In Pieces. Rebell. Revolution.
Die Beerdigung verlief kurz und schmerzlos. Ein paar Worte über seine Leistungen, wenige Tränen seiner Familie, Versprechen über Rache, leise Blasmusik, dann Trommeln. Jeffrey Garners Überreste wurden langsam hinabgelassen.
Hannah Seymour verzichtete darauf, Erde oder Blumen auf den dunklen Sarg zu werfen; das schien makaberer als Jeffs Tod selbst. Das hier war keine schöne Sache und auch diese lächerlichen bunten Kränze würden das nicht ändern können.
Sie war an der »Aufräumaktion« beteiligt gewesen. Sie hatte Jeffs Gliedmaßen aufgesammelt und sein Blut vom Boden gewischt. Das hier war keine schöne Sache, sondern die Beerdigung eines Körpers, der noch immer nicht ganz komplett war.
Mit einem leisen Schnauben wandte sie sich ab. Sie schob die Hände in die Taschen ihres Mantels, stemmte sich gegen den heulenden Wind und trat langsam den Weg zurück zum Laborstützpunkt an. Der verdammte Mischling musste eingefangen werden. Seine letzte Flucht hatte auf ein paar magischen Spielereien und dummen Lücken im Gebäudegrundriss basiert; sie hatten alles überarbeitet, ausgebaut, Sicherheit erhöht, neues Wachpersonal eingestellt – und nun hatte der Bastard sich einfach den Weg frei gemetzelt.
Seufzend drückte sie die Tür zu den Büroräumen auf, und sofort sprang ihr einer der Assistenzärzte entgegen. »Doktor Seymour! Ich hab Sie die ganze Zeit gesucht, wo waren Sie?«
»Jeffs Beisetzung«, antwortete sie knapp.
»Oh… Oh. Tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Ich… Egal. Ich sollte Ihnen bescheid sagen, dass der neue Werwolf noch wartet. Wir haben mittlerweile immerhin rausgefunden, dass sie vierzehn ist; Hinrichtung könnte also problematisch sein.«
Ein schmales Lächeln zog sich über Hannahs Lippen. »Das werden wir sehen«, sagte sie leise. »Danke, ich bin unterwegs.«
Sie machte nur einen kurzen Abstecher in ihr Büro, um ihren Mantel abzuwerfen und ihr Silbermagazin aufzuladen, dann brach sie schnellen Schrittes auf zum Gefangenenteil im anliegenden Gebäude.
Die Zelle des Mädchens befand sich im gleichen Gang wie Deborahs, also machte Hannah den gewohnten Abstecher zu ihr – und musste mit Belustigung feststellen, dass sie sich erneut mit ihrem toten Freund unterhielt. Deborah hatte man obdachlos von der Straße aufgelesen, dann war sie mit einigen Elementariern in dieser Zelle gelandet und man hatte sich an den ersten Experimenten versucht.
Leider hatten sich die Elementarier als eine sehr schwache Rasse herausgestellt und innerhalb kürzester Zeit waren sie gestorben wie die Fliegen. Bloß ein Wasser-Elementarier namens Feliccio hatte sich gut gehalten, ein furchtbar vorlauter junger Mann, der immer größeren Einfluss auf Deborah geübt hatte, obwohl man ihm fast jeden Tag auf andere Weise seine große Klappe gestopft hatte. Die beiden hatten sich angefreundet, er hatte sie bei Laune gehalten, und bald sogar zu kleinen Revolten angestiftet. Doch irgendwann hatten Versuche und Folter auch ihn in die Knie gezwungen.
Dummerweise war das Volk der Elementarier seitdem ausgestorben.
Deborah war von Anfang an leicht zu brechen gewesen, Feliccios Tod hatte ihr den Rest gegeben. Sie legte seitdem einige Symptome von Schizophrenie an den Tag, bildete sich noch die alten Zellengenossen an ihrer Seite ein. Im Grunde genommen war das nicht so dramatisch für das Projekt, Deborah brauchte keinen Verstand, um ihnen zu nutzen; aber in diesem Zustand war es schwieriger, mit ihr umzugehen. Deshalb versuchte Hannah, zumindest die Gespräche mit Toten zu unterbinden.
Nach einem kräftigen Tritt gegen die Gittertür verstummte Deborah. »Mit wem redest du?«, fragte Hannah leise, im gewohnt drohenden Unterton.
Verschreckte Augen starrten ihr entgegen; »Mit niemandem«, antwortete sie mechanisch.
Hannah schmunzelte. »Gut so.« Sie musterte Deborah prüfend, die selbst in ihrem Aussehen über die Jahre immer mehr vereint hatte: Ihr Haar hatte sich rot verfärbt, wie das aller Feuer-Elementarier; ihre Augen hatten ihr Grün verloren und waren nun strahlend blau, wie die des verschiedenen Feliccio; nach einigen äußerst schmerzvollen Wachstumsschüben hatten sich ihre Ohren in die langgezogenen, felligen braunen Erd-Elementarier-Ohren verwandelt; ihre Haut war schneeweiß, dank der Luft-elementarischen Gene – allerdings bedeckte erneut ein feiner schwarzer Aschfilm ihre Handflächen. »Und, Deborah… Hör auf, dir ständig selbst Feuer zu machen. Sonst bearbeiten wir deine Hände mal ein wenig.«
Deborah verstand die Drohung. Rasch klopfte sie sich die Hände an ihrer abgenutzten, verdreckten Hose ab und nickte, holte kurz Luft um etwas zu sagen, schwieg aber. Besser so.
Ohne ein weiteres Wort wandte Hannah sich wieder ab, schlenderte den restlichen Gang herunter. Die winzige Zelle des Mädchens lag ganz am Ende, in der Nähe der »Bearbeitungsräume«. Dort wurden Knochen und Persönlichkeiten gleichermaßen gebrochen und von Zeit zu Zeit drangen dadurch gedämpfte, schwächelnde Schreie nach außen. Den meisten Häftlingen bereitete schon das Zuhören weiche Knie.
Aber dieses Mädchen schien hartnäckig. Hannah persönlich hatte noch nicht mit ihr gesprochen, doch laut den anderen wollte sie einfach den Mund nicht aufmachen. Sie würde schon sehen, wie sich das ändern ließ.
Das Gitter gab ein schepperndes Geräusch von sich, als Hannah aus gewohnter Manier dagegen trat. »Hey, Werwolf.«
Sie bekam keine Antwort. Das Mädchen lag still am Boden und musterte die schimmelnde Decke. Fettendes, weizenblondes Haar verdeckte einen Teil ihres Gesichtes, ihre Augen waren nur zur Hälfte geöffnet, sie schien völlig entspannt zu liegen. Hannah spürte einen kleinen Stich in ihrem Ego. Mit einem gespielten Seufzen öffnete sie die Tür und trat ein, ging neben dem Mädchen in die Hocke.
Einen Moment schwieg sie noch, dann begann sie leise: »Eine starke Einstellung, dem Feind gegenüber kein Wort zu sagen. Würde mir gefallen, wenn es nicht gerade von einer vierzehnjährigen Wolfsgöre käme. Aber gerade dieses Alter hast du uns eben doch verraten, oder?«
Langsam drehte sie den Kopf zu Hannah, müde Augen musterten sie flüchtig, die rissigen Lippen öffneten sich. »Ich hab es ihnen an den Kopf geklatscht«, sagte sie heiser, »als sie mich köpfen wollten.«
Hannah schmunzelte. »Oh, das wollen sie immer noch, weißt du. In Wahrheit wird dein Alter niemanden interessieren. Immerhin herrscht Krieg, dein Tod würde ja kaum jemandem auffallen.«
Die Augenbrauen des Mädchens hoben sich minimal. »Und warum bin ich dann noch nicht tot?«
»Na ja, dein Vater geht hier noch immer ein und aus. Und er bat uns, dir zumindest noch ein paar Jahre Zeit zu geben.« Faktisch hatte der Mann sie unter Tränen angebrüllt, er würde sämtliche Anwälte des Landes zusammentrommeln, wenn sie seiner verirrten Tochter etwas tun würden. Aber das musste die Kleine ja nicht wissen. »Das heißt, bis dahin sollten wir noch irgendwie miteinander klar kommen… Du heißt Zoé, richtig?«
Darauf wandte sie den Kopf wieder zur Decke, seufzte leise. Schwieg. »Verstehe…«, sagte Hannah. »Sehr konsequent, deine Stille. An der Rebellion solltest du noch ein wenig feilen. Du willst doch rebellieren, oder nicht?« Zoé antwortete weiterhin nicht, doch darum ging es jetzt: Um die Rebellion. Um die Rebellion, die eine Hinrichtung rechtfertigen würde. »Ich glaube, deine Familie würde das von dir erwarten. Trotz des Verrats. Seltsam, nicht?« Und wenn es doch nicht zur Hinrichtung kommen könnte, dann würden sie sie eben in die Experimente eingliedern. Immerhin war sie ein Werwolf, sie konnten ihre Gene gut gebrauchen, und das wäre kein so großes Problem wie eine Exekution. Das würde sie früher oder später sowieso brechen… Ihre Familie würde sie aufgeben und sie würde von alleine sterben. Wenn Hannah es sich recht überlegte, war das viel effizienter, als ihr einfach den Kopf abzuschlagen.
Sie räusperte sich und stand auf. »Ich denke, wir werden uns noch einige Male sehen, Zoé«, sagte sie. »Soll ich deiner Familie noch irgendetwas ausrichten?«
Zoé schloss die Augen.
»Alles klar…« Wenige Augenblicke lang noch beobachtete Hannah die dilettantische Revolte einer Vierzehnjährigen, dann wandte sie sich ab und verließ die Zelle.
In ihrem Büro trommelte sie einige Arbeiter zusammen. »Versucht, sie aufzuregen«, orderte sie. »Und wenn ihr das geschafft habt, straft sie dafür. Bringt sie dazu, sich noch mehr quer zu stellen, dann können wir ihr die Versuche aufbrummen. Und wenn ihr Vater noch mal fragt, sagt ihm, dass sie furchtbar aggressiv ist. Verstanden?«
Als sie wieder allein im Raum war, drehte sie sich zum Fenster und beobachtete die Sturzbäche von Regen, die sich zu Boden stürzten. Jeff lag unter der Erde. Quintus würde nicht weit kommen. Zoé war bald nicht mehr als ein wimmerndes Häufchen Elend.
Der Krieg lief gar nicht schlecht.
Feine Bäche aus bräunlichem Wasser rannen durch den ungepflegten Lehmboden unter Candaces Fenster. Trübe hafteten ihre Augen an diesem Bild, das plötzlich so trostlos geworden war. Früher hätten sie und Zoé sich strahlend am Regen erfreut, der stets die Luft auf ihrem stickigen Hof bessern würde…
Nun hieß es schon früher. Nun war Zoé schon früher. Vergangenheit.
Ihr Vater hatte anders reagiert, als erwartet. All seine Prinzipien waren plötzlich verschwunden. Mensch oder Werwolf spielte auf einmal keine Rolle mehr. Tot oder lebendig schon.
Candace seufzte tief. Er konnte auch nicht mehr normal mit ihr reden. Es war wie damals, als ihre Mutter gestorben war, nur noch ein ganzes Stück heftiger. Als Candace ihm gebeichtet hatte, dass sie Zoé verraten hatte, hatte er kaum darauf reagiert. Es war mit einem Nicken abgetan worden und er hatte geschwiegen.
Dafür prallte es nun auf sie zurück. Tag für Tag. Er war mittlerweile ziemlich heiser, doch trotzdem konnte er nicht leise mit Candace sprechen.
Ja, sie machte sich auch Vorwürfe… Ja, sie konnte nachts nicht schlafen vor Schuld. Ja, sie hörte weiterhin diese Stimme in ihrem Kopf, die ihr noch immer Anweisungen gab.
Aber nein, sie befolgte sie nicht mehr. Nein, sie wollte jetzt nicht aufgeben. Nein. Sie wollte jetzt nicht so werden wie ihr Vater. Wie ihr Vater, der seine Trauer in Wut ertränkte, seine Wut in Aggressionen und seine Aggressionen an seiner Tochter. An seiner letzten Tochter. An seinem letzten Familienmitglied.
»Mach nur so weiter!«, hatte Candace gestern geschrien. »Mach nur! Dann verlierst du mich auch noch! Dann hast du niemanden mehr; vielleicht geht’s dir dann besser.«
Und er hatte bloß die Haustür aufgerissen und fahrig nach draußen gestikuliert. Aber Candace war nicht gegangen. Candace war geblieben. Obwohl sie nicht gewusst hatte, wieso.
Er hatte die Tür wieder zugeschlagen und sie einige Sekunden lang aus völlig ausdruckslosen Augen angestarrt.
Dann hatte er sie umarmt. Und er hatte nach Alkohol gestunken. Und Candace hatte sich nicht bewegt. Sie war bloß dort stehen geblieben, hatte die Stirn ganz vorsichtig an seine Schulter gelegt, ohne dabei einzuatmen.
Und er hatte sie so fest an sich gedrückt, dass es geschmerzt hatte, und tonlos gesagt, dass er sie liebte.
Und sie hatte wirklich versucht, es ihm zu glauben.
Telling me to go
But hands beg me to stay
Your lips say that you love
Your eyes say that you hate
Es war kalt. Die Luft war kalt, das Haus war kalt, die Umarmung war kalt gewesen. Und er war kalt.
Ab und zu hatte er weiche Phasen. Phasen, in denen er ganz offensichtlich verwirrt war, in denen er ein weiteres Mal all seine vorigen Aussagen komplett über den Haufen warf. Phasen, in denen sich seine Arme warm anfühlten und seine Worte wahr. Phasen, in denen er Candace verzieh.
In diesen Launen würde er ihr warmes Essen machen und mit ihr sprechen. Seine Stimme würde noch immer irgendwie seltsam klingen, noch immer zu hart und verkrampft, doch sie würde wenigstens Dinge sagen, die Candace gern glaubte.
Er würde ihr sagen, dass sie das alles schon gemeinsam schaffen würden. Und dass er ihr keine Vorwürfe machte, und dass sie das auch nicht tun sollte. Und dass es in diesen Zeiten eben schwer sei, Entscheidungen zu fällen. Und dass er alles tun würde, um Zoé zu helfen, damit sie wieder eine glückliche Familie werden könnten. Und Candace würde lächeln und nicken und hoffen.
Nun, da sie in ihrem leeren Zimmer saß, aus dem Fenster starrte, und genau wusste, dass von einer solchen Phase momentan nichts zu spüren war, waren diese Hoffnungen utopisch. Natürlich wollte sie Zoé helfen. Doch das schien nahezu unmöglich. Und selbst wenn sie irgendwann wieder zueinander finden würden, niemand konnte sie wieder zu einer Familie machen. Nichts würde all das reparieren können, was zu Bruch gegangen war.
Etwas krachte von außen gegen eine ihrer Zimmerwände. Candace seufzte leise. Sie schloss die Augen, versuchte sich zu sammeln, sich zurückzuhalten, doch der größere Teil in ihr kam an der Sorge nicht vorbei. Langsam drehte sie sich um und öffnete die Tür.
»Papa?«, rief sie vorsichtig.
Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann ertönte ein Stöhnen und ihr Vater stampfte aus dem Nebenraum. »Erinner’ mich daran, dass ich morgen den Schrank repariere«, murmelte er.
»Hast du ihn umgeworfen?«
»Er ist kaputt.«
»Weil du ihn schon wieder umgeworfen hast.«
Ihr Vater antwortete nicht, rauschte bloß weiter durch den Flur und verschwand in der Küche. Candace schüttelte den Kopf, stieß sachte die Tür zum Zimmer auf. Es war eine Art Büro für ihn, damit er sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte, ein kleiner, stiller Raum; und in einer Ecke stand normalerweise ein verglaster Schrank mit Fotos und Andenken seiner verstorbenen Frau.
Nun lag der Schrank seitlich am Boden. Langsam ging Candace auf die Knie und hob einen der Fotorahmen auf, die aus den Regalen gefallen waren. Mit aller Vorsicht zog sie das Bild zwischen den Scherben hervor.
Es war am Tag ihrer Geburt aufgenommen worden. Ihre Mutter lag im weißen Krankenhausbett, lächelte breit in die Kamera, Zoé und sie in je einem Arm, schlafend und in Decken gewickelt.
Candace spürte das starke Bedürfnis, zu weinen. Sie wollte den Gedanken verdrängen, er schien ihr viel zu kitschig, doch dieses Bild implizierte alles, was sie im Moment so vermisste. Ihre Mutter war am Leben. Zoé war nah bei ihr. Ihr Vater stand lachend irgendwo hinter der Kamera. Es gab keinen Krieg. Sie waren eine friedliche Familie.
Mechanisch verstaute sie das Foto in ihrer Gesäßtasche. Sie wollte weg. Es war alles kaputt, sie hatte hier nichts mehr verloren. Sie musste weg. Und zwar alleine. Sonst würde ihr Vater ihr noch den letzten Weg verbauen.
There’s truth in your lies
Doubt in your faith
What you build you lay to waste
There’s truth in your lies
Doubt in your faith
All I’ve got’s what you didn’t take
So I, I won’t be the one
Be the one to leave this
In pieces
And you, you will be alone
Alone with all your secrets
And regrets – don’t lie
Langsam richtete sie sich auf, warf noch einen letzten Blick auf das Trümmerfeld der Wut ihres Vaters und wandte sich ab. Einen Moment lang stand sie bloß stumm in der Tür, überlegte, dann ging sie leise in ihr Zimmer.
Es dauerte nicht lange, bis sie wieder auf den Flur trat, ihren vollgepackten Rucksack auf den Schultern, und sich bedächtig der Küche näherte.
»Papa?«
»Diese verdammten Kriegsgegner. Guck dir das an. Schon wieder Aufstände.« Ihr Vater stand mit verschränkten Armen vor dem kleinen Fernseher auf der Anrichte, in dem ein flimmerndes Bild Nachrichten lieferte. »Da hat irgendein blöder Mischling lauter Wächter zerfleischt und ist dann geflohen. Und jetzt demonstrieren die wieder alle, wegen sinnlosen Toten. Guck, guck. Die marschieren alle zum Hauptquartier von uns Menschen und kein Arsch hält sie auf.«
Candace lehnte seitlich im Türrahmen, schenkte dem Fernseher nur einen kurzen, skeptischen Blick. Die Küche war ungewöhnlich aufgeräumt, auf dem Herd stand ein kleiner Topf, in dem irgendetwas brodelte.
»Machst du was zu essen?«, fragte Candace. Sie wollte wenigstens noch den geistigen Zustand ihres Vaters prüfen, bevor sie ging.
»Hm?« Er sah sich kurz desorientiert um, zuckte dann mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich koche Wasser.«
Candace spürte das Bedürfnis zu lachen in sich aufsteigen. »Achso… Du weißt noch, dass du den Schrank reparieren wolltest, ja?«
»Was?«
»Bist du betrunken?«
Er drehte sich schwungvoll zu ihr, die Hände in groteskem Enthusiasmus in die Luft gehoben. »Candace«, sagte er, plötzlich viel ruhiger. »Candy. Meine Tochter. Ich bin dein Vater, würde ich mich am helllichten Tag betrinken?«
»Wäre nicht das erste Mal«, sagte sie trocken. »Hast du’s getan, oder nicht?«
»Nein, Candy. Ich bin völlig nüchtern. Ich muss wachsam sein, wir müssen alle wachsam sein, sonst gewinnen diese Aufstände, verstehst du? Wir brauchen diesen Krieg, wir brauchen Ordnung.«
Candace schwieg einige Momente lang, beobachtete das unklare Fernsehbild. Es waren mutige Kriegsgegner, die mit Plakaten und lauten Parolen zum Stützpunkt der menschlichen Kriegspartei gezogen waren, um gegen die Kämpfe zu demonstrieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie niedergeschossen wurden.
»Zoé ist da drin«, sagte sie ruhig.
Ihr Vater blickte zwischen ihr und dem Bildschirm hin und her. »Wo?«
»Na, da, im Hauptquartier. Hast du keine Angst, dass ihr was passiert, bei diesen Aufständen?«
Seine Gesichtszüge verdunkelten sich. »Soll das vielleicht ein Vorwurf sein, ja? Ich seh schon. Ich tu doch alles, um sie zu beschützen, ich rede auf diese blöden Bastarde ein, dass sie deine Schwester in Ruhe lassen sollen, während du sie bloß dreckig verraten hast. Also sag mir nicht, was ich tun soll, kapiert?«
Ein feines Drahtseil schlang sich um Candaces Inneres, ihre Lunge schien sich zusammenzuziehen, sie musste den Mund öffnen, um Luft holen zu können; für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Sie atmete tief ein, schluckte schwer, um den schmerzenden Kloß in ihrem Hals loszuwerden. »Nein.« Ihre Stimme war heiser, obwohl sie eigentlich so kalt wie möglich hatte klingen wollen. »Nein, das war kein Vorwurf. Und ich sag dir auch nicht, was du tun sollst. Das solltest du nämlich allmählich ganz gut selbst wissen.«
Seine Haltung wurde bedrohlich, er machte einen großen Schritt auf sie zu und senkte die Stimme: »Was soll das heißen, hm?«
Candace schwieg. Ihre Füße wollten sich bewegen, doch sie blieb still stehen. Eine deutliche Alkoholfahne bahnte sich den Weg in ihre Nase. So definierte ihr Vater also völlig nüchtern.
Einige Augenblicke lang standen sie sich nur gegenüber und starrten einander an – bis sich ein Gedanke endlich voll und ganz in Candaces Kopf brannte. Das kann so nicht weitergehen.
Sie atmete tief ein, versuchte dabei nicht zu viel Alkoholgestank zu inhalieren, und schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte sie und rückte dabei ihren Rucksack zurecht. »Das soll nichts heißen. Ich geh jetzt.«
Sichtlich perplex runzelte er die Stirn. »Wohin?«
»Weg. Ich will hier nicht bleiben.«
Sein Blick wanderte langsam zu ihrem Rucksack, und zu ihrer Verwunderung – und Beunruhigung – hob er die Mundwinkel. »Du willst also von zu Hause abhauen, und sagst mir vorher bescheid?«
Sie seufzte. »Mama ist tot und Zoé weg. Ich dachte einfach, ich sollte dich vorwarnen. Du bist jetzt allein.«
»Du gehst nicht«, sagte er leise. »Du bleibst hier bei mir. Du kannst da jetzt nicht raus, es ist Krieg.«
»Und dein toller Krieg hält mich also davon ab, vor die Tür zu gehen, ja? Ich kann nicht hier bleiben, Papa. Die letzten Tage waren die Hölle. Die letzten Monate waren die Hölle! Und du sitzt nur hier rum wie ein nasser Sack und tust nichts. Ich will was machen.«
»Was soll ich denn machen, hm?« Mit wachsender Abscheu bemerkte Candace, dass seine Stimme immer lauter wurde. »Was denn? Sie wollen deine Schwester nicht in Ruhe lassen, sie wollen sie töten, und was soll ich dagegen tun? Denkst du wirklich, ich kann da draußen irgendetwas bewegen? Und deshalb wirst du hier bleiben, Candace. Deshalb schließ ich dich notfalls hier ein: Du bist ein Kind. Du stellst dir den ganzen Scheißdreck viel zu einfach vor, du bist verdammt noch mal viel zu jung!«
Candace verzog das Gesicht. »Schon lang nicht mehr«, sagte sie bloß ruhig.
Herzlich willkommen in meinem Lebenslauf
Ich bin ganz ruhig – warum regst du dich denn so auf?
Wenn du dann durchdrehst und mich wieder verhaust
Stellst du dir selber ein Armutszeugnis aus
Du kannst mir leid tun
Die Wut, sie macht dich blind
Du hast verloren –
Ich bin nicht mehr dein Kind!
Mit einer überraschend schnellen Bewegung packte er ihren Oberarm und zerrte sie stampfend in die Richtung ihres Zimmers. »Dann schließen wir eben ab!« Seine Stimme war eine makabere Mischung aus Flöten und lautem Knurren. »Dann vernageln wir deine Fenster und sichern deine Tür, und dann geht meine kleine Tochter nicht raus um sich umzubringen.«
Für einige Augenblicke war Candace zu perplex, um zu reagieren. Erkenntnis brannte sich in ihr Gehirn, gepaart mit Angst: Ihr Vater war betrunken und er hatte die Illusion, sie nur schützen zu wollen – sie wusste nicht, wozu er fähig war – er tat ihr weh.
»Papa«, sagte sie, kleinlauter als beabsichtigt. »Lass mich los.«
Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr. »Nein. Du darfst da nicht raus, ich helfe dir nur.«
Candace spürte, wie Panik sich mit Wut mischte, ihre Stimme war so schrill, dass sie sich selbst erschreckte. »Lass – los! Lass deine Scheißfinger von mir, verdammt!«
Sein heiterer Gesichtsausdruck fiel sofort ab. Wie in Zeitlupe holte seine freie Hand aus, bevor sein Handrücken mit ihrer Wange kollidierte. »Sprich nicht so mit mir«, sagte er leise. Dann zog er sie weiter.
Abermals brauchte Candace mehrere Sekunden, um sich zu fassen. Steif stolperte sie hinter ihm her, beobachtete gelähmt, wie sie sich ihrem Zimmer näherten – als es jemand in ihrem Kopf deutlich aussprach:
Er hat mich geschlagen.
Durch jede Faser ihres Körpers ging ein Ruck, sie hörte auf zu denken, ließ sich nur noch von ihren eigenen Reflexen dirigieren.
Mit aller Kraft senkte sie ihre Zähne in den Arm ihres Vaters, donnerte gleichzeitig ihren Fuß gegen seine Wade. Er schrie auf, ließ sie los, bloß um direkt darauf wieder nach ihr zu greifen, doch Candace war schneller.
Sie sprintete quer durch den Flur, warf einen der Stühle am Esstisch um, riss die Tür auf und schlug sie unter lautem Scheppern wieder hinter sich zu.
Er wird mir nachkommen.
Aus ihrer Kehle drang hörbares Keuchen, ihr Rucksack hing nur noch locker in ihren Armbeugen, sie blickte sich hektisch um.
Wo sollte sie hin? Sie lebten in einem Dorf, groß war hier nichts, sie war überall leicht zu finden.
Ich geh zu diesem Hauptquartier, dachte sie plötzlich. Zu den Aufständischen. Zu Zoé. Vielleicht sind Rebellen unter ihnen, vielleicht können die mir helfen.
Die tiefe Stimme in ihrem Hinterkopf, die die ganze Zeit Ruhe gehalten hatte, gab ein leises Lachen von sich. Dann kannst du auch gleich an ihrer Tür klingeln und dich umbringen lassen. Kein sehr sicherer Plan, oder? Lass mich das lieber organisieren.
Candace schnaubte, sie orientierte sich kurz, richtete ihre Tasche und ging dann schnellen Schrittes voran. »Halt die Klappe«, murmelte sie. »Deine verdammte Organisation ist doch erst an alldem hier schuld. Vergiss es. Ich lass mich nicht mehr lenken.«
Du bist die Revolution
Gegen den Strom
Geh auf die Straße
Hol dir den Lohn
Du bist die Revolution
Gegen den Strom
Sing deine Lieder
Scheiß auf den Thron
Du bist die Revolution
Erst wenn du laut bist
Wird man dir zuhören
Und wenn sie taub sind
Dann lass sie spürn...