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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

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Himmelsfeuer

Herr Masava war zufrieden mit seinem Schüler.

„Jetzt versuch es noch mal,“ sagte er und trat zurück, „Und lass sie nicht außerhalb des gezeichnetes Kreises brennen.“ Er zeigte auf das Blatt Papier, das vor Puran am Erdboden lag. In der Mitte war ein sehr kleiner Kreis gezeichnet. Der Junge hob etwas außer Atem die Hand über das Papier:

„Demora!“ Mit einem kurzen Zischen schoss ein kleiner Blitz aus seiner Hand, traf genau die Mitte des Kreises und brannte ein Loch in das Papier. Sobald der Zauber verschwunden war, beugten sich sowohl der Mann als auch das Kind über das Loch; die Linien des Kreises waren nicht berührt worden.

„Hervorragend,“ freute sich der Lehrer, „Und jetzt vernichte das Papier.“ Puran schnappte ein paar Mal nach Luft, nickte aber gehorsam und hob die Hand wieder hoch, bevor er mit einer kurzen Bewegung und einem erneuten „Demora!“ einen sehr viel mächtigeren Blitz entstehen ließ und damit das ganze Blatt pulverisierte. Nichts blieb übrig als feiner Staub, der im eiskalten Wind wegwehte. „Wunderbar,“ lobte Herr Masava weiter, „Du lernst sehr schnell. Wir haben jetzt innerhalb von zweieinhalb Monden sämtliche Grundzauber optimiert und du kannst sie so klein und groß machen wie es dir gefällt. Ich habe noch niemanden gekannt, der so schnell so viel gelernt hat.“

„Das ehrt mich, vielen Dank,“ sagte Puran verlegen und verneigte sich höflich. Es war zum Verrückt werden; da wollte er doch gar nicht zaubern, war aber offenbar übermäßig begabt darin und machte damit seine ganze Umgebung entweder sehr stolz oder sehr neidisch. Der Mond der Stürme war halb um. Der Winter stand vor der Tür, langsam wurden die Übungsstunden im Freien unangenehm kalt.

Der Lehrer räusperte sich und trat wieder einen Schritt zurück.

„Einen Zauber gibt es allerdings noch, den wir nicht behandelt haben, ich bin sehr neugierig und hab mir deshalb das Beste für den Schluss aufgehoben.“ Puran blinzelte.

„Äh, was?“

„Ich bin… gespannt auf deine Katura,“ erklärte sich der Mann jetzt ernst. Puran blinzelte abermals. Katura… richtig, der Windzauber, er erinnerte sich. Als der Kleine nichts sagte, sah Herr Masava sich gezwungen, das weiter zu erläutern. „Deine Familie ist seit Generationen eine Familie der Windmagier. Alle Lyras sind Windmagier, oder die meisten zumindest. Deinem Vater sagt man nach, er könnte den Wind komplett beherrschen, was ihn zu einem absoluten Großmeister dieses Elementes macht; das ist sehr selten, dass jemand ein Element zu hundert Prozent beherrscht, deswegen zolle ich deinem Vater auch den allerhöchsten Respekt.“

„Ich dachte, alle in meiner Familie beherrschen den Wind?“

„Nein, nicht auf diese Art, was dein Vater macht, ist noch stärker. Die meisten Schwarzmagier haben ein Element, in dem sie besonders begabt sind. Bei euch Lyras war es meistens Wind, beim Kohdar-Clan war es meistens Feuer und bei den Kitas war es meistens Eis. Aber diese angeborene Neigung zu einem Element macht einen nicht gleich zum Großmeister.“ Puran nickte.

„Das verstehe ich. Soll ich jetzt versuchen, Katura zu zaubern?“

„Natürlich! Ich bin gespannt… wenn ich mich nicht sehr irre, dürfte deine Katura alle anderen deiner Zauber noch um Längen schlagen.“

Das Kind holte abermals Luft. Er war erschöpft, er hatte bereits den ganzen Nachmittag geübt, die meiste Zeit den Blitzzauber Demora. Er fragte sich, was geschehen würde… vielleicht war es nicht gut, wenn er Katura machte… er sah unsicher zu Herrn Masava.

„Tu es,“ sagte de ernst, schüttelte ebenfalls seine Hände aus und trat weiter zurück, um nicht genau in der Bahn zu stehen. So holte Puran erneut Luft.

Reiß dich zusammen! Sagte er sich streng, Du musst, du musst es beherrschen können! Wenn du das kannst, wirst du vielleicht auch kein Monster.

Mit diesen Gedanken riss er beide Arme nach vorn, als der Strom der Energie durch seinen Körper in seine Hände floss und er bereits spürte, wie ein grausam kalter Wind um ihn herum aufbrauste. Der Lehrer blinzelte und beobachtete das Schauspiel fasziniert, als der Zauber mit einem lauten Krachen und einem grellen Leuchten aus Purans Händen schoss. Das Kind erbebte keuchend bei der gewaltigen Macht des Windzaubers, und er erinnerte sich unwillkürlich an den ersten Schultag.

An die zerfetzten Jungen, denen er Beine und Nasen abgeschnitten hatte, ohne es zu merken oder zu wollen.

Er schnappte verzweifelt nach Luft und fürchtete sich plötzlich vor dieser entsetzlichen Macht zwischen seinen Händen, dass er die Arme japsend empor riss und den Zauber dabei von sich weg schleuderte. Mit einem Krachen prallte die gigantische Katura auf den nächsten Baum im Hof, durchschnitt dessen Stamm sauber mit einem grellen Blitzen und löste sich danach in Luft auf. Herr Masava erbleichte, als der Baum mit einem Knirschen zu ihnen herüber wankte und drohte, auf sie zu stürzen.

„Du lieber Himmel!“ Damit schnappte er Puran und hechtete mit ihm gerade noch aus der Bahn des fallenden Baumes. Mit einem Donnern landete der Ahorn auf dem Boden, sodass die Erde bebte.

Puran war ebenfalls erbleicht. Er taumelte, als Herr Masava ihn losließ, und wäre beinahe zusammengebrochen, als ein grauenhafter Schwindel ihn überkam. Hustend hielt er sich den pochenden Schädel.

„I-ich… kriege keine Luft…!“ japste er, und der Mann hielt ihn an den Schultern fest, damit er nicht zusammenbrach. Nach einer Weile des Schweigens verflog das Schwindelgefühl und die Luft kam auch zurück. „W-was… ist das normal…?“ stöhnte Puran benommen und starrte auf den Baum und auf die saubere Schnittstelle im Stamm. Herr Masava hüstelte.

„Was heißt denn normal…?“ machte er sichtlich selbst überrumpelt, „Natürlich ist es nicht normal, kein Kind deines Alters würde so etwas fertig bringen…“ Puran zuckte kurz bei diesen Worten.

Ja. Weil er toller war. Oder so. Er fand sich nicht toll, nicht mal ein kleines Bisschen, und der Baum tat ihm leid.

„Eigentlich würde niemand, den ich persönlich kenne, so etwas fertig bringen…“ korrigierte der Mann sich leise. Als Puran verbittert den Kopf wegdrehte, legte er dem Jungen eine Hand auf den Haarschopf. „Aber du bist… eben nicht normal, Puran. Das wirst du lernen und akzeptieren müssen. Du wirst lernen, damit umzugehen, sowohl anderen als auch dir selbst gegenüber. Es ist nicht leicht für dich, aber… so eine mächtige Gabe hat durchaus ihre guten Seiten.“

„Nicht, wenn sie Menschen tötet!“ zischte der Junge und ging ein Stück weg, „Ich bin nicht normal und ich hasse es! Ich will nicht anders sein, ich will nicht besser sein, oder toller, oder so! I-ich will nur wie die anderen sein! Ihr wisst nicht, wie das ist, wenn sie einen anstarren und tuscheln, wenn sie von einem Dinge erwarten, die man nicht möchte! Diese Gabe ist grausam und blutrünstig wie die meines Großvaters! Wenn ich so weitermache, werde… ich genauso wie er!“ Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung und er schnappte nach Luft, kämpfte gegen die Tränen. Verdammt, er war neun, er wollte nicht vor seinem Lehrer heulen!

Er wandte sich ab, aber der Mann ging um ihn herum und hockte sich vor ihn, ihm fest ins Gesicht sehend.

„Hör mir jetzt bitte sehr genau zu,“ sprach er ruhig. „Was dein Großvater Kelar getan hat, ist unaussprechbar. Er war ein großer Magier und hatte eine ebenfalls sehr mächtige Begabung, auch als Kind schon, nach dem, was ich so gehört habe. Vielleicht teilst du diese Eigenschaft mit ihm, du bist hochbegabt. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dir und dem Tyrannen Kelar.“ Puran sagte nichts. „Du… willst nicht sein wie er! Du willst mit deiner Gabe nicht das tun, was er getan hat! Mächtige Gaben können gefährlich sein und Menschen zu Bestien machen, das stimmt, aber… man kann mit den Gaben auch Gutes tun! Du kannst damit Menschen töten, das stimmt, aber du kannst sie genauso damit beschützen. Hast du das verstanden, Puran?“ Er sah ihn ernst, aber völlig ruhig an, und errötend sah der Kleine weg. Er nickte zaghaft.

Aber es machte doch keinen Unterschied! Ob er es wollte oder nicht, es passierte und er richtete mit seinen Zaubern Unheil an…

„Ich werde es beenden,“ schwor er düster, „Ich werde auch Katura zu meistern lernen, egal, was es mich kostet! Dann… werde ich aufpassen, dass niemals wieder etwas passiert, dass ich nicht will und das ich nicht kontrollieren kann!“ Er wollte schon anfangen, zu üben, doch Herr Masava hielt ihn auf.

„Na, na, immer die Ruhe. Für heute reicht es, du bist völlig erschossen! Ich bringe dich nach Hause, es dämmert schon. Wenn du dich überanstrengst, wirst du bloß krank und kannst mehrere Wochen gar nicht üben, also lieber aufhören, wenn es am schönsten ist.“
 

Das Kind war halb tot vor Erschöpfung. Nalani schüttelte lächelnd den Kopf, während sie ihrem schlafenden Sohn zärtlich über die geröteten Wangen strich, ihn dann fein zudeckte und das Zimmer verließ.

„Herr Masava sagte zu mir, es ginge voran mit dem Üben,“ erzählte sie Tabari, der auf dem Flur auf sie gewartet hatte. Ihr Mann seufzte.

„Das ist ja wenigstens eine gute Neuigkeit,“ war sein trockener Kommentar, dann raufte er sich die Haare und ging zusammen mit Nalani ins Schlafzimmer hinüber.

„Was denn, gibt es schlechte Neuigkeiten?“ wollte sie verwundert wissen. Er schloss die Schlafzimmertür und seine Frau begann schweigend und ihm den Rücken kehrend, ihr Kleid aufzuschnüren. „Hat sich die Pest von Engarien nach Dokahsan verbreiten, oder so?“

„Wie?“ fragte er verpeilt, bis ihm einfiel, wovon sie sprach. „Ach, liebe Güte, die Pest, nein, die haben sie offenbar im Keim erstickt in Engarien und damit mindestens vier Dörfer komplett ausgerottet. Du willst gar nicht wissen, was das für ein Bohai war in Anthurien, der ganze Senat hat verrückt gespielt und unten beim König ist fast nichts angekommen von den Gräueln, der hat nur gemeint, Problem erledigt, oder so, zumindest habe ich das gehört…“ Er unterbrach sich in seinem Redeschwall, als Nalani plötzlich vor ihm stand, ihm mit einer Hand den Mund zuhielt und ihn dabei gegen die Wand schubste.

„Ich frage mich gerade, was wohl gewesen wäre, wäre Sukutai deine Frau geworden,“ raunte sie dabei, „Du redest ja schon beinahe mehr als sie, ist ja fürchterlich!“

„Soll ich nicht mit dir reden?!“ empörte er sich und zog scharf die Luft ein, als sie sich, inzwischen nur noch in Unterwäsche und Korsett, gegen ihn drückte und mit der freien Hand sein Kind packte, um ihn zu zwingen, sie anzusehen.

„Zumindest nicht so übermäßig viel, du hirnamputierter Idiot,“ machte sie kaltblütig, und Tabari stöhnte. Dann hob er seinerseits die Hände, entfernte ihre aus seinem Gesicht und küsste sie verlangend auf die Lippen.

„Du magst eine Königin sein, Nalani…“ murmelte er danach benommen, „Aber ich bin immer noch dein Mann. Sprich nicht so abartig mit mir, auf die Dauer macht mich das wütend.“

„So wie mich dein ewiges Gequatsche, das ohnehin nichts aussagt?“

„Ich bin Politiker,“ erzählte er, „Politiker müssen reden.“ Nalani grinste diabolisch.

„Seltsam, deine Mutter kann das ganz gut ohne reden klären… dir fehlen die Waffen einer Frau, Tabari, mein Lieber.“ Tabari schaute sie dämlich an.

„Waffen einer Frau?“ Er bereute es, gefragt zu haben, als sie weiterhin grinste, seine Hände in ihre nahm und sie auf ihre runden Brüste legte. Er keuchte und starrte sie für einen Moment an, während sie den Kopf etwas zurücklehnte und sich an seinem Hemd festhielt. Was fragte er auch so dumm… es war Nacht und er war nicht mehr ganz wach, sie sollte nicht so hart zu ihm sein…

„Schlaf nicht, sondern fass mich an!“ befahl sie unruhig und zerrte ungeduldig an seinem Hemd, worauf er sie mit einem Mal packte und sie herum riss, sodass er sie jetzt gegen die Wand drückte und sie ein weiteres Mal küsste. Seufzend erwiderte sie seinen Kuss und schlang die Arme um seinen Nacken, ehe sie ein Bein hob und das Knie gegen seine Hose drückte. Mann hin oder her; er würde immer tun, was sie sagte, das war seine Natur. Und sie beide wussten das und fügten sich dem, was die Geister aus ihnen gemacht hatten…
 

Die Nacht war kalt. Nalani schmiegte sich wohlig seufzend an die nackte Brust ihres Mannes, während sie beieinander lagen und er vorsichtig die dicke Winterdecke über sie beide zog. Im Schlafzimmer war nicht gut geheizt, da außer Nachts ja nie jemand dort war und man das Feuerholz demnach anders effektiver nutzen konnte. Der Blonde seufzte auch, bevor er sich vorbeugte und sanft Nalanis Stirn küsste.

„Ich liebe dich,“ nuschelte er dabei beinahe etwas verlegen. Nalani schwieg. Er sagte das nicht oft; aber viel öfter als sie selbst dennoch. Sie war der Meinung, dass es überflüssig war, ihm dauernd unter die Nase zu reiben, was sie fühlte, denn er sollte es auch ohne Worte spüren. Tabari akzeptierte ihre Sichtweise, war aber selbst anderer Auffassung und sagte ihr, wenn es ihm passend erschien, dass er sie liebte. Und das tat er, es erschien ihm absurd, dass sie vor vielen Jahren einander gehasst und verabscheut hatten. Sie war seine Frau, er schenkte ihr alles, was er war und hatte, er würde für sie sein Leben geben, wenn es sein müsste. Und andersrum war es ebenso.

Die Frau antwortete also ohne Worte und schmiegte sich noch etwas dichter an ihn heran.

„Schlaf schön, meine hübsche Frau,“ flüsterte er dann.

„Wohl weniger,“ war ihre Antwort, „Die Geister lassen mich in den letzten Wochen selten ruhig schlafen.“ Tabari löste sich etwas von ihr und sah sie ernst an.

„Wie meinst du das? Siehst du Gefahren?“

„Ich bin mir sicher, dass es Gefahren sind, aber ich weiß nicht, was für welche und wie ich sie deuten soll. Die Geister zeigen mir eigenartige Dinge… ich habe mit deiner Mutter gesprochen, selbst die hat offenbar keine Ahnung. Und sie hat wirklich keine Ahnung, ich denke nicht, dass sie nur mit ihrem Opium die Schotten dicht macht.“ Diese Möglichkeit musste man ausschließen, weil Tabari ab und zu den Verdacht hegte, dass seine Mutter, die große Seherin Salihah, keine Lust mehr auf Sehen hatte und sich deswegen mit ihren Medikamenten das ganze Gehirn zu dröhnte, um am Ende gar nichts mehr sehen zu müssen. Niemand sprach darüber und niemand wusste, ob es wirklich so war; Salihah sprach nicht über ihre eigenen Probleme oder Sorgen, nicht einmal mit Nalani, mit der sie ansonsten sehr vertraut war.

Nalani erinnerte sich schaudernd an Meorans Geisterjägerprüfung.

„Nalani… bald wird diese Verantwortung… auf dich übergehen. Du musst nicht mich nach dem Weg fragen… sondern dich selbst.“ , hatte Salihah damals zu ihr gesagt, es hatte sich fest in Nalanis Seele gebrannt und ließ sie nicht mehr los, obwohl es schon Jahre her war. Ja… damals hatte sie auch zum ersten Mal von dem Flammenregen und dem brennenden Horizont geträumt.

In der Nacht kehrte der Traum, vor dem sie sich fürchtete, zu ihr zurück. Sie versuchte mit aller Kraft, etwas anderes zu sehen als Regen aus Feuer und den riesigen, brennenden Ball, der den Horizont fraß und die ganze Welt in Brand steckte, etwas anderes zu hören als das Zischen der Geisterstimmen in ihrem Kopf und das Schreien eines qualvollen Todes. Doch so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, und als sie erwachte, kam es ihr vor, als hätte sie die ganze Zeit mit offenen Augen da gelegen wie erfroren, während Tabari sich besorgt über sie beugte und mit kühlen Fingern nach ihrem rasenden Puls am Hals fasste.

„Du hyperventilierst…“
 

„Es ist das Ende der Welt, oder?“

Auf die sehr vertraute, leise Stimme hin drehten beide den Kopf, Tabari schneller und Nalani etwas lethargisch. In der Schlafzimmertür stand ihr Kind, gefasster als er jemals in irgendeiner Nacht gewesen war, aber er zitterte am ganzen Körper ob der Spannung in seinem Körper, ob der Angst, die ihm wie nach jedem seiner eigenartigen Träume mit eisigen Klauen im Nacken saß.

„Puran…!“ machte Tabari noch besorgter und zog hüstelnd die Decke über seine nackte Frau, über der er saß, weil er versucht hatte, sie aufzuwecken; er war von ihrem Keuchen aufgewacht und hatte für einen Moment gedacht, sie würde ersticken. „Was meinst du? Wieso Ende der Welt?“

„In meinem Traum,“ murmelte der Junge und ignorierte den Umstand, dass seine Eltern nackt im Bett waren; es war nicht so, dass er sie nie nackt gesehen hätte, immerhin hatte er als Kleinkind mit ihnen gebadet. „Es kommt… Feuer vom Himmel… und es verbrennt das Land, den Himmel und die Erde gleichermaßen…“ Nalanis Augen weiteten sich und Tabari erstarrte über ihr.

Das war unmöglich. Er war noch immer ein kleines Kind, es war nicht möglich, dass er dieselben Visionen hatte wie seine Mutter. Normalerweise fingen Schwarzmagier erst kurz vor dem Erwachsenwerden an, Visionen zu sehen, wenn überhaupt… dass der Junge anders war, hatten sie alle gewusst, aber nicht, in welchem grauenhaften Ausmaß.

„Und die Geister…“ fuhr der Kleine unglücklich fort, „Die Geister sprechen mit mir, sie lachen und sagen, ich könnte nicht weglaufen vor dem Ende der Welt.“ Er erwähnte nicht mehr Ram oder das Reh oder seinen gehässig lachenden Großvater. Das waren Dinge, von denen er immer träumte, er schob es auf seine eigene Paranoia; Ram. Den hatte er lange nicht gesehen, in der Schule ging man sich gekonnt aus dem Weg, aber der schwarzhaarige Junge hatte schon lange nicht mehr versucht, ihn zu erschlagen. Er fragte sich einen Moment lang, wieso…

„Das Ende der Welt?“ machte Tabari entsetzt, „Was-…?“ Nalani unterbrach ihren Mann. Sie setzte sich auf, angelte ihre Unterwäsche und ihr Nachthemd vom Boden und zog sich an, während sie sprach.

„Du siehst Flammen, die vom Himmel fallen?“

„Ja…“

„Die Geister nennen es das Ende der Welt?“ Puran nickte unsicher, während Tabari auch seine Hosen anzog und sich verlegen räusperte. Die Frau sprach eine Weile nicht.

„Ich sehe es auch…“ murmelte sie dann, „Es ist beunruhigend, wen zwei Menschen dasselbe sehen. Vor allem, wenn ein dritter es nicht tut.“ Damit meinte sie Tabari, der sich selbst auch zunehmend doof vorkam. Wieso sahen alle seltsame Dinge und er als Herr der Geister nicht?

„Ich werde mich mal mit den Geistern unterhalten,“ schwor er düster, „Sie unterschlagen mir Dinge, das heißt, sie respektieren mich nicht. Und wenn sie mich nicht respektieren, ist… es vielleicht ein Fehler, dass ich Herr der Geister geworden bin.“ Schweigen. Dann brach das Kind scheu die Stille.

„Darf ich… bei euch schlafen?“ Tabari und Nalani sahen sich an, während der Kleine unmerklich errötete, weil er an sich viel zu groß war, um bei ihnen zu schlafen. Er war immerhin schon neun… Nalani lächelte und rückte zur Seite.

„Komm, mein Sohn,“ lud sie ihn ein, „Natürlich darfst du das. Ich frage mich, ob noch mehr Leute außer uns vom Ende der Welt träumen…“
 

Wenn es noch mehr Leute gab, die so etwas träumten, dann waren sie nicht in der Schule in Gahti.

Kannar versuchte schon seit dem Beginn des Unterrichtes angestrengt, logisch zu denken, während sein Freund Puran schlief, neben den er sich gesetzt hatte; Travi war krank und nicht in der Schule, da hatte der kleine Heiler sich die Freiheit genommen, sich auf den leeren Platz zu setzen.

„Wieso Ende der Welt, das ergibt absolut überhaupt gar keinen Sinn,“ murmelte er dabei vor sich hin, „Die Welt ist total rund, hab ich mal gelesen, genau. Und rund hat gar kein Ende, Puran, deine Geister reden total den Schwachsinn.“ Er tippte seinen Freund an, der nur ein verpenntes Schnarchen von sich gab und sich ansonsten nicht rührte.

Oder sich nicht gerührt hätte, wäre ihm nicht in dem Moment ein Stück Kreide an den Kopf geflogen.

„Puran Lyra!“ kreischte Frau Kalih vorne, „Und Kannar Chipo, was feiert ihr denn da wieder?! Wieso schläfst du, und wieso redest du mit dir selbst, Kannar?!“

„Was, wie wo!“ schrak Puran hoch und raufte sich die Haare, „Ja, genau, ich hab zugehört, Frau Kalih! Es waren die Zuyyaner!“

Alle schwiegen und starrten ihn an, einschließlich Kannar, der eben noch wild gestikuliert hatte und jetzt wie erfroren inne hielt.

„Wie bitte?“ machte die Lehrerin vorne bedeppert.

„Die Zuyyaner, die haben die Raumschiffe erfunden!“

„Natürlich haben sie das!“ Frau Kalih hustete, „Aber wir machen jetzt Mathe!“ Die Klasse lachte schallend über den lustigen Zwischenfall. Puran kratzte sich völlig blöd am Kopf und sah auf die Tafel.

„Was? Du liebe Güte, als ich eingeschlafen bin, hatten wir aber noch Geschichte!“ Jetzt brüllte die Klasse vor Lachen und, Kannar glaubte es kaum, selbst Ram Derran vorne musste bedeppert grinsen. Dabei grinste der eigentlich nie.

„Ja, genau, du mich auch,“ sagte die Lehrerin vorne, „Nachsitzen, Puran, und noch mal so ein Spruch und du sitzt einen ganzen Sonntag nach!“

„Aber ist doch wahr…“ nuschelte der Junge verlegen und räusperte sich, während er versuchte, seine wuscheligen Haare etwas zu richten. Kannar zerrte an seinem Ärmel.

„Hey, äh, ich habe versucht, deinen Traum logisch zu überdenken, aber es geht einfach nicht!“ erzählte er, „Du träumst total den Unsinn!“

„Eben hatte ich aber einen lustigen Traum,“ kicherte sein Freund nur, „Ich hab von Travi geträumt, der wie ein Karnickel hinter einem Stück Brot her galoppiert ist, aber das Brot war schneller als er und hat ihn ausgelacht…“ Kannar prustete.

„Das will ich auch sehen! – Apropos Karnickel, wir müssen dringend öfter zusammen jagen, wenn du dauernd mit deinem Vater alleine übst, bist du ja viel toller als Travi und ich, du elender Verräter…“

„Himmel, Arsch und Zwirn!“ schnaubte die Lehrerin jetzt wieder, und beide Jungen bekamen noch ein Stück Kreide an den Kopf. „Ruhe jetzt! Kannar darf mit nachsitzen! – Wieso sitzt du überhaupt auf dem falschen Platz?!“
 

„Die Frau ist so grausam,“ stöhnte Kannar in der Pause und kratzte sich am Kopf, „Ich sollte zu Hause die Regel einführen, wenn ich nachsitzen muss, bekomme ich zur Entschädigung Taschengeld, das wäre toll… leider wird mein Alter das nie erlauben!“

„Ach, du kriegst nur kein Taschengeld, ich bekomme Schläge!“ jammerte Puran, „Und meine Mutter kann eine Furie sein, wenn sie wütend ist!“ Kannar seufzte und sah über den schneebedeckten Hof, auf dem die Kinder tobten und johlten. Mabi und sein Kumpel ärgerten wieder kleine Kinder aus der ersten Klasse. Puran und Kannar beobachteten verblüfft, wie ein kleines Mädchen empört einen Schneeball nach Mabi warf und ihn mitten im Gesicht traf, worauf die beiden Jungen auf der Mauer in schallendes Gelächter ausbrachen. Selbst Mabis Kumpel lachte bedeppert, als sein Freund voller Schnee am Boden lag und fluchte.

„Hast du sein Gesicht gesehen?!“ grölte Kannar, „Dieser Vollarsch! Gebt es ihm, Mädels!“ Er lachte sich halb tot und Puran gluckste, obwohl er zum Lachen an sich zu müde war. Er hasste diese Träume…

Kannar fiel etwas ein.

„Sag mal, wie läuft es eigentlich mit deinem Zauberunterricht da? Bei uns ist es lustig im Kurs, langweilst du dich nicht alleine?“ Der Junge seufzte.

„Nein, also – ich übe ja, da hab ich viel zu tun… ich übe jetzt den letzten Zauber, Katura.“ Kannar hustete.

„Was?! Du kannst alle anderen also schon?! Mach mal was vor!“

„Vergiss es,“ murrte der Braunhaarige grimmig, „Ich tue das nicht öfter als nötig.“

„Aber wie willst du beweisen, dass du es kannst?“ schmollte sein Freund, „Vielleicht bist du dumm und kannst es nicht wie Ram Derran!“

„Wie jetzt, wieso der?“ Kannar kicherte.

„Na, weil er absolut total untalentiert darin ist, das glaubst du gar nicht, er kann immer noch nicht richtig Vaira! Geschweige denn irgendwas anderes, der kann gar nichts! Ich weiß, es ist nicht nett, darüber zu lachen, er ärgert sich bestimmt selbst total, aber… das ist echt… das ist total albern! Der könnte nicht mal ein Streichholz anzünden! Aber ich hab gehört, das ist so in seiner Familie, seine beiden großen Schwestern konnten auch nichts, hat man mir gesagt. Und egal, wie viel die üben, die schaffen es einfach nicht, es geht einfach nicht. Voll komisch, oder?“

„Ich würde sehr gerne mit Ram tauschen!“ stöhnte Puran, „Dann hätte ich die perfekte Ausrede, um niemals zaubern zu müssen!“ Er hob den Kopf und erblickte den schwarzhaarigen Jungen plötzlich, der genau auf sie beide zu kam. „Oh-oh, wenn man des Aasgeiers Namen sagt… er hat dich sicher gehört und vermöbelt dich jetzt, Kannar.“

„Wie?!“ Der Heiler sprang auf, „Du beschützt mich mit deinen Zaubern!“

„Vergiss es!“

In dem Moment kam Ram schnaubend bei ihnen an. Er stemmte die Arme in die Hüften und zu Kannars Erleichterung war sein Lästern nicht der Grund seines Kommens, weil er den Heiler komplett ignorierte.

„Wie ich höre, bringt dein verlogener Vater dir jagen bei?“ begann er arrogant und verengte grimmig die Augen, auf Puran sehend, der sich darauf zu voller Größe aufrichtete. Ram war einige Zoll größer als er, aber nicht mehr so viele wie früher.

„Wie kannst du es wagen, so von ihm zu sprechen, mein Vater ist kein Lügner!“ rief er erbost, „Dreckiger Bastard!“ Ram ließ das kalt.

„Natürlich ist er verlogen, wie der Rest eurer Drecksfamilie, wir ihr Lästerungen des Lebens eben seid, ihr Lyras! Na, bringt er dir auch bei, anderen die Beute wegzunehmen, wie sich das bei euch gehört?“ Er kicherte kaltblütig und kam sich offenbar sehr überlegen vor; nach dem nächsten Satz wusste Puran, wieso. „Schon mal ein Reh geklaut? Ja? Macht Spaß, was? Streng dich ruhig an, du wirst mich im Jagen sicherlich nicht schlagen!“ Er spuckte Puran vor die Füße, „Du würdest dir ja deine seidenen Hemden ruinieren und deine Pfirsichhaut dreckig machen, edler Prinz…“ Ehe er sich versah, trat der Jüngere ihm wutentbrannt gegen das Bein, worauf Ram zischte und Kannar hustete.

„Das wagst du nie wieder, Derran!“ fauchte Puran wütend, „Meine Familie hat dir nie etwas getan, du hast kein Recht, so zu sprechen, und tust du es noch einmal, polier ich dir dermaßen deine dreckige Fresse, dass du nicht mehr Himmel von Erde unterscheiden kannst!“ Er schnappte zornig nach Luft nach seinem Emotionsausbruch, Kannar erbleichte und Ram Derran rieb sich stöhnend das Bein, sah aber grimmig zu ihm herüber. Puran dachte an das Reh. Das tote Reh, das ihn immer noch in seinen Träumen heimsuchte, dessen Rätsel er einfach nicht begriff. Er sah es vor sich, wie es ihn anstarrte aus seinen toten Augen, und der Junge schauderte.

Renn, Junge, bis ans Ende der Welt… du fängst mich nicht!
 

Der Junge riss den Kopf wieder hoch und starrte Ram Derran finster an.

„Wollen wir wetten?“ schnarrte er kalt, „Ich mache dir einen Vorschlag. Wir machen einen Wettkampf und wer zuerst was erlegt hat halt gewonnen! Und wenn ich gewinne, sagst du mir ein für allemal, was du für ein Problem mit mir und Rehen hast, Ram!“ Ram zog eine Braue hoch.

„Ein Wettstreit im Jagen?“ wiederholte er vorsichtshalber, „Pff, wieso nicht, aber hey, was bekomme ich, wenn ich gewinne?“ Puran blinzelte.

„Was weiß ich, was du willst!“

„Darf ich dir dann die Fresse polieren, bis du nicht mehr Himmel von Erde unterscheiden kannst?“ grinste er zufrieden

„Mach, was du willst, du wirst nicht gewinnen!“

„Große Klappe hast du, Puran,“ feixte der Ältere, „Dann komm, wenn du dich traust!“ Er wollte schon los, da hielt Puran ihn entsetzt am Arm fest.

„Was, jetzt?! Der Unterricht ist noch nicht vorbei, wir können doch jetzt nicht Gahti verlassen!“ Ram brummte.

„Hast du Schiss?“ Das war sein einziger Kommentar, ehe er davon lief in Richtung Mauer des Schulhofes. An der einen Ecke stand ein Baum an der Mauer, an dem man bequem hinauf klettern und über die Mauer vom Schulgelände verschwinden konnte…
 

Puran fragte sich, ob sie beide von der Schule geschmissen würden, weil sie einfach in der Pause abhauten und das Dorf verließen. Außerdem war es eiskalt, als die beiden kleinen Jungen die Straße nach Osten verließen und quer feldein durch den Schnee stapften. Unterwegs sammelte der Ältere völlig selbstverständlich einen Stock und einen länglichen Stein auf, ohne sein Tun zu erklären, und verblüfft erkannte Puran bei näherem Hinsehen, dass er sich daraus einen Speer bastelte.

„Na, ob der funktioniert auf die Schnelle?“ spottete er, und Ram Derran schnaubte.

„Na, du hast ja eine Ahnung! Wie willst du denn ohne Speer schneller sein als ich, du Anfänger? Natürlich ist es kein guter Speer, aber immerhin besser als nichts und der Stein wird seine Arbeit leisten!“ Mit diesen Worten schlug er den länglichen Stein auf einen Felsbrocken, der aus dem Schnee ragte, und das schwarze Ding zerbrach an der Ecke und hatte jetzt eine scharfe Spitze. Puran starrte Ram fasziniert an, während der seelenruhig weiter stapfte und dabei seinen Pseudospeer baute. Ja… das war wahr, ohne Speer jagte es sich schlecht. Er hob das abgebrochene Stück Obsidian vom Boden auf, das Ram zurückgelassen hatte, und betrachtete die scharfe Kante etwas resigniert. Toll, mit so einem kleinen Steinchen konnte er doch keine Speerspitze machen… und wie wollte er das überhaupt an einem Schaft befestigen?

Er sah verwundert zu Ram, der stehen geblieben war und eine Schnur von seinem Hosenbein pulte, die den Stoff um sein Bein gehalten hatte. Mit ein wenig Geduld band er den scharfen, spitzen Stein damit an den Stock, den er vorher eine Weile mit einem Messer bearbeitet hatte, das er bei sich trug.

„Siehst du, du Trottel?“ höhnte er dann und zeigte Puran seinen kleinen Speer, „Er sieht absolut scheiße aus, aber er wird funktionieren.“

„Warten wir es ab, du Angeber!“

„Wer ist hier der Angeber?“ Der Schwarzhaarige pustete sich ein paar zu lange Haarsträhnen aus dem Gesicht, „Wer fackelt bei der ersten Stunde gleich den halben Übungsraum ab, weil er ja auch so toll zaubern kann…? Natürlich, du bist ja ein Lyra, du musstest ja übertreiben.“ Puran spuckte ihm vor die Füße.

„Lass das! Das war doch keine Absicht, du Mistkerl!“

„Natürlich nicht, du wolltest nur zeigen, wie toll du bist!“ spottete der Ältere grantig, und Puran wollte ihn wütend anbrüllen, wurde aber plötzlich zurück geschubst. „Sei ruhig, du Pappnase, sonst verjagst du die ganzen Viecher, du Idiot! Das erste, was uns über den Weg läuft, schnappe ich mir… du kannst sehen, wo du bleibst!“

Das gesagt drehte sich der Junge wieder um und kauerte sich an den Rand eines verkrüppelten, immergrünen Busches in den Schnee. Puran senkte feindselig die Augenbrauen, ehe er sich schweigend neben ihn hockte und dabei verärgert an seinem Speer bastelte, der nicht mal halb so schön aussah wie Rams. Außerdem hatte er keine Schnur an der Hose. Nach etwas Überlegen zog er seinen Mantel aus und riss den unteren Saum seines Hemdes ab, um ihn als Schnur zu benutzen.

„Was machst du da überhaupt?“ knurrte Ram Derran ihn an, „Wieso hockst du bei mir?!“

„Wenn du was siehst, erleg ich es vor dir, ganz einfach,“ behauptete der Braunhaarige bissig, ehe er den hässlichen Nichtspeer in seiner Hand betrachtete. Der ältere verkniff sich ein lachen, um leise zu sein.

Damit willst du mich schlagen? Furchteinflößend, Lyra.“

„Halt dein Maul.“
 

Winter war keine gute Jahreszeit zum Jagen. Puran fragte ich, ob sie wohl bis zur Dämmerung hier sitzen würden, aber Ram war ganz still und starrte in die Ferne, er bewegte sich nicht, als wäre er erfroren, während er kleinere nach einer längeren Zeit unruhig wurde.

„Hier kommt nichts vorbei!“ flüsterte er entrüstet, „Eher frieren wir hier fest, meine Füße sind schon tot!“

„Halt‘s Maul!“ zischte Ram ihn an und machte dabei kaum einen Ton. Der Jüngere murrte und schlang zitternd die Arme um seinen schlanken Oberkörper. Er könnte auch seinen Mantel wieder anziehen… aber der würde ihn beim Rennen behindern, deswegen war das keine gute Idee.

Er dachte an seinen Traum, an das Reh und an die Geister, die ihn verspotteten, wenn er schlief.

Dein Weg ist versperrt. Du kannst nicht davonlaufen vor dem Ende der Welt, sagte das Reh zu ihm, als er bebend die Augen schloss, und er atmete keuchend aus.

Ich will… gar nicht ans Ende der Welt!

Als er die Augen öffnete, sprang Ram wie vom Floh gebissen auf die Beine und stürzte vorwärts, ohne etwas zu sagen. Puran registrierte erst, als er wieder ganz bei sich war, dass am Rand der Welt, so sah es aus, ein Eichhörnchen davon huschte, das offenbar im Schnee nach Nüssen gegraben hatte. Puran konnte gar nicht so schnell denken, wie Ram plötzlich weg war, dann japste er und rannte ihm so schnell er nur konnte nach.

„Sag doch was, du Idiot!“ nölte er und bemühte sich nach Kräften, Ram einzuholen, aber der Schwarzhaarige war verdammt schnell. Ram antwortete nicht und hetzte dem Eichhörnchen nach, das aber noch schneller war als die Jungen und durch den Schnee sauste, bis der ältere Junge seinen kleinen Speer nach vorne schleuderte, direkt auf das Tier zu. Puran keuchte und hatte das Gefühl, zu ersticken, während er vom schnellen rennen Seitenstiche bekam.

Verdammt – ich will diese verdammte Antwort, ich will dieses verdammte Eichhörnchen! Du schlägst mich nicht, Ram, vergiss es!

Ehe er darüber nachdachte, was er tat, riss er den Arm nach vorne in dem Moment, in dem er Ram fast eingeholt und Ram seinen Speer geworfen hatte. Es passierte alles auf einmal, als mit einem kurzen Krachen ein greller Blitz aus Purans Hand schoss.

„Katura!“

Ram fuhr in diesem Moment zu ihm herum, als der Windzauber seinen Speer noch im Flug zerbersten ließ und danach das Eichhörnchen traf. Das Tier war schneller tot als es hätte quieken können, obwohl jetzt Blut den Schnee besudelte, war es kurz und schmerzlos gewesen.
 

Die Jungen blieben keuchend bei der erlegten Beute stehen. Von Rams Speer waren nur noch Splitter übrig, selbst den Obsidian hatte er zerschmettert. Fassungslos starrte der Ältere auf die Bruchstücke.

„W-was zum-…?!“ japste er dabei erbleichend, dann fuhr er herum und stierte Puran an.“Du hast geschummelt, du Sack! Das zählt nicht!“

„Wieso, wir haben nicht vorher abgemacht, dass ich nicht zaubern darf!“ empörte Puran sich, „Ich war schneller als du, gestehe dir deine Niederlage ein, Ram!“

„Hättest du fair gespielt, hätte ich eindeutig gewonnen!“ rief der andere wütend, „Zaubern zählt nicht! Du hast nicht gewonnen!“

„Du bist aber ein übler Verlierer,“ Der Jüngere rümpfte beleidigt die Nase, „Kannst es wohl nicht haben, wenn jemand besser ist! Verlierer!“ Er sprach ohne vorher zu denken – und er bereute seine Großkotzigkeit einen Moment später, als er plötzlich Rams Faust im Gesicht hatte und mit einem brennenden Schmerz im Gesicht keuchend zu Boden stürzte. Ram sprang über ihn und packte ihn wütend brüllend am Kragen.

„Sieh mich an, du Schummler, du dreckiger, kleiner Arschpenner! Mich nennst du Verlierer, nur, weil du zu dumm bist, einen Speer zu machen! Ja, gefällt dir gut, anderen die Beute wegzunehmen, nicht?! Du bist genauso ein mieser Scheißkerl wie alle anderen deiner dreckigen Inzestfamilie!“

Das reichte.

Mit einem plötzlichen, irren Kraftaufwand schleuderte Puran den Größeren von sich herunter und schlug ihm wutentbrannt in den Magen. Als Ram aufschrie und sich krümmte, trat er ihm noch gegen die Beine und stieß ihn wütend zu Boden in den Schnee.

„Du wagst es niemals wieder, so über meine Familie zu sprechen, du wahnsinniger, abartiger Drecksköter!“ schrie er laut, „Wir haben dir nie was getan, du mieser Bastard! Und meine Familie macht keinen Inzest!“

„Und wieso sind dann fast alle deiner Vorfahren plemplem im Kopf gewesen?! Dein bescheuerter Großvater zum Beispiel, der uns fast alle umgebracht hätte?! Und ich hab mir sagen lassen, dem seine Großtante war nicht besser als er, willst du wissen, was die gemacht hat?!“

„Ist mir egal, aus deinem Mund kommen nur scheußliche Lügen!“ schrie Puran und schlug ihm wütend ins Gesicht, worauf Ram aufsprang und sich abermals auf ihn stürzte. Sich raufend und schlagend rollten die Jungen fluchend durch den nassen Schnee.

„Man erzählt, sie soll Sklaven gehalten, gefoltert und lebendig gehäutet haben, nur so zum Spaß, um ihre eigenen, perversen Notgeilheiten zu befriedigen oder so! Dein Stammbaum ist ein blöder Kreis und ihr seid Lästerungen des Lebens!“ brüllte Ram, während er dem Kleineren noch drei mal mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Puran hustete und spuckte Blut, als er sich auf den Bauch rollte und stöhnend nach seinem höllisch schmerzenden Kiefer griff. Irgendwas blutete heftig in seinem Mund und er schmeckte den widerlichen Geschmack des Lebenssaftes, als Ram ihn wieder herum zerrte und ihm so heftig wieder ins Gesicht schlug, dass er beinahe ohnmächtig geworden wäre vor Schmerzen. Stöhnend rappelte er sich auf und stierte seinen Gegner wutentbrannt zischend an.

„Du wagst es… so dreckig von meiner… Familie zu reden, die du… gar nicht kennst! Ich habe meinen Großvater gehasst, wage es nicht, mich mit ihm in einem Atemzug zu erwähnen, mit diesem abscheulichen Monster!“

Ram lachte schallend.

„Ach, tatsächlich?! Ihn nennst du Monster, sieh dich doch selbst an! Du bist genauso ein Bastard wie er und alle anderen deiner abscheulichen Ahnen!“

„Sag das nicht noch mal!“ brüllte Puran zornig, ehe er auf die Beine schnellte und den Älteren so unverhofft wieder schlug, dass der zu Boden stolperte. Ehe er sich hätte aufrichten können, holte der Kleine mit dem Fuß aus und trat ihm dann mit solcher Wucht gegen den Arm, dass es mit einem Mal laut knackte und Ram darauf einen so gellenden, grausamen Schrei ausstieß, dass Puran in der Bewegung erstarrte. Zitternd sah er herunter auf den anderen Jungen, der da mit blutender Nase und aufgeplatzten Lippen im Schnee lag. Sein Arm war ungesund verrenkt und sah nicht aus, als wäre er so, wie er gehörte. Der Junge schrie immer noch wie am Spieß und fasste bebend und heulend vor Schmerz nach seinem Arm, den er nicht mehr bewegen konnte.

„I-ich… hab auch noch Beine, Lyra!“ brüllte er dann verzweifelt und trat nach Puran. Der Jüngere war so entsetzt über den Arm, dass er ihn sogar traf und ebenfalls zu Boden stieß. Und er trat wütend schreiend weiter nach ihm und hörte gar nicht damit auf, so lange, bis plötzlich aus der Ferne ein schrilles Schreien ertönte. Dann wurden beide Jungen von einer unsichtbaren Macht ergriffen, in die Luft gerissen und weit voneinander entfernt wieder auf den Boden geworfen, worauf beide erneut schrien und Puran Blut spuckte.

Dann waren die Direktorin der Schule, Nalani und ein verwirrter, blonder Mann bei ihnen.
 

Puran fragte sich, wie oft er im Zimmer der Direktorin gelandet war – und meistens wegen Ram Derran. Einmal wieder saß er da mit einem Taschentuch im Mund, das das Blut aufsaugte. Diese verdammte Schlägerei hatte ihn einen Zahn gekostet, großartig.

Aber der andere war mit seinem gebrochenen Arm auch nicht besser dran. Gerade kümmerte sich eine Heilerin um den Knochenbruch, während Ram so leise wie möglich wimmerte, um stark zu wirken.

Die Direktorin war wutentbrannt.

„Ich werde euch beide von der Schule verweisen!“ schrillte sie, „Einfach so das Schulgelände zu verlassen! Frau Kalih und ich haben euch überall gesucht, bis wir mal auf die Idee kamen, dass ihr aus Gahti verschwunden seid! Zum Glück waren eure Fußspuren jenseits der Straße leicht zu finden im Schnee, ihr hättet euch ansonsten ja tot geprügelt! Ihr seid in der vierten Klasse, ich hätte mehr Verantwortungsbewusstsein und erwachsenes Benehmen von euch erwartet, ich bin nicht nur maßlos enttäuscht – nein, ich bin fuchsteufelswild!“

„Es tut mir furchtbar leid,“ sagte Nalani kalt, „Ich habe garantiert, so etwas käme nicht mehr vor, ich glaube, mein Sohn hat sich die Ohren schlecht gewaschen. Könnt Ihr Euch das mit dem Schulverweis nicht noch einmal überdenken-…?“

„Bei allem Respekt, Herrin, nein!“ schrie die Frau wütend, „Damit sich die beiden weiter prügeln und womöglich noch mal den Unterricht schwänzen?! Es reicht! Meine Geduld ist am Ende, bei euch beiden! Mit euch hat man nur Ärger, einer zerfetzt Schüler und verbrennt Wände, ein anderer verhaut alle, die ihn schief ansehen, wo soll das enden?! Mir ist egal, wo ihr zur Schule geht, hier wird es nicht sein!“

„Aber Frau Lehrerin…!“ machte auch der blonde Mann, offenbar Rams Vater, bedeppert, „Reicht nicht eine saftige Strafe, oder so? Sollen die Kinder dumm bleiben?“

„Dumm bleiben, pah! Die haben sich doch schon alle Hirnzellen aus den Köpfen geprügelt! Das ist mein letztes Wort, jetzt verlasst bitte das Gelände, ich will keinen von euch jemals wieder hier sehen!“ Damit zeigte die Direktorin zur Tür und ihr Gesicht wurde eiskalt. „Raus, aber zack.“
 

Das war eine furchtbare Nachricht. Beide Jungen schwiegen schuldbewusst, als sie mit ihren Elternteilen vor dem Schultor standen. Nalani würdigte Puran keines Blickes und verneigte sich vor Rams Vater.

„Ich entschuldige mich für das unmögliche Verhalten meines Kindes. Das war nicht recht und ich werde dafür sorgen, dass der Arm vernünftig geschient wird, damit er nicht schief zusammenwächst, sonst könnte Ram ihn vielleicht nie wieder benutzen.“ Ram erbleichte, sein Vater seufzte leise.

„Schon gut, ich muss mich bei Euch entschuldigen. Euer Sohn trägt die Schuld nicht alleine, meiner war nicht besser! Viel wichtiger ist doch, dass die Jungen wieder auf die Schule können.“ Die Schwarzmagierin war verwundert über diese Worte. Dieser Mann war kein bisschen zornig oder empört? Der lächelte einfach nur und dachte diplomatisch voraus?

Der blonde Mann hielt ihr eine Hand hin.

„Mein Name ist Chogan Derran, Herrin. Wir leben in dem kleinen Dorf Nehawa, ganz in der Nähe Eures Schlosses.“ Nalani nahm seine Hand nickend.

„Ah, dann weiß ich ja Bescheid. Nalani Lyra.“

„Ich weiß,“ grinste er, und sie runzelte die Stirn.

„Bitte?“

„Ich meine, ich weiß, dass Ihr Nalani Lyra seid, Ihr seid die Schamanenkönigin.“ Nalani räusperte sich. Das wussten selbst die Dorfbauern? Das war irgendwie unangenehm, sie nickte aber.

„Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, kümmere ich mich um die Schule,“ sagte sie, „Ich werde dafür sorgen, dass beide Jungen weiter hingehen dürfen. Als Entschädigung sozusagen.“ Puran sagte nichts und senkte nur bitter den Kopf. Und was, wenn er gar nicht mehr auf diese blöde Schule wollte…?
 

Als Nalani mit dem zerschundenen Kind nach Hause kam, war Tabari daheim. Was sie verwunderte.

„Was machst du denn hier?“ begrüßte sie ihren Mann, während aus der Küche Sukutai gelaufen kam und bei Purans malträtiertem Gesicht erst einmal markerschütternd schrie.

„Das arme Kind, um Himmels Willen, was ist dir denn geschehen?! Komm mal her, das sieht ja scheußlich aus, deine Nase ist ja ganz krumm! Du liebe Zeit, kannst du überhaupt gucken…?!“

„Die doofe Heilerin in der Schule hatte keine Zeit mehr, alles heil zu machen, weil die Direktorin uns rausgeschmissen hat,“ sagte Puran dumpf, als seine Tante jammernd nach seinem Gesicht griff. Hinter ihrem Rock tauchte die kleine Alona auf.

„Die Nase muss amputiert werden,“ erklärte sie todernst, und Puran starrte sie an.

„Was muss die?! Ampu-wie bitte?! Was kennst du denn für Worte?!“

„Amputieren heißt abmachen, du hohler Vogel!“

„Pfui, Alona!“ schimpfte Sukutai mit ihr und gab ihr einen sanften Klaps auf den Hinterkopf, „Sag sowas garstiges nicht zu deinem Cousin! Am besten, wir stecken dich erst mal in die Wanne, damit du den Dreck und das Blut los wirst, ist ja grauenhaft.“

„Amputiert ihr sie dann, Mutti?“

„Ach, pfui!“ empörte Sukutai sich abermals und erhob sich, dann zog sie Alona mit sich zur Treppe. „Dich baden wir gleich mit!“ Mit den Kindern im Schlepptau ging sie hinauf und wies eine Dienerin an, Wasser für die Wanne zu holen.

Währenddessen hatte sich Nalani mit ihrem Mann beschäftigt.

„Wieso bist du hier und nicht in Tuhuli, um deinen Papierkram zu machen?“ fragte sie, und Tabari jammerte und raufte sich die Haare.

„Ich kann das nicht, ich verliere den Verstand da oben und meine verfluchte Mutter kehrt mir jetzt den Rücken, ich beschimpfe sie schon den ganzen Tag lang übelst, wie kann sie mir sowas antun und mich im Stich lassen mit der Arbeit?! Sie weiß genau, dass ich ohne sie verloren bin da!“

„Wie bitte, was macht sie denn, wo ist sie denn?“ wunderte sich seine Frau, und er schnaubte empört.

„Was weiß ich, mit ihrem besten Freund Tee trinken vielleicht! Sie ist einfach heute Mittag aufgestanden und gegangen, dabei hat sie gesagt, sie macht das jetzt nicht mehr und ich solle das alleine machen, d-die hat sie ja nicht mehr alle, die alte Schachtel!“ Er regte sich richtig auf und schimpfte über Salihah, „Ich meine, sie ist doch meine Mutter, sie muss doch dafür sorgen, dass ich fertig werde…!“

„Halt mal die Luft an, du bist da in einer ganz gefährlichen Richtung,“ fiel Nalani ihm ins Wort, „Sie ist deine Mutter, nicht deine Dienstmagd, du bist echt alt genug, das alleine geregelt zu bekommen, oder? Salihah hätte das längst tun sollen, du fauler Sack, du hast nur keine Lust, es zu lernen, du bist doch nicht zu dumm dafür!“

„Ich glaube doch, dass ich zu dumm bin!“ meckerte er, „Ich fühle mich maßlos überfordert, das ist… ist doch scheiße!“ Nalani schnaubte und rümpfte die Nase, ehe sie ihm mehr oder weniger sanft an den Haaren zog. „Au!“

„Ich sag ja, fauler Sack!“ kommentierte sie sein Gemaule, „Wenn du deine grauen Zellen etwas anstrengst, ist die Kreisverwaltung gar nicht so schwer, Tabari.“ Damit war das Thema für sie erledigt und sie schritt an ihm vorbei, um ihren Mantel an die Garderobe zu hängen. Tabari fuhr herum und schnaubte.

„Wenn du mir nicht in den Jahren alle grauen Zellen aus dem Gehirn geprügelt hast, ja!“ zischte er angesäuert. Seine Frau seufzte.

„Salihah ist also nicht hier? Das ist bedauerlich, ich könnte nämlich gebrauchen, oder besser ihre Hilfe, nachdem dein Sohn sich heute von der Schule geprügelt hat.“ Der Blonde erstarrte.

„Wie – wie meinst du das?“

„Na, er und der Derran-Junge wurden der Schule verwiesen, weil sie sich wieder gehauen haben. Und meine Aufgabe ist, das rückgängig zu machen.“

„Und… was brauchst du dafür meine Mutter?“ fragte er verpeilt. Nalani sah ihn ungläubig an. Dann lächelte sie kalt.

„Tabari,“ flötete sie lauernd, „Deine Mutter ist die Seherin. Und nicht nur das, sie ist eine Tochter der Ekalas. Und wenn diese alten Bücher und Schriften ihrer Ahnen nicht lügen, kann sie Dinge, die andere Telepathen-Clans nicht können.“
 

Puran zuckte zusammen.

„Aua, nicht so doll!“ Seine Tante seufzte und ließ von seiner Nase ab.

„Ich bin keine Heilerin, mehr als mit dem Heilzauber Lira an dir herumdoktern kann ich nicht tun, da werdet ihr noch mal nach Tuhuli müssen. Ich versuche nur, alles kleinere schon mal zu heilen. Halt still, das ist unangenehm, muss aber sein.“ Er murrte und zuckte wieder, als ihre Hände nach seinem Gesicht griffen. Obwohl sie ganz vorsichtig war, tat es weh. Alona, die mit ihm in der Badewanne saß, war keine große Hilfe.

„Ich sag ja, wir amputieren deine Nase.“

„Was hast du immer mit deinem amputieren?! – Aua!“

„Halt still!“ empörte Sukutai sich, als der Junge Wasser auf seine kleine Cousine spritzte, die darauf spuckte und hustete.

„Mutti, Puran spritzt mich mit Wasser nass!“

„Weil du immer von amputieren redest, so toll ist das Wort nun auch wieder nicht!“ schmollte Puran, „Ich sollte dir die Zunge amputieren…“

„Kannst du gar nicht!“ johlte das kleine Mädchen und hielt sich den Mund zu, „Weil ich nämlich zu halte!“

„Ja, ja!“ Als seine Tante endlich sein Gesicht in Ruhe ließ, murrte er nur, während Sukutai zur Tür ging.

„Ich komme gleich zurück, bleibt da drin sitzen und seid artig! Du auch, Alonachen, hörst du?“ Die Kinder erwiderten nichts, und als die Frau die Badezimmertür geschlossen hatte, fingen sie an, sich gegenseitig nass zu spritzen.

„Man soll nicht Ja, ja sagen!“ behauptete Alona frech, und ihr Cousin zwickte ihr in den Bauch.

„Halt die Klappe, du Baby!“

„Ich bin kein Baby mehr, ich werde im Sommermond sechs!“

„Du hast aber noch voll viel Babyspeck am Bauch,“ spottete er, „Du bist eine richtige pummelige Kuh!“

„Dafür muss deine Nase amputiert werden!“

„Und dir deine Zunge, Alona!“

„Ich amputiere dir Arme, Beine und den Kopf zugleich!“ setzte sie entgegen, und Puran schob ihr eine große Welle Wasser ins Gesicht, sodass sie hustete und jammerte.

„Und ich dir deinen Speckbauch, tss!“ Sie setzte noch einen drauf:

„Ich amputier‘ dir dein Dinglein, dann bist du ein Mädchen, ätsch!“ Er errötete.

„Wie schmutzig! Ich bin voll ehrbar und so, ich habe gruselige Träume und kann besser zaubern als du, du musst Respekt vor mir haben!“ Darauf fiel ihr nichts mehr ein und sie spritzte laut johlend mit Wasser um sich, während ihn die Gedanken an seine Träume verbiesterten.

Er hatte die Antwort immer noch nicht; was immer dieses Reh mit Ram zu tun hatte, vermutlich war es der Grund, wieso der Schwarzhaarige ihn so abgrundtief hasste, obwohl er ihm nie etwas getan hatte; zumindest nicht bewusst. Was, wenn die Geister in seinem Namen Dinge taten, während er schlief, oder so? Das wäre entsetzlich!

Er ignorierte Alonas Gespritzte und drehte keuchend den schmerzenden Kopf zur Seite, als ihm bei dem Gedanken an die schauderhaften Alpträume schwindelte. Er war müde… schon seit Tagen war er müde, weil er kaum schlief wegen der Träume. Selbst am Sonntag, wo keine Schule war, kam er kaum zum Schlafen. Und jetzt war auch noch Vollmond; bei Vollmond schliefen viele Menschen schlecht, hatte seine Mutter ihm einmal erklärt. Er dachte an den blauen Mond Zuyya. Wenn auf Tharr Vollmond war, hieß das, dass man den Mond Ghia so gut wie gar nicht sah, dafür aber den Mond Zuyya, der klein und blau war, als runde Kugel am Nachthimmel. Zuyya war ihm gruselig. Er konnte sich nicht erklären wieso, aber irgendwie hatte er immer ein ungutes Gefühl, wenn er den kalt blau schimmernden Mond ansah. Er war wie ein bösartiges Auge von Vater Himmel, das wachsam auf ihn herunter starrte und keinen klitzekleinen Fehltritt der Menschheit verpassen würde…
 

Die Nacht war schlecht.

Es war eine schlechte Unruhe, die sich über dem schwarzen Land aus Eis breit machte, eine schleichende, namenlose Bosheit, die nur auf die Gelegenheit lauerte, da zuzuschlagen, wo es keiner erwartete.

Zoras Chimalis stand beunruhigt auf der Veranda seines Anwesens und starrte in den dunklen Nachthimmel. Der runde, kalte Mond Zuyya erhellte die Nacht nur spärlich, und es war ein schauderhaftes Licht, das statt Hoffnung zu geben eher Hoffnung stahl, so hatte er das Gefühl. Der Mann seufzte resigniert bei den Gedanken an die dunklen Vorahnungen, die ihn Nacht für Nacht heimsuchten. Und es wurde jede Nacht schlimmer; schlimmer, ja, aber nicht deutlicher.

„Es ist zum verrückt werden,“ murmelte er, „Was immer es ist, es ist kein gutes Zeichen. Und ich habe naiverweise eine Weile geglaubt, mit Kelar würde alles Übel aus dieser Welt verschwinden…“ Er stockte und drehte verstohlen den Blick nach hinten zurück ins Teezimmer, an das die Veranda angrenzte. Im Teezimmer saß seine Geliebte auf dem Kanapee. Sie trank zwar keinen Tee, sondern Rotwein, aber sie hob jetzt kühl den hübschen Kopf in seine Richtung.

„Was guckst du?“ fragte sie blöd. Er räusperte sich.

„Ich… nun ja, ich komme mir scheußlich vor, wenn ich vor deiner Nase so über Kelar herziehe, immerhin war er dein Mann und-… er hatte Gutes in sich. Es ist nicht gerecht, wenn ich ihm alles Unheil der letzten Dekaden zuschiebe.“ Sie seufzte.

„Du redest Unsinn,“ war ihr Kommentar, „Wir beide wissen, dass Kelar am Ende kein guter Mensch mehr war. Einst war gutes in ihm, das weiß ich wohl von allen am besten. Aber… es gibt so viele Dinge, die ihn kaputt gemacht haben. Und ich denke, ich selbst bin auch nicht unschuldig daran. Ich habe seine Wahnsinnsgeister kontrolliert, aber ich habe sie gleichzeitig auch geschürt, ohne es zu beabsichtigen.“ Er seufzte und drehte den Kopf wieder von ihr weg in die kalte Nacht. Es war der Vollmond des Neujahrsmondes; wenn sie Glück hatten, fing in ein bis zwei Monden der Frühling an. Sie beide schwiegen, bis Salihah ihr Glas ausgetrunken hatte und sich in den Türrahmen hinter ihn stellte. Die eisige Luft kam von draußen herein und ließ sie für einen Moment erzittern.

„Es sind schlechte Zeichen, oder, Salihahchen?“ murmelte er betreten.

„Na, du bist doch der Geisterjäger von uns. Du solltest das sagen können, mein Lieber.“

„Aber das ist es ja… ich weiß, dass etwas Bösartiges da ist in meinen Träumen, ich weiß, dass es schlecht ist… aber ich weiß nicht, wieso und was die Träume von mir wollen. Es… gibt so vieles, das mir Sorgen macht.“ Er sah wieder zum bläulichen Mond. Das beklemmende Gefühl, das er seit Ewigkeiten hatte, wurde in der letzten Zeit immer grauenhafter. Es brachte ihn nachts um seinen Schlaf und tagsüber um seine sonstige Ruhe, Keisha war schon völlig genervt von seiner schlechten Laune. Die sollte mal den Mund halten, sie sah schließlich keine Todesvisionen, seit sie denken konnte.

Schlechte Ahnungen hatte Zoras Chimalis schon als Kind gehabt, immer waren seine Träume böse Träume gewesen. Seine Eltern hatten ihn irgendwann für einen Simulanten gehalten und ihm nicht mehr zugehört, was ihn zutiefst verärgert hatte. Sein Vater war etwas verpeilt und verblendet gewesen, er hatte gelacht und seinen Erstgeborenen paranoid genannt, als der mit kaum zehn Sommern den Tod des Vaters in Träumen gesehen hatte. Es war Krieg gewesen und es war durchaus möglich, dass Menschen dabei starben, vor allem, wo die paar Geisterjäger quasi in erster Reihe zu stehen hatten als beste Verteidiger des Landes. Zoras hatte seinen Eltern immer sehr übel genommen, dass sie ihn bescheuert nannten, weil er immer nur negative und schlechte Träume gehabt hatte, er hatte sich fast ein Jahr lang geweigert, seiner Bestimmung als Stammhalter des Clans nachzukommen, weil er nicht eingesehen gehabt hatte, den Alten nach ihrem Gemosere noch einen Gefallen zu tun. Und wäre er nicht irgendwo tief in seinem Inneren ein pietätvoller und nur etwas verletzter kleiner Junge gewesen, hätte er schallend gelacht, als sein Vater dann doch gestorben war, wie er es vorhergesehen hatte.

Immer nur böse Träume zu haben war kein Segen. Es machte einen über die Jahre verbittert und irgendwann nahm einen niemand mehr ernst; die einzige, die ihn immer ernst genommen hatte, war Salihah gewesen. Sie wusste alles besser und hatte daher auch immer gewusst, dass er die Wahrheit sprach und nicht nur simulierte. Das war einer der Gründe, weshalb er sich schon vor Jahren so zu ihr hingezogen gefühlt hatte. Salihah war eine seltsame, beeindruckende Frau. Sie konnte entsetzlich und grausam sein, aber sie hatte eine sehr zärtliche Seite an sich, die er schon immer sehr geschätzt hatte.

Als sie jetzt hinter ihn trat und das Kinn über seine Schulter reckte und er ihren heißen Atem an seinem Ohr spürte, erschauderte er kurz.

„Ich spüre es auch,“ flüsterte sie, „Diese Unruhe in meinem Inneren, wie ein lästiger Parasit ist sie in mir und lässt mich nicht mehr los. Und ich werde das Gefühl auch nicht los, dass wir… irgendetwas vergessen. Dass wir irgendetwas übersehen, etwas Wichtiges, das uns alle töten wird, weil wir es übersehen. Aber vor meinen Augen hängt ein tödlicher, dunkler Schleier… und ich bekomme ihn… da nicht weg.“ Als sie das sagte, senkte sie den Kopf und erntete einen ungläubigen Blick von ihrem Liebhaber. „Ich werde alt,“ lächelte sie, „Meine Augen sind wirklich schlecht geworden und was ich auch tue, ich kann nicht mehr das, was ich vor dreißig Jahren konnte. Liebe Güte, ich lebe schon beinahe fünf Jahrzehnte auf dieser Welt…“

Zoras drehte sich seufzend zu ihr um und strich ihr liebevoll über die Wange.

„Du… wirst, egal wie alt du bist oder was du kannst, für mich immer die Seherin sein.“ Sie lächelte erneut und gab ihm einen zärtlichen Kuss.

„Tabari sieht das nicht ein, aber ich versuche bereits, mich zurückzuziehen. Ich werde eine alte Frau, mein Sohn sieht das nicht so richtig ein, er war ganz schön sauer, weil ich ihn mit dem Papierkram alleine gelassen habe. Aber…“ Hier machte sie eine unsichere Pause, ehe sie den Kopf von ihrem Geliebten wegdrehte und murmelnd fortfuhr: „Er muss sehr bald lernen, ohne mich zurecht zu kommen, sonst ist es eines Tages zu spät.“ Zoras sagte nichts und streichelte ihr nur gedankenverloren durch die schwarzen, schönen Haare.

„Die Zukunft bringt Flammen und Schatten, meine hübsche Liebste…“
 

Er unterbrach seine Liebkosung, als er das Krähen eines Vogels hinter sich vernahm. Salihah schlang fröstelnd die Arme um ihren schlanken Körper.

„Lass uns rein gehen, am besten zu Bett,“ machte sie, „Mir ist eiskalt.“ Er antwortete nicht und sah vor dem fahlen Mond am Himmel eine schwarze Krähe flattern.

„Moment,“ machte er plötzlich kalt und streckte seinen Arm in den Himmel, bis der Vogel krächzend darauf landete und sich kurz aufplusterte. Salihah wartete, während der Mann den Vogel eine Weile still schweigend ansah.

„Was ist passiert?“ fragte sie dann knapp.

„Nichts,“ war die Antwort, „Das ist das Problem. Das ist ein Botschafter, den ich nach Denmor geschickt habe… dieser Heuchler ist immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Wenn wir Glück haben, ist er einfach nur tot und verrottet, aber ich habe ein… ganz ungutes Gefühl…“ Er streckte den Arm wieder aus und sprach zu der Krähe: „Geh! Suche diesen Mann, irgendwo wird er sich finden lassen, und wenn es seine Knochen sind!“ Der Vogel krähte und flatterte wieder davon, dabei hinterließ er mit seinen Füßen blutende Kratzer auf Zoras‘ Arm, und der keuchte kurz.

„Wie undankbar, das kleine Biest,“ kommentierte Salihah das, und Zoras blickte stumm auf die blutenden Wunden in seinem Arm.

„Nein, das… ist es nicht…“ murmelte er, hob eine Hand und wusch mit dem Wasserzauber Alara das Blut von seinem Arm, „Die schlechten Zeichen häufen sich… die Geister spielen bösartige Spielchen mit uns, Salihah…“
 

Salihah konnte das ungute Gefühl, das sie genauso bedrückte wie Zoras, erfolgreich verdrängen, als sie in der Nacht mit ihm das Bett teilte. Obwohl ihr heiß war, als sie auf ihm saß und sich mit ihm bewegte, waren ihre Finger eiskalt, die über seinen Bauch streichelte, und er fasste zärtlich nach ihren schönen, runden Hüften und seufzte.

„Entspann dich mal… du bist ja noch ernster als ich, Salihahchen, muss ich mir Sorgen machen?“ feixte er, und sie lehnte heftig atmend den Kopf in den Nacken.

„Mir geht es gut…“ Die Worte gingen in ein leises Stöhnen über und sie erzitterte am ganzen Körper ob der Hitzewelle, die sie erfasste, während sie in ihrem Rausch wie so oft an die Decke blickte und die Geister darunter herum huschen sehen konnte. Sie schauten finster und die Frau erschrak über die bösartigen Gesichter in dem Moment, in dem er sich mit ihr auf dem Schoß aufsetzte und mit beiden Armen ihren schlanken Oberkörper an seinen drückte, um ihre Brust zu küssen, in dem Moment, in dem das Feuer in ihrem Inneren sie zu verbrennen drohte. Als sie heftig keuchend den Kopf herunter riss und in Zoras‘ Gesicht starrte, waren ihre Augen nicht von dieser Welt. Sie hatten ein unheilvolles Funkeln und er keuchte ebenfalls, als sie plötzlich mit völlig belegter Stimme sprach.

„D-die Geister! Sie sprechen… sie sprechen von Tod und Verderben, aber ich kann nicht mehr verstehen…“ Er starrte sie bloß erschrocken an, als sie in seinen Armen erzitterte und sich dann tief seufzend an seine Brust lehnte, als die Welt um sie herum plötzlich finster war. „Ich kann… nichts sehen… wo bist du, Liebster?“

Er konnte noch immer nur starren, als ihr Keuchen sich allmählich ungesund anhörte, und als sie ihren Kopf taumelnd wieder anhob, stand in ihren Augen das Fieber.

„Salihah… ich bin genau vor dir…“ murmelte er, und sie griff keuchend nach seinen heißen Wangen, als ein tierischer Schmerz in ihrem Kopf sie fast ohnmächtig werden ließ.

„Aber es ist dunkel… die Geister starren mich von der Decke an und reden von Tod…“ Dann lehnte sie japsend wieder den Kopf in den Nacken, sodass er sie festhalten musste, damit sie nicht umkippte. „Mach… dass die Dunkelheit verschwindet…“
 

Salihah dachte, es wären Ewigkeiten vergangen, dabei waren es nur ein paar Momente gewesen, als sie wieder sehen konnte. Sie lag dicht an ihren Liebhaber gekuschelt in seinem Bett, die Geister waren verschwunden.

„Was ist passiert…?“ nuschelte sie benebelt und rieb sich die Augen, „Ich… bin eingeschlafen?“

„Du bist krank, das ist passiert,“ war seine Antwort, „Fühlst du dich besser? Du hast etwas Fieber…“ Er fühlte sanft ihre Stirn. Sie war wieder etwas abgekühlt, einen Moment hatte er echt Sorge um sie… so ging es öfter. Manchmal kehrten ihre ominösen Kopfschmerzen ohne Vorwarnung und in aller Heftigkeit zurück, dabei bekam sie oft zusätzlich Fieber. Salihah seufzte leise und schmiegte sich an seine nackte Brust.

„Entschuldige die Umstände…“

„Ach, Umstände, ich bin nur runter gerannt und habe Medizin geholt, war nicht weiter wild.“

„Wären wir mal in der Teestube geblieben, dann hättest du dir die Treppe gespart,“ feixte sie, und er musste lächeln. Sie teilten einen sehr zärtlichen, innigen Kuss, während dem sie sich näher an ihn heran zog. Ihre Hände streichelten über seine Seiten auf seine Oberschenkel und dann zu seinem Unterkörper, worauf er perplex die Luft einzog. „Was denn…?“ raunte sie leise, „Das eben war ja wohl nichts, dann eben noch mal, hm…?“

„In der Teestube ist keine gute Idee,“ räumte er leicht grinsend ein, ehe er sich vorsichtig über sie rollte und begann, mit der Zunge über ihre weiße Haut zu fahren. Sie zitterte. „Meoran hat angeordnet, solange Lehrlinge da sind, wird hier nichts Unanständiges außerhalb der Schlafzimmer getrieben, nicht, dass die armen, unschuldigen Jungs und Mädchen das mitkriegen… vermutlich ist der Junge traumatisiert, seit er uns damals in der Teestube erwischt hat…“ Sie gluckste und seufzte dann leise, als seine Finger ihre Brüste berührten und sie spürte, wie die Hitze zurückkehrte. Vorsichtig schlang sie bereits erregt die Beine um seinen Rumpf und drückte ihn zärtlich gegen ihren Körper.

„Macht sich der kleine Depp denn gut, den er unterrichtet?“

„Der Depp macht sich gut, Meoran muss noch lernen, sich durchzusetzen, der blöde Bengel nimmt dauernd Reißaus und wir dürfen durch die ganze Stadt rennen, um ihn wieder einzufangen, neulich hat Nomboh ihn in einem Bordell gefunden, wo er nackt auf einer Bühne tanzte!“

„Wer, Nomboh?“

„Was, nein, der Lehrling, Himmel…“ Sie stöhnte etwas lauter, als er mit den Küssen etwas tiefer wanderte, bis sie die Hände heftig keuchend in seinen schwarzen Haaren vergrub und sich stöhnend etwas durchbog.

„Ich sage es ja… es wird Zeit, dass die Jungs lernen, ohne uns zurechtzukommen… das gilt für Meoran genau so wie für Tabari…“
 

In der Nacht kehrte der böse Traum zurück, wie Puran es geahnt hatte. Er hasste Ahnungen, vor allem, weil sie meistens richtig waren. Jeder andere hätte sich über diese Gabe vermutlich gefreut, dachte er sich mitunter… aber er hasste es.

Er war anders, er war immer anders. Und er wollte nicht anders sein…

Der Flammenregen kam zurück und ergoss sich wie ein unheilschwangerer Dämon über die Welt, es war tödliches Feuer, das alles vernichtete, was es zu fassen bekam. Puran jagte in all dem Feuer dem Reh hinterher, gehetzt von dem kehligen Lachen seines Großvaters und seiner kalten Stimme, die schnarrte:

„Renn nur, renn, du kannst nicht deinem Schicksal entkommen! Du bist der Erbe des Lyra-Clans, Puran! Deswegen bist du anders und wirst es immer sein…“

„Ich mag nicht!“ schrie er aus vollem Hals – zu seinem Entsetzen hörte sich seine Stimme plötzlich an wie die von Kelar und er erbleichte. Entsetzt riss er die Arme herum, als wollte er das Feuer, das ihn jetzt beinahe einkreiste, verscheuchen, aber aus seinen Händen schoss der Windzauber Katura, der das Reh in weiter Ferne erwischte und es zu Hackfleisch verarbeitete. Puran keuchte und starrte entsetzt auf seine kleinen Hände. Ihm blieb die Luft weg in der Hitze des Feuers und er hustete, bevor er plötzlich die Stimmen der Windgeister hören konnte, die über den Flammen herum schwirrten.

„Du kannst nicht davon rennen vor dem Ende der Welt. Wir werden dich jagen, bis du lernst, uns zu jagen, und wenn… es dich ans Ende der Welt bring, wirst du vom Rand fallen und sterben.“

Das letzte, das er wahrnahm, bevor er panisch keuchend aufwachte, war ein grauenhaftes Schreien in weiter Ferne.
 

Als er die Augen aufschlug, war Nalani bei ihm und fasste bestürzt nach seinem Gesicht. Aus seiner Nase rann Blut, das warm über sein Gesicht lief, und der Junge hickste und hustete, als Nalani ihn sofort hoch zog und auf ihrem Schoß setzte. Mit dem einfachen Heilzauber stoppte sie das Nasenbluten, und zitternd lehnte sich das Söhnchen an ihre Brust.

„Du bist hier, Mutti…“ nuschelte er dumpf.

„Natürlich bin ich das. Ich habe auch geträumt… ich habe dich schreien gehört und bin hergekommen.“ Puran schmiegte sich immer noch fröstelnd an ihren Busen. Sie war so schön warm…

„Mir ist schwindelig, Mutti…“ nuschelte er leise, „Dieser Traum… macht mir Angst. Ich… will nicht ans Ende der Welt…“ Nalani seufzte und streichelte ihm zärtlich über den Rücken.

„Nein, ich auch nicht. Morgen bei Sonnenaufgang fahren wir nach Tuhuli. Keisha wird deine Nase in Ordnung bringen und ich werde deine Großmutter suchen.“
 

Suchen war gelogen; Nalani wusste ja, dass sie ihre Schwiegermutter in Tuhuli und vor allem in Chimalis‘ Anwesen finden würde. So war sie wenig bis nicht überrascht, als sie am nächsten Vormittag samt Mann und Sohn dort eintraf und Salihah ihnen die Türe öffnete.

„Ich habe gewusst, ihr würdet kommen,“ erzählte sie zur Begrüßung und fasste nach ihrem steifen Nacken, ehe sie ihre Familie einließ. Tabari schenkte ihr nur ein beleidigtes Grummeln, Nalani war besorgt.

„Du siehst blass aus, ist alles in Ordnung?“

„Ich habe scheußlich geschlafen, diese Träume und Nichtträume machen mich wahnsinnig. Keine Sorge, ansonsten geht es. Und ich bin nicht die einzige, die schlecht geschlafen hat…“ Während sie das sagte, glitt ihr Blick ernst zu ihrem kleinen Enkel, der sich etwas scheu an Mutters Rock klammerte, während sie das Anwesen betraten. Puran war schon oft hier gewesen, und dennoch war das Anwesen fremd und seltsam. Es war so ganz anders gebaut als das Lyra-Schloss…

In der Stube saß Zoras Chimalis komplett genervt auf der Couch mit einer Tasse Kaffee, als die vier Lyras dazu kamen. Keisha wuselte sinnlos durch die Gegend und sortierte Pergamente.

„Bring Nalani auch Kaffee und den anderen Tee,“ ordnete der Mann dem Hausmädchen an, das auch herein schneite, und sich verneigend ging die Frau wieder. „Guten Morgen, überhaupt.“

„Wir sind hier, damit Keisha mal wieder Purans Gesicht verschönern kann,“ sagte Nalani und setzte sich, „Außerdem muss ich mit Salihah sprechen. Es tut mir sehr leid, dass wir immer eure Stube in Beschlag nehmen und vor allem eure Zeit…“

„Hast du dich wieder mit Jungen geprügelt, die zu stark für dich sind?“ fragte Zoras den kleinen Puran, der nur errötete.

„Dafür kann er nicht zaubern,“ behauptete er trotzig, „Und träumt nicht dauernd vom Ende der Welt, ich würde gerne mit Ram tauschen.“

Er merkte erst, dass alle Augen auf ihm ruhten, als er den Kopf zu Keisha drehte, die perplex blinzelte. Hätte er das nicht sagen sollen? Er kam nicht dazu, sich eine Rechtfertigung für seinen Willen zurecht zu legen, weil Zoras plötzlich aufstand.

„Was siehst du in deinen Träumen, Puran? Sag es mir, jetzt gleich.“ Der Junge fuhr erschrocken über die plötzliche Ernsthaftigkeit zurück.

„Regen aus Feuer und… und die Geister sagen mir, das wäre das Ende der Welt-…“ Zoras senkte die Brauen, ehe Nalani einwarf:

„Das sehe ich auch schon länger… es sind keine guten Zeichen, aber ich weiß nicht, worauf wir aufpassen sollen… es kann doch kein Feuer vom Himmel regnen, oder?“ Unsicher sah sie zwischen Salihah und Zoras hin und her. Der Schwarzhaarige sagte eine Weile nichts.

„Ich sehe es auch…“ murmelte er dann dumpf und Puran starrte ihn an, „Ich sehe es seit ich klein bin, schon mein Leben lang sehe ich das Ende der Welt. Ich… kann euch auch nicht sagen, ob es Feuer regnen kann; zumindest habe ich an keinem Ort, an dem ich war, etwas von Feuerregen gehört. Das war auch einer der Gründe, wieso ich mein Leben lang gereist bin… um herauszufinden, was hinter diesem seltsamen Traum steckt. Natürlich gib es in verschiedenen Ländern verschiedene Mythen und Sagen, Flammenregen und ein Rand der Welt sind nie gute Zeichen. Einmal, im Westen vom Land Ela-ri, habe ich geglaubt, des Rätsels Lösung zu haben, die nennen Blitze bei Gewitter Feuerregen, da dachte ich, es käme vielleicht ein grauenhaftes Unwetter, das alles zerstört, oder so, aber irgendwie war es das dann auch nicht…“ Die anderen sahen sich an und Puran atmete heftig ein und aus. Während des Schweigens setzte Keisha ihn auf den Couchtisch und begann vorsichtig, sein malträtiertes Gesicht ordentlich zu versorgen.

Selbst Zoras Chimalis träumte von dem Himmelsfeuer? Und niemand wusste, was es sollte, alle tappten ahnungslos in der Finsternis herum? Das war fast ein schlechteres Zeichen als der Traum selbst, fand er instinktiv, ohne zu wissen wieso er das dachte. Er sah seine Mutter aus dem Augenwinkel aufstehen und mit Salihah die Stube verlassen; er fragte sich, was sie von der Großmutter so geheimes wollte.

Tabari verfolgte die Frauen genervt mit dem Blick, ehe er sich brummend zur Tür wandte.

„Wo sind eigentlich die anderen eures Haushaltes?“ fragte Tabari Zoras nach einer Weile, in der Keisha Puran fertig heilte.

„Meoran kümmert sich um den Lehrling, oder versucht es, der Bursche ist etwas seltsam im Kopf, Nomboh ist vermutlich zur Unterstützung dabei und Ruja schenkt Nomboh Tee ein.“

„Hmm, ganz schön voll hier im Haus, oder? Ich hoffe, meine Mutter nimmt nicht zu viel Platz weg, weil sie ständig hier herum hockt, es tut mir wirklich leid für die Umstände. Sie ist eben etwas… bockig…“ Zoras musste lachen.

„Du sprichst von ihr, als wäre sie deine Tochter… keine Sorge, solange ich hier Chef bin, stört sie niemanden, das würde niemand zu behaupten wagen.“ Der Blonde seufzte.

„Ja, du bist irgendwie eine Respektsperson… du bist ein guter Mensch, du bist belesen und kannst dich durchsetzen, ich… bewundere das ehrlich gesagt…“ Er wurde immer leiser, während er sprach, der Ältere sah ihn verwundert über das eigenartige Lob an; dann platzte Tabari empört heraus: „Tu mir einen Gefallen und sei du an meiner Stelle Statthalter, du kannst das viel besser als ich!“
 

Zoras musste erst mal blöd gucken, Keisha hustete und Puran verstand nicht, worum es ging.

„W-was willst du?!“ keuchte die Heilerin dann, „Meinst du das ernst?!“

„Meine Mutter weigert sich, mich weiter zu unterstützen, und alleine kriege ich das nicht auf die Reihe!“ jammerte Tabari, „Ich – ich bin kein Politiker, du bist das viel mehr als ich, Zoras! Während ich diesen Kreis in den Bankrott reiten würde, würdest du alles richtig machen, ich weiß das! Es ist doch im Sinne von Vikhara, oder willst du zulassen, dass die einen verpeilten Deppen wie mich als Chef haben…?“ Er lachte über sich selbst und Zoras war sehr ernst, als er antwortete.

„Nein, Tabari, dein Angebot ehrt mich natürlich und dein Vertrauen erst recht, aber ich muss das ablehnen. Und nicht aus Höflichkeit oder weil ich bescheiden bin… im Gegenteil, es ist aus egoistischen Gründen. Ich habe keine Lust, ganz einfach.“

Tabari seufzte.

„Und ich soll die haben?“

„Das ist deine Aufgabe, nicht meine. Meine Aufgabe in dieser Welt ist bald vorbei, ich bin kein junger Mann mehr, das ist dir ja wohl klar. Wenn ich jetzt das Amt anträte, würdet ihr sehr bald einen neuen Statthalter brauchen, da bin ich sicher.“

„Sag doch sowas nicht!“ rief Keisha entsetzt und sprang auf. Zoras schnaubte.

„Ach, sei still, wir alle wissen, dass keiner unendlich lebt, auch ich werde das nicht! Eines Tages ist mein Leben beendet und ich gehe stark davon aus, dass meins vor Tabaris zu Ende ist. Ich versuche jetzt langsam, mich von all meinen Posten zurückzuziehen. Meoran wird einmal meinen Clan erben, dieses Anwesen und alles was dazu gehört, ich übertrage ihm inzwischen viel Verantwortung und selbst Nomboh lässt inzwischen ihn die Lehrlinge ausbilden. Meoran ist ein guter Lehrmeister geworden, er kann zwar noch lernen, aber es geht voran.“

„Und was soll ich machen?“ seufzte Tabari, „Ich… bin doch alleine aufgeschmissen da!“

„Du bist nur zu faul,“ feixte der Schwarzhaarige und Tabari schnaubte.

„Das sagt Nalani auch!“

„Dann sollte dir das zu denken geben. – Ich habe ohnehin genug eigene Sorgen, und die liegen außerhalb von Vikhara…“ Als er skeptische Blicke erntete, setzte er sich wieder auf die Couch und raufte sich die Haare. „Meine Tochter,“ erklärte er sich murmelnd. „In den letzten Wochen lag ein düsterer Schleier vor ihrem Verbleiben und die Geister wollen mir nicht preisgeben, was sie tut, wollen mir nicht zeigen, ob es Enola gut geht… du kennst ja die Geschichte mit der Familie dieses Gutsherren, mit dessen Sohn meine Enkelin verlobt wurde und den sie heiraten wird, sobald sie zur Frau herangewachsen ist…“ Tabari nickte. Ja, er hatte davon gehört. „Damals, das war vor fast zwei Jahren, sind sie alle drei, Enola, Kotori und die Kleine, mit in das Gutshaus gezogen und Teil dieser eigenartigen Familie geworden. Eigenartig sage ich deswegen, weil sie den Kontakt nach Tuhuli komplett unterbinden. Enola darf keine Briefe schreiben und ich habe das Gefühl, die, die ich schreibe, kommen auch nie an. Seit zwei Jahren habe ich weder meine Tochter, noch meinen Schwiegersohn oder meine Enkelin gesehen und dass die Geister sie mir nicht mal mehr zeigen, beunruhigt mich zutiefst. Wenn ich wüsste, welches Haus in Sinami das ist, dann wäre ich längst rüber gefahren und hätte die drei eigenhändig da raus geholt-…“ Tabari fiel ihm ins Wort.

„Mach dir da mal keine Sorgen, Enola ist ein kluges Mädchen und passt sicher auf sich auf!“ meinte er zuversichtlich, „Die Geister sind launisch… ich weiß das sehr gut.“ Er senkte sein Haupt und der Ältere sah ihn kurz schweigend an.

„Das… sind sie wirklich.“ Er warf einen unschlüssigen Blick auf die Kratzer an seinem Arm von der vorigen Nacht.

Schlechte Zeichen, wohin man auch sah… der Schatten war zurückgekehrt, und Zoras wurde das Gefühl nicht los, dass etwas auf sie zu kam, das weit schlimmer sein würde als Kelars Lyrien.
 

Puran fragte sich, ob er auf seine Mutter, seine Großmutter oder auf irgendwen anderes wütend sein sollte, weil er leider doch wieder zur Schule musste, ebenso wie sein bester Freund (nicht wirklich) Ram Derran. Die alten Waschweiber, wie er seine Mutter und eine Großmutter etwas grimmig betitelte seitdem, sagten nicht, was sie gemacht hatten, damit die Direktorin sie beide wieder aufnahm, aber eigentlich war es auch egal. Salihahs einziger Kommentar war:

„Ich bin die Seherin, Puran, wenn ich will, dass etwas passiert, dann passiert das, wenn ich dafür sorge. Sei artig und geh zur Schule, die letzten zweieinhalb Jahre wirst du auch noch überleben. Du willst doch nicht dumm und schwachsinnig sein und deinen Vorfahren Schande bringen, oder…?“ Dem Jungen waren seine Vorfahren egal, aber Großmutters Blick war etwas beängstigend, deswegen schüttelte er darauf nur schweigend den Kopf. Mitunter hasste er diese Bagage, in der er aufwachsen musste…
 

Und noch viel mehr diese grässliche Schule, dieses beschissene Dorf Gahti, in das er jeden Tag außer am Sonntag gehen musste. Er zählte schon im Frühlingsmond die Tage bis zur Sommerpause. Er freute sich zwar immer, seine beiden Freunde Travi und Kannar zu treffen, aber eigentlich konnte man mit denen auch viel mehr Spaß außerhalb der Schule haben. Jetzt, wo es war wurde, konnten sie wieder zusammen jagen gehen oder es zumindest versuchen. Wenn sie nicht jagten, um zu essen zu haben, sorgten sie stets dafür, das Beutetier nur zu verletzen, Kannar heilte dann die Wunden wieder und sie ließen das Tier wieder frei, um Mutter Erde nicht mehr zu nehmen als sie zum Überleben brauchten. Das waren die Regeln beim Jagen; wer sich zu viel nahm, den würden die Geister bestrafen, das brächte das Gleichgewicht zwischen Beute und Jägern durcheinander und würde alles zerstören.

Am Ende des Frühlingsmondes beendete Herr Masava den Zauberunterricht, nach der Junge auch den letzten Zauber, Katura, in allen Formen und Größen beherrschte. Der Mann sagte, er sollte stolz auf sich sein, aber Puran konnte das immer noch nicht; zaubern war immer noch das allerletzte Mittel, etwas, von dem er nur im allergrößten Notfall Gebrauch machen würde. Ja, er konnte es… aber es machte ihm nur Feinde in seiner Umgebung. Entweder die Leute hassten ihn aus Neid auf sein Talent oder sie fürchteten ihn. Und er verfluchte die Himmelsgeister wutentbrannt, weil sie ihm Talent geschenkt hatten.

Wolltet ihr, dass mich alle hassen? Findet ihr das gerecht? Besten Dank!
 

Umso verwirrter war Puran, als er zu Beginn des Kälbermondes eines Tages in der Pause alleine auf der Bank im Hinterhof hockte, weil Kannar und Travi anderweitig unterwegs waren, und auf eine kleine Gruppe Kinder aufmerksam wurde, die in einiger Entfernung auf einem Haufen herum standen, tuschelte und ab und zu zu ihm herüber sahen. Einen Jungen erkannte er, der ging in seine Klasse, ihm war nur der Name entfallen; ein komischer Kauz, mit dem er nie etwas zu tun gehabt hatte. Er hatte ihn, wenn er ehrlich war, noch nie reden gehört; der konnte sprechen?

„Ihr seid echt albern, geht einfach hin!“ empörte sich eine helle Stimme aus dem Haufen, und als Puran genervt hoch sah, stürmte ein blond gelocktes Mädchen auf ihn zu und baute sich vor ihm auf. Sie musste jünger als er sein, mindestens eine Klasse unter ihm, er hatte dieses Mädchen noch nie gesehen.

„Was willst du?“ fragte er mürrisch in der Erwartung, es kämen wieder Deppen, die eine Mutprobe ablegen wollten. Das Mädchen strahlte ihn an.

„Ich heiße Narya Maru! Stimmt es, dass du mit Katura den Baum im Schulhof umgemäht hast?“ Puran sah sie blöd an, während hinter ihr die Jungen näher kamen und neugierig herüber sahen. Woher wusste die das denn? Hatte Herr Masava das herum erzählt?

„Mabi hat es herum erzählt, weil er mit seinem Kumpel auf der Mauer gehangen hat damals und es gesehen hat,“ sprach der scheinbar stumme Klassenkamerad von Puran kleinlaut und alle sahen ihn an. Wenn er doch nur auf den Namen käme…

„Willst du mit uns spielen?“ johlte das blonde Mädchen begeistert und hopste vor Purans Nase auf und ab, wobei ihr rosa Röckchen hoch flog, „Weil, wenn du echt so toll zaubern kannst, können wir zusammen üben!“

„Moment, was?“ stöhnte Puran perplex, während der stumme, namenlose Klassenkamerad unruhig die Augen verdrehte, dem das Verhalten des Mädchens offenbar peinlich war.

„Narya, lass ihn einfach in Ruhe, es kommen schon genug Leute an, die scheiße zu ihm sind!“ nuschelte er noch, ehe Puran sich erhob.

„Ihr-… übt zusammen zaubern und wollt, dass ich bei euch mitmache?“ fragte er ungläubig nach. Das war neu, das hatte er noch nicht erlebt. Normalerweise hatten die Leute Angst oder waren neidisch, weil er zaubern konnte…

„Ja, genau!“ Die kleine Narya kicherte vergnügt. „Du bist sooo toll, wenn du mitmachst, werden wir sicher alle mal toll!“

„Spinn nicht rum, er gehört zu den Lyras, so werden wir nie,“ spottete ein größerer Junge, darauf räusperte er sich und stellte sich vor: „Ich bin Umar, wir sind die ultimativen… Pseudo-Könner, sozusagen.“

„Pseudo-Könner?“ machte Puran empört.

„Wir tun so, als wären wir toll, aber eigentlich sind wir gar nicht so toll,“ erklärte der Größere, „Du bist eine Klasse unter uns – na ja, abgesehen von Madanan und Narya, die sind jünger – und bist besser als wir alle zusammen, du bist toll!“ Puran errötete. Das war er definitiv nicht von Gleichaltrigen gewohnt, solche Worte… aber immerhin wusste er jetzt, dass sein stummer Klassenkamerad Madanan hieß.

„Ich bin in der dritten Klasse,“ erklärte die kleine Narya wieder hyperaktiv und begann, um die älteren Jungen herum zu rennen, „Madanan ist mein Cousin, deshalb renne ich ihm hinterher, ich bin das Nestmädchen!“

„Nesthäkchen,“ korrigierte Madanan sie und verdrehte die Augen. „Entschuldige sie, sie ist etwas nervig.“

„Geht schon…“ murmelte Puran peinlich berührt von so viel Aufmerksamkeit. „Ich meine, wieso-… i-ihr… kennt mich doch gar nicht, wieso wollt ihr das mit mir machen…?“

„Weil du toll bist,“ sagte der Junge namens Umar wichtig, „Die anderen Idiotenhaben Angst vor dir, dabei kannst du doch nichts für das, was dein Großvater so angestellt hat-…“

„Euer Interesse ehrt mich,“ sagte er und dachte daran, wie Zoras Chimalis Tabaris Angebot abgelehnt hatte, „Aber ich muss das ablehnen. Ich… ich will doch gar nicht zaubern!“

„Wieso nicht?“ wunderte sich die kleine Narya. „Du bist doch gut…“ Ihr Cousin murrte.

„Darum geht’s nicht, du dummes Kind,“ antwortete er für Puran und der Kleine fragte sich, wieso dieser seltsame Junge nie mit ihm geredet hatte – er verstand ihn offenbar völlig, was für ein netter Kerl… der war ihm sympathisch. „Ich habe euch gesagt, es ist eine dumme Idee.“ Die anderen sahen sich an und jetzt kam Puran sich auch wieder dumm vor, so von allen enttäuscht angesehen zu werden. Er seufzte ergeben.

„Also… von mir aus, aber nicht lange, ich… mag zaubern nicht so.“ Überraschenderweise war es sein neuer Sympathieträger und Klassenkamerad, der bis zu dem Tag nie mit ihm geredet hatte, der darauf antwortete, dabei grinste er kurz.

„Zaubern kann echt ein Fluch sein, stimmt… aber du wirst nicht drum herum kommen, nicht dein Leben lang. Es ist viel angenehmer, wenn man aufhört, sich gegen die Geister zu wehren und lieber mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Man kann mit Zaubern Scheiße bauen, aber auch nützlich sein.“ Der braunhaarige Junge blinzelte bei diesen Worten. So etwas hörte er oft und hatte es bisher für langweiliges Erwachsenengerede gehalten; aber wenn selbst ein Junge so etwas sagte… er fragte sich, was mit diesem seltsamen Jungen war, dass er so gut Bescheid wusste; zumindest war er anders als die anderen der Gruppe.
 

„Wer, Madanan Tevvy?“

Wenn jemand über alles Bescheid wusste, dann war es Kannar. Der kleine Heiler war ein guter Beobachter und er wusste erstaunlich viele unwichtige Details über alle möglichen Schulkameraden von ihnen, egal, ob sie etwas mit ihnen zu tun hatten oder nicht.

„Der Typ redet doch nie, der ist mir irgendwie gruselig. Ich hab zuerst gedacht, Ram und er wären Brüder, weil sie beide nie reden, aber im Gegensatz zu Ram ist Madanan nicht scheiße im Kopf und brutal oder so…“ Puran seufzte. Ja, so weit war er auch schon gewesen. Außerdem hatte Madanan nicht die giftgrünen Schlitzaugen, die Ram hatte. Nachdem Puran seinem besten Freund Kannar von der Begegnung mit der eigenartigen Schamanenclique berichtet hatte, war der ganz aufgeregt gewesen.

„Das ist doch toll, wenn sogar die älteren Junge dich interessant finden, das sollte dich ehren, schmoll nicht!“ hatte er behauptet, „Erst recht, wenn die mit dir zaubern üben wollen…“ Darauf hatte Puran einen tausendsten Versuch gestartet, Kannar zu erklären, wieso er zaubern nicht mochte, und als er darauf gekommen war, dass der komische Madanan offenbar der einzige der Welt war, der ihn verstand, hatte er Kannar gefragt, was er über den anderen Jungen wusste.

„Viel kann ich dir da nicht sagen,“ meinte der heiler jetzt nachdenklich, „Die Tevvy-Familie wohnt in Dralor, eigentlich hätte Madanan viel einfacher nach Tuhuli zur Schule gehen können, ist viel dichter als Gahti. Aber seine Eltern stehen auf Gahti, irgendwie. Hab sie mal bei uns in der Apotheke gesehen, sie sind beide Schwarzmagier und sehr höfliche, freundliche Leute. Madanan ist ihr einziges Kind und wird bestimmt total verwöhnt, vielleicht denkt er, wir wären minderwertig, und redet deshalb nie mit uns…“

„So einen Eindruck hatte ich nicht,“ widersprach sein Freund ihm grübelnd, „Er ist vielleicht einfach schüchtern oder spricht nicht gern. Und dieses Mädchen, diese Narya Maru, ist seine Cousine, wohnt die auch da?“

„Ach, die Narya?“ Kannar kratzte sich am Kopf, „Ähm, ihre Mutter ist die Schwester von Madanans Mutter, glaube ich. Die wohnen auch in Dralor, quasi nebeneinander, habe ich gehört. Die Marus sind ein Clan von Erdmagiern. So, wie dein stärkstes Element Wind ist, haben die Erde, die können sogar den Boden verändern und so, habe ich gehört…“ Puran blinzelte. Das war alles schön und gut… aber wieso Madanan so seltsam war, wusste er immer noch nicht.

„Es ist viel angenehmer, wenn man aufhört, sich gegen die Geister zu wehren und lieber mit ihnen gemeinsame Sache zu machen. Man kann mit Zaubern Scheiße bauen, aber auch nützlich sein.“

Das hatte er gesagt… der Junge fragte sich beklommen, woher er das so genau wissen wollte…
 

Am ersten Sonntag des Kälbermondes war Viehmarkt in Tuhuli. Das war ein großes Ereignis in ganz Vikhara, weil aus allen Dörfern im Umkreis Bauern und Handwerker kamen, um ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen. Mitunter zogen ganze Dörfer für den Tag nach Tuhuli und alle amüsierten sich prächtig. Der Viehmarkt im Frühjahr war ein richtiges Stadtfest, das vor allem kleine Kinder begeisterte. Puran war von Kannars Familie eingeladen worden, mit ihnen hinzugehen, das war aufregend… Alona hatte geheult, weil sie auch mit gewollt hatte, aber sie hatte nicht gedurft.

„Kannars Eltern haben besseres zu tun, als auch noch auf noch ein Kind mehr aufpassen zu müssen, es wäre unhöflich, dich einfach mitzuschicken,“ hatte Sukutai ihr erklärt, „Und von uns hat niemand die Zeit, auf den Viehmarkt zu gehen, Mausi… sei nicht böse! Vielleicht, wenn du größer bist!“

Der Junge freute sich diebisch, weil seine Cousine zu Hause plärren musste, während er den ganzen Tag mit Kannar und seiner großen Schwester Akila Spaß haben konnte. Er war noch nie während eines Festes in Tuhuli gewesen; wenn, dann immer nur in Chimalis‘ Anwesen. Ob Chimalis‘ wohl auch auf dem Viehmarkt wären?

„Es gibt zweimal im Jahr Straßenfest in Tuhuli,“ erklärte Akila Puran, als sie mit der ganzen Familie auf dem Weg in die Stadt waren. Sie gingen zu Fuß, das war ein gutes Stück zu gehen. „Einmal im Frühjahr den Viehmarkt, da werden größten Teils Tiere verkauft, junge Lämmer, Schweine und Kälber, manchmal auf Ziegen. Und zur Erntezeit gibt es noch mal ein Fest, da wird dann die von den Bauern ertragene Ernte verkauft. Manche flechten auch Körbe oder Fischnetze, andere basteln Schmuck aus Knochen oder sogar Perlen… die Perlensachen sind natürlich extrem teuer. Eigentlich gibt es alles in Tuhuli, die Straßenfeste sind immer toll!“

„Du weißt aber viel,“ lobte Puran das elfjährige Mädchen grinsend, und sie grinste zurück und tätschelte ihm und ihrem Bruder Kannar die Köpfe.

„Ich bin ja auch schon größer als ihr kleinen Jungs!“

„Frechheit, wir sind total groß!“ schnaubte Kannar, und seine Mutter tätschelte Akilas Hinterkopf.

„Sei nicht garstig, Akilachen.“ Das Mädchen kicherte nur albern vor sich hin.

„Was ist eigentlich mit Travi, kommt der nicht nach Tuhuli?“ fragte sich Puran dann, und Kannar hatte auch dafür eine Antwort.

„Doch, mit dem treffen wir uns am Stadttor.“
 

Das Straßenfest in Tuhuli war aufregend. Nachdem sie Travi tatsächlich am Tor gefunden hatten, hatten sich die vier Kinder von den Eltern gelöst und liefen nun alleine über den Markt, während Kannars Eltern sinnvolle Sachen einkauften. Puran war fasziniert von den vielen Dingen, die die Menschen anboten; er hatte noch nie so viele Sachen auf einem Haufen gesehen. Lebende und geschlachtete Tiere, Kräuter und Pflanzen, Stoffe für Kleider, Fische, Schmuck, sogar Stände mit geschmiedeten Waffen gab es. An dem einen Waffenstand glaubte der Junge kurz, sich versehen zu haben; da war doch einer der Jungs von der Zaubertruppe da, zu der der komische Madanan gehörte? Als er noch mal hinsah, winkte der andere Junge fröhlich. Offenbar hatte er sich nicht getäuscht.

„Du bist ja auch hier!“ wurde Puran von dem älteren Jungen begrüßt. Kannar kannte sogar seinen Namen.

„Ratan Kindo, der geht in die Klasse über uns,“ sagte er nämlich zu Akila. Puran lächelte kurz und winkte höflich zurück.

„Ja, ähm, und… was machst du hier?“

„Na, mein Vater ist Schmied, wir verkaufen hier Schwerter,“ erklärte er stolz. „Wir arbeiten mit Metallzaubern, da ist der Beruf Schmied ja genau das Richtige für uns, sozusagen!“

„Ist ja toll!“ staunt Puran und sah sich fasziniert die schön gefertigten Sachen an, „Ähm… seid ihr jedes Jahr hier auf dem Markt?“

„Klar, du nicht?“ kicherte der Junge namens Ratan, „Heute Vormittag muss ich hier am Stand herumstehen und meinem Vati helfen, aber ich freu mich schon, wenn ich auch herumrennen kann.“ Puran nickte, das konnte er verstehen. Travi zog maulend an seinem Arm.

„Können wir weiter? Da drüben gibt’s total leckeres Essen, da will ich unbedingt hin! Komm schon, Puran, gehen wir!“

„Ähm, ja, tut mir leid, ich muss dann wohl,“ lachte der andere und winkte Ratan noch mal, „Wir sehen uns… sicher in der Schule.“

„Genau, bis dann!“
 

Travi war ein kleiner Fresssack, unverbesserlich. Aber er hatte recht, der Stand mit Essen, den er entdeckt hatte, verkaufte tatsächlich sehr leckere Sachen. Die drei Jungen kauften sich Süßigkeiten, Akila sparte sich ihr bisschen Taschengeld für ein paar Ohrringe, die sie ein paar Stände zuvor entdeckt hatte; aber obgleich sie zusammen insgesamt viermal in dem Stand vorbei gingen, traute sich das Mädchen nie, einfach hinzugehen und den Schmuck zu kaufen, was ihr kleiner Bruder schon beim zweiten Mal mit einem genervten Murren kommentierte.

„Aber… soll ich wirklich?“ jammerte Akila beim fünften Mal, das sie den Stand passierten, „Ich meine… das ist doch teuer und… dann wäre mein ganzes gespartes Geld mit einem einzigen Kauf weg! Aber… sie sind so hübsch…“ Die Jungen seufzten gleichermaßen verständnislos.

„Entscheide dich bitte und nerv nicht herum!“ nölte Kannar, und Travi sagte:

„Wie kann man für etwas Geld ausgeben, das man nicht essen kann…?“ Puran verdrehte die Augen.

„Was denn, Akila? Ist dir das Paar Ohrringe wert, dein Geld auszugeben? Ja oder nein? Wenn ja, dann kauf sie einfach, dann lohnt es sich doch.“ Das Mädchen blinzelte und überlegte noch etwas hin und her, ehe sie sich schließlich entschied, die Ohrringe doch zu kaufen.

„Na endlich,“ seufzte Kannar dazu, „Und ich dachte, wir müssten jetzt den Rest des Tages am selben Stand vorbei latschen, der ohnehin völlig langweilig ist!“

„Nur, weil ihr Jungs euch nicht für Schmuck interessiert!“ nölte Akila.

„Du interessierst dich ja auch nicht für Essen,“ bemerkte Travi nickend. Kannar schnaufte.

„Ich auch nicht, du Fresssack!“

„Hey!“ unterbrach Travi da selbst das Gespräch und zeigte mit vollem Mund nach vorn, „Seht mal, ist das nicht Ram?“ Puran fuhr zusammen; oh nein, bitte nicht der. Kannar lugte schnaubend an Travi vorbei.

„Oh, geh mal aus dem Weg, Dickerchen! Stimmt, da hinten! Na, Puran, sollen wir ihn her pfeifen, damit du ihm die Fresse polieren kannst?“

„Sehr komisch,“ murrte Puran beleidigt. Er hatte seinen besten Freund Ram Derran auch schon gesehen, der in einiger Entfernung in der Menschenmasse zusammen mit zwei kleineren, schwarzhaarigen Jungen herum lief. „Na gut, verschwinden wir besser, bevor der-… na toll, zu spät.“ Da hatte Ram die Gruppe auch schon entdeckt und wenige Momente später standen die vier den drei schwarzhaarigen Jungen gegenüber.

„Was denn?“ spottete der größte der drei, „Prinz Lyra lässt sich dazu herab, auf das Stadtfest zu gehen? Welche Ehre, Tuhuli sollte sich wirklich freuen.“

„Halt den Rand,“ stöhnte der Braunhaarige nur, „Was willst du? Hast du nichts zu tun?“

„Eine Menge sogar,“ zischte Ram zurück und reckte den Kopf in die Luft, „Wenn ihr hier in der Richtung steht, in die wir wollen, ist das nicht meine Schuld.“ Die Jungen sahen sich grimmig an und Akila hüstelte.

„N-nicht streiten, bitte…“

„Wieso gibt es hier keinen verdammten Fisch?!“ meckerte der eine kleinere Junge neben Ram da und rang fluchend die Hände in die Luft, „Sag mal, wieso müssen wir überhaupt Fisch kaufen, wenn es in Nehawa sowieso dauernd Fisch gibt? Mutter hat doch ´nen Vollknall!“

„Das erzähle ich ihr!“ schnaubte der kleinste der drei da und zerrte an Rams Ärmel, „Raaaam, Yiska redet schlecht über unsere Mutter!“

„Seid doch mal ruhig, ihr halben Portionen, es ist Schande genug, dass ich euch beide hier mit mir herum schleppen muss!“ fauchte Ram die beiden an. Travi seufzte versonnen.

„Fisch, lecker…“ Kannar trat ihm auf den Fuß.

„Hast du sie noch alle? Das ist total ernst hier und du denkst nur an essen!“

„Aber er hat doch zuerst von Fisch geredet!“ Anschuldigend zeigte Travi auf den mittleren der schwarzhaarigen Jungen, den der kleinste Yiska genannt hatte. Jenem kleinsten ging gerade ein Licht auf. Er zeigte auf Puran.

„Ist das der Sohn vom Herrn der Geister?!“ quiekte er mit seiner noch sehr hohen Kinderstimme, „Den hab ich mir aber gruseliger vorgestellt, Ramchen! Du erzählst daheim immer, er wäre so furchtbar!“ Puran zog eine Braue hoch.

„Man redet schon schlecht über mich, ich werde berühmt,“ schnarrte er gespielt arrogant, und Ram räusperte sich.

„Ich mache euch gerne bekannt, wenn ihr solche Plappermäuler seid!“ zischte er dann, „Ja, das ist der gruselige Puran Lyra, und die beiden Schwachköpfe hier sind meine kleinen Brüder Yiska und Tsana.“

Aha, seine Brüder also. Sie sahen sich alle drei sehr ähnlich, fand Puran, aber mit dem blonden Vater, den er vor Monden mal gesehen hatte, hatten sie wenig Ähnlichkeit. Obwohl, doch, die komischen Augen hatte der auch gehabt. Der Braunhaarige seufzte.

„Sehr erfreut. Wie auch immer, wir gehen jetzt besser.“ Damit drängelte er sich unsanft an Ram vorbei und schubste ihn mürrisch zur Seite, worauf der herum fuhr.

„Hey, was fällt dir ein, mich zu schubsen?!“ Und schon schubste er zurück und Puran stolperte keuchend auf den Boden.

„Gib‘s ihm,“ stöhnte Yiska unbeeindruckt, „Du da, Dicki, hilfst du mir solange Fisch für meine Mutter suchen? Du magst doch essen?“

„Sofort aufhören!“ schrie Akila, als Puran sich gerade wieder aufrappelte und Ram schon empört nach ihm zu treten begann. Die Leute auf der Straße wurden von den beiden Jungen angerempelt, als Puran Rams Tritt auswich und der Schwarzhaarige stattdessen eine alte Dame in den Matsch trat.

„Du Flegel!“ fauchte sie, wurde von den beiden streitenden Kinder ignoriert und schließlich von Akila wieder hochgezogen.

„E-entschuldigt vielmals!“ rief das Mädchen, ehe es gefolgt von Kannar, Travi und Rams Brüdern Ram und Puran nacheilte, die sich vom Trubel des Festes entfernten und in einer Seitenstraße weitermachten.

„Was hast du bitte für Probleme?!“ fuhr Puran den Älteren gerade an, „So doll hab ich dich nun auch wieder nicht geschubst!“

„Ich kriege einfach das Kotzen, wenn ich deine Fratze nur sehen muss!“ empörte Ram sich und schlug nach ihm, kassierte darauf selbst einen saftigen Schlag ins Gesicht und fuhr hustend zurück. Puran spuckte ihm vor die Füße.

„Das ist kein Grund mich gleich zu treten, du Hurensohn!“

„Du wagst es, meine Mutter eine Hure zu nennen?! Das traust du dich nie wieder, das schwöre ich!“ Fluhend stürzte sich Ram wieder auf den Kleineren, während die anderen herbei stürzten und vergeblich versuchten, von außen einzugreifen. Das wäre auch nicht gut geendet, denn mit einer raschen Handbewegung von Puran wurde Ram plötzlich von einem harten Wasserstrahl zurückgeschleudert und landete auf dem Steinboden. Er stöhnte und seine Brüder sahen schockiert von ihm zu Puran und zurück.

„Das war eine Alara,“ sagte der kleine Tsana zu seinem großen Bruder Yiska, „Nicht das Piffelzeug, was du da machst!“

„Hast recht – aber hey, du kannst gar nichts!“

„Ich bin auch erst sechs!“

Ram hatte keine Zeit für die unnötigen Plappereien seiner Brüder. Er erhob sich hustend wieder und fuhr sich mit der Hand über das triefnasse Gesicht. Dann sah er zu Puran, der sich aufgerappelt hatte und die Hände bedrohlich in seine Richtung streckte.

„Tss,“ spuckte der Schwarzhaarige, „Du zauberst ja, ist ja was ganz Neues. Elender Angeber.“ Der Kleine schnaubte.

„Ich kann auch nichts dafür, dass du so eine Null bist. Traust du dich jetzt nicht mehr, oder was? Versuchs doch, du Anfänger.“ Kannar und Travi sahen sich blöd an und Yiska brüllte gut gelaunt:

„Hurra, wir sind Nullen! – Aber egal, Nullen sind viel vollkommener, jaaha, die sind rund! Und genau genommen kommt die Null vor der Eins und ist damit zuerst da und viel toller!“

„Das ist absoluter Schwachsinn,“ behauptete Kannar gedämpft.

„Weiß ich auch,“ machte Yiska, „Aber man muss doch positiv denken!“

„Na, da seid ihr aber anders als euer Bruder…“

„VERDAMMT!“ kreischte der kleine Yiska darauf, „Der Fisch! Ich brauche ganz dringend einen Fisch!“

Während die Jungen am Straßenrand wild diskutierten, stürzte Ram sich erneut auf Puran, wich dem nächsten Wasserzauber aus und schaffte es, ihm das Bein wegzureißen, sodass er japsend auf den Boden fiel. Sofort war Ram wieder über ihm, schlug wütend nach ihm und erntete eine Vaira in seinem Gesicht. Er schrie und wich wieder zurück, damit er sich nicht verbrannte.

„D-das ist ungerecht, wenn du zauberst!“ schrie er dann, „Kannst du dich nicht fair wie ein Kerl verteidigen?! Oder bist du eigentlich eine Frau?!“

„Halt‘s Maul, du Schisser!“

„Hört auf!“ versuchte Akila es erneut und zerrte an Purans Ärmel, „Lass doch diesen Blödsinn, meine Mutter bringt uns um, wenn dir was pass-…!“ weiter kam sie nicht, denn er riss sich wütend los und konnte so gerade noch Rams Faust ausweichen, die auf ihn zu gekommen war. Der Schwarzhaarige fluchte und wich einer weiteren Alara aus, die statt Ram die Straße überflutete.

„Sag mir endlich, was du für ein Problem mit deinem Reh hast, dann lasse ich dich auch in Ruhe!“ entfuhr es Puran verärgert, „Du bist doch immer derjenige, der Streit vom Zaun bricht, ich will doch gar nicht mit dir streiten!“

„Ich hasse dich!“ brüllte Ram nur, statt ordentlich zu antworten, im nächsten Moment schnellte seine Faust erneut auf Puran zu und er erwischte den Kleinen mit voller Wucht in der Magengegend, worauf der keuchte, dann wild hustend zu Boden stürzte und dabei noch Akila umwarf, die wieder an ihm gezerrt hatte. Das Mädchen heulte.

„AUFHÖREN!“

Ram Derran schnappte heftig nach Luft und stierte auf die zwei vor sich am Boden herab. Die Jungen kamen dazu und Yiska lachte dämlich.

„Hast du ein Mädchen geschlagen, Ramchen?! Du Oberdepp, sowas tut man nicht…“ Er fing sich eine saftige Ohrfeige vom großen Bruder.

„Sei ruhig! – Wir gehen jetzt Fisch kaufen. Lasst die Deppen doch Deppen sein. Kommt jetzt!“ Damit drehte er sich weg und verschwand mit seinen Brüdern zurück in Richtung Fest.
 

Puran kauerte stöhnend am Boden und spuckte etwas Blut.

„Verdammt…“ murmelte er, „Das… tut ganz schön weh…“

„Bist du verletzt?“ fragte Travi überflüssig, aber besorgt. Akila hatte sich zum Glück außer ein paar Kratzern nichts zugezogen und stand auf, ehe sie versuchte, Kannars besten Freund hochzuziehen.

„So ein Unglück!“ schluchzte sie, „Ich habe doch-…!“ Sie unterbrach sich entsetzt, als Puran laut schrie, als sie versuchte, ihn hoch zu ziehen.

„Nicht!“ jammerte er, „D-das tut weh, das geht nicht!“

„Soll ich Hilfe holen?“ fragte Travi erbleichend. Der Braunhaarige schüttelte heftig keuchend und hustend den Kopf.

„I-ich muss… ich muss doch gehen können, Mann… nicht anfassen, lass mich los, Akila!“ Akila schniefte.

„Ich habe doch gesagt, ihr sollt aufhören…!“

„Er hat doch angefangen!“

„Das ist doch egal, mach nächstes Mal einen Bogen um Ram Derran!“ rief sie ärgerlich und besorgt, „Was machen wir denn jetzt? Ich werde gehen und nach meinen Eltern suchen, und-…“ Puran hielt sie auf und fasste stöhnend nach seinem Bauch, mit der freien Hand hatte er Akilas Handgelenk gepackt.

„Warte…“ japste er und hob zitternd den Kopf, „D-das müssen wir nicht! Ich kenne diese Straße… ich bin hier schon mal gewesen!“

„Ja, und?“ sagte Kannar beunruhigt.

„An ihrem Ostende liegt der Außenring, da… ist Chimalis‘ Anwesen!“
 

Die junge Frau drehte langsam den Kopf und ihre Augen weiteten sich für einen Moment.

„Das glaubt Ihr doch selbst nicht, dass ich mich dazu herab ließe,“ sagte sie spöttisch, „Ich bin eine Tochter großer Leute, ich habe meine Ehre, gnädige Frau. Kommt einen… Schritt näher… und ich reiße Euch in Stücke!“ Sie trat dann aber selbst zurück, als ein schauriges Lachen vor ihr erklang. Es war kein ehrliches Lachen, es war mehr ein Ausdruck des Entsetzens.

„Das wagst du nach allem, was wir für dich und deine dämliche Familie getan haben? Das wagst du nach dem, was geschehen ist, nach der Gnade und Barmherzigkeit, die wir euch gaben? Du denkst wohl, nur weil du die Tochter eines Geisterjägers warst, wärst du mehr wert…?“

„War?“ machte die erste Frau tonlos. „Wieso war?“

„Weil du zu stolz warst, zurück zu deiner Familie zu gehen, nachdem ihr auf der Straße gelandet seid… du hast dich lieber uns in die Arme geworfen als dir vor deinem großartigen Vater einzugestehen, dass du ohne seine Hilfe niemals zurechtgekommen bist… genauso wenig wie du zugeben würdest, dass es überstürzt und dumm war, sich auf diesen armseligen Nichtskönner Kipu einzulassen…?“

„Sprich nicht so von meinem Ehemann, du falsche Schlange, oder ich reiße dir deine widerwärtige Zunge heraus und werfe sie ins Meer!“ Sie wollte herum fahren, aber mit einem Mal wurde es dunkel und die Frau keuchte und weitete die Augen erneut. „W-was geschieht hier? Was ist das für ein schändlicher Mistladen hier?“ Die bösartige Stimme der zweiten Frau kicherte in der Finsternis.

„Schlaf, Enola Kipu. Es ist schon dunkel… dank deiner Frechheit mir als Herrin gegenüber wirst du das Sonnenlicht niemals wiedersehen… ebenso wenig deinen Mann oder deine süße Tochter, die meinen Sohn heiraten und genauso meine Puppe werden wird wie der Rest dieser Schwachmaten, die hier leben. Sag mir, Enola… ist das nicht gnädig von mir…?“

Das Letzte, was die Dunkelheit preisgab, war ein grauenhafter Schmerz und Enolas panischer Schrei.

„Gib mir meine Pakuna zurück, du scheußliche Hure!“
 

Zoras Chimalis öffnete die Augen und für einen Moment war es dunkel, obwohl draußen helllichter Tag war. Als er sich schweigend aufsetzte und ein übles Schwindelgefühl die Schwärze zurück vor seine Augen trieb, hallte der Schrei seiner geliebten Tochter noch immer in seinem Kopf nach.

Du wirst das Sonnenlicht niemals wieder sehen.

„Was… passiert mit meiner Enola?“ stöhnte der Mann besorgt, während er auf dem Sofa saß und sich ein paar Mal über das Gesicht fuhr. Wann war er hier eingeschlafen? Sein Kopf schmerzte und es pochte seltsam darin, als säße ein Männchen mit einem Hammer in seinem Gehirn und haute lustig darauf herum. Es war dunkel, immer noch, obwohl er längst wach war. Es war ein bedrückendes, übles Gefühl, das er hatte, als er an den seltsamen Traum dachte. Eine kalte, grauenhafte Angst, die mehr und mehr von seinem Geist Besitz ergriff, je öfter er von seiner Tochter träumte.

Enola ging es nicht gut. Enola war in Gefahr, irgendetwas passierte, er wusste nicht was, nur, dass es etwas Schlimmes war. Das Gefühl war er gewohnt, er hatte es seit seiner Jugend, aber diese neue Angst um sein einziges Kind, sein einziges Erinnerungsstück an seine geliebte Frau Tehya, war anders.

Furchtbarer.

Das Pochen wurde stärker und stöhnend vergrub er den Kopf in den Händen; das machte es nur schlimmer. Wie Blitze huschten die Bilder über sein inneres Auge, wie ein Gewitter und ein gewaltiger Sturm ergossen sie sich über seinen Geist, Bilder von seiner Tochter, von seiner kleinen Enkelin und deren Vater, Kotori Kipu, Bilder von grauenhaften Silhouetten, Bäumen, die höher hinauf ragten als sie sollten, und schließlich von einem in Flammen stehenden Horizont…

Als er den Kopf keuchend aus den Händen hob und das Licht allmählich zurück in seinen Geist kehrte, merkte er, dass das Pochen nicht in seinem Kopf war, sondern an der Haustür.
 

Vor der Tür standen vier unglücklich japsende Kinder, eines von ihnen kannte Zoras sehr gut.

„Du liebe Güte, Puran!“

„Helft uns bitte!“ übernahm Akila als Älteste das Reden, als Puran sich stöhnend an Kannar lehnte und nach seinem immer noch höllisch schmerzenden Bauch griff, „E-es gab einen Unfall, wir brauchen die Heilerin Keisha! Puran ist verletzt und wir wissen nicht, was wir machen sollen!“

„Keisha ist nicht da,“ nahm Zoras Chimalis dem blassen Mädchen den Wind aus den Segeln. Er trat zur Seite und lotste die Kinder ins Haus, „Ich bin zwar kein Heiler, aber einen Schmerztee bringe selbst ich zustande, ich kümmere mich schon.“ Mit den Worten hob er den immer noch japsenden Puran vorsichtig auf den Arm, um ihn in die Stube zu tragen. Die drei anderen wagten nicht zu widersprechen und folgten ihm, obwohl sie nicht wirklich davon überzeugt waren, dass es helfen würde, wenn es kein Heiler tat. Aber hatten sie eine Wahl?

Nachdem der Schwarzhaarige aus der Küche Kräuter und Wurzeln geholt hatte, verschwand er zunächst in Richtung Terrassentür und brüllte draußen nach dem Hausmädchen, es solle Tee für die Kinder kochen.

„Du liebe Zeit,“ stammelte Travi inzwischen immer wieder und sah sich fasziniert um, „I-ist das ein großes Haus! Hier möchte ich auch wohnen, die alte Klappermühle meines Vaters ist ja ein Schrotthaufen dagegen!“

„Natürlich, das sind ja auch hohe Leute, du Idiot,“ murrte Kannar und fasste fasziniert einen Krug auf einer Kommode an. Akila schrie.

„Fass ja nichts an!“

„Ach,“ machte Zoras Chimalis, der wieder herein kam, das Hausmädchen rannte voller Erde und Grasflecken an ihm vorbei in die Küche, „Das wäre nicht weiter schlimm, selbst, wenn der Krug kaputt geht, der ist potthässlich. Dabei gehörte er nicht mal Keishas Mutter…“ Die Kinder konnten ihm nicht folgen und Kannar fasste das dämliche Ding gut gelaunt weiter an.

„Das ist total aufregend…“

„Weißt du was, behalt den Krug, Junge. Ich glaube nicht, dass den jemand vermissen würde.“

„W-was, ehrlich?!“ Der Junge grinste seine Schwester triumphierend an. „Guck, ich darf ihn behalten!“ Akila errötete vor Scham über seine Frechheit. Wie konnte er vor den Adeligen so schamlos sein?

Zoras setzte sich mit einer eklig aussehenden Brühe aus grünem Matsch in einer Tasse auf die Couch, wo Puran lag und jetzt seufzend den Kopf hob. Während der Mann in der ekligen Medizin rührte, fragte er:

„Was ist eigentlich passiert, Puranchen?“ Der Junge errötete jetzt auch.

„Also, ich… na ja, Ram und ich, wir-…“ Er musste nicht weiter sprechen.

„Ach so, Ram, das sagt schon alles, danke. Du bist aber auch ein Raufbold! Ich bin wirklich froh, dass ich nur eine Tochter habe, so blieben mir immer die Verletzungen erspart! Mädchen kloppen sich schließlich nicht so dämlich wie Jungs.“

„Du bist doch auch einer,“ sagte Kannar dreist, und Akila schlug ihn entsetzt.

„Wie kannst du nur, Kannar?!“

„W-war doch nicht böse gemeint…“ Zoras schenkte den Geschwistern einen skeptischen Blick.

„Natürlich, als ich noch ein Junge war, hab ich mich auch mit anderen Jungs gehauen, und meine Mutter war immer ganz furchtbar wütend deshalb, und mein kleiner Bruder war immer so ein braver Langweiler, der sich nie gekloppt hat, der hat sich dann diebisch gefreut.“ Puran blinzelte. Er konnte sich Zoras und Nomboh gar nicht als Kinder vorstellen, fiel ihm auf. Er kannte sie nur als seriöse, erwachsene Männer… eine seltsame Vorstellung, dass auch sie einmal so klein wie er gewesen waren.

Er unterbrach seine Gedanken, als der Mann ihm die übel riechende Brühe hinhielt.

„Da, trink das. Schmeckt scheußlich, lindert aber Schmerzen und Blutungen, falls du innen verletzt bist. Am besten wartet ihr hier, bis Keisha kommt, dann kann sie dich noch untersuchen. Wieso bist du eigentlich ohne deine Mutter hier?“

„Ich bin mit Kannar und Akila auf das Stadtfest gegangen,“ sagte der kleine Junge und trank die Brühe tapfer in einem Zug aus. Himmel, war das scheußlich. Er verzog das Gesicht und hatte kurz das Bedürfnis, sich sofort zu übergeben, aber er riss sich tapfer zusammen und hielt dem Geisterjäger die leere Tasse wieder hin.

„Ah ja, Kannar und Akila,“ murmelte Zoras und sah die beiden an, „Ihr seid aus Gahti, richtig? Und du bist dann sicherlich Travidan, der Sohn des Müllers.“

„W-woher wisst Ihr…?“ japste Travi perplex. Kannar knuddelte seinen neu errungenen Krug.

„Na, ich bin Geisterjäger, ich weiß eine Menge, mein Junge. – Eure Namen weiß ich zugegebenermaßen von Purans Eltern, da die auch Geisterjäger sind und wir uns ab und zu im Rat treffen, höre ich viel von euch.“

„Hoffentlich nichts Gutes,“ feixte Kannar, und die anderen lachten, Puran etwas verhalten, weil er Bauchschmerzen hatte.

„Nein, zum Beispiel, dass du letzten Winter einen Kuchen aus der Vorratskammer stibitzt und gegessen hast, Travi…“ Der dicke Junge hustete.

„W-was?! Aber – das hat doch niemand gemerkt, wie konnten Purans Eltern das wissen?“ Puran sah ihn ungläubig an.

„Du hast uns einen Kuchen geklaut?! Wie bitte?!“

„E-er sah so lecker aus, das war, als wir Verstecken gespielt haben, da landete ich in der Vorratskammer, und… und… der sah so lecker aus!“

„Deshalb hast du so lange zum Suchen gebraucht!“

„Ich rate dir etwas,“ murmelte Zoras Chimalis verschwörerisch, „Tu niemals heimlich Dinge in einem Haus, in dem Salihah ist… Purans Großmutter, die kennst du sicher. Sie weiß alles, auch wenn du denkst, niemand hätte dich gesehen.“
 

Das war wahr, Salihah wusste eine Menge. Wenn auch nicht so viel wie sie gerne gewusst hätte, denn mit jedem Tag wurden ihre geistigen Augen schlechter und dunkler, mit jedem Tag wuchs die namenlose Furcht in ihr vor irgendetwas, das sie nicht einmal kannte, geschweige denn sich erklären konnte. Irgendwo tief im Verborgenen, in der hitersten Ecke ihres abgestumpften Geistes, der einst so hellhörig und vorausschauend gewesen war, schlummerte eine Besorgnis und Unruhe, ein Wissen oder mehr Ahnen von Dingen, die in so weiter Entfernung lagen, dass sie kaum ihre Silhouetten erkennen konnte… aber es war beunruhigend genug.

„Die Zukunft unseres Landes… oder vielleicht auch der ganzen Welt… liegt in dunklen Schleiern, Liebster…“ murmelte sie benommen, als sie in der Nacht mit ihrem Liebhaber das Bett teilte. Er hatte ihr berichtet, dass ihr Enkel und seine Freunde am Nachmittag kurz im Anwesen gewesen waren, was sie wenig überrascht hatte; ein wenig ihrer Sehkraft hatte sie offenbar doch noch. „Ich vermag Purans Schicksal nicht mehr richtig auszumachen… alles, was ich weiß, ist, dass sein Schicksal… Teil des Himmelsfeuers ist, das wir in unseren Träumen sehen… seine Bestimmung und das Feuer sind… auf eine seltsame Art und Weise miteinander verbunden. Ich kann es nicht erkennen…“ Er seufzte, während er sich über sie beugte und sie zärtlich küsste.

„Quäl dich nicht, Salihahchen… wir alle machen uns Sorgen. Um so viele Dinge, ich…“ Er unterbrach sich und ließ sich wieder in die Kissen fallen, ehe er ihr plötzlich den Rücken kehrte und sich nervös die schwarzen Haare raufte. Salihah schmiegte sich an seinen nackten Rücken, ihre kühlen Finger streichelten sanft über seinen Arm.

„Was bedrückt dich?“ fragte sie überflüssigerweise; sie war immer noch Telepathin. Sie musste nie fragen. „Du bist nervös… mein Liebster…“

„Es geht um meine Tochter,“ murmelte er, „Ich habe von ihr geträumt, schon so oft, und jedes Mal macht es mir mehr Angst. Ich frage mich, ob ich paranoid werde aus Angst, sie zu verlieren… ich habe schon meine Frau verloren, wenn Enola in Sinami etwas zustößt…“ Hier wurde seine Miene unergründlich und selbst Salihah vermochte seine Gedanken mit einem Mal nicht mehr zu erkennen.

Was bedeutete diese Veränderung…?

Sie hob alarmiert den Kopf.

„Was dann?“ fragte sie kühl. Er antwortete lange nicht.

„Dann kann ich für nichts mehr garantieren…“
 

Als hätten die Geister Zoras gehört, sah er seine Tochter nicht mehr in seinen Träumen für einige Zeit. Als die Frau zurückkehrte in seine Träume, war der Kälbermond beinahe vorüber und die Bilder prasselten auf ihn herab wie ein Steinschlag im Gebirge. Am Ende sah er es wieder, das Himmelsfeuer, während die Erde unter seinen Füßen aufbrach, ehe die ganze Welt mit einem gewaltigen Grollen ins Chaos zu stürzen schien. Das Letzte was er hörte, war das Schreien seines Kindes, das im Schatten versank. Das letzte was er sah, war seine kleine Enkelin, die mit vor Schreck riesig geweiteten Augen an der Hand durch ein Land aus Feuer gezogen wurde.
 

Er fuhr aus dem Schlaf hoch und war augenblicklich auf den Beinen, durch das plötzliche Aufspringen wurde ihm schwindelig und mit einem Husten stürzte er wieder zu Boden. Die Zeit, in der er hustend und vom Traum benommen keuchend am Boden kauerte, kam ihm wie ein einziger Augenblick vor, dann waren plötzlich Nomboh und Keisha bei ihm.

„Was ist passiert?!“ fragte sein jüngerer Bruder, „War das eine Vi-… Zoras?!“ Er konnte den Satz nicht mal aussprechen, da war Zoras schon wieder taumelnd auf die Beine gekommen.

„E-Enola!“ japste er, „Irgendetwas passiert mit ihr, die bringen sie um, ich weiß, dass sie sie umbringen!“

„W-was redest du denn? Warte!“ schrie Keisha, die sich, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, wieder aufrappelte, ebenso wie ihr Mann, als das Clanoberhaupt aus dem Schlafzimmer stürzte. Er schnappte sich im Flur seinen Mantel und seine Schuhe, ungeachtet der Tatsache, dass er darunter nur einen Pyjama trug, und wollte aus der Tür stürzten, als Nomboh ihn erneut packte.

„Wo willst du hin?“ fragte er entsetzt, „Komm doch erst mal zu dir und sag uns, was du gesehen hast!“

„Tod und Feuer, ich fahre nach Sinami!“ fuhr sein Bruder ihn an und riss sich los. Keisha schlug sich japsend die Hände vor den Mund und erbleichte. Mit etwas Gepolter kamen auch Meoran und kurz darauf seine Verlobte Ruja die Treppe herunter.

„Was ist hier denn los?“ fragte Meoran perplex.

„Lass mich los!“ zischte Zoras und sah Nomboh lauernd aus seinen grünen Augen an, „Ich gehe jetzt und du wirst mich nicht aufhalten! Ich weiß nicht, was hier passiert, nur, dass es schlecht ist, dass Sinami brannte, Enola schrie und ihre Tochter davon rannte! Willst du mir verbieten, meiner Tochter zu helfen?!“

„Du weißt weder genau, was passiert ist, noch, was passieren wird, du bist panisch und paranoid, das endet doch im Chaos!“ machte Nomboh entsetzt, „W-was ist denn mit Salihah, weiß die das nicht besser? Wir sollten hinunter und sie fragen, oder…?“

„Die sieht im Moment fast weniger als ich, die hilft mir nicht, ich gehe!“ Er riss sich los und brüllte in den Hof, man solle ihm sein Pferd bringen. Der Rest der Familie folgte ihm bestürzt.

„Warte, dann komme ich mit!“ rief Meoran, „Du kannst nicht mitten in der Nacht nach Sinami reiten-…“

„Keine Zeit, aber danke für dein Angebot!“ Ehe die anderen ihn aufhalten konnten, saß der Mann schon auf dem Pferd und gab ihm die Sporen, worauf es wiehernd davon preschte, zum Tor hinaus in Richtung Westen.

„Zoras, warte!“ schrie Keisha panisch, aber er war schon weg. Nomboh fluchte.

„Das ist doch Irrsinn! – Meoran, rasch, zieh dich ordentlich an, wir gehen ihm nach, wer weiß, was der dummes anstellt in seiner Hektik! Keisha, Ruja, ihr bleibt daheim und verlasst auf keinen Fall das Anwesen! Keiner von euch!“

„A-aber…!“ keuchte Ruja, inzwischen fünfzehn, fassungslos, und ihr Verlobter nahm sie an der Hand.

„Tu, was mein Vater sagt, Ruja. Mein Onkel ist normalerweise reserviert und seriös, wenn er so am Rad dreht, ist etwas falsch, das ist nicht in Ordnung. Ich habe auch kein gutes Gefühl dabei… beeilen wir uns besser!“
 

Weiter im Süden des Landes schreckte Puran keuchend aus dem Schlaf hoch, als die Nacht ein grauenhaftes Donnern erfüllte, so laut, als bräche der Himmel über dem Schloss zusammen, und das Kind sprang schreiend vor Schreck aus dem Bett.

„W-was zum?!“ keuchte er und lief zum Fenster, um in den rabenschwarzen Himmel zu blicken. Das Grollen dauerte noch immer an und die Erde bebte. Am Fenster konnte er nichts sehen, so verließ er sein Zimmer, um aus dem Flurfenster nach Westen zu sehen; dort traf er überraschenderweise auf seine Großmutter, die da im Nachthemd stand und den Kopf in seine Richtung drehte, worauf Puran fast vor Schreck erneut geschrien hätte.

War das wirklich seine Großmutter oder irgendein Gespenst, das zufällig ihre Haare und ihre Kleidung hatte? Sie war so aschfahl wie eine Tote und ihre Augen durchbohrten ihn mit einem Blick, der nicht aus dieser Welt kam.

„G-Großmutter…?!“ wimmerte Puran entsetzt und erbleichte ebenfalls, während er zurücktaumelte. Die Frau schloss bebend die Augen für einen Moment, ehe sich ihre Züge entspannten. Als sie die Augen aufschlug, hatte sich ihr Blick verändert und das Gespenst war verschwunden.

„Sinami brennt…“ flüsterte sie apathisch und starrte irgendwie durch ihren kleinen Enkel hindurch, als sie weitersprach. „Enola Chimalis ist tot und ihr Mann und ihr Kind von der Erde verschluckt worden… ich frage mich, ob das das Himmelsfeuer ist, das ich so oft sehe…“
 


 

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Booyah, Ente xD Wer jetzt denkt "Hääh, wie jetzt? o_O", keine Sorge, geht nächstes Kapi an genau der Stelle weiter <3

Zeitleisten-Memo: Wir haben Ende April 969. <3



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Decken-Diebin
2009-09-20T11:07:20+00:00 20.09.2009 13:07
Interessant, was Noe so damals alles gemacht hat O,o Hm, ja, jetzt würde es mich durchaus auch freuen, wenn du noch ihre Geschichte schreibst.
Enola ist tot .___. Ich mag das irgendwie nicht, irgendwie mochte ich sie und die arme Pakuna hat keine Mama mehr.
Jaah, Kimi und Izzy erwähnten es: Salihah stirbt dann ja auch in gut drei Jahren (972, nicht?) und Zoras hat wohl nicht mehr viel Zeit ;__; Ich mag die beiden, die sind... irgendwie poserig xD
Und irgendwie hat Izzy Recht, Tabari kommt zu wenig vor Oo Hm, ich glaub, Purans Geschichte wird eh viel wichtiger XD Der kann ja mittlerweile richtig schön zaubern, aber ja, der arme Baum .,.
LG, Hina
(Ach ja, meine Sims-Familie wird langsam wirklich komisch. Tabari und Nalani (die auch schon tot sind) haben sechs Kinder: Puran (Einzelkind), Alona, Sukutai, Salihah (Drillinge xD), Karana und Kiuk (Zwillinge xD')... kommt alles durch die Hormontherapie... und Puran heißt jetzt mit Nachnamen Bao, weil Leyya aus Versehen den Heiratsantrag gemacht hat, und ihr Kind heißt Stephanie, weil ich die Familie nicht gespielt hab, als es geboren wurde ;.;' Salihah hat Kelar geheiratet mit ihrer Tochter Neisa, Alona soll Tare heiraten und Sukutai Beksem... Karana und Kiuk kommen später dran ^.^)
Von:  -Izumi-
2009-09-16T16:00:48+00:00 16.09.2009 18:00
Yai, was soll ich schreiben, das war... so viel, ich hab vergessen, was passiert ist! XD
*liest sich Kimis Kommi durch*
.... da war was mit Hirn rausprügeln? Wo denn? Erstaunlich! XD
Ah ja... und Enolas sehr randomer Tod, genau. Ja... da kann ich ja gar nicht weinen óô (Ich weiß, dass ich nicht weiß, was ich will, du musst es mir nicht noch einmal sagen XD)
Ah ja, und dass Zoras, der Oberhahn und seine offiziell-inoffiezielle Lieblingshenne Salihah bald drauf gehen, wurde auch mehrfach angedeutet. Das... ist nicht schön .__.
Vorhin hab ich noch so gedacht, Kelar fehlt, der hat immer für Party gesorgt, aber was wird dann, wenn die Beiden auch weg sind? O___o Dann musst du unbedingt ganz viel mit Tabari machen, der hat diese Party-Gene auch geerbt... theoretisch. Hoff ich. Mir fällt gerade auf, dass er für einen Hauptcharakter doch sehr selten vorkommt oô Ich würde gern mehr von ihm sehen <3
Mich irritiert gerade Kimis Aussage, Puran würde seine Affäre kennen oô Ruja? Wenn die gemeint ist, hab ich was überlesen, die haben doch kein Wort miteinander gewechselt oô (obwohl... doch, einmal waren sie im selben Raum, kann das sein? Ach, ich weiß es nicht! XDD)
Was noch? Ah ja, Bäume retten sollte man so wie so. Tretet alle dem RdB bei! ^o^


So, das beste natürlich zum Schluss <3
Die Derrans! Viele Derrans dieses Mal, ganz viel Rami, den du aber auch ganz hättest streichen können, weil er die ganze Zeit nur die Fresse poliert bekommen hat und ich das nicht leiden kann, aber okay; sein Papa, der Sympathieträger Nummer 1 und Torsten und Torben, ach ne, sind ja keine Zwillinge, Yiska und Tsana. Die einfach nur geil sind. Ich musste einmal so lachen, als Yiska in diesen einen, total dramatischen Pseudo-Poserkampf zwischen Puran und Ram eingeworfen hat "Ich brauche Fisch! Q_____Q" *headdesk* Die sind so süß! XDD

Von:  Kimiko93
2009-09-16T12:50:00+00:00 16.09.2009 14:50
Na bravo ôô

Neustes Leitmotiv: Leute, die sich das Hirn rausprügeln.

Okay, wo fange ich an... Enola ist tot. Surprise. Das hab ich noch ganz gut weggesteckt. Bleibt nur noch abzuwarten, ob ich das bei Zoras oder Salihah auch noch so tue. Hust, hust.

Hm... Puran kennt jetzt auch seine Affäre. Yay. Und Pakuna kommt bald. Und Yiska und Tsana waren tollig. Die sollten Kommentatoren werden, bei irgendwelchen Geisterjägerprüfungen, oder so.

Und Tabari und Nalani durften sich für die Quote lieb haben. Außerdem unterstütze ich die Ansicht, dass Tabari so doof ist, weil Nalani ihm das Hirn rausgeprügelt hat, vollkommen. Ehrlich. Nicht, dass er doof ist, er ist toll, aber... Ach, verdammt, die werden ja am Ende alle sterben. Bääh.

Und meine LEhrerinnen sagen nie Himmel, Arsch und Zwirn. Meintest du nicht neulich auch noch, dass die in Fm gar nicht das Wort Arsch kennen? Ähm, ja, gut... Aber... Pffh ôo

Und rettet die Ahornbäume ûu wieso konnte es nicht eine Eiche oder Buche oder Birke sein? Ich mag keine Birken. Gegen die bin ich allergisch ûu


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