist wirkte er nachdenklich. Wenn man ihm etwas erzählte, konnte man an seinem konzentrierten Gesichtsausdruck erkennen, dass er gebannt zuhörte, unabhängig davon, worum es ging. Seine Brauen waren meist zusammengezogen, was eigentlich nicht sehr freundlich hätte wirken können, und doch war er auf eine absurde Art und Weise sympathisch und vertrauenswürdig. Aber möglicherweise fasste ich das ja auch nur persönlich so auf.
 

Er zeigte aber ansonsten ungewöhnlich viel Gefühl. Nicht nur ungewöhnlich viel für einen Jungen, sondern für alle Teenager, die ich kannte. Oder vielleicht sogar einen Menschen im Allgemeinen. Auf der einen Seite, was ja noch nicht so besonders war, konnte er sehr aufbrausend sein. Dann legte er die Stirn noch tiefer in sorgenvolle Falten, um seine Mundwinkel bildeten sich angespannte Grübchen. Er schrie und brüllte niemals herum. Aber seine Wut war eiskalt. Seine durchdringenden Augen wirkten, sobald er zornig war, wie Eis, beinahe beängstigend. Nicht nur für jemanden wie mich.
 

Und Nathan konnte auch fröhlich sein, auf jeden Fall. Das klingt nun vielleicht ein wenig widersprüchlich zu der Aussage, er sehe meistens böse aus. Aber wenn er sich amüsierte, dann hob er die Augenbrauen, und im Gegensatz zu seinem ständigen Stirnrunzeln sah es beinahe aus, als wollte er sich über jemanden lustig machen. Die Grübchen, die die Wut in seine Mundwinkel zauberte, erschienen auch, wenn er lachte, nur, dass sie dann als fröhliche Lachfältchen auftauchten. Und zu guter Letzt waren da wieder die Augen. Ich kann nicht erklären, wie man die Freude in den Augen anderer sehen kann, und vielleicht hängt es ja doch nur mit dem gesamten Gesichtsausdruck zusammen. Vielleicht war das Blau seiner Augen etwas leuchtender, nicht mehr so kalt.
 

Und letztendlich – nun ja, nicht letztendlich, denn Nathan war noch zu sehr vielen weiteren Emotionen fähig, die er niemals verbarg – konnte er traurig sein. Und das konnte man selbst erkennen, wenn man absolut nicht empfänglich für die Gefühle anderer war, denn er ließ etwas zu, was unmissverständlich ist: er hatte keine Angst davor, zu weinen. Das klingt jetzt möglicherweise peinlich, unmännlich und was sonst noch alles unglaublich verheerend für einen Jungen dieses Alters sein könnte. Aber er flennte schließlich nicht, er heulte nicht, er schluchzte nicht, sondern er ließ einfach die Tränen fließen. Er sah beim Weinen nicht lächerlich, hilflos oder schutzbedürftig aus, sondern einfach nur traurig. Und vielleicht, nur vielleicht, war es das, was mich an ihm am meisten fesselte und erstaunte. Niemand machte sich über Nathan lustig, wenn er weinte, oder hänselte ihn deshalb. (Übrigens war er wahrscheinlich auch nicht überdurchschnittlich nahe am Wasser gebaut. Er traute sich nur, sofort zu weinen, anstatt zu warten, bis er irgendwo alleine war und nicht gesehen wurde.) Damals war ich natürlich überzeugt, dass er diese Faszination auf jeden ausübte. Aber mittlerweile glaube ich, dass es auch daran lag, dass er beliebt war. Er war sportlich, klug, spontan und witzig, die Eigenschaften, die nun einmal alle anziehen. Auch wenn ich ihn aus anderen Gründen mochte.
 

So wurde ich auf Nathan aufmerksam. Er war beliebt, das exakte Gegenteil von mir, und beachtete mich selbstverständlich nicht. Aber nachdem mir erst einmal aufgefallen war, wie unbeschämt und offen er mit seinen Gefühlen umging, vielleicht von seinem manchmal doch spärlichen Lachen abgesehen, begann er mich erst wirklich zu interessieren. Ich war zufällig in der Nähe, wann immer er mit jemandem ein Gespräch führte, egal mit wem, denn mich bemerkte sowieso niemand. Das ermöglichte es mir schließlich ständig, zuzuschauen und zu lauschen. Keiner fragte sich, warum ich da herumlungerte. Selbst wenn ich bemerkt wurde, dachte man sich höchstwahrscheinlich nichts dabei. Ich war nur der Freak, der irgendwo am Rande herumstand und sich vielleicht danach sehnte, dazuzugehören. Indem ich Nathan niemals aus den Augen ließ, erfuhr ich, wie er in den verschiedensten Situationen reagierte. Wie unterschiedlich er mit Mädchen und Jungen sprach, mit den ganz Beliebten, mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, mit Autoritätspersonen, mit Freunden, mit nur flüchtig Bekannten und sogar Rivalen oder Missgönnern, wie jeder gutaussehende, reiche oder talentierte Teenager sie nun einmal auch hat.
 

Und natürlich gefiel mir das, was ich da hörte. Ich habe zwar vor jedem Respekt, damals möglicherweise oft ein bisschen übertrieben viel davon, aber trotzdem war ich nicht vollkommen naiv und leichtgläubig. Ich erkannte es durchaus, wenn jemand im Grunde genommen ein Mistkerl war, und davon gab es an unserer Schule und der restlichen Umgebung wirklich genügend. Und auch wenn ich meinen Respekt nichtsdestotrotz behielt, hätte ich mich in so jemanden mit Sicherheit niemals verliebt. Dazu gehörte bei mir mehr als nur Beliebtheit und die typischen Werte, die dazu führen – wieso hätte auch gerade ich derartige Anforderungen stellen sollen.
 

Nathan war niemals irgendjemandem gegenüber herablassend, und er verhielt sich grundsätzlich nicht wie ein Idiot. Ja, er konnte witzig sein, aber nicht auf die Art, wie es die meisten Jungen waren, mit derben Witzen, über die sie dann selbst am lautesten lachten und für die sie Schulterklopfen ihrer Kumpel einheimsten. Wenn Nathan Witze machte, dann klang es nicht, als lege er es darauf an. Es war eher so, als spreche er Wahrheiten aus, die er in eine sarkastische oder zynische Hülle verpackte, und seine Miene blieb dabei selbst ernst, als wäre es gar nicht als amüsante Bemerkung gedacht. Sein Humor war intelligent, geistreich.
 

Er redete mit Jungen nicht viel anders als mit Mädchen, was ich sehr erstaunlich fand und was mich noch heute einigermaßen fasziniert. Die meisten anderen Jungen haben vor ihren „Artgenossen“ das Gefühl, sie müssten sich zum vollkommenen Deppen machen, um cool herüberzukommen. Die Logik ist nicht nachvollziehbar, aber so läuft es nun einmal. Derbe Witze zum Beispiel, aber wie ich bereits erklärt habe, war das absolut untypisch für Nathan, der mit seinem Humor, mit seinen Begabungen oder auch nur mit seinem Aussehen anscheinend absolut nicht angeben wollte. Was er ja auch wirklich nicht nötig hatte.
 

Und er hielt sich anscheinend grundsätzlich nicht für etwas besseres. Eigentlich wäre es schön, wenn man diese Eigenschaft von Grund auf erwarten könnte, aber so war und ist es nun einmal leider nicht. Nicht bei jedem. Nathan lachte niemanden aus, nur weil er dessen Gedankengänge oder Einstellungen nicht verstand. (Wobei, eigentlich lachte er ja überhaupt niemanden aus.) Und heute halte ich es für durchaus möglich, dass er auch zu mir nett gewesen wäre, wenn ich es nur versucht hätte.
 

Bis ich vierzehn wurde, schaffte ich es, mich vollkommen hoffnungslos in Nathan zu verlieben. Den lieben, klugen Jungen, der mitten unter all den anderen Beliebten steckte und trotzdem, was seinen Charakter anbelangte, so grundlegend anders war als die anderen. Ich weiß gar nicht, ob mir mein eigener Zustand überhaupt bewusst war. Natürlich hätte ich, falls mich jemand gefragt hatte... nun, das müssen wir anders formulieren, falls mich jemand, dem ich vertraute, gefragt hätte – damals gab es davon zwar eigentlich niemanden, aber sehen wir es hypothetisch – ob ich ihn liebte, hätte ich ohne zu Zögern genickt. Oder sogar irgend etwas Blödes wie „Von ganzem Herzen!“ von mir gegeben. Aber ich hätte mit Sicherheit zugestimmt. Und was besonders erstaunlich war, war, dass ich irgendwann beinahe eine Art Auftrieb bekam, das Gefühl, etwas tun zu müssen, damit ich mich besser fühlte. Nur, dass ich damals noch nicht die Kraft dazu hatte. Dazu war es noch ein langer, langer Weg.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  BoogiePen
2008-02-16T12:40:18+00:00 16.02.2008 13:40
So, dann wollen wir mal den Anfang wagen =)

Zugegebener Maßen muss ich vorweg sagen, dass ich schon von der Vorstellung deiner Geschichte im Forum nicht angetan war: Die Grundidee schien mir recht plump, die Inhaltsangabe ließ erste Klischees durchscheinen und deine Beschreibung, du hättest einfach drauflosgeschrieben, spricht nicht unbedingt für die Geschichte. Zu deiner Verteidigung muss ich jedoch anmerken, dass ich das bisher auch sehr oft so gemacht habe mit dem Drauflosschreiben :P.
Jedenfalls hab ich mich schließlich doch durchgerungen, schließlich sollte deine Geschichte auch eine Chance haben. Jetzt, da ich das erste Kapitel fertig gelesen habe, stelle ich fest:
Alle meine Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet~
Dabei liegt es nichteinmal an deinem Schreibstil oder der Perspektivenwahl, was ich bemängeln könnte; nein, vielmehr ist - Hand aufs Herz - die Grundidee einfach total langweilig. Natürlich ließe sich daraus trotzdem noch etwas halbwegs Schönes basteln, doch deine Geschichte ersäuft in Klischees. Mal ehrlich, das ganze Konzept, die ganze Ausführung ist einfach nur banal und ist so, oder ein kleinwenig anders, schon x-mal da gewesen.
Ich würde dir auch gar nicht unterstellen, dass deine Geschichte niemandem zusagt. Mädchen unter vierzehn, die gern diese Jugend-Liebesromae lesen, dürften durchaus begeistert sein und dir ein paar "suuuuuuupi!!!^^"-Kommentare spendieren, aber alle anderen Leser - zu denen ich mich jetzt einfach mal zählen würde :P - lesen vielleicht noch das erste Kapitel und damit hat es sich dann.

Also um es nocheinmal zusammenzufassen:
Ich behaupte nicht, dass du nicht schön schreiben kannst - im Gegenteil! Dennoch ist es eine nicht zuübersehende Tatsache, dass die Geschichte sehr langweilig und viel zu ausführlich geraten ist. Daher mein Tipp: Versuch es mal mit einem ganz anderen Genre, auch wenn dir das jetztige Thema am Herzen zu liegen scheint.

Nja, wahrscheinlich klingt mein Kommentar mal wieder schlimm wie es eigentlich ist, also bitte keine Drohbriefe auf die Pinwand^^


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