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Melodien des Widerstands

von

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No More Sorrow

Lautes Pfeifen kündigte den Windzug an, der weitere nasskalte Luft durch die Ritze zwischen den Steinen blies; die Flamme erlosch. Sie seufzte, schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte sich und entfachte eine neue.

Arschkalt hier, kommentierte Feli.

Sie sah auf. »Geh weg«, murmelte sie.

Getroffen verzog Feli das Gesicht, nahm die Hände aus den Hosentaschen und ließ sich neben ihr nieder. Er lehnte sich an sie, seine schneeweiße Haut berührte ihren Arm. Entschuldige, sagte er leise, als sie zusammenzuckte. Sie schüttelte bloß den Kopf und schwieg.

Eine Weile lang saßen sie stumm nebeneinander und blickten durch die Gitter auf den halbdunklen Gang. Das Feuer warf tanzende Schatten an die kahlen Wände, knisterte und knackte leise, spendete jedoch nur spärlich Wärme. Es ließ die Tränen in ihren Augenwinkeln rötlich glitzern. »Sie haben gesagt, du bist tot«, flüsterte sie. Ihre Stimme brach.

Feli stieß hörbar die Luft aus und blickte an sich herunter. Sichtlich unbehaglich zupfte er an seinem verschmutzten Oberteil. Ich weiß nicht, sagte er leise. Vielleicht bin ich das. Vielleicht sind wir das alle.

Erschrocken drehte sie den Kopf zu ihm, starrte ihn aus den großen hellblauen Augen an. »Wir alle?«, hauchte sie. »Alle?«

Feli lächelte gequält. Nein, nicht alle. Du nicht, Deb, du nicht. Aber wir… Wir Elementarier, verstehst du? Alle, die sich in dir vereinen. Kann schon sein, dass wir tot sind. Die haben ja widerliches mit uns angestellt, also… Er zuckte mit den Schultern.

»Aber du bist doch noch hier«, sagte sie sachte. »Ich seh dich doch.«

Er verzog mitleidig das Gesicht, versuchte weiterhin zu lächeln, was jedoch bloß tiefe, vielsagende Furchen durch seine Haut zog. Diese Versuche hier können dem Verstand ganz schön zusetzen…

Fassungslos öffnete sie den Mund, wollte antworten, als eine barsche Stimme Felis Gestalt wie Staub zerstob: »Deborah! Feuer aus! Aufstehen!«

Noch einige Momente lang starrte Deborah auf den leeren Fleck, den ihr Zellengenosse eben noch ausgefüllt hatte, dann drehte sie langsam den Kopf zu der schmalen Flamme zwischen ihren Händen.

»Los, schneller. Ich hab nicht ewig Zeit.«

Ein Zucken ging durch ihren Körper, mit einer flüchtigen Fingerbewegung ließ sie das Feuer verschwinden, klopfte ihre rußschwarzen Hände an der Kleidung ab und drückte sich schwerfällig auf die Beine. Scheu hob sie den Blick zu Hannah Seymour, der Projektleiterin für diesen Bereich. Ein streng zusammengebundener, brauner Pferdeschwanz ließ ihr Gesicht immer angespannt, hart und kantig wirken – Feli hatte es mal als steinhässlich bezeichnet; ihr gesamtes Auftreten war immerzu starr und unwirsch.

»Mit wem hast du eben geredet?«

Deborah senkte den Blick. »Mit Feliccio«, nuschelte sie.

Mit einem Knurren langte Seymour durch die Gitterstäbe und packte ihren Kragen, zog sie mit einem kräftigen Ruck nach vorne, sodass ihr Brustkorb schmerzhaft gegen das Metall gedrückt wurde. Kalte Augen bohrten sich in die ihrigen, ließen keine Emotion zu, obwohl ihre Stimme bereits furchtbar wütend klang, als sie betont langsam wiederholte: »Mit wem hast du geredet?«

Deborah gab ein schwaches Fiepen von sich, wagte nicht einmal die Arme zu bewegen, um sich ein wenig von den Stäben zu befreien. Ängstlich starrte sie die Frau an, die all ihre Reaktionen auf die Versuche so aufmerksam beobachtet hatte, und brachte es schließlich fertig, den Kopf zu schütteln. »Mit niemandem.«

»Schon besser.« Seymours Griff um ihren Kragen lockerte sich, mit zufriedener Überheblichkeit musterte sie Deborah von oben bis unten, ein humorloses Lächeln zog sich über ihr Gesicht. Sie zog ihre Hand zurück und schloss langsam die Tür auf, die von innen kaum von den restlichen Stäben zu unterscheiden war. »Komm mit«, befahl sie. »Ich werd dir jemanden vorstellen.«

Die Gewohnheit in Deborah quittierte das unwohlige Gefühl in ihrem Magen mit einem kräftigen Schlucken, sie führte ihre tauben Beine wie selbstverständlich aus der Zelle und ließ die aufkommende Angst zu einem dumpfen Pochen in ihrer Schläfe werden. Alles, was blieb, war die Frage, wer ihr vorgestellt wurde.

Wahrscheinlich bloß noch so ein Arzt, der schon wieder neue Elektroden entwickelt hat, damit ich nicht mehr ganz so viele Stromschläge bekomme, dachte sie bitter. Oder ein weiterer Fanatiker, der sein Blut für mich spenden will.

Verspricht ja, ein sonniger Tag zu werden, sagte Feli, während sie gemeinsam neben Seymour herhasteten, doch mit einem warnenden Blick zu ihr ließ Deborah ihn wieder verschwinden. Sie hatte jetzt keine Zeit, über Existenz oder Nichtexistenz nachzudenken.

Seymour entriegelte die üblichen Sicherheitstüren, führte sie erst den gewohnten Gang in Richtung der Labore entlang, bis sie plötzlich abbogen. Überrascht musterte Deborah den unbekannten Korridor; er war ebenso perlweiß wie alle anderen, Halogenlampen prallten auf sie nieder, alles war so steril wie der gesamte ihr bekannte Rest des Gebäudes, doch es gab weder Türen noch kleine Guckfenster an den Wänden – einzig am Ende des Ganges thronten zwei massive, dunkle Flügeltüren.

Fragen brannten auf ihrer Zunge, doch Deborah musste widerstehen: Würde sie jetzt den Mund öffnen, würde Seymour sofort die Würgemale an ihrem Hals auffrischen.

Sie näherten sich immer weiter den riesigen Türen und Deborah erwischte sich mit jedem Meter dabei, wie sie nervöse Blicke über die Schulter warf. Die meisten Ärzte, Versuchsleiter und Assistenten, die sonst so zielstrebig durch das Gebäude stolzierten, verlangsamten vor diesem Korridor und lugten neugierig hinein, beäugten sie und Seymour wissend und grinsten ihr sogar teilweise zu, was ihr Unbehagen zu brodelnder Übelkeit machte. Irgendetwas passierte hinter diesen Türen und auch wenn es nicht allen ganz klar zu sein schien, sie wussten, was es war.

»Blick nach vorn, Deborah. Komm rein.«

Desorientiert sah sie durch die Türen, die sich offenbar lautlos geöffnet hatten. Ein großer, halbdunkler Raum erstreckte sich vor ihnen, in seiner Mitte wurde ein schwaches Licht auf den Boden geworfen, wo ein zitterndes und zuckendes Bündel kauerte. Deborah unterdrückte den Drang, umzudrehen und zurück in ihre Zelle zu laufen.

Als hätte sie das gespürt – was sie vermutlich sogar getan hatte –, legte Seymour eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie mit bestimmtem Griff weiter nach vorne. Sie senkte die Stimme. »Siehst du die Ärzte da vorne? Und die junge Frau? Die haben ihn gefunden, unseren Flüchtling. Unser anderes Musterobjekt, dein Gegenstück. Die Nachricht seines Verschwindens hat auch dich erreicht, nicht wahr?«

Deborah nickte stumm. Ihr Blick streifte nur kurz die lächelnden Ärzte und das augenscheinlich schrecklich nervöse Mädchen, das sie kaum älter als fünfzehn schätzte, dann haftete er wieder an dem Haufen Lumpen im Mittelpunkt, der ab und zu leise, zittrige Geräusche von sich gab.

Sie kannte seinen Namen nicht. Sie hatte von ihm gehört, aber sie kannte seinen Namen nicht. Mistvieh hatten sie ihn immer nur genannt, und Bastard. Sie wusste, dass er ebenfalls Versuchsobjekt gewesen war, aber sie wusste nicht, was genau an ihm getestet worden war. Seine Flucht musste bereits Monate her sein. Deborah hatte kein besonders gutes Zeitgefühl in ihrer Gefangenschaft, doch gelegentlich hörte sie die Ärzte neben ihr aktuelle Daten vor sich hinmurmeln.

Es war ein riesiger Aufruhr gewesen, tagelang hatten überall rote Lichter geblinkt, alle waren permanent durch die Gänge gerannt. Als die Panik um die Unsicherheit des Gebäudes sich gelegt hatte, waren sie nur noch wütend gewesen. Deborah hatte das zu spüren bekommen. Sie waren plötzlich weitaus brutaler mit ihr umgegangen und hatten immer wieder geschimpft über wertlosen Abfall, der es wagte, sich aufzulehnen. Feli hatte während dieser Zeit außerordentlich gute Laune gehabt. Hoffnung, hatte er immer wieder gesummt, es gibt noch Hoffnung! Und Deborah hatte gezögert, aber dann zugestimmt. Es klang einfach logisch. Es klang logisch, sich Freiheit von diesen Leuten schaffen zu wollen, und es klang logisch, dass es alle schaffen konnten, wenn es einer geschafft hatte.

Aber jetzt war er wieder gefunden worden und all das klang überhaupt nicht mehr logisch.

»Ich möchte, dass du dir genau ansiehst, was mit ihm passiert«, sagte Seymour neben ihr leise. »Dann wirst du vielleicht endlich lernen zu schätzen, wie locker wir mit dir umgehen. Immerhin testen wir an dir bloß ein paar Reaktionen und neue Fähigkeiten. Er hier wird unter anderem auf Schmerzempfindlichkeit getestet.« Sie nickte einem der Ärzte zu, der sich daraufhin einem großen Schalter in der Wand näherte. »Obwohl er im Moment noch von Tests befreit ist; erst steht eine ganze Reihe von Bestrafungen an… Einige davon wirst du dir auch ansehen dürfen. Zur reinen Prävention. Verstanden?«

»Ja«, sagte Deborah bloß. Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Kratzen; sie wusste genau, worauf Seymour hinauswollte: Wenn sie mit ansah, was mit Flüchtlingen passierte, würde sie nicht auf die Idee kommen, selbst einer zu werden.

Mit einem lauten Krachen wurde der Schalter umgelegt. Deborah verfolgte die Kabel, die von ihm ausgingen, bis ins Innere des Bündels. Sie kannte diese Kabel, sie schickten Strom in Form von unterschiedlich starken Schmerzenswellen durch den Körper.

Einige Momente lang geschah nichts. Der umgelegte Schalter machte dumpfe, bohrende Geräusche, alle Blicke waren auf den gefangenen Flüchtling gerichtet, aber niemand regte sich. »Er hat Fortschritte gemacht«, murmelte Seymour. »Sein Glück.«

Die Glieder am Boden zuckten. Der Körper ruckte einige Male hin und her, dann, mit einer plötzlichen Bewegung aus dem Nichts, sprossen Flügel hervor, streckten und beugten sich wieder, schlugen kurz und sanken wieder zusammen. Deborah nahm ein tiefes Grollen wahr, das sie erst nicht zuordnen konnte, bis es immer weiter anschwoll und sie es als eine Stimme identifizierte. Die Gestalt am Boden schmiss den Kopf in den Nacken, sie sah schweißnasse Haarsträhnen in ihrem Gesicht kleben, der Mund war weit geöffnet, die Arme, die sich langsam vom restlichen Körper abzeichneten, krampften synchron mit den Flügeln am Rücken; der Mann brüllte aus voller Kehle.

Erschrocken wollte Deborah einen Schritt nach hinten machen, doch Seymours Hand riss sie unwirsch zurück. »Sieh es dir an.« Noch immer sprach sie leise, gewann jedoch einen immer drohenderen Unterton. »Wir haben ihm Gene eingepflanzt, die sein Schmerzempfinden lindern. Eigentlich fühlt er kaum noch etwas. Aber diese Stromstöße bringen selbst ihn zum Winseln.«

Deborah hatte Schwierigkeiten ihr zuzuhören. Obwohl die Schreie heiser und gedämpfter geworden waren, hallten sie noch ohrenbetäubend in ihrem Kopf wider; noch immer bäumte sich der Körper unerlässlich auf, bebte und wand sich unter den Stromschlägen, die seine Gliedmaßen durchfuhren. Sie zuckte mit jedem Mal zusammen, als sein Kopf mit einem dumpfen Geräusch mit dem Boden kollidierte.

Der Gefangene erschlaffte. Letzte Spasmen ließen ihn erzittern, ebbten jedoch nach und nach ab. Sie schielte zu den Ärzten und stellte fest, dass der Schalter noch nicht wieder umgelegt worden war. Ein Schauer überkam sie, mit zusammengekniffenen Augen suchte sie den Brustkorb des unbekannten Mannes, um eine eventuelle Atmung beobachten zu können.

Deborah hob erleichtert die Mundwinkel, die Gegend um seine Rippen bewegte sich. Langsam, flach, aber sie bewegte sich. Der Flüchtling war schwach.

Und dennoch brachte er es fertig, den Kopf zu ihr zu drehen… Sie gab vor lauter Überraschung ein leises Quieken von sich, drückte rasch eine Hand auf ihren Mund. Der Mann, oder eher der Junge, wie sie jetzt feststellte, sah sie direkt an. Um seine Augen glitzerten getrocknete Tränen, sie waren bloß halb geöffnet, und doch schien sein Blick klar und bestimmt. Und er ging direkt in ihr Gesicht.

Und er lächelte. Obwohl Lächeln fast das falsche Wort war, fand Deborah, er grinste sogar fast. Er grinste. Grinste zu ihr hoch. Nach allem, was er durchlebt hatte – die Stromstöße waren allem Anschein nach nicht das einzige, was er bisher zu erleiden gehabt hatte. Er grinste zu ihr hoch, und dieses Grinsen strotzte nur so vor Überlegenheit, vor Rebellion, vor Freiheit – so sehr, dass es begann, Deborah zu ängstigen.

Ihre Knie drohten nachzugeben, deutlich witterte sie die Gefahr, die von diesem Kämpfer ausging. Er hatte sich diese Folter selbst zu verschulden und sie wollte nicht, dass es mit ihr auch so weit kam. Sie hatten doch die ganze Zeit Recht gehabt. Flucht gab nur Schmerz.

Scheu blickte sie hoch zu Seymour, wünschte sich nichts mehr, als zurück in ihre Zelle zu können, ohne weitere Show, ohne Diskussion, bloß zurück und weiterleben wie bisher; doch sie wagte nicht, ein Wort zu sagen.

Seymour senkte den Kopf zu ihr; sie schmunzelte trocken und schief. »Genug gesehen, Deborah?«

Ihr Nacken war steif, doch sie nickte, in der desperaten Hoffnung, gnädig entlassen zu werden.

»Gut. Strom aus, Jungs, bringt ihn zurück. Wir sehen morgen weiter, ob er noch immer so viel Blut verliert…«

Sie drehte sich weg und schob Deborah weiterhin mit sich. Zögernd blickte sie noch einmal über die Schulter, der Junge hatte die Augen mittlerweile geschlossen, doch noch immer umspielte ein schmales Lächeln seine Lippen.

Deborah erschauderte, dann trat sie zurück auf den Gang.
 

Nach einiger Zeit wurde es leiser. Das Schluchzen flaute zu einem zarten Wimmern ab, bis durch die Tür zu Louis’ Arbeitszimmer gar nichts mehr zu hören war. Ein Klicken symbolisierte, dass sie wieder offen und er wieder ansprechbar war. Phoebe streckte kurz einen Arm in Richtung der Klinke aus, entschied sich dann aber gegen eine weitere Auseinandersetzung und kehrte der Tür den Rücken.

Sie ließ sich seitlich auf einen Sessel fallen, legte die Beine auf eine Armlehne und schloss die Augen. Seufzend rieb sie sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nase, versuchte das leise Echo der Schreie, der Tränen und der Verzweiflung zu ignorieren. Ihr Kopf dröhnte, sie brachte es nicht fertig, sich zu entspannen.

Es war seltsam. Einfach seltsam. Sie war immer gerne als Dämon tätig gewesen und sie hatte auch Louis als ihren Mentor immer bewundert.

Man nannte ihn den Sonnengott, Louis Quatorze. Er hatte gelbe Haut, gelbe Augen, gelbes Haar und die dämonische Fähigkeit, nach Belieben Feuer zu entzünden. Und er war überheblich. Überheblich, selbstverliebt und volksverachtend. Der perfekte absolutistische König. So hatte er sich seinen Namen erarbeitet, und auch seinen Ruf, der zwar eher weniger schmeichelhaft, in der Unterwelt aber Gold wert war.

Louis hatte kein Mitleid. »Arbeit ist Arbeit«, pflegte er zu sagen, »und Mensch ist Objekt.« Vor mehreren hundert Jahren hatte er seine Stelle als Feuerdämon aufgegeben und war zu den herkömmlicheren Arbeiten gewechselt. Nun war es seine Aufgabe, sich in Köpfen einzunisten (Menschen hatten diese Köpfe dann »besessen« getauft) und den Verstand zu manipulieren.

Es war lange her, dass Phoebe neu ins Gewerbe eingestiegen war. Louis hatte sie sofort mit einem schiefen Grinsen begrüßt und sich als ihr Mentor vorgestellt, von da an hatte er ihr alles beigebracht. Sie hatten sich gut verstanden, Phoebes sadistische Ader war aufgeblüht, sie hatte schnell gelernt. Und sie hatte Spaß gehabt, bei jedem Auftrag, bei jeder Lektion.

Dann hatte der Krieg begonnen. Natürlich florierte das Geschäft der Unterwelt in jedem Krieg, und zu Anfang hatte sich Phoebe auf die kommende Arbeit gefreut, doch sie hatte schnell festgestellt, dass dieser Krieg ein anderer war. »Es geht uns trotzdem nichts an«, hatte Louis gesagt. »Das ist bloß eine Sache zwischen Menschen und dem ganzen anderen Ungeziefer.« Aber Phoebe hatte von Beginn an das Gefühl gehabt, dass sie diesmal ebenso zu dem anderen Ungeziefer gehörten, wie all die Magier, Werwölfe, Vampire, Zwerge, Elfen, Zwölfen und Elementarier. Und das hatte ihre Augen geöffnet.

Es hatte ihr immer Freude bereitet, Menschen schreiend im Kreis rennen zu lassen, sie dazu zu bringen ihre Zimmerwände voll zu kritzeln, ihre Familienmitglieder grundlos anzubrüllen, bis diese wutentbrannt abhauten, sie dazu zu überreden mit einer Schrotflinte in den Supermarkt zu springen – doch Louis’ jetzige Pläne nahmen Ausmaße an, die sie nicht billigen wollte.

Das Schluchzen aus dem Arbeitszimmer war von einem vierzehnjährigen Mädchen gekommen; nach außen waren die Geräusche ihrer Umgebung immer hörbar, wenn Louis sich mental in ihrem Kopf befand.

Er hatte sie zum Verrat gebracht. Das war nicht das Schlimme, Verrataufgaben waren in Kriegszeiten nichts Besonderes; schlimm war, wen sie seinetwegen verraten hatte. Sie hatte eine Zwillingsschwester, die vor einiger Zeit von einem Werwolf gebissen und verwandelt worden war. Um sich vor ihrem fanatischen Vater zu schützen, hatte sie sich in der Nacht ihres Bisses noch zu dem Haus einer Magierin geschafft, die seit Kriegsbeginn als Rebellin überall gesucht wurde. Zur gleichen Zeit war ein Flüchtling aus den Versuchslaboren der Menschen im Haus zu Besuch.

Und Louis hatte dem Mädchen die Adresse dieses Hauses in den Kopf gesetzt und sie dazu gebracht, dort hereinzuplatzen. Es hatte einige weitere Tage gebraucht, bis er sie weit genug hatte, um alle drei zu verraten, doch er hatte es tatsächlich geschafft. Sie hatte die zwei meistgesuchten Rebellen und ihre eigene Schwester verraten, und das unbewusst, wegen Besessenheit.

Die Schreie, die Tränen, waren das Resultat gewesen aus dem Moment, in dem ihr das Ausmaß ihrer Tat bewusst geworden war. Die Magierin hatte noch entkommen können, doch der Flüchtling und die junge Werwölfin waren abtransportiert worden. Ersterer musste jetzt wahrscheinlich einige Folter über sich ergehen lassen, über das Schicksal des Mädchens war Phoebe sich nicht sicher.

»Sie werden sie schon nicht töten«, hatte Louis rasch auf ihre tadelnde Anfrage geantwortet. »Ich kann auch versuchen darauf aufzupassen, dass keine von den Minderjährigen stirbt, wenn dir dann wohler ist.«

Phoebe schnaubte gegen den Sessel.
 

Are you lost in your lies?

Do you tell yourself I don’t realise?

Your crusade’s a disguise

Replace freedom with fear, you trade money for lives

I’m aware of what you’ve done
 

Sie wusste, dass es nicht stimmte. Sie wusste es mit hundertprozentiger Sicherheit. Möglicherweise würden die Menschen das Mädchen nicht umbringen, doch Louis würde sich niemals darum kümmern. Ihm wäre es egal, für ihn zählte die Arbeit, nicht die Zahl der Überlebenden – und erst recht nicht ihr Alter.

Er hatte sie angelogen. Und er tat es immer wieder. Und offenbar befand er sich auch noch in der dreisten Annahme, ihr würde es nicht auffallen.

Phoebe blickte aus dem Fenster ihres Diesseitshauses. Sie hatten sich direkt hier eingenistet, um während des Krieges näher bei ihren potenziellen Opfern zu sein. Vom Sturm der letzten Nächte war kaum noch etwas zu bemerken, der Sommer hatte endlich begonnen: Die Tage waren hell und warm, kein Lüftchen wehte, und Tiere wagten sich wieder aus ihren Bauten – aber damit waren sie die einzigen. Keine Rasse traute sich mehr auf die Straße. Ein paar Menschen, nur in Begleitung von Schwarzmagiern, alle anderen verbarrikadierten sich in ihren Häusern. Die ganze Welt lebte in Angst und Sorge.

Und das hätte nicht sein müssen. Vor allem sie als Dämonen hätten es verhindern können. Natürlich war es nicht gerade ihre Aufgabe, Weltfrieden zu schaffen, jedoch waren sie auch nicht nur zu durch und durch bösen Taten fähig. Eigentlich hatten Phoebe und Louis sich darauf geeinigt, nur bedingt einzugreifen. Sie wollten ein bisschen Unruhe stiften, sich aber nicht weiter einmischen und den Krieg Krieg sein lassen. Sie hatten keine Tode verantworten wollen. Immerhin würde das dieser Krieg von ganz alleine erledigen; er war anders als die vorigen, alle waren daran beteiligt, es würde also genügend Opfer geben.

Louis hatte irgendwann aufgehört, sich daran zu halten. Der Spaß an der Sache hatte ihn übermannt, er hatte gewütet, gelacht, im regelrechten Blutrausch immer jüngere Opfer manipuliert – und Phoebe hatte immer daneben gestanden und ihre Schreie gehört, sich gesorgt und gleichzeitig geekelt.
 

No, no more sorrow

I’ve paid for your mistakes

Your time is borrowed

Your time has come to be replaced
 

Phoebe warf einen Blick zum Arbeitszimmer, es war noch immer aufgeschlossen, also war Louis nicht mehr mit dem armen Zwillingsmädchen namens Candace beschäftigt; sie hatte freie Bahn. Etwas widerwillig schloss sie die Augen und begann langsam, sachte, sich in ihren Verstand einzufühlen.

Sie wollte sich vergewissern, was Louis diesmal angerichtet hatte. Sie wollte mit ihren Augen sehen.

Candace saß in einem kahlen Kinderzimmer auf ihrem Bett. Die Pritsche ihr gegenüber war leer, die Laken unordentlich zerwühlt. In verschnörkelter Schrift war an die Wand darüber der Name Zoé gepinselt worden.

Das Mädchen seufzte zittrig und wischte sich mit dem Handrücken Tränen von den Wangen. Sie hatte ihre Schwester immer geliebt. Sie waren das Zwillingspaar aus dem Bilderbuch gewesen, hatten einander die Sätze beendet, sich nie gegenseitig allein gelassen, den Krankheitstod ihrer Mutter hatten sie rein aus gemeinsamer Kraft überstanden, es hatte keinen Moment gegeben, in dem sie nicht die Gefühle der anderen haarklein hätten beschreiben können.

Auch zu ihrem Vater hatte sie immer eine gute Beziehung gehabt – Zoé auch. Ja, er hatte schon immer etwas extreme Ansichten gehabt, doch gestört hatte sie das nie. Sie hatten sich immer gerne auf Diskussionen mit ihm eingelassen.

Und dann eskalierte die letzte dieser Diskussionen.

Natürlich ging es um Mord. Kriegsmord, wie ihr Vater es nannte. Seit dem Tod ihrer Mutter waren die Mädchen empfindlich, wenn es zu diesem Thema kam. Sie wollten nichts mehr von Sterben hören, selbst wenn es dabei um Gegner ging.

Die sonst so stille Zoé steigerte sich immer mehr in ihre Argumente hinein – soweit, dass sie irgendwann brüllend und auf den Zehenspitzen vor ihrem Vater endete. Sie wollte und wollte ihm nicht zustimmen, dass es in Ordnung war, Lebewesen von ihren Familien und Freunden zu reißen, bloß weil sie keine Menschen waren, dass sie sich dann nicht genauso wie sie und Candace fühlen würden, dass es auch in einem Krieg nicht das Ziel sein konnte andere zu quälen.

Candace wusste nicht mehr genau, was sie alles gesagt hatten. Sie wollte sich auch nicht mehr daran erinnern. Die Situation artete aus. Irgendwann warfen sie sich statt Argumenten nur noch Beleidigungen an die Köpfe und schließlich holte ihr Vater tief Luft, deutete zittrig auf die Tür und raunte ihren Rausschmiss.

Beide Schwestern hatten versucht ihre Erschrockenheit zu verbergen. Draußen riss der Sturm an Bäumen und Straßenlaternen, selbst das Haus schien zu beben unter den immer heftigeren Windböen und dem harten Regen. Doch Zoé widersprach nicht. Sie schob bloß trotzig den Unterkiefer vor, schnappte sich ihre Jacke und stapfte aus der Tür.

Und am nächsten Morgen hatte Candace plötzlich diese vertrauensvolle Stimme wahrgenommen, die ihr eine Adresse zuflüsterte, wo sie ihre Schwester finden konnte…

An diesem Punkt klinkte Phoebe sich aus ihren Erinnerungen aus. Mit einem tiefen Seufzen öffnete sie die Augen und schüttelte den Kopf. Das Mädchen war verzweifelt, hatte Dinge mitangesehen, die eine Vierzehnjährige viel zu sehr belasteten, hatte Dinge getan, für die sie sich selbst am liebsten in Stücke reißen würde – bloß weil Louis eine seiner aus Langeweile entstandenen Ideen gehabt hatte, die er für lustig hielt.

Es war einfach zu viel geworden.
 

I see pain, I see need

I see liars and thieves abuse power with greed

I had hope, I believed

But I’m beginning to think that I’ve been deceived

You will pay for what you’ve done

No, no more sorrow

I’ve paid for your mistakes

Your time is borrowed

Your time has come to be replaced
 

Louis stand im Türrahmen zum Wohnzimmer. Seine Augen hafteten nachdenklich an ihr, als er leise Luft holte. »Du warst in ihrem Kopf«, sagte er. Er klang gedämpft, unschlüssig.

Er traut mir nicht zu, mich gegen ihn aufzulehnen, dachte Phoebe mit einem Anflug von Bitterkeit.

Sie nickte bloß.

»Und?« Jetzt klang er schroff, schob offenbar aus Frustration über den Mangel an Antwort den Unterkiefer nach vorne.

»Du hast einem Teenager das Leben zertrampelt«, sagte sie schlicht.

Er gab einen grunzenden Laut von sich und zuckte mit den Schultern. »Hat sie eben eine schwere Jugend. Kommt vor; haben wir doch alle irgendwo.«

»Und du bist dafür verantwortlich.«

»Jetzt versuch nicht, mir Schuldgefühle einzureden. Was muss, das muss, Phoebe. Arbeit ist Arbeit.«

»Und Mensch ist Objekt, lass mich damit bloß in Ruhe.« Phoebe hielt es für angebracht aus dem Sessel aufzustehen; sie verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich direkt vor ihn. »Es geht diesmal nicht mehr nur um Menschen. Es geht um uns alle.«

»Nicht um uns, es geht nie um uns, wir sind immun. Wir gehören zur Unterwelt, das ist alles, was uns etwas angeht.«
 

Thieves and hypocrites
 

»Wenn es uns nichts angeht, warum mischst du dich dann in ihr Leben ein?«

»Teufel noch mal, Phoebe, das ist unser Job

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht unser Job, Kinder dazu zu zwingen, ihre eigenen Geschwister an einen Haufen mordlustiger Irrer zu verraten«, sagte sie leise.

»Wenn die Umstände so stehen, ist es…«

»Nein. Du hättest es verhindern können. Es war nicht deine Pflicht, es gehörte nicht explizit zum Auftrag. Du hättest es einfach sein lassen können.«

»Dann wäre ihre Schwester die ganze Zeit verschwunden gewesen und sie hätte sich Sorgen gemacht.«

Phoebe hob spöttisch eine Braue. »Und das ist schlimmer als zu Hause zu sitzen mit dem Wissen, dass sie als Werwolf vermutlich in irgendeiner Zelle sitzt und auf ihre Hinrichtung wartet? Wer weiß, was ihr Vater im Moment alles anstellt – du weißt es wahrscheinlich – ich will es mir überhaupt nicht vorstellen.«

Er verdrehte die Augen. »Mach dir doch um so was keine Gedanken. Das kann uns völlig egal sein.«

»Es ist mir aber nicht egal. Ich kann nicht aufhören darüber nachzudenken, wie sich so was anfühlen mag, und es muss einfach nur furchtbar und widerlich und eklig sein und ich werd den Gedanken nicht los, dass wir verdammt noch mal daran Schuld sind!«

»Phoebe…« Louis hatte wieder diesen gönnerhaften Blick, sah auf sie herab als ihr Mentor und Lehrer, geduldig und milde lächelnd. »Das ist eben der Preis für diese Arbeit. Aber daran hättest du dich doch langsam gewöhnen müssen. Wir sind eben Dämonen und das ist, was Dämonen eben so tun. Das hab ich dir das letzte Mal doch vor hundert Jahren erklären müssen.«

»In diesem verfluchten Krieg ist es anders. Es ist alles anders. Und Louis, ich…« Sie zwang sich selbst, zu stoppen. Mit einem Blick in seine Augen wusste sie wieder, dass er Strategie anwandte. Ihr Tonfall war bereits weicher geworden, einfach nur weil er ihr gegenüber wieder die Vaterrolle angenommen hatte und sie deshalb aufpassen wollte, ihn nicht zu verletzen. Sie schnaubte innerlich, dieser Gedanke war lächerlich. Louis konnte nicht verletzt werden, Louis war emotional völlig tot, wenn es nicht gerade um menschliche Abgründe ging. Sie musste jetzt weiter hart und ehrlich bleiben. Es war egal, was er deshalb fühlte. »Ich mach das nicht mehr mit. Ich gehe.«

Einen Moment lang sagte er nichts, dann zog er bloß langsam die Augenbrauen hoch. »Ach«, machte er. »Und wohin?«

Sie zuckte die Achseln. »Die Welt ist groß, irgendetwas werd ich schon finden. Jedenfalls brauch ich erst mal meine Ruhe von dir, und zu den Arbeitslosen werd ich mich wohl auch gesellen.«

In Louis’ Gesicht mischten sich Ungläubigkeit und Hohn. »Du wirst nicht von mir abhauen, Phoebe.« Er senkte die Stimme. »Seit deinem Einstieg warst du nirgends mehr alleine. Ich bin dein Mentor, meine Liebe. Ich hab dir alles beigebracht. Bis heute. Du wirst doch ohne mich kaum klar kommen… Und du willst es doch noch nicht mal wirklich, du willst mich doch nicht alleine lassen, uns trennen. Du kannst es dir nicht mal richtig vorstellen.«
 

Thieves and hypocrites
 

Phoebe schaffte ein sarkastisches, schiefes Grinsen. »Ich kann es mir sogar so gut vorstellen, dass ich jetzt nicht einmal meine Sachen packen werde, sondern sofort verschwinde.« Sie wandte sich ab und schlenderte auf die Haustür zu. »Viel Spaß noch, Lou. Und vermiss mich nicht allzu sehr.«

Erst als sie die Tür bereits geöffnet hatte, machte Louis noch einen Schritt auf sie zu. »Denk darüber nach.« Er sprach noch immer leise. »Denk bloß gut darüber nach. Und sei froh, wenn ich dich noch aufnehme, wenn du zurückgekrabbelt kommst. Du verrätst mich, Phoebe, du verrätst deinen eigenen Mentor.«

Mit einem schmalen Lächeln blickte sie über die Schulter. »Dann merk dir jetzt gut, wie sich Verrat anfühlt.«
 

Thieves and hypocrites!
 

Sie trat nach draußen und schloss die Tür hinter sich. Rasch ging sie voran, mit dem schleichenden Gedanken im Hinterkopf, dass er ihr folgen könnte, gekoppelt mit den Erinnerungen an die Dinge, zu denen er fähig war.

Er wird schon noch eine ganze Weile brauchen, bis er auch mir gegenüber gewalttätig werden will, dachte sie schmunzelnd.

Dann ließ sie den Blick über das leere Feld schweifen, das bald an einen Wald grenzte, über den rosa-blauen Horizont und die verblassenden, langsamen Wolken – sie wusste wirklich nicht, wo sie jetzt hin sollte oder wollte.

Aber das war vorerst sowieso egal.
 

No, no more sorrow

I’ve paid for your mistakes

Your time is borrowed

Your time has come to be replaced

No more sorrow

I’ve paid for your mistakes

Your time is borrowed

Your time has come to be replaced

Your time has come to be replaced

Your time has come to be erased.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

Kommentar schreiben
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Von:  Miaka-cat
2008-08-16T19:52:25+00:00 16.08.2008 21:52
woah *-*
wie du diese spannung aufbaust, finde ich klasse! du verrätst gar nichts über die einzelnen charas, sondern wirfst immer häppchenweise neue infos ein, find ich sehr spannend! die englischen passagen zwischendrin machen auch einen gewissen spannungseffekt.
dein humor an manchen stellen ist echt bösartig xD
spannung kannst du suuper aufbauen, will gar nicht aufhören weiterzulesen!
*-*b

Von:  Salatherz
2008-06-27T10:43:48+00:00 27.06.2008 12:43
Oha. Viele Perspektivenwechsel auf einem Haufen. Aber ich bin durchgestiegen! Muhahaha!
Feli ist mir irgendwie sympathisch und ansonsten...
Der Songetxt passt, auch wenn ich nicht alles verstanden habe. °°'''
Aber: Verwirrunge führt zu: Neugierde führt zu:
Ich freu mich, wenn es weitergeht! xD
Und das irre Grinsen konnte ich mir übrigens perfekt vorstellen. ^^
Von: abgemeldet
2008-06-25T11:42:45+00:00 25.06.2008 13:42
Schön, schön. Voran MedeWi xD
Von: abgemeldet
2008-06-21T19:24:51+00:00 21.06.2008 21:24
Hui, den ganzen Tag drauf gewartet, jetzt sooo spät Abends isses da °-°
Also, ich hatte keine Schwierigkeiten die alle auseinander zu halten, auch wenn ich es in beachtlicher Rekordzeit gelesen hab xD
Hab selbst nicht bemerkt wie schnell das ging, der Text flog nur so an meinen Augen vorbei und hach... Es war wunderbar... Es herrscht so eine herrliche Weltuntergangsstimmung... Düster, aber immer noch mit einem kleinen Hoffnungsschimmer~ °-°
Und die Idee mit den Liedtexten ist auch eine sehr schöne, alles schön, alles Drake °-°/


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