Ich bin müde. (19.01.09)
Ich bin müde.
Doch ich bin in meiner Wohnung, und hier ist es nicht schwer, die Routine einzuhalten. Bedachtsam ziehe ich mir die Handschuhe von den Fingern und werfe sie in das Feuer; nur zu diesem Zweck habe ich mir überhaupt eine mit Kamin angeschafft. Eigentlich lege ich keinen Wert auf sowas. Wenn ich es warm haben will, schalte ich meine Heizung an, und wer von der 'lebendigen Wärme' des Feuers spricht, musste dessen Reste offenbar noch nie sauber machen.
Ich gehe zurück in die Küche. Hinter mir schleife ich ein periodisches Husten her, rau und aufdringlich, als wollte es das Parkett aufreiben. Vielleicht habe ich in letzter Zeit ein bisschen zu viel geraucht. Vor meinem geistigen Auge tauchen Bilder auf von sezierten Raucherlungen, blassrosa geteert, und einen stillen Moment frage ich mich, ob sich so ein Objekt tatsächlich in meinem Brustkasten wölbt.
Dann finde ich die Flasche, und ich vergesse es wieder.
Ich gieße mir ein Glas ein. Die Farbe könnte man wohl als bernsteinfarben bezeichnen, wenn man den Groschenromanen glauben schenken darf. Ich würde gelb dazu sagen. Oder zumindest gelblich. Aber ich bin auch noch nie gut in sowas gewesen.
Als ich am Fenster vorbeigehe, werfe ich einen Blick daraus. Nicht, dass ich den Wagen von hier aus sehen könnte; wozu gibt es Tiefgaragen, wenn nicht für ihn. Aber dennoch bin ich weniger nervös, als ich sehe, dass die Straße sich normal verhält. Nicht wie ein Klischee, nicht erwartungsgemäß - das hätte mich nur paranoid gemacht. Doch die Dinge ein paar Stockwerke weiter unten gehen ihren gewohnt komplizierten Gang, von dem ich nur einen banal wirkenden Bruchteil mitbekomme.
Die sterbende Baumwolle knistert im Kamin, als ich mich langsam hinsetze und das Glas neben dem Sessel abstelle, auf dem Glastisch mit der Schale. Zu meinen Füßen liegt der Koffer - er ist etwas mitgenommen, ich sollte die Riemen wieder erneuern lassen. Gewiss könnte ich es mir in meiner Position erlauben, abgerissen herumzulaufen, auch wenn mein Bruder es mit Missbilligen sehen würde. Wobei ich nicht glaube, dass das an sich einen Unterschied machen würde. Er findet die Hälfte der Zeit über genügend Gründe, mich zu missbilligen; wäre ich die andere Hälfte über nicht so nutzbringend, wäre ich vermutlich schon längst Geschichte.
Aber ein gut in Schuss gehaltener Koffer ist zuverlässiger. Ich gebe nicht viel auf Mode und kenne mich mit Ästhetik nicht besonders aus, zugegeben. Doch eine gewisse Ordnung und Sauberkeit wird man wohl noch exerzieren dürfen. Gerade in diesem Beruf.
Es ist fast ein wenig erstaunlich, wie warm das Metall unter meinen Fingern ist. Ich kenne es auswendig, aber es so zu halten, macht es fremd. Als berührte ich die Hand, die man mir vor Sekunden noch abgehackt hatte. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde. Andererseits gewöhnt sich der Mensch an alles.
Mein Glas ist fast leer, als ich das letzte Stück niederlege, zurück in den Koffer. Normalerweise ist es erstaunlich still hier, eine Gegend, um die sich Immobilienmakler streiten und dabei mit Stühlen bewerfen.
Ich habe die Stille genutzt, um ein bisschen Musik anzumachen, unter der das Glas bebt. Und dennoch ist es immer noch still. Gut, gerade ist es Funeral Pyre. Ist vielleicht auch etwas sentimental.
Einen Moment bleibe ich noch sitzen, aber länger kann ich nicht. Ich wandere in das Badezimmer, ziehe mir auf dem Weg das Jackett aus, inspiziere es auf Flecken. Bei der Arbeit trägt es sie zu genüge davon, und auch wenn einer oder zwei davon auf schwarz nicht auffallen mögen, geben eine ganze Reihe von Sprenkeln der Sache einen anderen Anstrich. Zum Glück habe ich schon früher immer im Haushalt helfen müssen; so bin ich nicht von Reinigungen und deren teuren Sonderbehandlungen abhängig.
Die Streicher umschmeicheln einander langsam, Dunkelheit nur in Untertönen, als ich das Jackett weglege. Ich sollte mich darum kümmern. Aber mir schaut niemand auf die Finger. Ein wenig Zeit habe ich noch. Und ich bin müde.
Der Gedanke kommt schnell. Schnell und assoziiert, fast wie ein Automatismus. Ich habe es hinter meinem Badezimmerspiegel, immerhin halte ich es hier sehr sauber.
Es ist weiß. Das ist ein klassisches Symbol, es kann für vieles stehen. Ich weiß nicht mehr so genau, was alles, aber Reinheit war darunter. Und Reinheit symbolisiert es unter Garantie.
Ich beuge mich vor, erhasche dabei im Spiegel einen kurzen Blick auf mich selbst. Es sieht vielleicht ein bisschen merkwürdig aus. Albern, hätte ich gesagt. Aber ich bin älter geworden und ein bisschen abgetragener, und irgendwann denkt man nicht mehr so viel darüber nach. Die Ringe unter meinen Augen sehe ich kaum.
Ich schiebe es zu einer Linie, mit einer ungebrauchten Rasierklinge; die Geigen kulminieren mit einem Mal schwach, ein Impuls, der abflacht und wieder aufsteigt, sich wieder aufbaut, als ich mich wieder an mir selbst hochziehe und die Bläser einsteigen, und ich mich erneut im Spiegel ansehe. So weit also, sagt ein dünner Gedanke neben meinem Hirn, doch es bläht sich auf und verschluckt ihn einfach, verdonnert ihn zum Schweigen.
Ich ziehe mir das Hemd aus und werfe es beiseite, zusammen mit dem Röhrchen, gehe ins Wohnzimmer zurück und schalte die Musik aus. Ich will wissen, ob sie meinen Namen heute im Fernsehen sagen.