One-Shot.
Sie ging langsam auf den Spiegel zu, starrte auf das Bild, das sie sehen konnte, und spürte ihren Körper zu Eis erstarren.
Woher kommst du, kleine Schwester?
Diese Frage konnte sie nicht beantworten - sie erkannte nur, dass ihr Mund trocken und ihre Zunge wie gelähmt wurde.
Als sie in ihre eigenen, trostlosen Augen blickte, glaubte sie, einen riesigen, dicken Kloß in ihrem Hals wachsen zu spüren, der ihr die Luft abschnitt. Ihr Körper wurde immer schwerer, sie atmete flach und versuchte zu lachen, um sich beruhigen zu können - leider vergebens.
Mit der Last auf deinen Schultern?
Mit so angestrengtem Lachen?
In den Augen so viel Grau?
Ein Druck breitete sich in ihrer Brust aus, rief unheimlich große Schmerzen hervor und ließ sie glauben, ihr Herz würde jeden Moment zerspringen.
Woher kommst du, kleine Schwester?
Einmal atmete sie tief durch, schloss kurz die Augen, versuchte verzweifelt, einen klaren Kopf zu bekommen. Als sie die Augen wieder öffnete, bemerkte sie die heißen Tränen, die ungeweint hinter ihren Lidern brannten. Sie biss tapfer die Zähne zusammen, machte einen weiteren, kleinen Schritt auf den Spiegel zu, hob ihre zitternde, rechte Hand und berührte damit das eisige Glas.
Mit so dünnen, kalten Fingern?
Die Kälte durchzuckte ihren ganzen Körper, der Druck in ihrer Brust verstärkte scih schlagartig und schien sie innerlich fressen zu wollen. Bald versagten ihre Beine, sie sank auf den Boden - ihre Hand berührte den verhassten Spiegel immer noch - und begann, nach Erlösung suchend, in heiserem Ton zu schreien.
Und dem Zittern in der Stimme, wie bei einer alten Frau?
Der eigene Schrei fuhr wie Messerstiche in ihre Ohren; ihr Kopf dröhnte, Schwindel überfiel sie. Sie wandte sich zu dem Fenster, entdeckte die Sonne und starrte lange Zeit direkt in ihr kräftiges, grelles Licht. Der Schmerz, den sie in ihren Augen verspürte, war erleichternd.
Komm zu mir, kleine Schwester!
Ich bringe dich ins Licht, kleine Schwester!
Komm her zu mir, kleine Schwester!
Ich bringe dich ins Licht - es verbrennt dich nicht!
Irgendwann, sie wusste nicht, wie lange sie in das Licht gestarrt hatte, wandte sie sich wieder dem Spiegel zu. Sie konnte nichts sehen, ihre Augen waren immer noch geblendet und brannten wie Feuer. Ständig hallte der eigene Schrei in ihrem Kopf wieder und sie bekam das Gefühl, verrückt zu werden.
Was verbirgst du, kleine Schwester?
Niemand hört die stummen Schreie...
Als die endlich wieder zu sehen vermochte, biss sie sich auf die roten Lippen, sodass ihr die heißen Tränen in die Augen stiegen und sich kurz danach ihren Weg über ihr blasses Gesicht bahnten.
Niemand sieht dich leise weinen...
Bald verfiel sie in einen schrecklichen Heulkrampf. Indem sie sich zusammenkrümmte, wollte sie sich selbst schützen; sie heulte und schrie, zitterte, rang nach Luft und biss sich die Lippen blutig. Niemand konnte sagen, wie lange sie so vor dem Spiegel gekauert hatte, aber irgendwann trockneten ihre Tränen und sie wurde wieder ruhiger, beherrschter.
Du hast keine Tränen mehr.
Was verbirgst du, kleine Schwester?
Der kurze Anflug von Selbstbeherrschung, den sie eben erlangt hatte, verflog nach wenigen Sekunden wieder und ließ ihren aufschäumenden Gedanken Platz. Was genau war es, was sie so verbissen zu bekämpfen versuchte?
Waren es die Bilder?
Oder der immer wiederkehrende Schmerz?
Die ständig neu aufbrechenden Wunden?
Die Angst?
Sie wusste es nicht.
Welches Werkzeug riss die Wunden?
Nein - daran wollte und konnte sie nicht denken. Sie kniff ihre Augen zusammen, doch die Erinnerungen überfielen sie trotzdem voller Rücksichtslosigkeit. Hastig begann sie den Kopf zu schütteln, als könnte sie dadurch die Bilder entfernen - doch es war zwecklos.
Was ist in dich eingedrungen?
Plötzlich wurde ihr übel; sie hatte das Gefühl, dass ihr Magen sich umdrehte, und Krämpfe überfielen ihren ganzen Körper. In ihrem Kopf hämmerte es durchgehend, laut und scharf: Nein! Nein! Nein!
Du bist so hilflos, still und leer.
Langsam und zitternd hob sie ihren Blick und sah sich selbst vor sich - am Boden kauernd, das Gesicht aus Schmerz zu einer schrecklichen Fratze verzogen und die Augen gleichzeitig so gefühlskalt und leblos, dass es ihr im Herzen weh tat.
Was verbirgst du, kleine Schwester?
Sie richtete sich auf, starrte ihr Spiegelbild an und wurde von einem kalten Gefühl eingenommen, welches ihren Körper taub werden ließ. nur in ihrem Innernen tobte lautlos ein gewaltiger Sturm aus abgrundtiefem, ehrlichem Hass. Hass gegen sich selbst und gegen die Macht, die ihr das alles so kaltherzig angetan hatte.
Wonach hungert deine Seele?
Der Sturm in ihrem Inneren wurde stärker und wirbelte ihre Gedanken auf.
Nach Vergessen oder Rache?
Das konnte sie nicht beantworten. Vergessen würde sie von ihrem Leid erlösen, doch der Hass, der Wurzeln in ihr geschlagen hatte, rief Rachegedanken hervor, die so schrecklich und grausam waren, dass sie sogar über die Grenzen der Unmenschlichkeit hinausschritten.
Nach Vergeltung ohne Plan?
War es das, was sie suchte?
Vergeltung?
Erschöpft schloss sie die schmerzenden Augen.
Sie wusste es nicht.
Und wenn sie darüber nachdachte, beschlich sie der Gedanke, dass sie eigentlich - wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war - gar nichts mehr wusste.