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Die Chroniken von Khad-Arza - Die Herrscher der Geisterwinde

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Der Zorn des Vater Himmel

Die Nacht, in der das Feuer über Tharr kam und sich Nalanis und Purans ewiger Traum bewahrheitete, begann mit einem mächtigen Donnergrollen, wie sie es bei Sonnenuntergang bereits schon mal gehört hatten. Es erschütterte die Erde und den Himmel gleichermaßen, es war wie eine bösartige, unheilschwangere Trommel in der Finsternis, die den Menschen durch Mark und Bein ging.

„Das ist doch Lärmbelästigung!“ rief Tabari wütend und warf sich in seinem Bett auf die andere Seite, sich das Kissen über den Kopf ziehend, „Verdammt, Ruhe, Vater Himmel und Mutter Erde!“ Nalani kauerte sich neben ihm bei jedem Trommelschlag mehr zusammen wie ein verängstigtes Kaninchen, als das ungute Gefühl, das sie seit Jahren hatte, rapide schlimmer wurde, mit jedem Herzschlag schien es sich ins Unermessliche zu steigern… Schuld waren das Beben der Erde und das Trommeln des zornigen Himmels.

„Kommt nicht hierher!“ wisperte sie und schloss bebend die Augen, während Tabari hinter ihr fluchte und meckerte. „Bleibt fern, Zorngeister des Himmels!“

Was immer Puran am Abend gesehen hatte, das ihn so entsetzt hatte, dass er zu Boden gegangen war und sie ihn hatten ins Bett bringen müssen, jetzt zehrte es an ihr und es würde nicht loslassen, bis es das letzte Bisschen Verstand aus ihrer Seele gepresst hatte.

Öffne die Augen, Nalani! Befahlen die Geister in ihrem Kopf, und sie weigerte sich und presste die Fäuste so sehr zusammen, dass es schmerzte.

„Bleibt fern!“ keuchte sie abermals, als die Stimmen ihren Befehl wiederholten, bis sie nach dem vierten Mal endlich dem Befehl folgte… und erstarrte.

Das Zimmer war taghell erleuchtet, obwohl es mitten in der Nacht war. Doch der Schein war nicht Schein des Tageslichtes, es war ein böses, rotes Leuchten, ein Licht, dass keine Geborgenheit, sondern den Tod versprach. In dem Moment, in dem Nalani noch mit offenem Mund in Richtung Fenster starrte, von wo der Schein zu kommen schien, ertönte das Grollen und Donnern direkt über ihren Köpfen in einer Lautstärke, als bräche der Himmel über dem Schloss zusammen. Gleichzeitig wurde das gesamte Gemäuer mit einem heftigen Krachen erschüttert und warf Tabari und Nalani aus dem Bett.

„Was, im Namen aller Mächte der Schöpfung-…?!“ schrie Tabari und erbleichte, als er sich aufrappelte und das Beben ihn gleich noch einmal umwarf, das ganze Schloss wurde erfasst von dem grauenhaften Zorn der Himmelsgeister, es warf sich hin und her und mit einem lauten Krachen zerbarsten die hölzernen Balken über dem Schlafgemach, herein geflogen kam ein Stein aus purem Feuer.

Nalani schrie.

„Es ist der flammende Regen aus meinen Träumen! Wir werden angegriffen!“ Kaum hatte sie ausgesprochen, gingen bereits die Vorhänge und Teppiche lichterloh in Flammen auf.
 

Puran fuhr keuchend aus seinem unruhigen Schlaf hoch, als das unwirkliche Zischen und Krachen direkt über ihm ihn in Angst und Schrecken versetzte. In Windeseile sprang er aus dem Bett und stürzte zum Fenster. Das Beben des Bodens warf ihn beinahe von den Beinen, ehe er sich am Fensterbrett festhalten und hinaus starren konnte.

„Himmelsdonner!“ japste er fassungslos bei dem Anblick, der sich ihm bot.

Das Schloss brannte. Der Hof und die Ställe standen in Flammen, aber nicht nur sie – das ganze Land schien zu brennen, und aus dem Himmel fielen Klumpen aus Feuer. Der Himmel war schwarz vom Rauch, der von brennenden Ländereien und Ortschaften aufstieg, und ein dröhnendes Beben der Mutter Erde erfüllte die Nacht wie ein Klageschrei des Todes. Puran brauchte einen Moment, um sich klar zu machen, was hier geschah – was es bedeutete, was hier geschah. Und zum ersten Mal begriff er den Traum vom Flammenregen, den er seit Jahren immer wieder geträumt hatte… zum ersten Mal spürte er die Panik, die er nur aus den Träumen kannte, in wirklicher, grauenhafter Realität.

Sie würden alle sterben.

Das war das Ende von Tharr! Das Ende der Welt…
 

„Du kannst nicht davonlaufen… mit Flamme und Schmerz wird der Schatten über Tharr fallen und euch alle begraben.“
 

Er stand wie angewurzelt vor dem Fenster und war unfähig, sich zu rühren, seine Augen sahen nicht das Feuer im Land, sondern die brutale Grausamkeit des Geschehens, und er bemerkte den brennenden Stein, der direkt auf sein Fenster zuflog, erst, als es schon quasi zu spät war. Als das Feuer das Glas des Fensters sprengte und ins Zimmer polterte, verfehlte es den jungen Mann um Haaresbreite, stattdessen trafen ihn die Glasscherben und die Wucht des Schlages warf ihn zu Boden, während sich die Scherben schmerzhaft in seine Arme bohrten, die er reflexartig schützend vor sein Gesicht gehalten hatte. Der Raum wurde von einem lauten Krachen erschüttert, als der Feuerball in die Ecke knallte und dort zu explodieren schien, sämtliches brennbare Material in Brand steckte und die Möbel erzittern ließ. Puran lag keuchend am Boden und sah noch den Schrank auf sich zugestürzt kommen, dessen Füße das Feuer angesengt hatte, und in dem Moment, in dem er glaubte, sein Leben wäre zu Ende, wurde der gesamte Schrank plötzlich zur Seite geschleudert, aus dem kaputten Fenster hinaus und davon.

„Puran! Steh auf, los!“ kreischte seine Cousine mit verheultem Gesicht und zerrte an ihm, dabei griff sie in eine Scherbe, die in seinem Arm steckte, und ihre Hand begann zu bluten. Das Mädchen heulte verzweifelt auf und zerrte energischer. „Steh auf, wir müssen hier raus! Es stürzt alles zusammen, wir sterben, wenn wir nicht hinausgehen!“ Mehr instinktiv als aus klarem Verstand heraus rappelte er sich hustend auf.

„Warum bist du hier?!“ keuchte er, als Alona versuchte, das Feuer mit Alara zu löschen – vergeblich. Der einfache Zauber kam gegen das Himmelsfeuer nicht an.

„Lauf!“ schrie sie stattdessen und er folgte ihrem Befehl. Als sie das Zimmer hastig verließen, krachte der Rest des Mobiliars in sich zusammen und sie entkamen um Haaresbreite den Flammen, die aus der offenen Tür stoben.

Im Flur sah es ähnlich aus und die zwei rannten durch Trümmer und Flammen, hinab über die Reste der Treppe, auf deren Stufen das Feuer ebenfalls züngelte.

„Mutti, Vati!“ schrie Alona dabei, „Wo seid ihr?!“ Doch weder von Kiuk, noch von Sukutai, Tabari oder Nalani war irgendwo eine Spur. Puran blieb abrupt auf halber Treppe stehen und wollte wieder hinauf.

„Wir müssen nachsehen, vielleicht sind sie oben eingesperrt!“ schrie er hysterisch, und als er losrennen wollte, warf seine heulende Cousine sich in blinder Panik an seinen Hals.

„Geh nicht weg! Mach, was du willst, aber geh nicht fo-… aah!“ Sie schrien beide auf, als die Treppenstufe, auf der sie standen, vom Feuer angefressen zusammenbrach und beide herunter stürzten. Schmerzhaft polterten sie zu Boden, geistesgegenwärtig sprang Puran wieder auf die Beine und packte seine Cousine, um sie hoch zu zerren. Die Treppe war hinüber, hinauf könnten sie nicht mehr. In ihm kam eine grauenhafte Panik hoch – was war mit ihren Eltern? Wo steckten sie, warum waren sie nicht hier?

Warum ging die Welt unter?

Er packte Alona, um mit ihr zur Tür hinaus zu rennen. Doch auf dem Weg dahin wurde das Schloss von einem weiteren Beben erschüttert und warf die zwei von den Beinen. Alona schrie vor Angst, als sie abermals zu Boden stürzten und Puran sich samt seiner Cousine noch rechtzeitig zur Seite rollte, als ein weiterer Feuerstein zu Boden stürzte.

„D-die Tür!“ schrie er fassungslos und sah mit an, wie die Tür lichterloh in Flammen aufging.

„Keller!“ war alles, was die vor Panik bebende Alona neben ihm herausbrachte, und zusammen rannten sie zurück durch die Halle, durch den unteren Flur in Richtung Kellertreppe. Vom Keller aus führte eine kleine Steintreppe hinaus auf den Hof. Begleitet von lautem Krachen und Dröhnen und weiteren Feuerschlägen schafften sie es, in den Keller zu rennen, wo es erstaunlich ruhig war.

„Wir können hier drinnen nicht bleiben!“ keuchte Puran außer sich und rannte mit seiner heulenden Cousine durch den Korridor in Richtung Tür. „Ich bringe dich hier weg in Sicherheit, dann suche ich alleine nach unseren Eltern, kapiert? Du wirst dich dann nicht rühren, Alona!“

„Ich hab Angst!“ kreischte sie panisch, „I-ich will nicht, dass du weggehst! Hörst du?!“ Er hielt inne und lauschte, als das Donnern kurz verstummte. Alona drückte sich wimmernd gegen die kalte Steinwand. Sie erzitterte noch immer, aber das gröbste Beben war scheinbar vorbei…

„Hör zu,“ machte Puran zu ihr und versuchte mit aller Kraft, die Panik in seinem Inneren zu verdrängen – einer musste das Mädchen beschützen, verdammt, er durfte jetzt nicht wahnsinnig werden! Er tat ein paar Schritte nach vorne und stieß die Tür zu einem Raum zu seiner Linken auf. „Schnapp dir ein Paar alte Schuhe aus dem Schrank und was zum Anziehen, was immer uns da draußen erwartet, es wird nicht nett sein. Und es wird gefährlich sein… diese Steine fallen nicht einfach vom Himmel. Das sind Leute, die uns angreifen, die sie werfen…“ Alona erbleichte. Als sie sich nicht rührte, suchte er ihr selbst ein Paar alte Schuhe aus dem Schrank im Raum, in dem normalerweise alte, nicht mehr verwendete Kleider aufgehoben wurden. Er schnappte sich in Ermangelung eigener noch passender Schuhe irgendwelche alten von seinem Vater und zog sich eine Handvoll alter Klamotten und die Schuhe über, ehe er einen Schrank weiter hastete, um nach Waffen zu suchen. Sein eigenes Schwert war in seinem Zimmer geblieben… ein Jammer um das schöne Stück.

Er hatte sich gerade zwei Schwerter aus dem Schrank geschnappt und ein Messer ergriffen, als das Donnergrollen abermals kam, lauter als zuvor. Alona schrie auf dem Flur, den einen Stiefel bereits angezogen und den anderen in der Hand. Als Puran zu Boden ging, war es nicht das Beben oder der markerschütternde Donner über ihnen, der den Himmel zerplatzen lassen musste, was ihn zu Boden brachte, sondern die Flut von brutalen Bildern, die plötzlich vor seinen Augen aufflimmerte. Klirrend ließ er alle Waffen fallen und hustete, auf allen Vieren am Boden kauernd, als eine so mächtige Übelkeit von ihm Besitz ergriff, dass er das Gefühl hatte, in Ohnmacht fallen zu müssen.

Cholena! Wo war sie? Was war mit ihrem Dorf Rathuk? Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte Puran sich, die Geister hätten ihm die Wahrheit nicht so grauenhaft direkt ins Gesicht geworfen.

Seine hübsche Freundin verschwand in der Finsternis. Er versuchte sie einzuholen, doch je schneller er rannte, desto weiter weg war Cholena, bis die Dunkelheit sie verschlungen hatte. Er schrie. Vor seinen Augen flammte Cholenas Schicksal auf, als er das Feuer im Dorf Rathuk sehen konnte, die garstigen Flammen, die auch das Schloss seiner Vorfahren zerstörten. In dem Moment des Bildes, das ihm die schemenhafte Gestalt des Grauens zeigte, die seiner Geliebten den Schädel zertrümmerte, schalteten sich sowohl sein Verstand als auch seine Vernunft ab.
 

Alona wusste nicht, was passierte. Sie lag benommen und schockiert am Boden und alles, was sie wahrnahm, war, dass ihr Cousin plötzlich wie am Spieß zu schreien anfing. Er kriegte sich gar nicht mehr ein, als wollte er sich plötzlich die Lunge aus dem Leib schreien. Ein weiteres Beben erschütterte das Schloss und das junge Mädchen schaffte es erst beim dritten Versuch trotz des donnernden Grollens von oben und des Zitterns der Erde, sich aufzurappeln und den zweiten Schuh anzuziehen. Die Feuersteine sprengten bereits den Aufgang in den Korridor, den sie herab gekommen waren, und das Mädchen sprang kreischend zur Seite, um den fliegenden Schutthaufen und der Staubwolke auszuweichen. Bebend vor Panik stolperte sie in den kleinen Lagerraum und zerrte heulend an Purans Arm.

„Du musst aufstehen!“ schrie sie ihn an, „Was ist mit dir?!“

„FASS MICH NICHT AN!“ brüllte er wie wahnsinnig und sie fuhr erbleichend zurück, als er das Gesicht hob, verzerrt von einem entsetzlichen Schmerz ob der Grausamkeit der Himmelsgeister – plötzlich wusste sie, was los war. Sie trat keuchend vor Entsetzen zurück und strauchelte, während Puran versuchte, auf die Beine zu kommen.

„D-das ist gelogen!“ wisperte Alona, „D-das ist doch nicht so…?!“

„Cholena!“ schrie ihr Cousin außer sich und stürzte hustend und keuchend wieder zu Boden, als eine neue Erschütterung ihn wieder aus dem Gleichgewicht warf. Er schrie den Namen seiner Freundin und er verfluchte die Himmelsgeister, die es wagten, ihm die Bilder wieder und wieder vor Augen zu halten… das Feuer, das brennende Dorf, der Holzscheit, der den Kopf des Mädchens zertrümmerte –

Er hörte Cholena schreien, bevor die Finsternis sie umfing… und ihn ebenso.
 

Er wusste nicht, wie er auf die Beine gekommen war. Das nächste, das er halbherzig wahrnahm, war, dass er rannte, dass er schrie und das entsetzliche Gefühl in seinem Inneren sich mit der aufkommenden, heftiger werdenden Übelkeit mischte. Es fühlte sich an, als würde es ihn innerlich zerreißen und auffressen, und er schnappte geistesabwesend die Schwerter wieder vom Boden und stürzte hinaus, den Korridor hinunter. Er hörte Alona hinter sich nicht mehr nach ihm rufen, er hörte das Krachen und das zornige Donnern aus dem Himmel nicht mehr.

„Ich bringe sie um!“ schrie er wutentbrannt, „Ich bringe sie alle um, diese Schweine, die sie getötet haben! Ihr werdet kopflos am Boden kriechen wie Würmer, ihr Maden! Ihr werdet euch wünschen, niemals geboren worden zu sein!“

„Warte, nicht!“ kreischte Alona hysterisch und wollte ihm nachsetzen, um ihn aufzuhalten, doch mit einer zornigen Handbewegung und einem Windzauber zerschmetterte er schon völlig in Rage die Tür, die hinaus führte, mit solcher Wucht, dass der Druck des Schlages sowohl ihn als auch Alona abermals zu Boden schleuderte. „Puran, komm zurück! Warte!“ heulte das Mädchen, als er schon die Treppe hinauf sprang ans unwirkliche Tageslicht, das keines war, sondern der bösartige Schein des Feuers. Heulend folgte sie ihm hinaus, um ihn nicht zu verlieren, obwohl sie Angst hatte, direkt hinter der Treppe von irgendetwas erschlagen zu werden. Aber oben empfing sie nur ein ohrenbetäubendes Krachen, die darauf folgende Erschütterung hätte sie beinahe zurück die Treppe hinab geschleudert. Alona warf sich schreiend zu Boden – wo war ihr Cousin hin? „Puran! Puran, wo bist du?!“ schrie sie verzweifelt seinen Namen, doch er antwortete nicht. Der Hof stand in Flammen, ebenso wie das Schloss. Als mit einem weiteren Krachen der Südturm von einem Feuerstein getroffen wurde, fuhr das Mädchen herum und erstarrte. Das alte Gemäuer, das über Jahrhunderte felsenfest hier gestanden hatte und Wind und Wetter getrotzt hatte, brach brennend und ächzend in sich zusammen, die Steine des Turms stürzten dem Mädchen bereits vor die Füße, ehe sie Zeit bekam, zu reagieren. Plötzlich wurde sie von hinten gepackt und mit enormer Kraft weggezerrt, bis sie schrie, weil ihr Arm schmerzte. Als Alona herumfuhr, sah sie in das aufgelöste Gesicht ihrer Mutter.

„Mein Mädchen!“ heulte diese und drückte die unversehrte Alona an sich, als hinter ihnen der Südturm in sich zusammen fiel und auf den brennenden Hof stürzte. „Mein Mädchen, du bist am Leben! Ich habe überall nach dir gesucht!“

„Wo ist Puran?!“ jammerte Alona und begann vor Erleichterung, ihre Mutter lebend und so gut wie unverletzt zu sehen, erneut zu weinen.

„Wir haben keine Zeit, wir müssen von hier weg!“ keuchte die Mutter und hustete ob des giftigen Rauches, der die Luft verpestete. Die stickige Hitze mit dem Arm wegzuwedeln versuchend zerrte sie ihre Tochter rennend in Richtung des Haupttores. „Das Schloss wird angegriffen, wir m-müssen so schnell wie möglich fort von hier!“ Sie schrien und fuhren zusammen, als direkt hinter ihnen etwas explodierte und die Druckwelle samt einem Feuerschwall die Frauen zu Boden warf. Alona kreischte. Alles brannte, alles ging zugrunde!

Es war wirklich das Ende der Welt…
 

Flammen und Hitze.

Das war alles, was Puran wahrnahm, als er kopflos durch das Inferno rannte auf der Suche nach einem Schuldigen, nach irgendjemandem, den er für Cholena abstechen konnte, dem er seinen ungebändigten Zorn ins Gesicht schleudern konnte. Er wusste nicht mehr, wo Alona war, er wusste gar nichts mehr. Plötzlich stolperte er über etwas und stürzte zu Boden, worauf er hustete, ehe er sich umblickte, um zu sehen, worüber er gefallen war. Entsetzt schrie er auf, als er nichts anderes als eine brennende Leiche sah, die da mitten im Weg lag und nicht mehr zu erkennen war – vermutlich einer der Angestellten. Puran fragte sich kurz, ob der nette Küchenjunge und seine Frau und sein Sohn noch lebten…

Die nächsten Gedanken ließen die Übelkeit mit aller Macht zurückkehren – was war mit seinen Eltern? Wo waren sie? Am Leben? Oder so wie Cholena… …

„Cholena!“ Er jammerte und schrie dann gellend auf, ehe er in sich zusammensank und weiter schrie, ihren Namen schrie, als könnte er dadurch den Schmerz in seinem Inneren und die grauenhafte Panik verdrängen… er wollte den Rest seines Lebens hier liegen und schreien, verdammt!

Ihm wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht, als er plötzlich hoch gezerrt wurde. Als er herum fuhr, blind vor Schmerz und Zorn, hätte er mit seinem Schwert beinahe seine eigene Mutter enthauptet, die vor ihm stand. Nalani duckte sich rechtzeitig und schlug ihm die Waffe aus der Hand.

„Spar dir dein Geschrei für später, Sohn!“ blaffte sie ihn an, „Das sind die Zuyyaner, die uns überfallen, das ganze Land steht in Flammen! Wir können hier nicht bleiben, wir werden das Schloss jetzt verlassen!“ Hinter ihr tauchte auch Tabari auf, reichlich zerzaust und mit angesengten Kleidern, das Gesicht schwarz vom Ruß. Er hustete und Puran strauchelte. Die Welt drehte sich, die heißen Steine des Hofes verbrannten seine Schuhsohlen… er bemerkte es nur beiläufig, als er heftig ein und ausatmete und am ganzen Körper erzitterte.

Die Flammen waren immer noch da…

„Jetzt haut endlich ab!“ empörte der Herr der Geister sich, als sein Sohn kein Wort sagte und seine Frau sich zu ihm umdrehte, „Ich suche nach Kiuk, Sukutai und Alona, ihr beide verschwindet jetzt endlich von hier! Das Anwesen meiner Vorfahren, wirklich großartig! Dafür werden diese Schweinehunde bezahlen, das schwöre ich!“ Er spuckte wütend auf den Boden und schubste Nalani zu Puran herüber, der sein Schwert aufhob und abermals taumelte.

„Mir ist schlecht…“ stöhnte er benommen, wurde aber ignoriert, während seine Mutter ihn unsanft am Oberarm packte.

„Wehe, du kommst nicht nach, Tabari!“ warnte die Frau ihren Mann, „Dann bringe ich dich eigenhändig um!“
 

Flammen und Kälte.

Das war paradox. Puran nahm die Umwelt nicht wirklich wahr, als seine Mutter ihn mit sich durch die Hintertür hinauszerrte, weg vom Hof und vom brennenden Anwesen. Der Wind wehte stickige, vom Rauch verpestete Luft in ihre Gesichter und ließ ihre Augen tränen, als sie nach Osten rannten, zu den Klippen. Von unten kam Kälte, als die Brandung an die Felsen preschte, das Rauschen der Wellen konnte dennoch nicht das Donnern aus dem blutigen Himmel übertönen.

„Wo wollen wir hin?!“ keuchte Puran und fuhr herum. Als er das Schloss von weitem sah, sah er erst das wirkliche Ausmaß des Infernos. Es war, wie seine Mutter sagte, das ganze Land stand in Flammen. Der Himmel und die Erde brannten gleichermaßen, zurückbleiben würde ein schwarzes Land des Todes.

„Die Klippen runter,“ sagte die Mutter und stoppte in dem Moment vor einem kleinen Serpentinenweg, der eng an der Klippe hinab in Richtung Meer führte. Nalani war lange nicht hergekommen… „Rasch, runter!“ befahl sie und schob ihren traumatisierten Jungen vorwärts. Er war ihr einziges Kind, seine Sicherheit kam an allererster Stelle. Ehe sie zuließe, dass irgendein Zuyyaner ihn erwischte oder das Feuer ihn verbrannte, würde sie lieber selbst sterben.

Als eines der flammenden Geschosse unmittelbar hinter ihnen auf die Wiese schlug und explodierte, hätte der Druck die zwei beinahe von der Klippe gefegt. Puran keuchte und warf sich bäuchlings auf den Pfad, auf den er gerade so passte, während Nalani zu Boden geschleudert wurde und das Gras Feuer fing.

„Mutter!“ schrie Puran panisch in der Furcht, sie wäre getroffen worden, doch sie rappelte sich bereits hustend wieder auf.

„Rasch! Geh, unten sind wir geschützt vor den Schlägen!“

Den Serpentinenweg hinunter gestolpert und über ein paar rissige Felsen geklettert erreichten die beiden eine kleine Höhle in der Klippe, in die sie krochen. Nalani hatte keine Gedanken dafür, sich an Dinge zu erinnern, die hier lange vor Purans Geburt geschehen waren, zu tief war das Beben, das selbst die Klippen erschütterte, als sie sich in die dunkle Höhle kauerten und dem Donnern lauschten. Tabari wusste, dass sie hier waren, er würde nachkommen und sie finden – obwohl er Klettern verabscheute.
 

Puran dachte nicht an seinen Vater. Auch nicht an seine Cousine oder seinen Onkel und seine Tante… nicht an seine Heimat, das Schloss seiner Ahnen, das in diesem Moment über ihnen dem Erdboden gleich gemacht wurde, überrannt von den Zuyyanern und ihrem Tod bringenden Feuer. In seinem Kopf waren nur die scheußlichen Bilder, seine geliebte kleine Cholena, ihr zertrümmerter Schädel, ihr dunkles Blut, das den Sandboden vom brennenden Rathuk bedeckte.

„Cholena!“ jammerte er und kauerte sich noch enger zusammen in der Höhle, worauf Nalani ihn ansah. Sie schloss ihre Augen kurz mitleidig, weil sie wusste, was in ihm vorging. Es war nicht wirklich schwer zu erraten.

„Es tut mir leid…“ sagte sie dumpf, und er erschauderte. Die Bilder raubten ihm den Verstand, hatte er das Gefühl, er wollte das nicht sehen! Er wollte gar nichts, höchstens aus dieser Höhle springen und dabei sterben…

„Ich verfluche sie, die Geister, und die Mächte der Schöpfung, die das zulassen!“ brüllte er und fuhr so schnell hoch, dass er sich schmerzhaft den Kopf an der Höhlendecke stieß. Nalani setzte sich alarmiert auf, als er laut zu schreien anfing und mit Wucht die Hand gegen die Felswand schmetterte. Es gab ein unschönes Knacken und die Frau keuchte, als er den Schmerz der ohne Zweifel mindestens einmal gebrochenen Hand nicht zu bemerken schien und nur weiter jammerte.

„Puran, reiß dich zusammen! Du kannst ihr nicht helfen, wenn du so herum schreist!“

„Niemand kann ihr helfen, weil sie tot ist!“ brüllte er sie an, „Die Geister veräppeln mich, halten sie es für nötig, mir das vor Augen zu halten?! Die finden das witzig, ich will das nicht! Ich will gar nichts, verdammt noch mal!“

„Puran!“ schrie Nalani hysterisch, als er herumfuhr und sie Angst hatte, er würde sich tatsächlich aus Wahnsinn aus der Höhle stürzen; doch er tat es nicht, stattdessen brach er wieder am Boden zusammen und schrie und heulte und weinte um seine Cholena, sein hübsches Mädchen. Nalani erschauderte, als sein grausamer Schmerz sie tief im Inneren erschütterte und bewegte, so erhob sie sich und kroch vorsichtig zu ihm herüber, um die Arme um ihn zu legen und ihn wie ein verängstigtes Kind an sich zu drücken.

„Weine…“ wisperte sie tonlos, „Weine, das werden wir alle noch viel tun, denn das, was uns heute genommen wurde, wird niemals zurückkehren…“

Und sie umarmte ihn und weinte im Inneren mit ihm.
 

Das Beben ebbte nach einer gefühlten Ewigkeit ab, das Donnern nicht. Wie Trommeln des Grauens dröhnten die Donnerschläge durch die Nacht, die wieder zum Tag wurde. Puran schlief einen traumlosen Schlaf, während seine Mutter am Rand der Höhle saß und in den blutigen Sonnenaufgang starrte, der nicht wirklich einer war. Der Himmel war verhangen vom Rauch des brennenden Landes. Es war ein Morgen des Todes und der Trauer.

Tabari war nicht gekommen. Seine Frau wurde langsam nervös, während sie da saß, bis sie sich schließlich überwand, ihren traumatisierten Sohn aus seinem Schlaf zu reißen.

„Wach auf,“ befahl sie ihm dumpf, „Ich gehe zurück und sehe, wo Vati bleibt. Bleib hier und rühr dich nicht, Puran.“ Er brauchte etwas, um ihre Worte zu begreifen und zu verstehen, wo er war. Die Erinnerung war wie ein Hammerschlag auf seinen Kopf. Zum ersten Mal spürte er die grauenhaften Schmerzen in seiner Hand und, dass er sie nicht bewegen konnte. In seinem Kopf pochte es, die Geister schwiegen.

„Warte!“ keuchte er, als Nalani sich aufmachen wollte, „I-ich… ich bleibe hier nicht alleine! Ich komme mit dir, Mutter!“

„Es ist zu gefährlich,“ entgegnete sie im Hinausklettern, „Ich will nicht, dass dir etwas zustößt.“

„Als ob das jetzt noch einen Unterschied machen würde!“ entgegnete er verbittert, missachtete ihren Befehl und folgte ihr trotzig. Nalani widersprach nicht mehr.

Oben auf der Klippe war das Land schwarz und brannte zum Teil noch immer. Als die zwei herüber zum Schloss sahen, fanden sie nur eine alte Ruine vor, die Reste der Grundmauern und den halben Hauptturm. Flammen züngelten noch immer aus dem Grundstück und Nalani schlug sich die Hände vor den Mund, als sie eine ungewohnte Angst überfiel, ein Gefühl, das in seiner Grausamkeit selbst Kelar Lyra überstieg.

„Tabari!“ schrie sie ungeahnt panisch und rannte voran, Puran blieb nichts anderes übrig als ihr nachzurennen, um sie nicht zu verlieren… nein, nicht auch noch sie.

Das schöne Land Dokahsan war nicht wiederzuerkennen. Nichts war mehr so, wie er es gekannt hatte, jetzt war alles tot und platt. In der Ferne ertönten die Trommeln des Krieges, sie wurden lauter und kamen näher. Als Puran für einen Moment stehen blieb und ernüchtert nach Norden starrte, sah er in der Ferne sich bewegende Punkte, die nach Süden rückten.

„Sie kommen hierher… es sind Massen von denen!“ japste er und beeilte sich, seiner Mutter zu folgen, die gerade die Ruine erreichte.

Es war ein Jammer, so durch die Reste des einst so stolzen Anwesens zu staksen wie ein Storch im Salat. Zerbrochenes Geschirr lag zwischen den Trümmern am Boden, zerstörte Möbel zwischen den Balken und Steinen. Verkohlte Häufchen waren die letzten Erinnerungen an die schweren, teuren Gardinen der Stuben und Schlafzimmer, an die aufwendig gewebten Teppiche. Sie fanden Tabari, als sie einmal um den Trümmerhaufen herum gekraxelt waren. Da stand er inmitten der Misere und starrte nach Westen, wie eine Statue aus Stein, ohne sich zu rühren. Sein schwarzer Umhang war kaum weniger zerfetzt als die verkohlten Vorhänge am Boden, seine strohblonden Haare waren durch Ruß und Asche beinahe so schwarz wie die seiner Frau. Als Nalani ihn erreichte und ihn keuchend am Arm fasste, drehte er wie mechanisch seinen Kopf.

„Du bist wohlauf…“ stöhnte die Frau erleichtert und vermochte ihre kalte Hülle nicht länger zu wahren, vermochte ihre Emotionen nicht länger zu verschließen ob des Steins, der ihr vom Herzen fiel bei seinem Anblick. Er war so gut wie unversehrt, an seinem Arm klaffte eine grauenhafte Wunde und in seinem Gesicht waren ein paar Kratzer und Blutergüsse, ansonsten schien er gesund zu sein.

„Ich habe sie nirgends gefunden,“ murmelte er benommen, als seine Frau ihn erleichtert umarmte und Puran sie endlich einholte. „Kiuk, Sukutai und Alona sind wie vom Erdboden verschluckt, ich habe jeden Stein umgedreht!“ jammerte der Herr der Geister, „W-wie kann ich weggehen ohne die Gewissheit, ob mein Bruder und seine Familie wohlauf sind?!“

„Sie sind Telepathen, vielleicht haben sie sich weg teleportiert, um sich in Sicherheit zu bringen!“ meinte Nalani und sah ihn an, „Das wäre durchaus nicht unwahrscheinlich-… glaubst du nicht, die Geister würden dir zeigen, wenn Kiuk etwas zustieße?“ Puran versetzte es einen schmerzhaften Stich. Zeigen… ja, offenbar zeigten die Geister einem gerne Gewissheit um den Verbleib seiner Lieben… er dachte an Cholena und zog scharf die Luft ein, um die furchtbare Übelkeit zu verdrängen.

„Wenn sie hier nicht sind, werden sie fort sein, Mutter hat recht,“ schaffte er zu sagen und Tabari sah ihn ungläubig an, „W-wir müssen hier weg, Vater! Wir können uns hier nicht verstecken und von Norden kommen noch mehr dieser Scharlatane!“ Tabari und Nalani drehten synchron die Köpfe gen Norden, von wo das Trommeln und Donnern immer noch erschallte und lauter wurde. Der rötliche, unwirkliche Schein des Feuers, das gerade erlosch, tauchte den Himmel in eine bösartige Farbe. Sie hatten kaum die Köpfe nach Süden gewandt, um zu sehen, was für ein Weg vor ihnen lag, da erzitterte die gespannte Haut von Mutter Erde erneut. Die drei Schamanen strauchelten und Puran keuchte, während Nalani den Kopf herum riss.

„Sie kommen, rasch!“ rief sie, „Wir können nicht die Straße benutzen, es wäre viel zu riskant! Entlang der Klippen führt ein Pfad weiter unten nach Süden, so weit ich weiß, wenn wir den nehmen, ist die Gefahr, dass diese Zuyyaner uns erwischen, so gut wie nicht vorhanden.“

„Klippen?“ brummte Tabari, „Du willst, dass ich klettere, während ich nicht weiß, wo mein Bruder ist, während-… m-mein Schloss, das Anwesen meiner Ahnen ist zerstört! Die Welt brennt, ich kann das nicht, Frau!“ Er zeigte schnaufend auf den Boden am Eingangstor, oder dem, was davon übrig war. „Diese Penner sind hier einmarschiert, oder haben es versucht, sie haben wohl nicht damit gerechnet, dass hier noch jemand lebt, der fähig ist, ein Schwert zu führen! Ich mache das gerne noch zehnmal, wenn ich dafür auf der Straße gehen kann, in unserem Land, wohlgemerkt!“

„Spinner!“ schnaufte Nalani, „Gegen diese Armada können wir nicht mal zu dritt etwas ausrichten! Das sind Zuyyaner, das sind Magier, und sie ticken anders als wir! Ihr Feuer ist unlöschbares Feuer, selbst meine Wasserzauber haben nichts gegen es bewirkt!“ Es bebte erneut und Tabari schnappte nach Luft, während Puran benommen zurücktrat und dabei beinahe auf einem herumliegenden Holzscheit ausgerutscht wäre.

Das Trommeln kam näher.

Rascher.

„Schnell!“ befahl Nalani und packte Tabaris Kragen, ehe sie ihren Sohn vor sich her schubste und mit beiden Männern die Trümmer des Anwesens hinter sich ließ, zurück zu den Klippen rannte. Hinter ihnen dröhnte der Donner erneut, als die zweite Welle des Todes über das Land schwappte, um alles zu vernichten, was sie zu fassen bekäme.

Puran warf im Rennen einen letzten Blick auf die Reste des Schlosses, das ihm seit er denken konnte als Heimat gedient hatte. So ging es dahin, das ehrwürdige Gemäuer, das Jahrhunderte lang gestanden hatte… es sollte das letzte Mal sein, dass er es zu sehen bekam.
 

Der Pfad, von dem Nalani gesprochen hatte, führte hinter der Höhle, in der sie und Puran übernachtet hatten, die Klippen hinab und schlängelte sich kurz vor dem sehr schmalen Strand eben weiter nach Süden. Tabari fluchte über die Kletterei, die anderen ignorierten ihn aber, so gab er es bald auf und folgte artig.

„Du bist verwundet…“ murmelte Puran irgendwann dumpf, nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie dem Pfad folgten. Das Donnern wurde dumpfer, viel lauter erschien ihnen nun das Rauschen des Meeres zu ihren Füßen. Manche Wellen preschten so gewaltig an die Klippen, dass sie den Menschen ins Gesicht spritzten. Nach kurzer Zeit waren alle drei nass bis auf die Knochen gewesen.

Tabari griff nach seinem Arm. Das Blut lief jetzt wieder, weil die Wunde nass geworden war, und das Salz des Meeres brannte unangenehm darin.

„Halb so wild,“ seufzte er jedoch und grinste unerwarteter weise verzerrt. Puran senkte den Blick. „Vielleicht steht Nehawa noch, das müssten wir auf diesem Weg eigentlich kreuzen, vielleicht hat da jemand Verband…“

„Ein Heiler wäre sinnvoller,“ seufzte Puran und betastete dabei flüchtig seine gebrochene Hand. Es schmerzte höllisch, doch er spürte es erst Momente nachdem es wehgetan hatte durch die dicke Schicht aus Schock und Trauer hindurch. Je länger sie wanderten, desto klarer wurde ihnen, dass jetzt alles anders sein würde. Das war kein Spiel und kein Traum. Sie konnten nicht aufhören, wenn sie keine Lust mehr hatten, oder aufwachen.

„Mittag ist noch nicht durch,“ meinte Nalani vorne, die nach dem Stand der Sonne sah, „Wenn wir zügig gehen, könnten wir vor Einbruch der Nacht das Undar-Gebirge erreichen. Die Berge bieten uns Schutz für die Nacht. Zum Glück haben wir Sommer und es ist nicht kalt…“

„Undar?“ keuchte Puran, „Das ist Kreis Sendhul, irgendwie ist der Gedanke beängstigend, Vikhara so schnurstracks zu verlassen…“

„Vikhara, ach!“ jammerte Tabari und imitierte unbeabsichtigt Sukutais Tonfall, „Ich bin Statthalter des Kreises, ich fühle mich schuldig! Ich hätte für die Leute da sein sollen, ich-…!“

„Nichts hättest du!“ schnappte Nalani verbiestert, „So überraschend, wie der Angriff gestern Nacht kam, hätte kein Mensch reagieren können! Dich trifft keine Schuld, Tabari, Statthalter bist du gewesen! Vikhara ist tot, ebenso unser Rang und unser Anwesen, übrig bleiben wir drei im schwarzen Land der Asche!“ Tabari seufzte deprimiert. Puran seufzte auch.

„Wie sind die so schnell hergekommen, die Zuyyaner?“ fragte er bedrückt, „Ich meine, müssen sie nicht mit Raumschiffen nach Vialla fahren? Dann hätten sie von Süden kommen müssen…“

„Die Zuyyaner haben die Raumschiffe erfunden, sie können mit denen überall landen und brauchen dafür keinen Flughafen,“ entgegnete Nalani. „Ich denke, sie sind von Yiara gekommen. Und sie sind rasch, sie haben aus der Luft und vom Land angegriffen, sie können fliegen ohne Flügel oder fliegende Maschinen, heißt es. Damit sind sie weitaus schneller als wir Tharraner zu Fuß.“

„Warum greifen die uns an, wenn die hohen Politiker irgendein Problem miteinander haben?“ nörgelte Tabari, „Wahrscheinlich hat der neue Zuyyanische Kaiser eine Klatsche…“

„Das sicher auch. Nein, die wollen nicht die Politiker… noch nicht. Die wollen die Zivilisten, um zu zeigen, was für eine Übermacht sie sind,“ behauptete die Frau, Puran seufzte.

„Ich dachte, sie wollten mit Tharr oder dem Dreiweltenrat nichts mehr zu tun haben…? Das ergibt in meinen Augen keinen-…“ Er stockte abrupt, als Nalani inne hielt. Die Männer kamen neben sie und blickten ernüchtert auf das, was sich ihnen bot. Die Klippen waren stetig abgefallen und waren jetzt nicht mehr vorhanden, das kleine Stück flache Küste erstreckte sich aber nur bis hinter das Dorf Canulo weiter südlich. Direkt vor ihnen lag jetzt das, was von dem Fischerdorf Nehawa übrig geblieben war.

Es war ein Ort des Todes. Puran schnappte entsetzt nach Luft bei den Resten der einst simplen, aber hübschen Holzhütten, bei den schwarz verbrannten Leichen und Körperteilen, die die Straße zierten. Er wollte nicht wissen, wessen Bein das war, über das er gerade stieg, als sie benommen ihren Weg durch das tote Dorf fortsetzten. Wessen Haus rechts neben ihnen in sich zusammenbrach, als sie vorbei gingen, als hätte es nur darauf gewartet, sich jemandem ächzend mitzuteilen. Er dachte schaudernd an die kleine Pakuna, die er vor vielen Jahren als Kind getroffen hatte; sie hatte hier gelebt, oder? Und Ram Derran – selbst der Gedanke an den mürrischen Großwildjäger und dass er tot hier herum liegen könnte versetzte ihm einen schmerzhaften Stich. Er hatte Ram Derran nie gemocht, aber deswegen wünschte er ihm noch lange nicht den Tod.

„So, wie das hier aussieht, sind sie auch hier schon heute Nacht gewesen,“ murmelte Tabari und sah sich um. „Hier ist kein Zeichen von Leben mehr – die haben alles gnadenlos platt gewalzt, was ihnen in den Weg kam… Nalani hatte recht, sie sind wirklich flink. Was denkst du, wie weit sind sie gekommen bis jetzt, Nalani? So überraschend, wie das kam, bekommen sie wohl auch keinen Widerstand…“

Puran hörte seinen Eltern nicht mehr zu, als sie das Dorf hinter sich ließen und sich beeilten, an dem kleinen Strand entlang nach Süden zu kommen, möglichst bald wieder das ansteigende Land hinter Canulo zu erreichen; dahinter würden sie bald die Undar-Berge erreichen. Er hatte auch keine Gedanken übrig für das sehr kleine und nicht sonderlich hohe Gebirge, das einzige in Dokahsan. Die Leichen in Nehawa hatten ihn schmerzlich an Rathuk erinnert, Cholenas Dorf, dem er einfach so den Rücken gekehrt hatte. Es würde genauso aussehen wie Nehawa… und eine der verkohlten Toten dort wäre Cholena, seine süße, kleine Cholena. Ihm kam der Gedanke, dass er umkehren und ihre Leiche holen sollte, um sie würdig zu bestatten – wie hatte er einfach wegrennen können? Was für eine Schande! Als er abrupt stehen blieb, entschied er sich jedoch sofort anders, als er das Trommeln im Norden hörte.

Oben sind die Zuyyaner. Ich kann nicht zurück… nicht mehr jetzt. Es ist zu spät… Cholenas Körper und Seele sind für immer verloren.

Die Gedanken zerfraßen ihn beinahe von innen, als er seinen Eltern verbissen folgte. Es war kalt, obwohl es Sommer war. Aber es war nicht das Wetter, das kalt war, es war sein Inneres, das erkaltete, mehr und mehr, je weiter er sich von seiner Heimat und seiner toten Freundin entfernte. Wenn sie in Undar ankämen, wäre er ein kalter Stein geworden, zerfressen von Schuldgefühlen und Trauer, so glaubte er.
 

Er konnte kein Stein geworden sein; er bewegte sich noch, stellte Puran verdrossen fest, als sie nach Sonnenuntergang das Undar-Gebirge erreichten. Während Tabari kleinlaut über das Klettern nörgelte, ging seine Frau zügig voran. Puran wunderte sich über seine Mutter, die nicht schnell genug fortkommen zu können schien. Was war das für ein Verrat an Vikhara, an dem toten Anwesen, an allen Leuten, die sie gekannt hatten, die jetzt vielleicht gestorben waren und nie wieder zurückkehren könnten?

Er wurde eines Besseren belehrt, als es zu regnen begann. Es war ein warmer Sommerregen, dennoch erfreute er keinen der Menschen im Gebirge. Der Himmel grollte über dem zerklüfteten Fels, dieses Mal kam es nicht von den Zuyyanern, sondern von dem heraufziehenden Gewitter. Nalani entdeckte eine kleine Höhle, die eigentlich mehr ein Raum unter einem Felsvorsprung war, der nach Osten zeigte. Hinter den niedrigeren Gipfeln Undars lag irgendwo noch immer das Meer, die Bucht, an deren Küste sie den ganzen Tag lang entlang spaziert waren. Unter dem Vorsprung waren sie wenigstens vom Regen geschützt, nur der Wind erfasste sie noch, als sie sich dicht an die Felswand kauerten.

„Kannst du den Wind nicht mal abschalten?“ fragte Nalani ihren Mann dumpf, Tabari seufzte.

„Damit das Gewitter für immer über unseren Köpfen hier sitzt? Nein, der Wind muss die Wolken weiter wehen, wenn ich ihn jetzt anhalte, machen wir heute Nacht kein Auge zu…“ Er lachte bitter. „Wobei, das werden wir wohl ohnehin nicht. Seht uns an, wie Verbannte hocken wir hier mitten in der Pampa, haben weder Heim, noch heile Kleidung noch Nahrung, alles was wir haben, sind Waffen, mit denen wir uns gegenseitig den Rest des Lebens sparen können, oder so…“

„Wie überaus optimistisch,“ stöhnte Puran ermüdet, gab seinem Vater aber innerlich recht. Als sie schwiegen, grollte der Himmel abermals. Sie sprachen nicht mehr, jeder versuchte für sich, zur Ruhe zu kommen und ein wenig Schlaf nachzuholen, denn das war bitter nötig nach der Aufregung.

Nalani kauerte an die Felswand gelehnt am Boden und starrte in den östlichen Himmel, in die Schwärze der Gewitterwolken, aus denen ab und zu Blitze zuckten. Der Regen ergoss sich über das Land und spülte vielleicht das Blut der Toten fort, das das Land besudelte, und die Verwüstung, die die Zuyyaner hinterlassen hatten. Ja, Krieg war über das Land gekommen… und es war nicht das Ostreich Ela-Ri gewesen, das Unheil gebracht hatte.

Spare deinen Groll und Zorn, Vater Himmel, sprach sie innerlich zu den grollenden Wolken, Lasse ihn lieber über jenen ab, die deiner Frau Mutter Erde und euren Kindern das angetan haben… Sie unterbrach ihre Gedanken, als sie plötzlich einen sanften Druck auf ihrer Schulter spürte. Als sie nach links sah, war Tabaris Kopf gegen sie gekippt, und so angelehnt schnarchte ihr Mann jetzt leise vor sich hin. Sie seufzte leise und strich ihm mit einer Hand über den Arm, der noch immer verwundet war. Die Wunde sah übel aus, aber sie hatte weder die Kraft, sie mit bloß einer Lira zu heilen, noch die Materialien zum Versorgen… Ihr nächster Blick galt Puran, der etwas abseits ebenfalls an der Wand kauerte und den Eltern den Rücken zukehrte. Sie hoffte, er könnte diese Nacht besser schlafen als in der davor…

Puran schlief nicht. Er lag lang wach da und starrte ins Nichts, ohne wirklich etwas zu sehen. Der Himmel grummelte zornig über ihm und das Rauschen des Regens, der gegen die Berge prasselte, klang gleichmäßig, dennoch beunruhigend. Die Geister flüsterten mit seltsamen Stimmen in seinem Kopf, aber er verstand die Sprache nicht. Er versuchte wütend, sie zu ignorieren.

Erst zeigt ihr mir tausendmal, wie meine Freundin sterben musste, und jetzt soll ich euch noch zuhören? Was verlangt ihr von mir, Himmelsgeister? Ist das eure Strafe dafür, dass ich euch so viele Jahre verleugnet habe…?

Darauf kam keine Antwort. Puran dachte an seine Cholena. Ob der Regen auch über Rathuk gekommen war und das Blut weggewaschen hatte? Das Gefühl, ihre Leiche dort gelassen zu haben, stieß ihm immer wieder übel auf, und irgendwann setzte er sich stöhnend wieder auf und hielt sich keuchend den pochenden Kopf. Ihm schwindelte.

„Wenn du bei mir bist, muss ich mich doch nicht fürchten!“ hörte er Cholenas Stimme plötzlich in seinem Kopf. Er sah ihr fröhliches Lächeln noch immer, und schmerzlich wurde ihm wieder bewusst, warum sie jetzt tot war…

Er war einmal nicht bei ihr gewesen.

Als er dann doch einschlief, merkte er es nicht, es war ein unruhiger Schlaf. Im Traum erschien ihm eine lebendige Cholena. Sie tanzte über eine Frühlingswiese, ihre blonden Haare wehten im Wind. Sie trug ein hübsches, schlichtes Kleid, das bei ihrem Tanz auf und ab wippte.

„Bin ich dir schön genug, mein Schatz?“ strahlte sie ihn glücklich an, drehte sich herum und ließ Haare und Kleid wirbeln. Puran wollte die Hände nach ihr ausstrecken, erreichte sie aber nicht.

„Ja!“ rief er, „Das bist du, Cholenachen! Lauf nicht fort-… ich… ich will dich doch nur anfassen, ich will dich in den Arm nehmen… ich will, dass du als meine Frau an meiner Seite bist und nicht irgendwo, wohin ich dir-… n-nicht folgen kann!“

„So wird es nicht kommen…“ flüsterte das Mädchen und tanzte vergnügt weiter über die Wiese. Doch je mehr er sich bemühte, sie zu erreichen, desto weiter fort tanzte sie. Dann blieb sie in einiger Entfernung stehen und strich das Kleid gewissenhaft über ihrem Bauch und ihren Hüften glatt. „Vielleicht ist es nicht Wille der Geister,“ lächelte sie darauf, „Weine nicht um mich, Puran… ich werde hier auf dich warten! Ich werde nicht weglaufen… behalte lieber die schönen Bilder von mir im Kopf und denke nicht nur an die hässlichen…“ Er schnappte nach Luft.

„A-aber man lässt mich ja nicht…“ Cholena kicherte und begann wieder, über das frische Gras zu tanzen.

„Wir werden uns wiedersehen,“ versprach sie und streckte die Hände nach ihm aus, worauf ihm schmerzlicher denn je bewusst war, dass er sie nie erreichen könnte…

„Warte, geh nicht fort, bitte!“ schrie er ihr nach, aber sie drehte sich um und tanzte davon über die Wiese, weiter und weiter fort von ihm… bis die Wiese mit einem Mal in Flammen aufging, die Erde zerbrach und der Himmel ergoss sich blutend über dem sterbenden Land. Puran rief verzweifelt nach Cholena, aber sie war verschwunden – statt ihrer entdeckte er plötzlich jemanden, den er schon einmal im Traum gesehen hatte, ein kleines Mädchen, das auf dem Rand eines aus der brechenden Erde herausragenden Stückes Fels balancierte. Ehe er das Bild des fremden Kindes richtig erfassen konnte, verschwand die Vision vor seinen Augen.
 

Die drei Menschen erwachten durch ein unnatürliches Geräusch über ihnen. Ein leises Bröckeln von Fels ganz in der Nähe… Tabari erhob sich als Erster.

„Was war das?“ fragte er alarmiert. Nalani und Puran rappelten sich auch auf und die Frau zog die Brauen zusammen.

„Waffen ziehen,“ befahl sie kaltblütig und zog vorsichtshalber Kadhúrem, die Männer zogen jeder ein Schwert, ehe sich alle drei an die Felswand hinter ihnen drückten und zu den Seiten sahen. Puran war noch nicht wach genug, um wirklich beunruhigt zu sein, was ihn insgeheim ärgerte – was würde er tun, wen gleich Zuyyaner um die Ecke gesprungen kämen? Sie abstechen für Cholenas Tod? In dem Moment hatte er mehr Lust, ihnen nur die Visage zu polieren und sie zu fragen, was sie sich dachten, ihr Land zu überfallen ohne ersichtlichen Grund.

„Ich höre keine Trommeln,“ bemerkte er geistesabwesend und registrierte nicht, dass Tabari neben ihm stutzte. Ja, das war merkwürdig. Der Himmel war aufgeklart, es schien bereits auf Mittag zuzugehen. Das Gewitter war vorüber, und offenbar hatte es den Rauch weggewaschen aus dem Himmel. Das Geräusch kam näher, jetzt erkannten sie deutlich Schritte von Menschen. Sie hörten ein Schnauben in einiger Entfernung wie ein Ausdruck des Missfallens.

„Zuyyaner?“ wisperte Tabari Nalani beinahe tonlos zu, damit das, was immer da oben herum ging, ihn nicht hörte. Nalani legte ihr Ohr an die Felswand.

„Schwer zu sagen, klingt nicht nach gerüsteten Soldaten. Wenige, ich höre nur zwei.“

„Na, mit denen werden wir fertig, wenn einer es wagt, herzukommen…“ stöhnte Tabari und ergriff das Schwert fester. Die Schritte kamen näher und verstummten plötzlich.

„Sie sind über uns, auf dem Vorsprung,“ formte Nalani mit dem Mund und zeigte hinauf, worauf alle nach oben sahen. Eine Weile standen die drei unten da und rührten sich nicht, hielten gespannt die Luft an, die Waffen bereits, falls sie jemand angriffe –

Es kam alles anders.

Plötzlich tauchte direkt vor Purans Nase etwas neben ihrem Unterschlupf auf, gleich darauf schrie Puran synchron mit dem Neuankömmling vor Schreck laut auf, was dazu führte, dass Tabari und Nalani ebenfalls schreiend herum fuhren und Tabari mit dem Schwung beinahe sowohl seinen Sohn als auch den Menschen vor ihm skalpiert hätte mit dem Schwert. Dann sah er noch einmal hin und ließ die Waffe augenblicklich fallen.

„Bei Himmel und Erde – Meoran?!“
 

„Hab ich mich verjagt!“ stöhnte Meoran Chimalis und strauchelte etwas, „Ich habe mich zu Tode erschreckt!“

„Und wir uns ebenso!“ empörte Puran sich, „W-was taucht Ihr hier aus dem Nichts auf, Meister, ich wäre fast ohnmächtig umgefallen vor Schreck!“

„Und das in meinem Alter!“ jammerte eine Stimme hinter Meoran, und erst jetzt erkannten die drei Lyras, dass der Mann seine Mutter Keisha auf dem Rücken trug. „Ich habe geglaubt, es ginge zu Ende – aber das haben wir ja alle oft den vergangenen Tag, nicht wahr?“

„Ruja, komm runter!“ rief Meoran hinauf, „Sie sind tatsächlich hier und wir haben uns alle gegenseitig halb tot erschreckt…“ Alle sahen auf, als nach einigen Momenten auch Ruja vom Vorsprung geklettert kam, während Meoran seine Mutter von seinem Rücken klettern ließ.

„Geh mal alleine, du alte Schachtel, solange wir nicht klettern müssen,“ nölte er dabei, ohne es wirklich böse zu meinen. Alle drei schienen wohlauf zu sein, und als endlich alle unter dem Vorsprung waren, mussten sich alle gegenseitig vor Erleichterung umarmen und drücken. Puran stellte ernüchtert fest, wie lange er Ruja nicht gesehen hatte… es war seltsam, sie plötzlich wieder vor sich zu haben, und er wagte es auch nicht, sie zu umarmen, stattdessen neigte er sehr reserviert den Kopf vor ihr, was sie mit einem liebevollen Lächeln erwiderte.

„Sie hat eure Lebensgeister gespürt,“ erzählte Meoran gerade und zeigte auf Ruja, „Deswegen sind wir hergekommen. – Also, in die Richtung sind wir sowieso unterwegs, wir wollten nach Undath, oder wenigstens sehen, ob die Stadt noch steht, da sie so abseits der Hauptstraße nach Süden ist, könnte es jedenfalls sein.“

„Moment, sie hat unsere Lebensgeister gespürt?“ fragte Tabari verblüfft.

„Sie ist Telepathin, sie kann das,“ behauptete sein Freund grinsend, während Ruja leise lachte. Sie schien erst etwas einwerfen zu wollen, ließ es dann aber, verstummte und lächelte nur weiter, wendete sich dann höflich an Keisha und fragte, ob sie in Ordnung wäre. Puran sah sie nicht länger als nötig an und konzentrierte sich lieber auf die anderen. Es war nicht dasselbe Gefühl, das er spürte, wenn er die schöne Ruja ansah, wie damals in Tuhuli, es war völlig anders, und dennoch beunruhigte es ihn noch immer, ihr zu nahe zu kommen. Ihre Anwesenheit hatte eine gleichzeitig angenehme und unangenehme Wirkung.
 

„Wie seid ihr so schnell hergekommen?“ grübelte Tabari inzwischen, „Tuhuli liegt weiter nördlich als das Lyra-Schloss, ihr hattet es doch viel weiter bis hierher!“

„Wir haben auch kaum gerastet, mein Guter,“ seufzte Meoran und kratzte sich am Kopf, „Sie haben Tuhuli vorletzte Nacht quasi von Kopf bis Fuß in Brand gesteckt, sie kamen aus dem Nichts, ganz einfach so. Das ganze Anwesen stand komplett lichterloh in Flammen, was blieb uns übrig, als Hals über Kopf zu fliehen? Die Stadt zu verteidigen war absolut völlig aussichtslos, diese Zuyyaner waren eine dermaßene Übermacht gegen uns, da erschien es mir klüger, die Frauen zu retten und davon zu rennen, statt mich sinnlos heldenhaft zu opfern.“

„Weise Entscheidung, Meister,“ kommentierte Puran das nüchtern und Meoran seufzte.

„Nicht wirklich, aber sagen wir, es gab keine Alternative.“

„Habt ihr die Schweinehunde gesehen?“ grunzte Tabari missmutig, „In Tuhuli, meine ich?“

„Sicher haben wir das. Sie sind aus Yiara gekommen, sie müssen dort gelandet sein. Aber ich vermute, dass sie nicht alle gelandet sind, Angriffe von oben kamen in solchem Ausmaß, das kann doch ohne Maschine nicht funktionieren… nicht bei Zuyyanern, heißt das.“

„Denen traue ich alles zu,“ brummte Keisha, „Diese Kletterei macht meine alten Füße kaputt, wehe, Undath steht nicht mehr, ich kriege die Krise!“

„Die Zuyyaner sind im Gegensatz zu uns Schamanen keine sonderlichen Elementarmagier,“ entgegnete Nalani ernst, „Ich habe mich viel informiert über die Zuyyaner, seit ich ahnte, dass sie uns durchaus gefährlich werden könnten. Sie haben nur drei Elemente, die sie benutzen können, und das sind Feuer, Eis und Wasser. Ihre viel größere und gefährlichere Stärke ist ihre psychische Magie. Sie können ihre Seele kontrollieren und sich selbst so fliegen lassen, sie können in sogenannten Mondkugeln, die sie bei sich tragen, die Zukunft sehen, und was viel furchtbarer ist, sie können nicht nur ihren eigenen Geist kontrollieren, sondern auch die von anderen Menschen.“

„Du meinst, sowas wie hypnotisieren?“ fragte Keisha beunruhigt. Nalani nickte, die Männer sahen sich bestürzt an.

„Ich weiß nicht, wie weit ausgereift dieses Können bei jedem einzelnen ist, aber es heißt, sie könnten sogar… den Willen von Menschen beeinflussen und lenken, oder ihre Gedächtnisse verdrehen oder gar auslöschen.“

Auf diese Ansage hin herrschte Schweigen unter den jetzt sechs Magiern. Keisha fiel Tabaris Wunde auf und sie verdrehte die Augen.

„Sag doch was, Junge, wozu bin ich Heilerin?!“ maulte sie, und der Blonde ließ sich widerstandslos von ihr den Arm heilen. Als nächstes kam Purans gebrochene Hand an die Reihe, und Nalani seufzte innerlich froh über Keishas Anwesenheit. So ein Glück… in Zeiten wie jenen waren Heiler unermesslich wertvoll. Was immer geschah, sie müssten vor allem Keisha mit allen Mitteln schützen, denn ohne ihre Heilkünste wären sie alle verloren.

„Wenn wir uns weiter nach Süden durchschlagen wollen, sollten wir vorsichtig sein,“ ergriff Meoran das Wort, der seinen ebenfalls reichlich malträtierten schwarzen Umhang zurecht rückte. „Wir sollten nachts gehen und tagsüber in Höhlen oder Felsnischen Schutz suchen. Hier im Gebirge werden die Zuyyaner vermutlich nicht herum schwirren, sie werden die großen Straßen nach Süden nehmen; aber nicht unbedingt nur die. Jedes einzelne Dorf in ganz Vikhara ist ausgebrannt. Von weitem habe ich Sinami und Threaldan brennen sehen, sie werden die Seen von Aledyn auch nicht verschont haben. Und sie sind verdammt schnell, dass sie in Yiara gelandet sind, ist vielleicht einen Vierteltag vor ihrem Einmarsch in Tuhuli gewesen, nicht mal!“

„Schlafen die nicht?“ schnaufte Tabari argwöhnisch.

„Ich weiß es nicht, aber wenn sie in einem Vierteltag durch ganz Frostland gerannt sind und in der Nacht ganz Vikhara geplättet haben, sind sie in diesem Moment längst in Yatoret oder noch weiter südlich,“ der Jüngere räusperte sich. „Die setzten auf ihren Überraschungsangriff, weil keiner mit ihnen rechnet und niemand sie aufhält, kommen sie durch das Land wie ein Messer durch die Butter.“

„Zumindest die erste Welle,“ meinte Puran grimmig, „Wenn wir die zweite irgendwie stoppen, bekommen sie keinen Nachschub und irgendjemand weiter unten wird sie schon zum Stehen bringen.“

„Das sagt sich leicht, ich fürchte, es bleibt nicht bei zwei Wellen, mein Junge,“ machte Meoran verdutzt, „Es sind Massen von ihnen, es sind unglaubliche Massen, wie Heuschreckenplagen schwärmen sie über das ganze Land. Es mag wehtun, aber, so fürchte ich, Dokahsan ist verloren. Was wir auf keinen Fall tun sollten, ist uns ihnen kopflos in den Weg zu stellen. Zuyyaner sind anders als wir, wir können nicht darauf setzen, dass sie an denselben Stellen schwach sind wie wir Tharraner. Das ist anders als Anthurien, wir haben es hier nicht mehr mit unseresgleichen zu tun. Die Zuyyaner kommen nicht aus unserer Welt und nach dem, was ich hier gesehen habe, will ich nicht wissen, wie ihre ist.“ Sie schwiegen abermals eine Weile. Puran linste Ruja verstohlen an, die ihn aber nicht zu bemerken schien. Sie sah stumm nach Osten in die aufgehende Sonne.

„Was wollen sie überhaupt hier?“ fragte Nalani dann an Meoran gewandt, „Nach Vialla, um es dem König zu geben? Wieso landen sie dann nicht sofort in Vialla?“

„Darum geht es nur zweitrangig, fürchte ich,“ entgegnete der Lehrer, „Sie sind hier oben gelandet, um so viele wie möglich zu morden, ehe sie tatsächlich nach Vialla kommen. Der König wird nicht viel tun können, er wird erbleichend hinter seinen Mauern stehen und zusehen, wie sein Land überrannt wird, die nichtmagischen Soldaten sind keine Gegner für Zuyyaner, weniger noch als wir.“

„Das… das ist ja fürchterlich!“ entrüstete Puran sich, „W-was haben wir den Zuyyanern getan?“

„Nichts,“ meinte Nalani, „Sie verabscheuen uns als minderwertige Unwürdige, ebenso wie die Ghianer. Zuyyaner halten sich grundsätzlich für etwas Höheres und Besseres, Puran.“

„Das ist kein Grund, die Unwürdigen gleich zu eliminieren!“

„Doch, für diese Monster scheinbar schon. Ich glaube nicht, dass sie ein Gewissen haben; die Soldaten schon gar nicht. Die tun, was man ihnen befiehlt.“ Nalani blickte zu Meoran und Tabari. „Was machen wir, wenn wir in Undath sind? Falls es noch steht, meine ich; wir werden nicht lange an einem Ort bleiben können, früher oder später werden die Zuyyaner auch nach Undath kommen, falls sie da noch nicht waren.“

„Uns von großen Städten fernhalten und den Straßen den Rücken kehren,“ behauptete ihr Mann ernst, „Am besten machen wir uns, sobald wir Dokahsan verlassen haben, auf in Richtung Osten, vielleicht nach Janami. Weg vom Geschehen, wenn sie nicht im Osten auch irgendwo gelandet sind, sind wir da in der guten Richtung.“

„Wir sollen einfach weglaufen? Was ist mit den Dörfern in der Gegend, sollen die alle überrannt werden?“ fragte Puran entsetzt.

„Wie Meoran sagte,“ erwiderte seine Mutter und setzte sich auf den Steinboden, „Es ist nicht klug, wenn wir uns den Zuyyanern kopflos in den Weg stellen. Jeder Versuch, Leute zu retten, mag noch so edel sein, Sohn, aber in unserer Position auch ebenso töricht. Du wirst niemanden retten können, sondern am Ende selbst draufgehen, wenn du es versuchst. Wir müssen sie beobachten aus der Ferne, etwas anderes wird uns nicht übrig bleiben.“ Damit war die Diskussion für sie beendet, und während Tabari, Meoran und Keisha sich ebenfalls hinsetzte, um die Nacht abzuwarten und dann den Weg nach Undath fortzusetzen, sah Puran erneut zu Ruja, die bisher nicht gesprochen hatte und immer noch nach Osten blickte. Er fragte sich gerade innerlich, ob mit ihr alles in Ordnung wäre, da drehte sie sich zu ihm um. Die anderen begannen neue Gespräche und bekamen nicht mit, dass die junge Frau sprach.

„Es tut mir aufrichtig leid, Puran,“ wisperte sie, und er senkte beschämt den Kopf.

„Sieht man mir etwa so sehr an, was geschehen ist?“

„Uns allen ist sowas geschehen. Ich habe deine Freundin nicht gekannt und maße mir darum nicht an, viel über sie zu sagen, ich habe nur gehört von ihr. Es schmerzt und das ist nur natürlich. Vergib mir, wenn es mir schwer fällt, dir ins Gesicht zu sehen, Puran… ich denke, es hilft dir nicht, mich jetzt anzusehen.“ Er errötete.

„Ich danke dir für dein Beileid,“ murmelte er trocken nach einer langen Pause, Ruja neigte wohlerzogen ihren hübschen Kopf. Als sie ihr Gesicht wieder hob, hatte er seines abgewandt und sah seinerseits nun nach Norden, in die Richtung, in der die Sonne nie schien.

Der Norden war finster, aus dem Norden kam oftmals das Unheil…

Lange war die nördliche Provinz, Dokahsan, ihre Heimat gewesen. Das hatte jetzt ein Ende, wie so vieles eines hatte.

Dann ist das wohl… wirklich das Ende der Welt, von dem die Geister sprechen…?

Die Gedanken daran, Dokahsan für immer den Rücken zu kehren, waren schmerzhaft; fast so schmerzhaft wie die an den Tod seiner Cholena.
 


 

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xD? August 976. Ende Part zwei <3



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Kimiko93
2010-01-13T18:44:23+00:00 13.01.2010 19:44
*sfz*
In Momenten wie diesen Frage ich mich, wieso ich dich überhaupt lese. ICh mag kein Drama. Mochte ich noch nie. Erst Recht nicht, wenn ich eh schon depri bin uû' Hm... Aber wenigstens ist es jetzt dramatisch und nicht mehr so melodramatisch wie früher ö.ö wieso ich Sharingan-Kinder gelesen hab, ist mir ja immer noch schleierhaft XDDD

Naah, aber ernsthaft, bäh. Cholena ist tot. Und dann diese Vision, die.. War... Komisch. Traurig, aber irgendwie auch komisch und so'n bisschen gruselig. Und auch wie Leyya dann am Ende aufgetaucht ist, als wär sie so'n Ersatz ôo'

Egal, sie kommt bald. Ganz bald. Yay. Ähm.... Oh, ja, was für ein ZUFALL das gerade jetzt gerade die drei da auftauchen ö.ö und... wieso sind da nicht noch mehr Flüchtlinge? Ich meine... Muss man Poser-Magier sein, um Glück zu haben? Na ja, wie man's nimmt halt...

Und es gab keine lustige Chaos-Szene Q___Q so wie die, in der festgestellt wird "OMGWTFBBQ, XYZ ist verschwunden!" oder "OMGWTFBBQ, die Welt geht unter!"
Von:  -Izumi-
2009-12-07T18:51:35+00:00 07.12.2009 19:51
Sohooo...
Zuerst mal das weniger Schöne, Izzy hat Kritik für dich ó__ô
Also du hast in dieser hyper-geilen Beschreibung dieses Dramas, ich hatte echt so ne Gänsehaut, unheimlich viele Wortwiederholungen. Also an sich zeichnet sich dein Schreibstil irgendwie dadurch aus, du schaffst es normalerweise, das ganze einfach schön zu verpacken, da bewundere ich dich im Übrigen sehr darum ö.ö Ich meine, du kannst 10 mal das selbe Wort direkt hintereinander benutzen und es würde trotzdem cool klingen! XD
Aber da, besonders am Anfang war es echt super-häufig ^^'
(ich befürchte, du wirst jetzt so... wie Izzy nicht möchte, dass Mami wird óò)
Ach ja, und zum Schluss hast du zuerst geschrieben, als die drei aufwachten ging es schon auf Mittag zu und dann hat Ruja später gen Osten geschaut und da ging gerade die Sonne auf XD

So, das hätten wir úû Kommen wir zum lustigen Teil;
AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH!
Du hast das Lyra-Schloss und Nehawa getötet! O______o (und Cholena auch)
Ich habe so um sie geweint! >////< (um Cholena auch)
Ne, mal Spaß bei Seite, ich fand es besonders sehr gruselig als Puran da später geträumt hat, wo sie da auf der Wiese herum getanzt ist .__.
Und dass Kiuk, Sukutai und Alona jetzt weg sind... ewww óô
Können die sich nicht mal eben zu Tabari und Family teleportieren? Ich meine, können die nicht instinktiv spüren, wo die sind, oder so?
Und aww, wie alt ist Keisha eigentlich? XD
Ich kann sie mir nicht alt vorstellen oô Aber sie ist sicher eine hübsche alte Dame <3
*drop*
Ach ja, Nehawa nochmal. Da muss ich jetzt an die Pakuna-Story denken, da wurde ja wunderschön grausam erklärt, wie es da ablief .__.
Ich meine... aww!
Diese ganzen Sachen mit Yamka und so, die laufen ja quasi zeitgleich ab, ich meine.... ewww! >///<
Und... ach, das ist alles so gruselig, Puran tut mir ja auch so doll Leid!
Ich bin echt gespannt auf das nächste Kappi, dann kommt ja Leyya ^///^
Wenigstens etwas schönes <3
*kuschel*
Von:  Decken-Diebin
2009-12-07T17:37:18+00:00 07.12.2009 18:37
Draaaaama. °___° Nichts gegen die kleine Cholena, sie war wirklich süß, aber hey, jetzt kann demnächst Leyya auf die Bühne treten. Ich freu mich auf deren Geschichte *__*
Ich frage mich ernsthaft, wo Kiuk, Sukutai und Alona abgeblieben sind, aber wahrscheinlich haben sie sich wirklich irgendwohin teleportiert.
Wenn die kleine Gruppe jetzt wirklich nach Janami weitergeht, weiß man, warum Meoran und Saidah später dort leben^^
Ich hab das ungute Gefühl, Keisha stirbt demnächst D: Ist ja auch nicht mehr die Jüngste.
LG, Hina


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