Zartes Weiß
Du weißt, dass du nicht allein bist.
Schnee ziert in groteskem Weiß die düstere Waldkulisse und du bist nicht allein.
Deine Schritte erzeugen knirschende Geräusche unter deinen Schuhsohlen, dein Atem schickt gräuliche Wolken in den Himmel und du bist nicht allein.
Du schlingst deinen Mantel enger um dich, ziehst an deinem Schal, vergräbst die Hände tief in den Taschen und du bist nicht allein.
Deine Füße sind kalt, deine Hosenbeine und Schuhe nass, du bist nicht allein.
Du weißt es.
Du weißt, dass du nicht allein bist.
Vor ein paar Metern hast du geglaubt, ein Lachen hinter dir gehört zu haben, aber du bist allein. Und du weißt, dass es nicht stimmt.
Vor ein paar Metern hast du geglaubt, Atem in deinem Nacken gespürt zu haben, aber du bist allein. Und du weißt, dass es nicht stimmt.
Vor ein paar Metern hast du geglaubt, verfolgt zu werden, und deine Schritte deshalb beschleunigt, doch du hast dich besonnen, denn du bist allein. Und du weißt, dass es nicht stimmt.
Vor ein paar Metern hast du geglaubt, allein zu sein.
Und du weißt, dass es nicht stimmt.
Jemand säuselt deinen Namen. Der Wind, sagst du.
Jemand greift nach deinem Mantel, deinem Haar, nach dir. Äste, nur Äste, sagst du.
Jemand hinterlässt die gleichen hörbaren Spuren wie du, direkt hinter dir. Fallender Schnee, nichts weiter, sagst du.
Jemand verspottet den Frieden des Waldes, indem er dich aus dem Hinterhalt bedroht. Meine Phantasie, sagst du.
Oh, du weißt es. Du weißt es besser.
Jetzt bleibst du stehen. Einfach so, mit einem Mal. Du hältst den Atem an. Du rührst dich nicht. Kein Knirschen mehr unter deinen Füßen, keine Wölkchen mehr aus deinem Mund.
Du schluckst laut.
Meine Phantasie, sagst du, schon wieder. Ich bin allein hier.
Du nickst. Du willst sicher gehen. Du drehst dich um.
Schnee. Kahle Bäume. Nachthimmel. Ein Rabe kräht dir zu.
Du lächelst und drehst dich zurück. Ich bin allein hier, wiederholst du. Und gehst weiter. Einfach weiter.
Du weißt, dass du nicht allein bist.
Jemand grinst hinter dir. Nein, sagst du.
Jemand zieht ein Messer hinter dir. Nein, sagst du.
Jemand mustert das Spiegelbild deines Rückens in der blankpolierten Klinge hinter dir. Nein, sagst du.
Jemand muss leise lachen hinter dir. Nein, sagst du.
Jemand holt aus und zielt hinter dir. Nein, sagst du.
Jemand flötet deinen Namen hinter dir.
Oh Gott, sagst du.
Du drehst dich um.
Nein!, sagst du.
Bitte!, sagst du.
Hilfe!, sagst du.
Du weißt, dass du nicht allein bist.
Etwas Glänzendes saust herab und du bist nicht allein. Der Schmerz ist in der Kälte kaum wahrnehmbar und du bist nicht allein. Du spürst, wie du fällst, und du bist nicht allein. Du kommst dumpf auf dem Boden auf und du bist nicht allein.
Dunkles Rot trifft das zarte Weiß. Er lächelt. Und er ist allein.