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Und am Ende bleibt immer die Frage: Warum?
von

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Ein Anfang

Nervös kaute ich auf meinem Toast herum und starrte den strahlend blauen Himmel an. Meine Mutter mir gegenüber hatte wieder einmal ihr atomares Supergrinsen aufgesetzt und vertilgte einen Salat. Die digitale Uhr am Herd zeigte 06:30 Uhr an.

Mein Wecker hatte mich also vor exakt fünfzehn Minuten aus diversen Alpträumen gerissen.
 

Heute war mein erster Schultag, und wir hatten in den letzten Wochen wirklich viel geschafft. Wir hatten ein Drittel des Hauses neu tapeziert und gestrichen, die anderen Räume konnte man so lassen, wie sie waren. Außerdem waren wir shoppen gewesen und hatten uns mit Produkten diverser Möbelhäuser eingedeckt. Mums unvergleichlichem Gespür für günstige Dinge, die aber qualitativ gut waren und ihrem kreativen Talent verdankten wir jetzt ein Heim, das sich in zwei Wochen von einem verlassenen Haus in ein kuscheliges Nest verwandelt hatte. Zwar konnte man es mit einem botanischen Museum verwechseln, weil May außerdem einen Großeinkauf bei sämtlichen Floristen der Umgebung getätigt hatte, doch das war ich gewohnt. Unser Wohnzimmer sah schon immer so aus wie die koloniale Residenz eines Naturforschers irgendwo in Indien.
 

Sie hatte Möbel aus dunklem Holz gekauft, die Wände in einem warmen, zarten Beige gestrichen und zwischen ominösen Topfpflanzen aller erdenklicher Größen, die in jedem freien Eckchen herumstanden oder von der Decke hingen, ihre geliebten hinduistischen Figürchen von was weiß ich für Göttern aufgestellt.

Dazu klang gerade „Touch of Grey“ von Grateful Dead aus unserem alten, klapperigen CD-Spieler.

Sie war eben ein Relikt der Hippie-Bewegung, mit ziemlich vielen Klischees und anderen ulkigen Gewohnheiten behaftet. So zum Beispiel die Tatsache, dass sie nie eine andere Frisur trug als offene Haare mit einem Halstuch oder einem Seidenschal um die Stirn.

„Schatz?“

Sie lächelte mich über den Rand ihrer Kaffeetasse an.

„Solltest du dich nicht langsam fertig machen?“

Ich nickte nur schwach und stand auf.

Ich gab es nicht zu, aber ich war furchtbar nervös und hatte Angst vor der neuen Schule. Es war ja nicht so, als hätte ich einfach nur die Schule gewechselt, sondern einfach alles. Den Staat, das Schulsystem, die Unterrichtssprache, es war einfach ein gigantischer Berg, der hoch vor mir in den Himmel ragte und den ich heute besteigen musste, ob ich wollte oder nicht.

Am meisten Angst hatte ich davor, dass ich ab sofort in einer Fremdsprache unterrichtet werden würde. Ich hatte furchtbare Panik, dass mein Deutsch zu schlecht, die Grammatik mies, das Vokabular zu klein und generell alles zu akzentbeladen war, um es verstehen zu können. Immerhin hatte ich bisher nur mit meiner Mutter Deutsch gesprochen. Unterricht, Freizeit, Freunde, das alles lief bei mir auf Englisch. Und das würde sich wohl auch nicht ändern. Jedenfalls im Kopf nicht.
 

Grübelnd schlurfte ich ins Bad und starrte in den Spiegel.

Ein verschlafener, zu klein geratener Junge, der obendrein noch aussah wie ein Mädchen, mit großen, unschuldigen blauen Augen und verwuschelten, vorne längeren und hinten streichholzkurzen, schwarz gefärbten Haaren blinzelte mir entgegen.

So wie jeden Morgen eben.
 

Rasch war das übliche Waschprogramm durchgelaufen, nach einigen Jahren entwickelt man einfach eine Routine im morgendlichen Badritual, die nicht einmal Müdigkeit unterbrechen kann.

Nach dem Zähneputzen und Föhnen angelte ich nach einem kleinen, knatschgrünen Schminktäschchen auf der Ablage und kramte den Kajal raus.

Ja, richtig gelesen.

In diesem Haus gehörte sämtliches Make-Up nicht meiner Mutter, denn die verabscheute das Gefühl von Schminke auf der Haut, sondern mir. Ich hatte mit fünfzehn angefangen, mich zu schminken. Zu Beginn war es lediglich ein Scherz gewesen, um Griffs Bruder zu ärgern, weil der ein ziemliches Problem mit Homosexualität hatte und es nichts gab, was ihn mehr auf die Palme brachte, als feminine Kerle. Aber irgendwie hatte ich dann den Eindruck bekommen, dass ein bisschen schwarze Farbe im Gesicht mir durchaus stand. Und so war ich dabei geblieben und trug jeden Morgen eine über die Jahre perfektionierte Menge an Kajal um meine Augen auf.

Ich hatte es auch mal mit anderen Utensilien und anderer Linienführung probiert, aber mein ganzer Körper war von Natur aus so auf ‚niedlich’ getrimmt, dass es nicht viel Sinn gemacht hatte, das mit Make-Up kaschieren zu wollen. Also unterstrich ich es jetzt eben und stand dazu.

Und die großen Geschütze fuhr ich lediglich an Partys oder Konzerten auf.

Ich überlegte kurz, ehe ich zur Geltube griff.

Normalerweise sparte ich mir das Haarestylen für den Alltagsgebrauch, aber immerhin war heute mein erster Tag an der neuen Schule. Ich wollte ein gutes Bild abliefern.

Klamottentechnisch hatte ich da gestern schon vorgesorgt und in einer zweistündigen Selektionsarbeit das perfekte Schuloutfit zurechtgelegt.

Auf einem kleinen, sonnengelben Hocker – passend zur Wandfarbe – am Fußende von meinem Bett wartete meine geliebte, schmutziggraue Jeans mit dem leichten Schlag und dem an der Ferse zerrissenen Saum, die auch an den Oberschenkeln und Knien ziemlich abgewetzt wirkte, was mich aber nicht störte; ich würde sie tragen, bis sie sich restlos aufgelöst hatte. Passend dazu ein simples, langärmeliges schwarzes Shirt, das eigentlich ein Girlie-Shirt war, aber bei meiner Größe war es wirklich kein Problem, in der Mädchenabteilung Klamotten shoppen zu gehen, und ein schwarzweiß kariertes Hemd, bei dem ich die Ärmel aufgerollt hatte.

Fertig bekleidet bewunderte ich mich noch kurz im Spiegel, befand, dass mein Äußeres in Ordnung war, und ergänzte nur noch das kleine Accessoire, ohne dass ich nicht aus dem Haus ging: Ein Halstuch.

Es war sozusagen mein Markenzeichen, dass ich immer ein Stück Stoff um die Kehle gewickelt hatte. Heute fiel die Wahl auf ein Schwarzes mit weißem Paisleymuster.
 

Nicht viel später stand ich im halbherzig gefüllten Bus, der mich von dieser Kindergartenidylle in Richtung Stadt und Öffentliche Jugendverdummungsanstalt bringen sollte. Ich war der einzige aus meiner Altersgruppe hier drin. Der Rest bestand aus Grundschulkindern oder Hausfrauen kurz vor den Wechseljahren. Und selbstverständlich wurde ich begafft. Aber ich machte es mir einfach und sah die ganze Zeit angestrengt aus dem Fenster, was anfangs wirklich öde war, weil wir noch mindestens ein weiteres Wohnviertel mit großen Mietblocks durchquerten. Und dann, ohne Vorwarnung – Hochhäuser. Jedenfalls erkennbar am Horizont. Und die nette Frau von der Durchsage gab gerade den Namen meiner Haltestelle an, den Mum mich gestern so oft hatte vorsagen lassen, bis ich das Gefühl hatte, ich würde mich zeitlebens daran erinnern.
 

Mit leicht zitternden Knien stand ich nun vor diesem riesigen Gebäudekomplex namens Schule und wusste nicht so recht, wohin. Auf dem Schulhof tummelte sich bereits eine ansehnliche Schülermenge. Und keiner von ihnen kümmerte sich um mich. Das war neu, aber ich war ganz dankbar darum, sonst hätte ich den Mund aufmachen müssen – und allein der Gedanke, mich mit einem deutschen Native Speaker herumschlagen zu müssen, löste in mir Panik aus. Also blieb mir nur eins: Ich machte mich allein und auf gut Glück auf die Suche nach dem Sekretariat.
 

Nur wenig später hatte mich eine noch recht junge Lehrerin vor einer Klassenzimmertür abgeliefert. Die Sekretärin, die mich mit ihr mitgeschickt hatte, war sehr nett gewesen, hatte mich mit Stundenplan und anderen Orientierungshilfen wie einer Kurs- und Lehrerliste ausgestattet und sich mit mir auf Englisch unterhalten. Ich hatte erfahren, dass ihr Mann ebenfalls gebürtiger Amerikaner war, sie hatten sich während der Besatzungszeit kennen gelernt, geheiratet und er hatte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, weil sie nicht weggewollt hatte. Ich konnte sie gut verstehen. Ich hatte auch nicht von zu Hause weg gewollt.
 

Und erst recht wollte ich nicht jetzt allein vor meinen Kurs treten und mich vorstellen. Laut Stundenplan hatte ich jetzt Doppelstunde Englisch, Tutorkurs. Und danach Pause und im Anschluss doppelstündig Geschichte, zum Glück auch auf Englisch, weil ich in das Bilingual-Programm der Schule aufgenommen worden war. Die ersten vier Stunden also kein Problem. Was danach kam, wollte ich allerdings lieber gar nicht erst wissen.

Im Moment hatte ich allerdings ein wichtigeres Problem. Denn meine zur Faustgeballte und völlig verkrampfte Hand hatte sich zwar wie befohlen erhoben, verharrte jetzt aber regungslos und wollte partout nicht gegen das Holz der Tür klopfen.

Reiß dich zusammen, Lio, schalt ich mich selbst und zwang meine weichen Knöchel, zweimal gegen das helle Holz zu pochen.
 

Nichts geschah.
 

Vorsichtig und leicht verunsichert drückte ich die Tür auf.

Dreiundzwanzig Augenpaare starrten mich an, inklusive einem Lehrer um die Vierzig, dessen spießiges Äußeres jedem in den USA kursierenden Gerücht über den verklemmten, bürokratisch korrekten Deutschen gerecht wurde.

„What do you want?“

Sein geschraubtes Oxford-Englisch klang genauso bescheuert, wie ich es erwartet hatte. Aber irgendwie brach es in mir einen Damm.

„I’m Lior Hawthorne, the clerk told me to come here“, antwortete ich nach kurzem Zögern.

Der Lehrer warf einen kurzen Blick auf seine Liste, dann nickte er, doch der missbilligende Blick entging mir nicht.

„Right, please take a seat.“

Ich nickte nur und sah mich dann nach dem nächsten freien Platz um. Das Mädchen mit dem dicken blonden Zopf lächelte mich freundlich an, und da neben ihr noch niemand saß, huschte ich so schnell und leise wie möglich zu ihr hinüber.

Doch mehr als ein schüchternes „Hi!“ ihrerseits war nicht drin, bevor der Pauker den Unterricht wieder aufnahm. Aber es war immerhin ein Anfang.
 


 

~~~
 

Die englischen Passagen werden in der OF noch öfter vorkommen. Es ist sogar ein ganzes englisches Telefongespräch geplant. Wenn ein Leser Verständnisprobleme hat, sollte er mir das bitte mitteilen, und ich werde irgendwo eine deutsche Übersetzung unterbringen!



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  -Cally-
2009-09-04T12:16:05+00:00 04.09.2009 14:16
Wird ja immer besser ♥.♥
Aber der arme... keiner will allein in ner neuen klasse stehen
Lebt sich hoffentlich schnell ein!! ;)
ich les dann mal weiter =)=)
glg Already_Dead
Von:  Pataya
2009-03-22T13:49:02+00:00 22.03.2009 14:49
hey, könnteste mir ne ens schicken, wenns weiter geht??? mag die ff^^
Von:  Saki-hime
2009-02-19T20:06:52+00:00 19.02.2009 21:06
Also bis jetzt...
...
...
liebe ich die FF *__*
total klasse x33
und ya... mach schnell weiter =DD

Saki-hime *flausch*


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