Austausch
Betreten saßen sie eine knappe Stunde später am Wohnzimmertisch, tranken aus zwei noch heil gebliebenen Tassen Tee und fühlten sich unwohl. Noevy fand es peinlich, dass er in Ravens Gegenwart geweint hatte – leider keine seltene Reaktion von ihm, wenn er sich überfordert fühlte – und Raven konnte sich nicht erklären, wie er in Anwesenheit eines fremden Jungens dermaßen die Kontrolle über sich selbst hatte verlieren können. Eigentlich hätten seine Eltern oder seine Mitschüler anstelle von Noevy die angestauten Aggressionen erhalten oder zumindest miterleben müssen, aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern. Außerdem ging es ihm nun verrückterweise deutlich besser als in den ganzen Wochen zuvor.
„Es tut mir wirklich Leid“, begann Noevy ein weiteres Mal seine Entschuldigungswelle, doch Raven unterbrach ihn sofort ärgerlich.
„Hatten wir das nicht vorhin schon mal? Lass es gut sein, du bist nicht allein daran schuld.“ Das stimmte allerdings, obwohl er es nicht gerne zugab. Hätte er sich nicht von Noevys Besorgnis reizen lassen, wäre alles harmlos und ohne diese Zerstörung abgelaufen.
Um sich nicht weiter über den unangenehmen Vorfall unterhalten zu müssen, fragte Raven seinen Gast zur Ablenkung ein wenig über dessen Privatleben aus. Zwar interessierten ihn die ganzen Fakten herzlich wenig, aber erstens fiel ihm kein anderes Thema ein – er und Kommunikation wurden nie Freunde – und zweitens brauchte er dann selbst nur die Fragen zu stellen und keine zu beantworten.
„Wie alt bist du?“ Nicht, dass das Alter für ihn relevant gewesen wäre.
Noevy schien verwirrt wegen der unerwarteten Frage. „Ich bin 13, im März werde ich 14.“
„Aha.“ Eine bessere Antwort wusste Raven nicht und er sah nicht ein, weshalb er allzu große Begeisterung vorspielen sollte.
Auf diesem halbherzigen Niveau dümpelte die Unterhaltung noch einige Zeit vor sich hin, bis es Noevy zu dumm wurde, Dinge von sich preis zu geben, die hier sowieso keiner spannend fand, und er den Spieß umdrehte, indem er nun Raven über dessen Lebenslauf ausquetschte.
„Wieso wohnst du hier allein?“
„Weil mich meine Eltern nicht mehr zuhause haben wollten, zum hundertsten Mal.“ Sichtlich genervt rührte Raven in seiner Tasse herum und kippte sich jede Menge Zucker in den Tee, weil er ungesüßt für ihn nicht genießbar schmeckte; eine schlechte Angewohnheit, zumindest für seine Zähne.
„Und warum genau?“ Da ließ jemand nicht locker.
„Neugieriger Zwerg“, grummelte Raven angesäuert, obwohl Noevy nicht viel kleiner als er selbst war. „Stell dir vor, du wohnst fünfzehn Jahre auf engstem Raum mit mir in einem Haus. Glaubst du, man hält das gut aus oder kommt mit mir zurecht?“
Ein schwaches Kopfschütteln seines Gegenübers reichte ihm als Antwort; Noevy hatte in der kurzen Zeit schon bemerkt, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.
„Deshalb haben sie mich vor einem halben Jahr gebeten, gefälligst die Fliege zu machen. War wahrscheinlich das Beste für alle.“
„Oh.“ Noevy nahm einen Schluck seines Getränks. „Und was ist mit... deinen Geschwistern?“ Noch so ein heikles Thema, das er hier anschnitt. Vorsichtshalber entfernte er sich ein Stück vom Tisch, um bei einem erneuten Anfall seines Gastgebers nicht Schaden zu nehmen, doch Raven zwang sich, zivilisiert zu bleiben. Er hatte immerhin mit dem Verhör angefangen, also musste er es sich ebenfalls gefallen lassen, ob es ihm passte oder nicht; gleiches Recht für alle. Und gegen die unglaubliche Neugier seines Gastes konnte er nichts ausrichten, da musste er nun wohl oder übel durch.
„Mein jüngerer Bruder Jevo ist seit einem Monat verschwunden und meine Eltern und ich gehen davon aus, dass diese Typen, die dich auch mitnehmen wollten, ihn entführt haben.“
Noevys Gesichtsausdruck wurde immer bestürzter und Raven schüttelte seufzend den Kopf über so viel Mitgefühl.
„Jetzt krieg dich wieder ein, schließlich muss ich damit leben und nicht du.“ Es reichte völlig, dass er sich oft genug wegen seinem Bruder Sorgen machte, da musste der andere Junge nicht auch noch mitmachen. Jevo war nämlich einer der ganz wenigen Menschen, mit denen Raven halbwegs kommunizieren konnte, ohne sich sofort gestört zu fühlen oder nur noch patzige Antworten zu geben.
Eine Sache gab es noch, die Raven ein ganz kleines bisschen interessierte.
„Wieso warst du gestern bei diesem verdammten Wetter überhaupt draußen?“
„Dasselbe könnte ich dich auch fragen“, konterte Noevy automatisch.
„Ich musste nachsitzen und war deshalb länger in der Schule, wie fast immer. Du zufällig auch oder was?“ Das wäre ein merkwürdiger Zufall.
„Nein, ich hatte Streit mit meinen Eltern“, gab Noevy zögernd zu.
„Endlich mal normale Leute, die die gleichen Probleme haben wie ich.“ Ein schadenfrohes Grinsen zierte Ravens Gesicht und sein Gegenüber warf ihm einen beleidigten Blick zu.
„Danke, dass du so ehrlich bist, das brauche ich total.“
„Wenn du bemitleidet werden möchtest, musst du dir jemand anderes suchen“, erklärte ihm Raven klipp und klar, doch ein unüberhörbares Geräusch auf der Straße unterbrach ihr Gespräch. Was passierte dort schon wieder?