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Maulwürfe und andere Chaoten

Ja, der Titel wird definitiv noch geändert!
von

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Teil 13: Alisha

Es verging eine Woche. Es vergingen zwei. Alisha wurde langsam wieder ruhiger. Abgesehen davon, dass sie essen konnte was sie wollte und nicht zunahm, war alles beim Alten. Es würde sich bestimmt erledigt haben, ein Fehlalarm, weiter nichts.

Sie kam nach Hause, wurde wieder aufgenommen in die Familie, als wäre nichts passiert, als hätte sie wirklich nur einen Autounfall gehabt. Und genau genommen hatte sie das für ihre Familie ja auch. Sie wurde umsorgt, bis ihre Eltern feststellten, dass sie bereits wieder vollständig genesen war, wurde mit Fragen gelöchert, bis ihre Eltern sich damit zufrieden gaben, dass sie sich an den Unfall und alles, was kurz vorher und kurz nachher gewesen war, nicht mehr erinnerte. Ihr Bruder übernahm weiter ihre Aufgaben, bis er merkte, dass sie durchaus auch selbst wieder arbeiten konnte – was erstaunlicher Weise weniger Zeit brauchte als sämtliche anderen Feststellungen, die ihre Familie in der ersten Woche nach ihrem „Unfall“ machte.

Alles war wieder beim Alten – bis auf ihren ständigen Hunger.
 

„Haben wir noch Äpfel da?“, fragte Alisha vom Türrahmen aus ihre Mutter, die gerade die Herdplatte schrubbte.

Als diese die Frage ihrer Tochter hörte, erstarrte sie in der Bewegung und drehte sich langsam verwirrt um, um Alisha ins Gesicht sehen zu können. “Wir haben doch eben erst gegessen“, wunderte sie sich, „und du hast drei Teller Nudeln verschlungen!“

Alisha zuckte mit den Schultern. „Ich weiß, aber ich habe keine Ahnung warum ich so großen Hunger habe. Haben wir jetzt noch einen Apfel oder nicht?“

Ihre Mutter reichte ihr den letzten Apfel aus dem Korb und sah Alisha zu, wie sie Bissen für Bissen hinunterschlang. Als fast nur noch der Grotzen übrig war, seufzte sie und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. „So geht das nicht weiter“, stellte sie fest.

„Was?“

„Deine Essgewohnheiten. Anfangs dachte ich noch, das kommt daher, dass dein Körper Energie braucht, um sich wieder selbst heilen zu können. Aber inzwischen...“ Auf ihrer Stirn erschienen tiefe Sorgenfalten. „Du isst mehr als dein Bruder, und der schlägt schon alle Rekorde. Zum Frühstück vier Brötchen, zwei Äpfel und eine Banane. Am Vormittag nicht nur das Pausenbrot, von dem du normaler Weise bis zum Abend satt geworden bist, sondern auch noch bis zum Mittagessen eine Bretzel und ein Croissant. Allein schon das ist nicht normal im Vergleich zu dem, was du sonst isst.

Zu Mittag hast du dann aber auch nochmal vier Klöße mit drei Portionen Gulasch gegessen. Nachmittags ein Kilo Joghurt und zwei Orangen und jetzt zum Abendessen auch nochmal drei Teller Nudeln mit extra viel Soße – und du bist schon wieder am Essen! Was ist mit dir los?“ Sie warf den Scheuerlappen achtlos beiseite, wo er leise an der Wand aufklatschte und wieder zurück auf den Herd fiel.

„Komm mit“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete und dirigierte Alisha bestimmt aus dem Raum.

„Wo willst du hin?“, fragte diese.

„Wir gehen nach oben, ins Bad. Und dann möchte ich, dass du dich auf die Waage stellst.“

„Warum?“

„Weil ich das Gefühl habe, dass du trotz der Unmengen, die du im Moment isst, dünner geworden bist. Und wenn das stimmt, kann es sein dass du ernsthaft krank bist. Ich möchte nicht, dass meine Tochter stirbt, weil sie zuckerkrank ist und es keiner bemerkt hat.“

„Mum!“, protestierte Alisha, „du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass ich Diabetes habe! Dann müsste ich ständig Durst haben und den habe ich nicht.“

„Wer sagt, dass du unbedingt Zucker haben musst?“ Sie waren inzwischen im Bad angekommen und Alishas Mutter zog die Waage unter dem Schrank heraus. „Es war nur ein Beispiel für das, was du haben könntest – zieh dich aus und stell dich drauf.“

„Ich bin nicht krank, es geht mir gut.“

„Alisha, stell dich auf die gottverdammte Waage“, drängte ihre Mutter. „Wenn du wirklich nichts hast, wenn ich mir das alles eingebildet habe und du genauso viel wie vorher wiegst oder sogar etwas mehr, dann werde ich dich in Ruhe lassen. Versprochen. Aber ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich und ich kann eher damit leben, dass du mich hasst, als dass du irgend etwas hast, das wir nicht rechtzeitig erkannt haben. Vielleicht mache ich mir auch einen zu großen Kopf, aber seit dem Unfall...“

Alisha sah hilflos zu, wie ihre Mutter sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. „Nimm es mir nicht übel, es ist einfach nur – ich habe das Gefühl, ich hätte es verhindern können, auch wenn ich selbst weiß, dass das nicht stimmt. Wenn dich jemand anruft und dir erzählt, deine Tochter wäre überfahren worden, fängst du automatisch an, dir Sorgen zu machen. Du fängst an, darüber nachzudenken, was sonst noch alles passieren kann. Und jetzt auf“, fügte sie mit einem schmerzlichen Lächeln hinzu, „stell dich auf die Waage und achte nicht darauf, was deine überarbeitete Mutter von sich gibt. Ich bin unglaublich müde und habe Schuldgefühle. Die gehen auch davon nicht weg, dass du mich anstarrst wie ein Dackel wenn es donnert. Das macht mich nur hyrsterischer.“

Gehorsam zog Alisha ihre Hose und ihren Pullover aus sowie ihre Hausschuhe, legte alles auf den Badewannenrand und stieg auf die Waage. Hinter sich hörte sie ihre Mutter tief Luft holen und sah gleichzeitig, wie kleine Sternchen sich in ihr Sichtfeld schoben. „Das kann nicht sein“, murmelte sie leise. „Es kann einfach nicht. Mum, was ist hier los?“
 

Als sie eine halbe Stunde später in ihrem Zimmer auf dem Bett lag, konnte sie es immer noch nicht glauben. Sie hätte mindestens drei Kilo zunehmen müssen. Stattdessen hatte sie tatsächlich abgenommen, insgesamt etwa fünf Kilogramm.

Innerhalb von nicht einmal einer Woche.

Wenigstens muss ich mir keine Gedanken mehr um meine Bikinifigur machen, schoss es ihr durch den Kopf, und sie lächelte sarkastisch. Es war weniger, dass sie abgenommen hatte. Das begrüßte sie sogar, sie war zwar nicht übergewichtig, hatte aber trotzdem alles andere als Idealfigur. Was ihr Sorgen machte, war, dass sie nicht den geringtsten Grund hatte, abzunehmen. Das, was ihre Mutter aufgezählt hatte, war noch nicht mal alles gewesen, das sie heute im Laufe des Tages gegessen hatte. Das war nur das gewesen, das ihre Mutter mitbekommen hatte. Alisha hatte durchaus die Blicke gesehen, die ihre Familie ihr zuwarf, und abgesehen von ihrem Bruder waren alle sichtlich besorgt gewesen. „Wenn du so weitermachst“, hatte der gefrotzelt, „wirst du bald doppelt so breit wie hoch sein.“ Sie hatte darüber gelacht und es nicht weiter beachtet. Bis es immer schlimmer geworden war.

Zögernd griff sie nach ihrem neu angelegten Tagebuch; ein altes Schulheft, in das sie seit wenigen Tagen das hineinschrieb, was sie täglich aß. Eine Packung Kekse, schrieb sie auf. Drei Teller Nudeln mit viel Soße, zwei Äpfel. Zwei Bananen und ein Glas Traubensaft, fügte sie nach einem kurzen Blick auf ihren Nachttisch hinzu, auf den sie ihre Ausbeute verstaut hatte, die sie in einem Moment der Unachtsamkeit seitens ihrer Mutter aus der Küche stibitzt hatte.

Langsam las sie sich den Eintrag nochmal durch. Es hatte sie gewundert, dass ihr Vater den Pizzageruch in ihrem Zimmer nicht bemerkt hatte. Andererseits hatte sie das Fenster offen gehabt, weswegen er vielleicht gedacht hatte, dass der Geruch von draußen kam. Aber wie sie auch die Tafel Schokolade in ihr Zimmer hatte schmuggeln können, war ihr noch immer ein absolutes Rätsel. Und was ihr ein noch größeres Rätsel war, war, wie ihr Körper diese Massen an Essen überhaupt in dieser kurzen Zeit hatte verwerten können.

Der letzte Satz, den ihr Tim auf den Weg mitgegeben hatte, bevor er mit Jonas verschwunden war, schoss ihr durch den Kopf. „Dein Stoffwechsel wird verrückt spielen“, hatte er ganz nebenbei fallen gelassen, „es ist ganz normal wenn du eine Zeit lang sehr viel isst und dann eine Zeit lang wiederum nur winzige Mengen verträgst, bevor du das Gefühl hast, du platzt.“

Sie schnaubte. 'Sehr viel' war noch eine nette Umschreibung für das, was sie zur Zeit in sich hineinstopfte.

Trotzig biss sie in eine Banane, dann fiel ihr Blick auf das Fenster. Schwere Regentropfen prasselten gegen die Scheibe. Langsam stand Alisha auf und warf einen Blick draußen auf die Straße, wo lauter Regenschirme über das Pflaster hüpften.

Was war, wenn sich ihr Stoffwechsel nicht wieder einrenkte? Ihre beiden Besucher hatten ihr klargemacht, dass ein normaler Arzt ihr nicht würde helfen können, da es keine Krankheit war, und dass sie eher in eine Forschungseinrichtung gesteckt werden würde, statt dass jemand wirklich etwas dagegen unternehmen könnte. Was war, wenn alles außer Kontrolle geriet? Wäre es dann nicht besser, wenn sie unter Leuten wäre, die von diesem Thema mehr verstanden als sie bis jetzt? Wäre es nicht besser, wenn sie selbst lernte, damit umzugehen?

Ohne dass sie es bewusst wollte, bewegte sie sich auf ihren Schreibtisch zu und nahm ein weiteres Heft heraus, das genau wie ihr jetziges Tagebuch etwas kleiner als A5 war. Dann nahm sie sich einen Stift und malte in ihrer schönsten Schrift ihren Namen darauf. Bei ihrem Nachnamen zögerte sie, ließ ihn dann aber weg.

Und ohne zu wissen, warum, schrieb sie ein weiteres Wort unter ihren Namen.

Arabisch.
 

Sie wusste nicht wirklich, was sie tun sollte. Die gesamte Situation schien nahezu auswegslos. Sie wusste noch nicht einmal, warum in den letzten Tagen so viel innerhalb von so wenig Zeit passiert war. Warum sie für Entscheidungen, die sie für ihr komplettes restliches Leben fällte, nur so wenig Zeit brauchte. Und warum ihr die Wahl zwischen einem langen Leben, das wahrscheinlich sogar ohne größere Gefahren ablaufen würde, und einem gefährlichen, anstrengenden Leben nicht das geringste Kopfzerbrechen bereitete. Sie hatte nicht wirklich lange darüber nachgedacht, ob sie dieser absurden Menschengruppe angehören wollte oder nicht. Und zugegeben: Ihre Beweisführung war auch nicht gerade die beste.

Aber trotzdem hatte sie nicht den geringsten Zweifel an dem, was sie gerade tat. Als hätte sie sich schon vor Jahren entschieden, und nur auf eine Aufforderung gewartet, wieder zu der Gruppe hinzuzustoßen. War sie sprunghaft geworden? Sie ließ alles zurück, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Ihre Freunde, ihre Familie, alle, die auf sie bauten und die sie vielleicht sogar brauchten.

Es tat ihr nicht im Geringsten leid.

Und wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, war auch nicht die Aussicht auf ein Abenteuer der Grund, warum sie sich für die Gruppe entschieden hatte, noch wollte sie aus Sicherheitsgründen den Schutz der beiden Männer in Anspruch nehmen. Sie fühlte sich einfach nur zu Hause.

Natürlich, ihr Zuhause war hier. Aber als die beiden Männer da gewesen waren, hatte sie das Gefühl gehabt, als wären die beiden ihre Brüder, als würden sie sie einfach zur Familie zurückholen wollen. Eine Familie, zu der sie noch mehr gehörte als zu ihrer biologischen Familie. Menschen, die sie verstehen würden, auch wenn Alisha keine Ahnung hatte, ob es schlussendlich wirklich darauf hinauslaufen würde oder ob sie sich doch nur überflüssig vorkäme. Und ob sie dann doch wieder nach Hause wollen würde – zu ihrem momentanen Zuhause.

Unruhig warf sie sich so heftig auf die andere Seite, dass die Bettfedern quietschten. Zuerst musste die Gruppe sich melden. Dann würde sie weitersehen. Vielleicht wollten sie sie auch gar nicht mehr dabei haben? Sie hatten sich eigentlich schon lange melden wollen, und Alisha hatte noch immer nichts von ihnen gehört.

Sie würden sie doch nicht wieder fallen lassen?
 

Der Papierhändler an der Ecke zur Bleichstraße betrachtete währenddessen nachdenlich den kleinen, braunen Umschlag, der seit Tagen an seiner Pinnwand hing. Es hätte schon längst jemand kommen müssen. Er runzelte die Stirn. Der Junge hatte sich noch nie verspätet, was war diesmal passiert? Sollte er trotz allem warten – oder die Sache lieber selbst in die Hand nehmen?

Als ein Kunde durch die Tür stolperte, fing er sich wieder. Alles zu seiner Zeit, mahnte er sich. Du wirst schon noch jemanden geschickt bekommen.



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