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Drei Jahre.

Oder: Eine Geschichte von einem sexuell unterbeschäftigen und viel zu kleinen Schiffsmechaniker mit einem komischen Namen und einem Fremdwörterlexikon in der Kehle. Und ähnlich wirren Typen.
von

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Prolog. Oder: Drei Jahre, verdammt!

Schweigen.
 

In der Schwärze hinter dem Glas schienen die Schemen von Augen erkennbar zu sein, die Schemen von einer Nase und einem Mund; die Schemen von dessen, was man allgemeinhin als Gesicht bezeichnete, darunter die Andeutungen eines Körpers.

Doch bis auf diese Abzeichnungen war hinter dem Glas nichts zu sehen, wörtlicher noch: Ein Nichts, das sich ebenso nichtssagend, wie es ein Nichts nun einmal ist, ausbreitete.
 

Dies war nichts Neues.
 

Denn jene Schwärze, die sich hinter dem Fenster ausbreitete, hinter diesem und jenem und jedem anderen Fenster in diesem Schiff, breitete sich schon seit geraumer Zeit dort aus, ohne Hinweis auf einen Durchbruch, einen Riss im Schutzschild des Pechs, ohne Hinweis auf ein Licht.

Genau genommen befand sich jene tintenähnliche Nichtigkeit schon seit Jahren hinter allen Scheiben.
 

Genauer genommen seit genau drei Jahren.
 

Drei Jahre saßen sie schon hier fest, in diesem Gefängnis, das einmal ihr Schiff gewesen war. Dessen äußere Panzerung war zu erkennen, wenn sich die Wange an das kalte Glas drückte, doch tat sie das nicht mehr, denn das Glas war ihr zu kalt. Doch hatte sie es schon oft getan, und dieser Anblick hatte sich in das Hirn eingebrannt, so dass er jederzeit abgerufen werden konnte: Der Anblick von mattgrauen Röhren, die sich bis außer Sichtweite entlang einer gedachten Fluchtlinie zogen und dabei hin und wieder kleine Bögen schlugen. In einiger Entfernung war undeutlich das nächste Fenster zu erkennen gewesen, sowie ein Sicherheitshinweis in Form eines Schildes daneben, der wohl besagte, dass es nicht geöffnet, sondern von innen wie von außen gereinigt werden sollte, was die damaligen Reinigungskräfte gewiss an den Rand eines Nervenzusammenbruchs getrieben hatte.

Ansonsten war noch nie ein ungewöhnlicher Deut an der Fassade des Schiffes zu erkennen gewesen, und auch heute sah es aus wie sonst, auch wenn die Wange sich nicht an das kalte Glas drückte, um zu überprüfen, ob das stimmte. Das Hirn wusste, dass es so war; schließlich war es schon seit drei Jahren so gewesen, so würde es sich wohl kaum geändert haben.
 

Seit drei Jahren.
 

Seit drei Erdenjahren dümpelten sie schon durch den endlosen Raum. Einst ausgesandt, um den Grundstein für ein Reisebüro im Zentrum des Kosmos zu legen, hatten sie nach Alpha Centauri die falsche Abzweigung genommen, da irgendjemand am Navigationssystem „Dolly“ herumgespielt und in der Sprachdatenbank den Begriff „Links“ mit dem Begriff „Butter“ vertauscht hatte.

Als sie schließlich herausgefunden hatten, wer sie in die Irre geführt hatte, was ihnen viel wichtiger gewesen war, als den richtigen Kurs zu finden, oder herauszufinden, welche Begriffe korrekt waren und welche nicht - und was genau zweiundneunzig Tage in Anspruch genommen hatte - war es schon zu spät gewesen, um zurückzukehren. Das heißt, eigentlich war es das nicht gewesen, doch die Person, die an der Sprachdatenbank herumgespielt hatte, hatte sich weitere sieben Tage lang geweigert, den Fehler zu korrigieren, weil es ihren „ethischen Prinzipien“ widersprach, „erneut maßgeblich in die Konsistenz der Wiedergabesequenz eines synthetischen Ereigniswahrnehmungs- und -verarbeitungshorizonts einzugreifen.“

Da der Kapitän mit all den Fremdwörtern nichts hatte anfangen können und sich sein Hologramm von einem Fremdwörterlexikon noch nie mit dem Betriebssystem seines Darstellungsgerätes vertragen hatte, hatte er diese Person gegen Abend des siebten Tages vor der Mannschaft herabgesetzt und geschworen, dass, sollte „dieser landrattige Kerl es jemals wagen, sich ohne sichtliche Scham unter die anderen anwesenden Menschen zu mischen“, würde ihn der Kapitän „eigenhändig fast-erschlagen, gesund pflegen, noch einmal erschlagen und dann aus der Vakuumschleuse werfen, darauf kannst du wetten!“

Und seitdem, seit dem Anbruch des hundertsten Tages, an dem er sich vernünftigerweise freiwillig zurückgezogen hatte, lebte er nun schon hier oben.
 

Sein Finger strich über das kalte Glas, und es quietschte, dank des Wassers, das die Beschlageautomatik auf den Innenteil des Fensters gedampft hatte.

Es konnte schon ziemlich einsam sein, hier draußen, selbst für eine eher introvertierte Natur. Vor allem, wenn sich die anderen anwesenden Menschen weigerten, mit einem zu reden, einen zu sehen oder überhaupt eines Existenz anzuerkennen, selbst wenn man ihnen seinen Biopass und eine in Wasser gelöste Genprobe in Form von Sperma unter die Nase hielte, die den Verifikationsstreifen links unten grün verfärbte.
 

Das heißt, bis auf den einen, damals.
 

Der Sanitäter hatte es nämlich gut geheißen, das, was die Person getan hatte.

„Das mit dem Reisebüro hätte nie funktioniert“, hatte er gesagt, „weil sich der Raum nämmich immer ausdehnt und wieder zusammenzieht. Wenn wir ein Reisebüro im Zentrum gründen würdn, dann würds doch verschluckt werden, oder es wäre nich im Zentrum. So einfach is das.“

Zwar hatte das, was der Sanitäter gesagt hatte, sehr plausibel geklungen, doch niemand war gewillt gewesen, es zu glauben, der Kapitän am wenigsten.

Und so begab es sich, dass er sich seit seinem Rückzug dort herumdrücken musste, wo kein anderer war, durch die Reste des Kantinenessens versorgt, die der Sanitäter manchmal gebracht hatte. Bevor dieser, genau am Tage achthundertachtundneunzig, verrückt geworden war.

„Es liegt nicht an dir“, hatte er damals gesagt. Ihm steckte dabei eine Karotte aus Wachs in der Nase. „Nur die anderen kotzen mich einfach an. Also Rumms, Ciao. Watte, Telefon. Ich gehe ran.“ Und er hatte begonnen, mit einem Knopf zu sprechen.
 

Seitdem waren hundertsiebenundneunzig weitere Tage vergangen. Hundertsiebenundneunzig Tage, in denen der andere den Boden wie kein anderer gescheut, sich ganz zurückgezogen und sein Leben allein seiner persönlichen Lebenserhaltungsmaschine anvertraut hatte.

Die Hand drückte sich an das Glas. Es war so erbärmlich kalt, dass ihm ein Schauer den Rücken hinunterlief. Er sah in das Glas, sah in die Augen, die ihn schon seit tausendfünfundneunzig Tagen verfolgten. In seine eigenen.

Jeden Tag sah er sich selbst im Glas, weil es zu selten etwas dahinter zu geben schien, das ihn von seinem Spiegelbild hätte ablenken können.

Ich hätte nicht mitkommen sollen, dachte er. Oder ich hätte Dolly in Ruhe lassen sollen. Vielleicht wären wir dann schon wieder zurück...

Dem Navigationssystem hatte die Crew nicht trauen können, also hatte sie sich selbst daran gemacht, irgendwie ihren Kurs zu berechnen. Dabei hatte der Sanitäter seine Aufgabe noch am besten getan; er berechnete einwandfreie Kurse anhand selbst gezeichneter Karten. Jedoch konnte sie niemand lesen, da er stets nach Vollendung eines Kurses seine riesige Unterschrift über das mit zwanzig Wasserzeichen gesicherte Papier schmierte.

„Wir wollen doch nich, dass später jemand sagt, es sei sein Verdienst gewesn“, hatte er zu sagen gepflegt. Und wenn der andere „Aber wir sind doch keine Diebe!“ gerufen hatte, hatte er nur einen scheelen Blick bekommen. Der Sanitäter hatte an seiner Karte herumgenestelt, sie unauffällig an sich herangezogen und den anderen schließlich angeblafft:

„Bist du auch einer von diesen scheiß Bilderklauern?!“

Eins musste er zugeben: Wie rührend auch der Sanitäter für sie gesorgt hatte, er war ein wenig zu paranoid für so eine Reise gewesen, was schließlich auch seinen Aufenthalt in der gepolsterten Zelle erklärte, wo er gegenwärtig vermutlich auf dem Boden saß, die Hände dank der klassischen chinesischen Fingerfessel bewegungsunfähig, und versuchte, einen Löffel mit Gedankenkraft zu bewegen, da er das mal „in einem Film gesehen“ hatte. „Die wollen, dass du glaubst, dass es bloß ausgedacht is, aber ich sags dir, es ist wahr!“

Manchmal hatte er ihn besucht, in dieser weißen Zelle, denn auch dorthin führten die Schächte, in denen er sich herumdrückte, und es tat niemand anderes. Der Sanitäter hatte dann immer leise vor sich hingemurmelt. Manchmal hatte er sich gewiegt, manchmal still gesessen. Er hatte gesagt, dass die Roboter eigentlich schwarz sein müssten und dass die Erde froh sein sollte, diese Versager loszusein. „Außer dich natürlich“, hatte er sich dann ergänzt, „obwohl de auch ein ziemmicher Querdenker bist. Biste doch, ne? Biste, biste! Watte, Telefon. Ich geh ran.“

Und dann hatte er wieder begonnen, mit einem Knopf zu sprechen.
 

An Tag Tausendzwei war der Besuch dann untersagt worden, die Öffnung des Wartungsschachtes verschlossen und gepolstert.

Manchmal saß er noch dort oben, redete durch die watteweichen Polster mit dem Sanitäter. Manchmal sah er jenem auch nur zu, durch eine kleine Luke aus Panzerglas, denn der Sanitäter wurde schnell hysterisch, wenn jemand mit ihm sprach, den er nicht sehen konnte.

Der Blick glitt nicht von der Schwärze hinter der Scheibe ab, obwohl er es versuchte. Sie war es wohl gewesen, die den Sanitäter so zugerichtet hatte, und sie würde wohl auch das Hirn so zurichten. Jenes, das den Blick steuerte.

Zugegeben... Es ging wirklich schneller, wenn man ständig allein war.

Die Hand glitt von dem Glas ab, glitt über die harte Stulpe am anderen Arm, die durch einen dünnen Schlauch mit einem schweren Gegenstand am Oberarm verbunden war.

Das Lebenerhaltungsgerät. Auf der Erde wie auch auf anderen Planeten wurden schon Säuglinge mit diesem medizinischen Schatz ausgestattet, um die erschreckend niedrige Sterblichkeitsrate in den Industriestaaten noch stärker zu vermindern. Zum Ausgleich dafür hatten ältere Modelle einen roten Selbstmordknopf mit weichen Noppen besessen. Bei Betätigung wurde dem Körper eine genügend hohe Dosis Morphium injiziert, um ihn komplett lebensunfähig zu machen, sowie das Selbstmorddezernat kontaktiert, das Begräbnis angemeldet und zugleich eine schlichte, aber geschmackvolle Einladung an alle Verwandten hinausgeschickt.

Diese brisante Mechanik hatte schon früh die Bevölkerung polarisiert; von den einen wurde darauf plädiert, dass die bei zu viel emotionalem Stress normalerweise auftretenden Suizidgedanken nun viel zu schnell in die Tat umgesetzt werden konnten, statt den Problemen Lösungen zuzuführen und so die Situation zu verbessern, was die anderen jedoch lachhaft fanden, da mit derselben Argumentation auch der Verkauf von Waffen oder Schlaftabletten unterbunden werden konnte und jedem Menschen das Recht zugestanden werden sollte, vollstens über sein eigenes Leben (und Nicht-mehr-Leben) zu entscheiden.

Jedoch waren diese Modelle bis auf einen geringen Bodensatz wieder eingezogen und umgetauscht worden, nachdem es 2148 zu einem massiven Einbruch der Bevölkerungszahlen gekommen war. In dieser Zeit waren vor allem Teenager zu einem dermaßen raren Phänomen geworden, dass zahlreiche Plattenfirmen den Konkurs anmelden hatten müssen, und selbst nach fünfzig Jahren besangen noch diverse Bands den dadurch entstandenen, glorreichen Aufschwung guter Musik. Junge Menschen mit zynischem Humor hingegen ersteigerten alte Modelle der Lebenserhaltungsgeräte im Internet und trugen sie mit Vorliebe als Accessoire auf Rockkonzerten.

Doch ein Selbstmordmodell wurde vor der Glasscheibe des Wartungsschachtes gewiss nicht gebraucht. Ein kleiner Ruck, kaum mehr ein nervöses Zupfen an dem dünnen Schlauch, und der entkräftete, menschliche Körper darunter hätte binnen Sekunden den überhöhten Anforderungen der sterilen Raumschiffwelt nachgegeben.

Wie erstrebenswert...

Nachdenklich zogen seine Finger am Schlauch, zuerst zaghaft, dann heftiger; der Blick wich nicht von der Schwärze, war starr, erstarrt.
 

Erst nach ewigen Augenblicken besann sich das Hirn darauf, dass es da noch etwas gab. Etwas außerhalb dieser Schwärze, außerhalb des Systems, außerhalb der engen, schlecht beleuchteten Schächte. Außerhalb des Bettstatts, der behelfsmäßig eingerichtet worden war, vor vielen Tagen, außerhalb des Erdenkalenders, auf dem jeder verstrichene Tag neurotisch genau angestrichen worden war, und außerhalb der Erdenuhr, die dafür unabdingbar war.

Da war etwas.

Etwas Größeres.

Eine Stimme.
 

Gott.
 

Wie lange war es her, dass hier eine Stimme erklang? Sie war gedämpft und doch klar, hallte, war fest, weich, echt, künstlich, formte Worte, göttliche Botschaften.

Das Hirn befahl, angestrengt zu lauschen, hatte es so lange nichts mehr als die Signale des leisen Summens hier oben wahrgenommen. Von wo erklang die Stimme? Wessen war sie? Was war ihr Befehl?

Es schien, als hallte sie wider, immer wieder, in seinem Kopf, in seinem Hirn, sie überschlug sich, brachte die Hand an der Röhre zum Zucken, dann zum Stoppen, eine Weisung, sie war eine Weisung, eine göttliche Weisung, die ihn, das Individuum, befahl...

„Hey, Leute! Ich glaub, wir ham was erwischt!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: abgemeldet
2008-08-11T12:30:15+00:00 11.08.2008 14:30
Erinnert leicht an die Anhalter Reihe, aber eben nur leicht.
Man spürt die Genialität förmlich daraus triefen, irgendwie.
Nur schade, dass es ein wenig schwer zu lesen ist, habe bestimmt zehn Minuten für diese zwei Seiten gebraucht..

Ach übrigens: Prologe dürfen meines Wissens keine Wörtliche Rede enthalten o__o

btw: extra dafür zum 42ten mal bei mexx angemeldet xD
Von:  Technomage
2008-07-16T14:35:27+00:00 16.07.2008 16:35
Ganz, ganz [Wortstamm eines beschwingten Adjektivs der Ehrfurchts- und Euphorieäußerung]-er Anfang.
Bin von Originalität und Natürlichkeit der Darstellung und Gedanken wirklich beeindruckt, wie schon länger nicht mehr. Auch der Humor passt sich wirklich recht gut rein und wirkt nicht zwanghaft oder an den Haaren herbeigezogen, aber ohne dass es übertrieben parodistisch oder ironisch wirkt.
Gute Ideen. Sehr menschlich. Angenehme Sprache, einwandfreie Grammatik, keine Orthografie zu bemeckern.
Bitte melden, wenn mehr vorhanden.

Von:  zombiepanda
2008-07-14T11:59:19+00:00 14.07.2008 13:59
Genial. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Die Art, wie du die Sätze formulierst, dein Humor, die schrägen Charaktere, alles wirkt lebendig und es wird einem zu keinem Zeitpunkt langweilig.
Lob, Lob, Lob. ^^
Wäre schön, wenn du mir eine ENS schicken könntest, wenn es weitergeht.
lg


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