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Lost

Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle
von

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1

Susanna Hayden sah hinauf in den schwarzen Himmel. Stirn und Hände an die dicke Scheibe gepresst, versuchte sie so viel von diesem Augenblick aufzunehmen wie möglich. Ihre Augen fingen das Licht von Milliarden Sternen ein, die am unendlichen Firmament das wohl wunderschönste und größte Werk einer unsichtbaren Urmacht bildeten.

Mit einem stummen Auflachen presste sie ihre Nase dichter an das kalte Glas.

Dort war der Mond. Riesig und voll, rund wie ein silberner Wollknäuel und dennoch zerfurcht und vernarbt wie ein alter Kriegsheimkehrer. Er war der geheime Beschützer der Erde, er trug die Wunden, die eigentlich ihr zugedacht waren. Tausende von Kratern und Schluchten von Meteoriteneinschlägen würden in Ewigkeit davon zeugen, welch wichtige Rolle er innehatte. Für immer oder zumindest solange bis er an seiner Aufgabe zerbrechen würde.

Sie entfernte die Nase einige Zentimeter vom Glas, um die beißende Kälte loszuwerden, die durch das Fenster gedrungen war.

– 273 Grad sind nicht gerade menschenfreundlich, dachte sie, während sie den Himmel nach etwas ganz bestimmten absuchte. Als sie ihren Blickwinkel nur ein wenig nach unten korrigiert hatte, wurde sie fündig. Unter ihr lag, vom schwarzen Samt der ewigen Mitternacht umschlossen, der gigantische Erdball. Eine unvorstellbar große Zahl von Quadratkilometern Land und Wasser, Bergen und Ebenen, Inseln und Kontinenten aus einem völlig anderen Winkel betrachtet. Ihre Heimat. Ein Nichts im Vergleich zu der Offenbarung von Unendlichkeit, die Susanna nun erleben durfte.

Endlich konnte sie Himmel und Erde sehen, wie es nur wenige Menschen konnten. So wie sie in Wirklichkeit waren. In keiner Hinsicht miteinander zu vergleichen.

Gefangen in ihrer eigenen Glückseeligkeit, spürte sie einen Anflug von … Erleuchtung. Oder Erkenntnis. Aber egal, was es auch war, es wurde von der kindlich übergroßen Freude erdrückt, die man hat, wenn sich ein Lebenstraum erfüllt. Mit zitternden Händen strich Susanna über das runde Guckloch und sehnte sich nach einem größeren Blickwinkel. Sie wollte mehr. Mehr Bilder, mehr Erinnerungen, mehr –

„Su?“

Sie ließ den Blick auf ihren Traum gerichtet. Sie brauchte sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand. Eigentlich brauchte sie noch nicht einmal nachzufragen, was los war. Es war Kevin Eastwick und er hatte ein Problem. Er hatte immer ein Problem, wenn er zu Susanna kam. Denn, wenn er konnte, vermied er es, weil sie für ihn immer noch ein größeres darstellte.

Wie erwartet nahm er trotz fehlender Reaktion den Faden ohne Umschweife wieder auf.

„Simon ist immer noch der Meinung, die Außenhülle hätte etwas abbekommen und ich kann ihn nicht davon abbringen Panik zu schieben. Könntest du bitte nachsehen?“

So wie er das sagte, erschien es eher als Befehl, nicht als gestellte Frage.

Sich zu sagen, dass es einfach seine Art war, hatte Susanna noch nie über die rasch aufsteigende Wut hinweg geholfen, die entstand, wenn er seinen Mund aufmachte. Kevin oder Mister Eastwick, wie sie ihn weitaus lieber nannte, da es unpersönlicher war, war der Inbegriff von einem Feigling der neben seinem fehlenden Mut, auch noch mit einem beachtlichen Defizit an Gehirnmasse zu kämpfen hatte. All das und die Tatsache, dass sie trotz allem mit ihm geschlafen hatte, brachte Susanna Hayden dazu, ihn zu hassen.

Sie stieß sich leicht von der Wandverkleidung ab und schwebte an ihm vorbei, hinüber zu dem Schrank mit dem Werkzeugkoffer und den Raumanzügen.

Zugegeben er hatte – eine Art von Stil, der ihr durchaus zusagte. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihn für einen Offizier der Army gehalten. Übertrieben gerade Haltung, muskulöser Körperbau, nicht gerade typisch für einen Astronauten. Aber auch wenn er dastand wie mit einem Holzbalken im Hintern, hatte er keine klare Richtung in Bezug auf seine Gedanken. Er war Perspektivlos. Trotz seines Alters von 46 Jahren schien er zu keiner größeren Weisheit gekommen zu sein. Und auch wenn er sich im Bett die allergrößte Mühe gab, seine Partnerin durch den Lattenrost und den Boden in die nächste Etage zu rammeln, würde das doch nie den auffallenden Mangel an verknüpften Synapsen aufwiegen. Manchmal, so schien es, war ihm das tragischerweise selbst klar.

Schweigend begann sie in den sperrigen Anzug zu steigen und alle Reisverschlüsse, Schnallen und Klettverschlüsse sorgfältig zu verschließen. Ihre Füße steckten bereits fixiert in den Kilo schweren Magnetschuhen, als Kevin sich ihr von der Seite näherte.

„Ich weiß wir hatten nicht die beste Zeit miteinander, Su. Aber das ist kein Grund mich links liegen zu lassen.“

Susanna blickte nicht auf, als sie ihm antwortete:

„Für dich vielleicht nicht, Eastwick, aber für mich.“

Hervorgehoben laut zog sie den Reisverschluss bis ganz nach oben.

„Du solltest wenigstens nicht so tun, als ob du mich gar nicht kennst. Wir könnten doch alles so lassen, wie vor unserer kleinen Affäre.“

„Ich kann in der Zeit nicht beliebig vor und zurück spulen. Wenn du das kannst, solltest du dir einen anderen Job suchen.“

Sie nahm den verspiegelten Helm vom Schrankboden auf und stellte das Werkzeug neben sich. „Wo genau vermutet Simon denn den Schaden?“

„Nahe dem rechten Flügel an der Grenze zum Hitzeschutz. Vielleicht aber auch ein bisschen weiter oben. Er war nicht sehr genau mit seinen Angaben.“

Kevin Eastwick hatte wieder einmal aufgegeben. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte, länger auf Susanna einzureden, aber es war einfach charakteristisch für ihn, gleich nach dem ersten Tritt, den Schwanz einzuziehen.

Susanna Hayden befestige setzte sich den Helm auf, schloss den Schrank und machte sich samt Koffer auf den Weg zur Schleuse. Eastwick stellte sich an die Schalttafel und öffnete die innere Schleusentür. Susanna trat hindurch in den kleinen Übergangsraum. Wieder trennte sie nur eine Schicht aus Stahl von den unendlichen Weiten des Weltalls. Sie seufzte. Es schien so, als würde es das Schicksal doch gut mit ihr meinen. Da draußen würde sie alles sehen können.

„Pass auf dich auf, Su.“, sagte Kevin durch die Funkverbindung, schloss die Tür und blickte sie nur noch stumm durch das kleine Aufsichtsfenster an, welches darin eingelassen war. Susanna wartete jedoch nur darauf, dass das Vakuum im Raum vollständig hergestellt war und die äußere Schleuse sich öffnete.

Dann war sie vollkommen frei.

2

Rauschen.

Auf dem Rücken und alle Viere von sich gestreckt, lag Susanna Hayden am Boden. Aus dem Hörer ihrer Funkverbindung kam permanentes Knistern.

„Kevin?“

Ihre Stimme war leise und brüchig. Der Sauerstoff im Helm war nur noch zu einem sehr kleinen Bruchteil vorhanden. Sie musste in Ohnmacht gefallen sein und das Meiste weggeatmet haben. Als sie ihren Arm heben wollte, um das Visier zu säubern, tat sich nichts. Die Gliedmaße blieb an Ort und Stelle.

Irgendetwas stimmte nicht.

„Simon? Was…“

Die Sprechanlage war ausgefallen, sie bekam keinen Kontakt, aber nun spürte sie deutlich, worunter ihr gesamter Körper zu leiden hatte. Es war Schwerkraft.

Wo war sie?

Reglos blieb sie liegen und versuchte ein persönliches Resumé zu ziehen. Aber da waren nur die Bilder vom ewigen Weltall, von unvorstellbar vielen Sonnen und von der alleinnehmenden Erdkugel, die geräuschlos und scheinbar reglos im schwarzen Nichts schwebte. Sie spürte die überweltliche Stille des Vakuums und dessen kalte Umarmung, die sie trotz des Anzuges gefühlt hatte. Der Druck, der erst nur anfänglich auf ihren Ohren gelastet und den drohenden Tinnituston unterbunden hatte, schwoll mit jedem kurzen Atemzug an. Mit einiger Anstrengung unternahm Susanna einen zweiten Versuch ihre Hand an das Visier zu bringen, welches ihr die Sicht behinderte. Sie zuckte zusammen, als ihre scheinbar leblose Rechte gegen den Helm stieß.

Sie musste zurück an Bord des Space Shuttles sein und jemand hatte die künstliche Gravitation eingeschaltet, aber wieso hatte man ihr den Helm nicht entfernt?

Mit einem Ruck öffnete sie die verklemmte und von warmem Atem beschlagene Scheibe und wartete darauf, die gewohnten Geräusche des Schiffes aufzunehmen. Doch das, was sie in die weltraumgleiche Stille ihres Anzuges gelassen hatte, war eine Überdosis an Gerüchen und Geräuschen, die sie emotional niederstreckte. Als hätte man ihr einen Eimer mit Eiswürfeln durchmengtes Wasser und eine Schüssel kochendheiße Suppe gleichzeitig ins Gesicht geschüttet, lag sie da, die vor Sonnenlicht schmerzenden Augen weit aufgerissen und auf ein bewegtes grünes Durcheinander gut fünf Meter über ihr starrend.

Träge und chaotisch bewegte es sich wie tausende von grünen Ameisen über den gleißenden Himmel. Susanna erkannte nicht, um was es sich handelte, denn das unerträglich weiße Licht, das zwischen den Farbflecken hindurch brach, überreizte ihre Sehzellen gnadenlos.

Um sich herum nahm sie erst ein lautes Dröhnen war. Alle Geräusche hatten sich zu einem Wust zusammengeschlossen und drängten sich nun in ihre beiden Ohren. Es war nahezu unerträglich. Ihre Nase, obwohl die beiden Nasenflügel brannten, war das wohl leistungsfähigste Organ und konnte bereits verschiedene Gerüche ausmachen und voneinander trennen, auch wenn Susannas Gehirn keinem von ihnen eine Bedeutung zuordnen konnte. Die Luft die sie schon seit einigen Sekunden einatmete, roch nicht nach der abgestandenen im Rumpf des Shuttles. Sie war kühl und trug unendlich viele Informationen, die ihr im Moment nichts sagten. Aber eines war ihr klar: Schon seit den ersten Atemzügen wusste Susanna Hayden, dass sie wieder auf der Erde war.
 

Stunden lag sie da. Reglos, an sich selbst gefesselt, begeleitet vom monotonen Rauschen der Funkverbindung. Mit der Zeit hatte sie immer mehr Geräusche und Gerüche aufnehmen und identifizieren können. Zum Beispiel hörte sie ganze Gruppen von Vögeln, deren Singsang nichts mit dem der heimischen Vogelarten gemein hatte, das Rauschen von Blättern, das leise und laute Knacken von Unterholz und, etwas weiter entfernt, eine Brandung, die gegen hartes Gestein schlug. Riechen konnte sie noch weitaus mehr. Sie roch, dass der Boden auf dem sie lag, feucht war, dass sich um sie herum eine Menge von Bäumen und Moos befand und, dem süßlichen Geruch nach zu urteilen, ebenfalls Blumen oder Früchte. Zudem konnte sie Salzwasser und ein bisschen von dem wahrnehmen, was sie am meisten irritierte und beunruhigte: Brandgeruch.

Es war an der Zeit der Sache auf den Grund zu gehen, es war an der Zeit die Augen zu benutzen. In kleinen Abständen hatte sie immer wieder geblinzelt und jedes Mal ein wenig mehr von ihrer Umwelt gesehen. So wusste sie bereits, dass sie unter riesigen Baumkronen lag, die ihr die Sonne vom Leib hielten und dass sie immer noch im weißen Raumanzug steckte, der ihre Bewegungen um einiges erschweren würde. Dies war ihr erstes Problem. Bevor sie aufstehen konnte, um sich ein Bild über ihre Situation zu machen, musste sie aus diesem Hindernis steigen.

Nachdem Susanna den Helm vollends entfernt hatte, öffnete sie von oben bis unten alles, was die beiden Hälften der schweren Kleidung zusammenhielt. In der Mitte angekommen, lies sie ihre Hände pausieren und registrierte mit Besorgnis, wie viel Kraft es sie erst kosten würde, wenn sie versuchen würde, aufzustehen.

Als sie ihre Arme und Beine aus den Röhren zog, verformte sich ihr Gesicht vor Schmerzen. Es war, als sei sie von ziemlich weit oben herunter gefallen. Ihr Körper musste übersäet sein von Hämatomen und Prellungen und mit höherer Wahrscheinlichkeit, war auch der ein oder andere gebrochene Knochen unter denen, die sie gerade herauszog.

Nach der schmerzenreichen Befreiung rollte sie sich unter Stöhnen zur Seite und blickte auf einen großen grauen Klumpen Metall, gut hundert Schritt von ihr entfernt.

Das rauchende Wrack der Rettungskapsel.

Von einer Sekunde auf die andere war sie auf den Beinen und humpelte auf das zerstörte Objekt zu, verzweifelt Eastwicks und Simons Namen rufend. Keine Anzeichen irgendeiner Reaktion. Nur das stete Knistern und Fauchen des langsam ersterbenden Feuers, als ob es sich dagegen wehren würde, zu erlischen, so wie sich Susanna dagegen wehren musste, ihr Bewusstsein ein weiteres Mal zu verlieren. Schwindel und Übelkeit hatten sie gepackt.

Taumelnd erreichte sie die schwelende Hülle, die in Fetzen hing und unter der sich bereits das Metall- und Kunststoffskelett abzeichnete. Die Ausstiegsklappe stand offen und aus dem Inneren quoll der schwarze Atem des Brandes. Irgendjemand musste sie aus der Kapsel gezogen haben und war dann verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Oder er war bei dem Versuch ein weiteres Mal den Helden zu spielen, elendig erstickt.

Susanna schob sich den Kragen ihrer blauen NASA Jacke über Mund und Nase, kniff die Augen zusammen und kniete sich nieder, um unter der Rauchsäule in den Innenraum zu blicken. Kurz darauf zog sie den Kopf aus der Öffnung, riss sich beim Zur-Seite-Drehen den Kragen herunter und übergab sich im Gras.
 

Als die Magenkrämpfe mit einem letzten Würgen endeten, zitterte sie am ganzen Leib. Ihr Körper hatte die abartigen Bilder und Gerüche aus der Rettungskapsel mit einer mehr als heftigen Reaktion beantwortet und sich somit auch die letzte verbliebene Kraft geraubt.

Susanna Hayden musste weg vom Frack, weg vom süßlichen Geruch des verbrannten Fleisches, weg von der irrational entstellten Leiche Simons, den man allein nur an dem lesbaren Aufnäher seiner Jacke erkennen konnte und von dem sonst nicht vielmehr übrig geblieben war, als Muskelfleisch und geschwärzte Knochen.

Susanna kämpfte erneut gegen eine Brechattacke bei der Vorstellung, sie wäre genau so geendet. Auf ihre Unterarme und Ellenbogen gestützt robbte sie wieder zurück an die Stelle, an der sie aufgewacht war und fand dort endlich die Kraft in Tränen auszubrechen. Der Schmerz, der sich dadurch in ihrem Gesicht und ihren geschwollenen Kehle ausbreitete, war befreiend.

Was war nur geschehen? Die Kapsel sollte im Meer landen und sie alle sollten am Leben sein. Und wo war Eastwick? Ihn hatte Susanna nicht entdecken können. Vermutlich war er es gewesen, der sie ins Freie geschleift hatte. Aber wieso war er verschwunden?

„Oh Gott, oh Gott, oh Gott.“, flüsterte sie schluchzend, ihren Oberkörper vor- und zurück wiegend, „Wo bin ich? Oh Gott, lass mich nicht allein.“

Nach Minuten hatten sich ihre Nerven soweit beruhigt, dass sie erneut aufstehen und sich umsehen konnte.

Hinter den Überresten der Kapsel führte eine steile Felswand hinunter in ein unruhiges Meer, rechts und links, die Klippe entlang, wuchs ein breiter Streifen Gras und hinter ihr begann ein dichter Urwald, so dunkel, dass sie trotz der starken Sonneneinstrahlung kaum fünf Meter weit in das Dickicht hinein sehen konnte. Keine gute Idee in diese Richtung zu gehen.

Sollte sie überhaupt gehen? Vielleicht war Eastwick ja doch zu etwas nutze und gerade dabei Hilfe zu holen. Wäre das der Fall, sollte sie tatsächlich lieber abwarten, bis er zurückkehrte. Allerdings traute sie ihm auch zu, dass er nachdem er sie gerettet hatte, kopflos und ohne einen bestimmten Plan im Gewirr der Pflanzen verschwunden war. Folglich würde er, wenn er Pech hatte, bald seinen Verletzungen erlegen sein oder Schlimmeres …

Susanna entschied sich mit einem Blick auf die Rettungskapsel dazu, selbst ein paar Schritte zu tun und auf der Wiese, parallel zum Meer entlang zu wandern, um mit einigem Glück das nächstliegende Dorf oder die nächste Stadt selbst zu erreichen. Vielleicht bestand auch die Möglichkeit per Telefon jemanden von der NASA zu erreichen und ihnen ihre Lage zu schildern. Man würde sofort Hilfe schicken, da war sie sich sicher, wenn diese nicht schon längst unterwegs war. Zudem musste sie ihren Kopf frei bekommen, ihre Gedanken erneut ordnen. Vor einigen Minuten war sie dem Wahnsinn verflucht nahe gekommen.

Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel, nun wieder Lichtjahre entfernt und unbegreifbar fremd.

Welch Ironie, dachte Susanna Hayden bitter, einen winzigen Augenblick den Himmel sehen und dafür die ganze Hölle kaufen.

Dann machte sie sich auf den Weg, den schmalen Pfad zwischen Ozean und Dschungel entlang.

3

„Dürfte nicht so einfach zu finden sein.“

Simons näselnde Stimme klang entschuldigend. Fast so, als wäre er sich der Sache bewusst, dass er Susanna unter Umständen ganz umsonst raus in das Vakuum geschickt hatte.

„Die Messgeräte haben nur eine minimale Druckanomalie und eine Temperaturdifferenz im Vergleich zum Rest der Außenhülle festgestellt. Kann also sein, dass du dem Baby nur ein Pflaster draufkleben musst und alles ist wieder in Ordnung.“

Mit „Baby“ meinte er in hundert Prozent aller Fälle die STS-185 Columbia, unter anderem auch „Schätzchen“, „Engel“ oder „Prachtstück“ genannt. Simon J. Glentis wusste, dass er keinen Erfolg bei Frauen hatte und wäre er schwul gewesen, wohl auch keinen bei Männern. Aber er wusste, dass er ein verdammtes Genie war. Er besaß eine nahezu unheimliche Fülle an technischem Know-how, ein komplexes Kombinationsvermögen und weit reichende Kenntnisse auf den Gebieten der Synergetik und Thermodynamik, welche sein Mitwirken in verschiedenen Forschungsmissionen der NASA garantiert hatten.

Susanna hatte sich schon oft ausgemalt wie gelegen ihr eine Mischung aus Simons großem Geist und Eastwicks attraktiver Statur kommen würde. Sie wäre in Null Komma Nichts eine verheiratete, überglückliche Frau. Aber im Moment teilte sie mit dem schlaksigen, unscheinbaren Simon lediglich ihre Ideen und Theorien und mit dem muskulösen Hinterwäldler Eastwick das Bett. Versuchte sie es sich andersherum vorzustellen, verhielt es sich genauso wie bei dem berüchtigten Fall des Perpetuum Mobile. Es war unmöglich.

Ihr eigener ruhiger Atem begleitete sie, während sie zeitlupengleich durch den Orbit schwebte. Sie genoss die Ruhe, die zeitlos schöne Bedrohung des allumfassenden Nichts, welches zerstörte und erbaute lange bevor es Zeit und Raum aus sich erschuf. Ein leichtes Kribbeln der Erkenntnis breitete sich in ihren Organen aus und lies sie das vollkommene Glück spüren, welches alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte: Die Geburt ihrer zwei Geschwister Sarah und Ian, die Nachricht, dass ihr wirklicher Vater noch am Leben war, der Tag an dem sie in die NASA aufgenommen wurde und die erste Nacht mit Kevin. All das war nahezu lächerlich geworden im Angesicht dieses Ereignisses.

Sie lächelte, schloss die Augen und atmete tief ein, so als ob es das Vakuum war, was sie roch und nicht die Luft in ihrem Helm. Es ging also noch bergauf.

„Noch ein paar Meter. Von dort aus müsstest du es bereits sehen, Su.“

Widerwillig öffnete sie ihre Augen wieder, um die Außenhülle zu ihrer linken abzusuchen.

„Ist ziemlich klein, oder? Von hier aus sehe ich nichts. Ich versuch es weiter vorne, zur Unterseite hin.“

Vorsichtig tastet sie sich am Shuttle entlang, um die Orientierung nicht zu verlieren und auch den kleinsten Schaden erkennen zu können.

„So … Simon?! Ich glaub ich hab’s gefunden. Ist wirklich nicht sehr groß.“

„Hm ... Flick es provisorisch! Ich sag dir ob es gereicht hat.“

Susanna löste gerade alles Nötige aus den Klettverschlüssen der Werkzeugtasche, als Simon sich erneut über Funk meldete.

„Äh, Susanna. Hast du gerade was verloren? Hinter dir fliegt irgendetwas durch den Raum. Circa zwanzig Zentimeter lang. Könntest du dich bitte schnell darum kümmern, damit es kein weiteres Loch in die Hülle reißt?“

„Oh entschuldige. Moment.“, gab sie halbherzig zurück, „Was – ist denn das?“

Das Objekt was langsam auf sie zuschwebte, kannte sie nicht. Langsam schlossen sich ihre Hände um ein kleines hölzernes Viereck.

„Was ist was? Su, alles in Ordnung? Was ist es denn?“ Simon klang nicht wirklich besorgt. Sie antwortete trotzdem:

„Es ist ein Holzkästchen. Mit einem kleinen Verschluss dran. Sieht alt aus, Simon. Ich glaube ich bekomme es auf.“

Der Schnappverschluss knickte weg und setzte seinen Weg durch das Weltall allein fort. Susanna gab sich Mühe das Kästchen vorsichtig zu öffnen.

„Pass ja auf! Es ist nie ratsam umher fliegenden Schrott aufzuheben. Hier kommt meistens der Mist hin, der zu schädlich ist, um unten zu bleiben.“

Doch Susanna Hayden hatte nicht das Gefühl, als ob der Inhalt gefährlich wäre. Zudem zwang sie ihre Neugier die zwei Hälften aufzudrücken und einen Blick hinein zu werfen. Plötzlich war der Raum um sie herum gefüllt mit kleinen weißen Papierfetzen, die aus dem Holzkasten regelrecht heraus explodiert waren und nun in alle Richtungen davon schwebten.

Sie keuchte erschrocken.

„Papier … Ist nur Papier, Simon. Moment mal, da steht überall etwas drauf …“

„Wa … Ich ver … ganz schlecht … hast du gesagt? … Irgendwa … stimmt mit der Verbindung nicht … Su …“

Der Kontakt brach stockend ab. Gelegentliches Knistern deutete darauf hin, dass Simon am anderen Ende versuchte zu ihr durchzudringen, aber keinen Erfolg hatte. Susanna beunruhigte die plötzliche Stille nicht. Ihre Augen ruhten auf den Papierschnipseln, die sie zwischen den Fingern hielt. Ihr war, als wäre sie schlagartig an Autismus erkrankt, so fern schien ihr ihre Umgebung zu werden. Wie wenn man mit einem Fotoapparat zu schnell aus einem Ausschnitt heraus zoomte. Apathisch las sie die Zeichen auf den Zetteln. Immer und immer wieder, bis ihre Lippen automatisch die Worte formten:

4 8 15 16 23 42

Die Zahlenfolge war überall, auf jedem gottverdammten Stück. Als sie das Papier drehte, entdeckte sie ein einzelnes Wort

Mit einem Mal schien das Universum auf die Größe des Blattes zusammen zu schrumpfen. Susanna Haydens Stirn legte sich in Falten. Dort stand mit schwarzer Tinte geschrieben:

HELP

4

Es war soweit. Susanna Haydens Zuversicht war mit jedem weiteren Schritt nach Sonnenuntergang geschwunden. Nun war es stockfinster und nichts davon war noch übrig.

Mehr als einen halben Tag war sie der Küste gefolgt und nicht mal auf einen Ansatz menschlicher Besiedlung gestoßen. Ihr Weg hatte sie über flache Strandabschnitte und hohe Felsen geführt, dennoch fehlte ihr der Mut durch die dichte Vegetation ins Landesinnere zu gehen. Sie hatte von einer Landschaftsanhöhe aus sehen können, wie unglaublich weit dieser tropische Wald reichte. Bis zum sichtbaren Horizont und wohlmöglich noch um einiges weiter.

Die Temperaturen waren nur langsam bei Einbruch der Nacht gesunken, da das nahe gelegene Meer die Wärme länger speicherte und den Landstreifen weiterhin aufheizte. Durch den fehlenden Einfluss der Sonne jedoch, konnte man deutlich einen frischen Luftzug spüren, den man in keiner Weise als Wind bezeichnen konnte, der aber Abkühlung versprach.

Susanna seufzte erleichtert, als sie sich auf den steinernen Untergrund setzte und ihre schmerzenden Beine an sich heranzog. Es war unklug in der Nacht weiterzugehen, aber ihre innere Sehnsucht endlich ihr Ziel zu erreichen, wo auch immer es liegen mochte, lies sie nicht in Ruhe. Sie hatte sich sogar zu einer kleinen Verschnaufpause zwingen müssen, um ihren Körper nicht zu überlasten. Der einsehbare Ort, an dem sie sich gerade befand, schien ihr dafür ein guter Platz zu sein. Das rötlich-hellbraune Gestein hatte hier äußerst bizarre Formen angenommen. Es war rund gewaschen und bedeckte eine große Fläche. Unter ihrer Hand fühlte es sich warm an und die erkennbaren Gesteinsschichtungen boten auch dem Auge eine wahre Pracht. Ähnliches hatte sie an Finnlands Küsten schon einmal gesehen, wo sie vor einigen Jahren an einer Universität ein Seminar für Raumfahrttechnologien besucht hatte. Die Landschaft hatte sie fasziniert, aber das Wetter hob sich nicht sehr von dem in ihrem Heimatland ab: England. Dort war es als würde man in einem ewig andauernden April leben. Für sie kein Problem. Wenn man einen Großteil seines Lebens dort verbracht hatte, war es so normal wie das Salz in der Suppe.

Sie war in Canterbury geboren wurden. Einem historisch stark belasteten Städtchen in der englischen Grafschaft Kent. Zu allen Jahreszeiten nahezu überrollt von Touristen; mit seiner Kathedrale, Zentrum der anglikanischen Kirche, und mit seinen Universitäten ebenfalls geachtet als Bildungsquelle. Sie war an diesem Ort aufgewachsen, zur Schule und zur Universität gegangen, hatte neue Horizonte und Grenzen entdeckt, war Träumen gefolgt und wieder von ihnen abgefallen und hatte Dinge erlebt, die ihr Leben entweder bereichert hatten oder aber auch solche, die ihr die Sicht nahmen, ihr vorheriges wie auch weiteres Bestehen seiner Klarheit und Normalität beraubten.

In ihrer Kindheit und Jugend hatte es Tage gegeben, die ihr im Gedächtnis saßen wie Ungeziefer. Sie hatte diese Tage unter einer dicken Schicht aus Ignoranz begraben, doch sie wusste, dass sie da waren. Immer. Genauso wie man weiß, dass sich unter der eigenen Bettdecke Milliarden kleiner Staubmilben befinden, die unberührt von uns, Massen an Hautschuppen vertilgen. Winzig klein, krampfhaft ignoriert, aber immer greifbar nah.

Für einen Moment rutschte Susanna Hayden in eine dieser dunklen Erinnerungen hinab.

Sie blickte plötzlich wieder durch große Kinderaugen, die durch Angst und das Nicht-Begreifen-Können, noch weiter zu wachsen schienen. Tränen trübten ihr die Sicht, Panik verstopfte ihr die Ohren. Um sie herum bewegten sich Schatten. Ihre Mutter lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Obwohl sie eine kleine, aber kräftige Frau war, hatte sie den Schmerzen, die ihr die unnatürlich starken Wehen zufügten, nichts entgegen zu setzen. Susanna war acht und das Einzige, was sie wusste, war, dass sie ihrer Mutter helfen wollte. Sie wollte ihr die Schmerzen nehmen, sie wollte, dass ihr kleiner Bruder schnell zur Welt kam und dann würde sie Mama wieder gesund pflegen. Und bald, das wusste sie, würden sie wieder Eis essen, in die Kirche gehen oder im Park Drachen steigen lassen.

Nur, die Schmerzen hörten einfach nicht auf. Bereits seit Stunden kümmerte sie sich in Aufopferung ihrer verbleibenden kindlichen Kräfte um das Fieber, welches ihre Mutter am Morgen befallen hatte. Nun war sie am Ende. Wäre ihr Vater noch hier gewesen, würde das alles nicht passieren.

Das Kind, was ihre Mutter so quälte, war nicht von ihm, denn er war schon vor langer, langer Zeit gegangen. Es war von dem neuen Mann. Dem Mann, welcher vor mehr als einem Jahr, in ihr beider Leben regelrecht hinein explodiert war und sie einander entfremdete. Er nahm ihre Mutter oft zu sich nach Hause. Susanna blieb allein. Er mochte das Kind nicht und nie im Leben hätte er noch eines haben wollen, wäre da nicht die Nacht gewesen, in der er im Suff Susannas kleinen noch ungeborenen Halbbruder gezeugt hatte. Die Monate, die nach dem positiven Schwangerschaftsergebnis folgten, waren die Hölle. Er wollte, dass sie das Kind abtrieb, aber sie wehrte sich entschieden. Es entspräche nicht den Prinzipien ihres Glaubens, sagte sie, doch in Wahrheit sprach viel mehr ihre Mutterliebe aus ihr, als ihre Gottesfurcht. Trotzdem ging der Mann nicht. Er wurde hartnäckiger, begann sie und Susanna zu schlagen, trank weit mehr als er vertrug und war nicht mehr aus dem Haus zu kriegen.

Vor gut eine Woche, gerade als die Schwangerschaft ihrer Mutter den achten Monat zählte, drehte er ein letztes Mal völlig durch, indem er sie in dem fensterlosen Bereich seines Hobbykellers einschloss und den Schlüssel mit sich nahm, wohin er auch immer gegangen war. Sie fanden Vorräte und warteten darauf, dass jemand sie suchte. Doch als die Wehen am morgen des dritten Tages zusammen mit dem Fieber einsetzten, war noch niemand gekommen.

Ihre Mutter bäumte sich auf. Sie war vor Schmerzen ganz verrückt und schlug wild um sich. Sie schrie, dass sie sterben wolle und wünschte dem Mann, der ihr das angetan hatte, alles erdenklich Böse auf Erden. Und genau in diesen letzten unheimlichen Minuten wich Susanna von der Seite ihrer Mutter. Das erste Mal schien ihr die Frau gegenüber völlig fremd. Der irre Blick, die spitzen, hasserfüllten Schreie. Es war ihr, als würde ihre Mutter sie anschreien und nicht den Mann in ihren Halluzinationen. Als ihre Mutter nach ihr schlug und die Fingernägel ihre Waden zerkratzten, kroch Susanna schluchzend in die andere Ecke des Raumes unter die Werkbank des Mannes, schloss ihre Augen und steckte sich die Finger in beide Ohren.

So fand man sie noch einige Stunden später sitzend. Ihre Mutter war vor längerer Zeit ohnmächtig geworden. Der Notarzt schaffte es, den Säugling vor dem Erstickungstod zu retten, aber ihre Mutter verschied noch bevor das Kind ihre Lenden verlassen hatte...

Susanna Hayden spürte wie Tränen ihr in die Mundwinkel drangen. Der Geschmack des Meeres. Die aufspritzende Gischt hatte sie wieder in das Hier und Jetzt zurückgeholt. Das weitere Salzwasser auf ihrem Gesicht machte die Tränen unbedeutend.

Fast dreißig Jahre lang hatte sie Zeit gehabt, die Dinge aufzuarbeiten und zu akzeptieren. Am Ende dieser Zeit konnte sie nur einsehen, dass sie nicht gereicht hatte. Ihre Reaktionen auf gelegentlich auftretende Anflüge von Panik und Trauer waren zwar nach und nach abgeflacht, aber immer noch schmerzvoll.

Sie lies ihre Knie los und streckte ihre Beine bis ihre Fersen vollständig auf dem Fels zum Liegen kamen. Dann richtete sie ihren Blick gen Himmel. Vereinzelt schwammen milchige Wölkchen am Nachthimmel. Der abnehmende Mond färbte sie silbern und lies auch das rötliche Gestein kälter erscheinen. Susanna drehte den kopf und sah über ihre Schulter zum Wald hinüber. Ein tieferes Schwarz konnte nicht existieren. Durch die ersten Bäume brach noch Mondlicht, doch dahinter war kein Blatt mehr zu erkennen, kein Stamm mehr vom anderen zu unterscheiden.

Sie holte stockend Luft. Das Weinen hatte ihren Atem durcheinander gebracht und ihre Brust bewegte sich immer noch schnell, denn sie hatte Panik. Nicht der Erinnerung wegen, sondern vielmehr, weil sie sich gehetzt füllte. Unruhig, paranoid, getrieben. Und weil sie wusste, dass sie dieser unergründliche Trieb noch diese Nacht in den Dschungel führen würde.

Ihre Beine gaben unter ihr nach wie nasse Schwämme, als sie zitternd aufstand. Die Mühe die es sie kostete, Ruhe zu bewahren und ihr angstvolles herz im Inneren nieder zu ringen, nahm ihrem Körper die letzte Würde.

Die ersten Meter legte sie nur stolpernd zurück. Stieß sich hier und da den Fuß, schrammte sich Schienbeine und Ellbogen auf. Doch je größer die Strecke wurde, die sie zurücklegte, umso sicherer und weiter wurden ihre Schritte und umso kleiner der Abstand zu der endgültigen Dunkelheit vor ihr.

5

„Nhhhgg!“

Ihre Handflächen gegen die Schläfen gepresst, taumelte sie auf einem unsichtbaren Pfad durch das Unterholz. Susannas Kopfschmerzen sprengten alle Dimensionen und aus Ermangelung an Aspirin musste sie auf wenig erfolgreichere Methoden zurückgreifen, wie zum Beispiel Reibungswärme, die sie mit Hilfe ihrer Handinnenflächen erzeugte, und Druck, indem sie ihre Fingerspitzen gegen ihre Kopfhaut drückte. Doch der wirklich stechende Schmerz umging diese Gegenmittel mit Leichtigkeit.

Susanna hatte ein Megajetleck. Unter normalen Umständen hätte sie sich jetzt längst in medizinischer Überwachung befunden und morgen nach einem ausgiebigen und kohlenhydratreichen Frühstück das Muskelwiederaufbau-Programm angetreten. Die Umstände waren aber nun alles andere als normal, damit musste sie sich abfinden. Simon war nicht mit Kopfschmerzen, Prellungen und Verstauchungen davon gekommen. Wahrscheinlich hatten die ersten Wildtiere ihn entdeckt und das, was von ihm übrig war, erfolgreich wieder verwerten können.

Ein Würgelaut entfloh ihrer trockenen Kehle.

Und konnten diese verdammten Grillen nicht endlich aufhören zu zirpen. Die Biester waren anscheinend überall. Im Laub am Boden, in den Büschen und ab und zu sah Susanna eine an einem Baumstamm kleben. Die schrillen Laute verstärkten ihr Leid. Mittlerweile war ihr Kopf so empfindlich geworden, dass es sich mit jedem Schritt so anfühlte, als ob ihr Hirn und die Flüssigkeit, in der es schwamm, Anlauf nahmen und gemeinsam gegen die Schädelwand klatschten.

„Scheiße!!!“, schrie sie frei heraus, als das dumpfe Geräusch von Holz und der auf der Stelle folgende Schmerz im linken Fuß und im Kopf, ihren inneren Zähler eine Nummer höher springen lies.

32! 32 ungeschlagene Male hatten es ihre Füße nicht geschafft sich höher als diverse Baumwurzeln zu heben und somit der unangenehmen Strafe aus dem Weg zu gehen.

Hayden schlug ihre Faust gegen die Baumrinde des Baumes, der ihr am nächsten war. Ihre Knöchel glitten jedoch an der feuchten Moosschicht ab und sie selbst prallte, da sie das Gleichgewicht verlor, mit dem ganzen Oberkörper gegen den Riesen. Während sie noch darauf wartete, dass der Schmerz im Schulterblatt nachließ, begann einige Meter über ihrem Kopf prompt ein Zirpkonzert.

Das war zu viel. Sie stieß sich von der Borke ab, mittlerweile Tränen der Pein in den Augen und brüllte:

„Seid verdammt noch mal still, ihr Scheißdinger!!! Ich will endlich meine RUHEEEE!!!“

Ruhe.

Innerhalb von Sekundenbruchteilen war die Stille dermaßen absolut, dass Susanna ihr eigenes Echo zwischen den Bäumen hören konnte. Kein Nachtvogel, kein knackendes Geäst, keine Grillen.

Fassungslos rang sie nach Atem. Dann entspannte sich ihr Blick, nur um kurz darauf verwundert die Augenbrauen zu heben. Sie lauschte in die Nacht hinein.

Als sich auch nach weiteren Minuten nichts an der Kulisse änderte, wirkte sie zwar noch erleichtert und erfreut über ihren seltsamen Sieg, aber zwischen ihren Organen manifestierte sich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr Instinkt warnte sie: Einen Dschungel ohne Geräusche gibt es nicht, Susanna.

Und kaum hatte sie das begriffen, vernahm sie etwas. Es wurde immer lauter. Entsetzt drückte sie sich zurück an die gegerbte Rinde. Menschliche Stimmen! Nur ein Flüstern, kein verständliches Wort. Aber dennoch menschlicher Art. Es glich einem Wind, so wie es sich durch den Wald bewegte. Die Stimmen waren neben ihr, vor ihr, hinter und über ihr. Sie umwehten sie, schlossen sich um sie und entfernten sich wieder, nur um ein weiteres Mal heran zu eilen und genau in dem Moment, wo sie fast unerträglich laut zu werden drohten, abrupt zu verstummen.

„Wer ist d-da? Wer seid ihr???“, rief sie gebrochen in die Richtung, in der das Geräusch verschwunden war, „Bitte!!! Wer seid --“

„Du solltest nicht so laut schreien.“

Ihr Körper und ihr Herz machten einen Satz. Susanna Hayden hatte sich so schnell umgedreht, wie es einem Menschen nur möglich war. Selbst das erschrockene Keuchen war auf halber Strecke zurückgeblieben.

Hinter ihr, drei Meter nur entfernt und genau in entgegen gesetzter Richtung in der das Flüstern verschwunden war, stand eine Gestalt zwischen einer Ansammlung feuchter Farne und blickte sie an. Sie war weiblich und etwas kleiner als sie. Ihre Augen leuchteten schwach in der Dunkelheit und das Mondlicht brach sich flüssig auf blonden, langen Lockenhaaren.

Susanna, erstarrt vor Schreck, brachte keinen Ton heraus.

Die junge Frau lächelte.

„Du solltest dich lieber beeilen. Er wartet auf dich.“

Susanna löste ihre Zunge aus der Umarmung des Schreckens: „Wer? Wer wartet?“

Die Blonde schüttelte leicht den Kopf: „Du musst nach Süden und das Meer noch in den verbleibenden zwei Stunden zum Sonnenaufgang erreichen. Es ist besser du folgst den Sternen, wenn du sicher ankommen willst.“

Ungläubig nahm sie die Worte auf. Warum sollte sie zum Strand?

„Wer zum Teufel bist du?“

„Ich heiße Claire und ich bin hier, um dir zu helfen. Versuche nicht so viele Fragen zu stellen. Die Zeit wartet nicht.“

Susanna kniff die Augen zusammen, als sie der vergessen geglaubte Kopfschmerz erneut heimsuchte, und fragte gequält: „Oh, Gott. Ich verstehe nicht warum … Gibt es dort eine Siedlung?“

Als sie keine Antwort bekam, öffnete sie erneut ihre Augen.

Das Mädchen war weg. Dort, wo sie gestanden hatte, bewegte sich kein Grashalm. Kein Rascheln hatte ihr Verschwinden angedeutet, so als ob sie der Wald verschluckt hätte.

Kalter Schweiß rann Susannas Stirn hinunter. Der Kopfschmerz war verflogen. Fast so, als ob ihn diese seltsame Person mit sich genommen hatte. Dennoch hallten die Worte der Fremden in ihren Gedanken wider.

Stumm richtete die Zurückgelassene ihren Blick nach oben. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie auf einer Lichtung stand. Der Himmel über ihr war frei. Und in dem nur wenige Quadratmeter großen Fenster im Blätterdach befand sich der Polarstern. Genau in diesem Moment, an diesem Ort hatte sie ausgerechnet freies Blickfeld auf den Stern, den man brauchte, um sich erfolgreich zu orientieren.

Mit flachem Atem beobachtete sie diesen einige Minuten lang, bis sie sich sicher war, dass er sich von ihr aus nach rechts bewegte. Das hieß, sie stand bereits in Richtung Süden.

Ihr blieb keine andere Wahl, als sich zu fügen. Möglicherweise war es auch eine Halluzination gewesen. Immerhin hatte sie den ganzen Tag nichts gegessen, getrunken und auch nicht geschlafen. Sie hatte einen Absturz aus denkbar größter Höhe überlebt, hatte die Leiche eines Freundes gesehen und hatte selbst eine Vielzahl an Verletzungen. Die Möglichkeit einer Einbildung übertraf die Wahrscheinlichkeit einer echten Begegnung bei Weitem. Aber, ob sie wollte oder nicht, sie musste früher oder später sowieso den Weg zurück zum Strand einschlagen, wenn sie nicht darauf bestand, dass sie langsam im Dschungel verreckte.

Ohne jegliches Zeitgefühl folgte sie den Sternen bis diese langsam so verblasst waren, dass sie sie nur noch schwer lesen konnte. Bevor dies jedoch geschah, drang das bekannte Meeresrauschen an ihre Ohren und der Salzgeruch erfüllte ihre Nase.

Sie schleppte sich auch die letzten Schritte aus dem Dickicht und ging auf dem Sand keuchend in die Knie.

„Heilige Scheiße …“, brachte sie zwischen zwei Atemzügen hervor. Sie hätte schon vor Stunden eine zweite Pause gebraucht, aber die Worte von Claire hatten keine Unterbrechung ihrer Wanderung zugelassen. Er wartet auf dich.

Egal, wer er war. Er sollte besser etwas Wasser dabei haben und ein funktionierendes Handy, ansonsten würde sie ihn nicht sehr freundlich empfangen.

Sie knickte ihre Beine seitlich so weg, dass ihr Hintern auf dem hellen Sand zum sitzen kam. Lange hielt sie das nicht mehr durch. Entweder fand sie hier wirklich jemand oder sie würde an Entkräftung und Durst sterben.

Sie legte den Kopf nach hinten und genoss die kleine Briese, die vom Pazifik heran wehte. Verärgert stellte sie fest, dass sie einen Tinnitus hatte. Sie stopfte sich ihre Finger in beide Ohren, aber es wurde nur noch schlimmer.

Beunruhigt musste sie feststellen, dass es sich nicht um ein Ohrgeräusch handelte, sondern dass es eine reale Schallquelle war, die die Luft um sie herum zum schwingen brachte. Ein unfassbar hoher und klarer Ton. Je lauter er wurde, umso heller wurde es um Susanna. Der Himmel begann zu glühen. Während sie schrie und beide Hände auf die Ohren presste, musste sie auch die Augen vor dem gleißend weißen Licht schließen, was von einem Moment auf den anderen alles verschlang: Das Meer, den Strand, die Vögel, den Wald, sie.
 

Das erste, was sie hörte, war ihr eigener Herzschlag. Der Himmel war wieder normal. Strand, Meer und Wald waren wieder da. Im Hintergrund sangen die Vögel wie zuvor und auch Susanna saß genau dort, wo sie sich gesetzt hatte.

Was war das gewesen? Eine Explosion? Warum lebte sie dann noch?

Sie rieb sich mit den Händen, die nach Schlamm und Gras rochen, über das Gesicht und strich dann ihr rotes Haar, welches ihr in die Augen gefallen war, mit der Rechten zurück.

Klick.

Sie lies ihre Hand zurück in den Schoss fallen und drehte ihren Oberkörper, um hinter sich zu schauen. Einen Liedschlag später hatte sie den kalten Lauf einer Pistole auf der Stirn.

An der Waffe vorbei erkannte sie einen jungen Mann mit kurzen dunklen Haaren. Er trug eine sandfarbene Uniform mit einem seltsamen Emblem unter dem Namensschild.

Seine kalten Augen fixierten sie wütend durch die runden Brillengläser hindurch und sein Finger zuckte gefährlich am Abzug, als er sie anfuhr:

„Wer sind Sie?!“

6

Klonk. Klonk. Klonk.

Eastwicks Schritte näherten sich in aufgebrachter Hast über den metallenen Boden der STS-185.

Susanna hatte ihren Helm abgenommen und starrte auf die Reflektion ihres eigenen Ichs im Visier. Sie sah fertig aus. Ihr Pony und die längeren tiefroten Strähnen ihrer Haare klebten wild durcheinander in ihrem Gesicht. Ihre Wimpern vibrierten nervös, um die Spitzen, die hin und wieder in ihre Augen gelangten, loszuwerden. Von ihren Lippen perlte der Schweiß und ihre sonst so blassen Wangen waren feuerrot.

Das Geräusch von Eastwicks Stiefeln war verstummt. Er ging vor ihr in die Hocke. Sie richtete ihren Blich durch den roten Nebel ihrer Haare auf sein Gesicht. Sein Mund war halb geöffnet. Er hatte seine Augenbrauen gerade so leicht zusammen gezogen, das sich kleine Fältchen zwischen ihnen bildeten, was wohl soviel wie Besorgnis ausdrücken sollte.

Er räusperte sich angespannt.

„Su.“, begann er trocken, „Alles in Ordnung?“

Susanna Hayden schluckte schwer und nickte.

„Alles okay.“, sie legte den Helm mit einer zitternden Bewegung auf den Shuttleboden, „Hat Simon herausgefunden, was mit der Gegensprechanlage nicht stimmt?“

„Ja, hat er.“ Eastwicks Augenbrauen bildeten nun ein geschwungenes „M“. „Am besten kommst du gleich mit in den Kontrollraum. Er telefoniert gerade mit Houston.“

Ohne zuerst den Anzug abzulegen, folgte sie Eastwicks zügigen Bewegungen durch den Rumpf, allerdings blieb sie an einer besonders engen Stelle mit einer Ausbuchtung des Stoffes hängen. Ihre Werkzeugtasche fiel zu Boden und die drei Zettel, die sie von draußen mitgebracht hatte, flatterten heraus. Ohne zu zögern hob sie sie auf und lies sie schnellstmöglich in der rechten Tasche des Raumanzugs verschwinden. Simon musste sie sehen. Vielleicht hatte er eine Idee, woher sie stammen konnten und wie alt sie waren, auch wenn man mit altersermittelnden Forensik im Vakuum nicht weiter kam, da man keinen Zersetzungsgrad bestimmen konnte.

Eastwick betrat knapp vor ihr das Cockpit und gab sofort den Blick auf Simon frei, der hektisch versuchte den Leuten unter der Ozonschicht etwas zu erklären.

„Nein, nein! Sarah, hol mir bitte Tony an den Bildschirm! Sag mal, schlaft ihr da unten alle?! Soweit ich das sehe, halte ich mit unserer Außenkamera direkt drauf. Euere Leinwand ist mindestens so groß wie der ganze Orbiter. W – Wo hält sich der Mistkerl denn auf, wenn er nichts mitbekommt?“

Susanna war überrascht wie Simon über Tony Duprais herzog. Immerhin war er ihr nächster Vorgesetzter. Ein guter Freund zwar, aber es war in jeder Hinsicht besser, Tony nicht zu sehr auszureizen, besonders nicht wenn er gerade beschäftigt war. Denn war dies der Fall, waren es immer wichtigere Dinge, als die, die du ihm andrehen wolltest. Duprais besaß eine bemerkenswerte Organisationsstruktur und solange ihm niemand diese durcheinander brachte, war er der verständnisvollste Mensch auf Erden. Viele sagten er vertrage keinen Stress mehr, weshalb er wohl auch ständig mit einem Block voller To-Do-Listen herumlief, was ihm eine traurige Berühmtheit unter Kollegen eingebracht hatte.

„Simon!“, unterbrach Sarah ihn mit leichtem südeuropäischem Akzent, „Es tut mir leid, er ist vor einer halben Minute aufs Klo gegangen. Also ha--“

Simon warf den Kugelschreiber, mit dem er noch Augenblicke zuvor die besonders kleinen Einheiten an den Messinstrumenten bedient hatte, in einem Ausbruch spontanen Missfallens gegen den Monitor, der Sarahs markantes, spanisches Gesicht zeigte.

„Dann hol ihn doch, verdammt noch mal, jemand von der scheiß Latrine!“, zischte er ihr entgegen.

„Puta Madre!“, rief sie laut in perfektem Spanisch, noch während sie sich in ihrem Stuhl umdrehte und aus dem Radius der Kamera verschwand.

Hinter ihrem Arbeitsplatz war die Hölle los. Menschen sprinteten vorbei, Notizzettel flogen ihnen hinterher, aufgeregte Telefonate wurden geführt und entsetzte und verwirrte Gesichter tauchten hier und da auf.

Und Dutzende von Angestellten starrten auf den riesigen Bildschirm, der im Hintergrund das Bild der Außenbordkamera der STS-185 zeigte. Susanna stutze und rückte näher an den kleinen Monitor, sodass ihre Wange Simons Haare streifte, worauf er ihr mürrisch Platz machte.

„Was zur Hölle ist das?“, flüsterte sie eher zu sich selbst, als zu Simon.

Dieser antwortete trotzdem, etwas zu sarkastisch:

„Das? Ach, das ist nur ein, uns unbekannter, Satellit. Der Größe und Bauart nach zu urteilen, ein Kommunikations- oder Spionagesatellit. Er taucht weder in unseren Listen, noch in denen des Pentagons auf, trägt keinerlei Kennung, sendet und empfängt fröhlich auf nicht eingetragenen Frequenzen verschlüsselte Signale, und kommt definitiv … definitiv NICHT aus den Vereinigten Staaten!!!“

Simon verschränkte wütend die Arme. Auf seiner Stirn pochte eine kleine Ader im Rhythmus seines Herzschlages.

„Und Tony ist scheißen gegangen! Kaum näheren wir uns dem Ende unserer Mission, geht bei denen schon die Party ab und die haben noch nicht mal ansatzweise unseren Arsch da unten.“

Susanna schlängelte sich an den von Gift und Galle übersprudelnden Schimpftiraden Simons vorbei und stürzte an das runde Fenster im nebenan liegenden Nutzraum des Shuttles.

Sie gab ein kurzes Oh von sich und schob ihr Gesicht so nah an das Glas, wie es ihre Nase zuließ.

Es war ein relativ kleiner Satellit. Gemessen an denen, die sie schon kannte. Unschwer war auch zu erkennen, dass es sich um ein, in den 80ern häufig verwendetes, Modell handelte. Über die Jahre hinweg hatten sich umherschwebende Gesteins- und Staubpartikel an den Nähten und Nieten der Konstruktion in die Hülle gefressen und hatten dem Metall den ursprünglichen Glanz genommen. Dennoch schienen die Funktionen der Transponder und Slots, laut Simon, nicht beeinträchtigt zu sein.

Die Kugel verharrte geheimnisvoll neben ihnen und wer auch immer sie gerade benutzte, wusste nichts von ihrer Anwesenheit.

Susannas Blick glitt forschend über die gealterte Oberfläche, auf der Suche nach Hinweisen auf die Herkunft der Anlage. Doch auf diese Entfernung konnte sie nichts erkennen.

„Simon?“, rief sie in Richtung Cockpit.

Ein fragendes Ja wurde zurückgeschmettert.

„Wie sieht’s aus? Können wir näher ran?“

„Kleinen Moment!“

Sie hörte eine gedämpfte Unterhaltung. Zwar verstand sie kein einziges Wort, erkannte aber Tonys einprägsame, tiefe Stimme im Hintergrund.

Simon antwortete erst nach einigen Minuten.

„Okay, wir sollen weiter ran. Bereite dich schon mal auf einen weiteren kleinen Trip vor.“

Langsam bewegte sich die STS-815.

Der Fremdsatellit kam wie in Zeitlupe näher.

Während Susanna Hayden weiterhin angestrengt versuchte, wichtige Hinweise zu entdecken, bemerkte sie wie Eastwick an ihr vorbei in Richtung Luftschleuse huschte und dort begann seinen Anzug anzulegen.

„Kevin?“, sie nannte ihn absichtlich bei seinem Vornamen, um Aufmerksamkeit zu erreichen, „Was soll das werden?“

Sie stellte sich protestierend in den Übergang vom Mittelteil zum Schleusenvorraum.

„Das siehst du doch. Ich werde gehen. Du warst heute schon einmal da draußen und du sahst furchtbar aus, als du wieder rein kamst.“

„Wie ich aussah, steht hier nicht zur Debatte! Simon hat gesagt ich soll gehen und er ist hier unser Skipper.“ Susanna trat einen Schritt auf ihn zu. „Und ich bin dir auf keinen Fall dankbar, dass du mir mein Leben erleichtern willst. Hör gefälligst auf, so zu tun, als ob du es wegen meiner Verfassung tun würdest. In Wahrheit bist es doch du, um den du dir am meisten Sorgen machst, oder?“

Eastwick hielt inne und starrte sie entrückt an.

„Du weißt genau, worauf ich abziele!“, fuhr Susanna gnadenlos fort, „Als wir noch zusammen waren, hast du dir bei mir die Augen aus dem Kopf geheult, weil du Angst hattest, deinen Posten zu verlieren. Tony meinte, du zeigst zu wenig Interesse und zu wenig Forschergeist für die Größenordnung an Missionen. Und das hat dir Angst gemacht. Du hast gesagt, diese Unternehmung sei wahrscheinlich deine letzte Chance die Dinge zu richten und dass du dich anstrengen würdest, auch wenn ich dabei zurück bleiben müsste. Aber statt dich durchzusetzen, hast du mir die vergangenen Monate alle Arbeit bereitwillig überlassen. Und genau jetzt, wo sich alle Augen auf unser Projekt richten, fängst du an deinen Hintern zu bewegen? Und du tust so, als ob du mir nur helfen wolltest?“

Susanna holte aus zum entscheidenden Schlag.

„Du bist ein mieser Feigling! Obwohl du fähig bist, deinen Job mehr als nur gut zu machen, lässt du mir den Vortritt. Und sag bloß nicht, dass du das aus reiner Herzensgüte oder sogar Liebe tust! Du liebst mich nicht mal ansatzweise und hast es keine Sekunde lang getan, Kevin! In Wahrheit“, sagte sie langsam, „hast du Angst vor mir.“

Er starrte sie fassungslos an. Sein Blick sagte ihr, dass er begriffen hatte. Die Fronten waren klar. Susanna wusste, was er jetzt tun würde.

Das was er immer tat. Klein bei geben

Doch bevor Eastwick auch nur ein Wort herausbrachte, ertönte aus dem Cockpit Simons panische Stimme.

„Kommt rüber! Seht euch das an! Das gibt es nicht, er hat sich bewegt!“

Beide stürmten Augenblicklich wieder auf die dem Satelliten zugewandte Seite des Shuttles und sahen nach draußen.

„Ich könnte schwören, dass er sich bewegt hat. Irgendein Teil, ich weiß nicht genau…“, murmelte Simon vor sich hin, während er mit der Kamerasteuerung versuchte ein genaueres Bild rein zu bekommen.

Die STS-815 war mittlerweile so nah an der Anlage, dass man ohne große Mühe jede Unebenheit auf der Oberfläche erkennen konnte.

„Da! Was ist das?“ Eastwick deutete auf eine dunkle Stelle der Hülle.

Bei genauerem Hinsehen, stellte sich der vermeintliche Schatten als ein aufgetragenes Symbol heraus. Ein sauber aufgemaltes, schwarz-weißes Achteck, in dessen Mitte sich ein schwarzer Kreis befand. In diesem Kreis war mit groben weißen Strichen eine Art Spinnennetz gezeichnet und dicke schwarze Buchstaben schrieben das Wort „Dharma“ darüber.

Susanna betrachtete das Zeichen, unschlüssig, was sie davon halten sollte.

„Seltsam. Keine Flagge, keine Nummer. Wie haben die ihren Satelliten nur gekennzeichnet?“

Eastwick kniete sich etwas bequemer neben das Bullauge.

„Na klasse! Dann ist es höchstwahrscheinlich Spionage.“, seufzte Simon aus dem Cockpit, „Die Kacke ist also richtig am dampfen.“

Die Hand über ihre Augen haltend, um die Beleuchtung abzuschirmen, führte Susanna Hayden ihren Blick immer wieder über das Symbol und den Schriftzug. Sie hatte schon einmal etwas Vergleichbares gesehen, aber ihr wollte in der ganzen Aufregung nicht einfallen, was.

Kevin Eastwick hatte sich währenddessen erhoben und war auf dem Weg zurück zur Luftschleuse.

„Hey! Hey, Moment mal!“, rief Susanna, die ihn bemerkt hatte, ihm hinterher.

Sie wollte gerade aufstehen und ihn packen, als Simon wie ein Besessener anfing zu brüllen:

„DA!!! Da ist es schon wieder! Oh … mein … Gott, was ist das?“

Susanna, halb im Aufstehen begriffen, drehte sich zurück zum Fenster. Ein kleiner Teil am oberen Ende des Transponders hatte seine Position geändert. Ein kurzer Arm wurde ausgefahren, an dessen Ende sich eine metallene Box mit einer verspiegelten Scheibe befand.

Simon keuchte und sackte in seinem Sitz zusammen.

„Eine Kamera. Diese Bastarde!“, sagte er fassungslos, „Sie beobachten uns.“

7

„Wer sind Sie?“, wiederholte er scharf und drückte den Lauf noch fester an ihren Schädel.

„Wer bist du?“, zischte Susanna zwischen ihre zusammengebissenen Zähne hindurch, „Und warum hältst du mir eine Beretta an den Kopf?“

Ein kurzes Zucken in seiner Mimik verriet seine einsetzende Unsicherheit. Kein Wunder. Er war vielleicht Anfang oder Mitte Zwanzig und hielt einer fremden Frau, deren Alter mehr als Zehn Jahre Unterschied zu seinem hatte, eine Waffe vors Gesicht. So eine unglückliche Konstellation von Ereignissen schien nicht oft genug vorzukommen, um ihn bereits abgehärtet zu haben. Aber was Susanna dennoch schockierte, war die Tatsache, dass er mit einer Waffe auf eine fremde Person zielte. Was mochte ihn an ihr so erschreckt haben? Vielleicht verwechselte er sie mit jemand.

Hoffentlich tut er das., dachte sie, während ihr das heiße Adrenalin durch die Adern raste und ihr Herzschlag flatterte, wie der eines jungen Kaninchens.

Zuerst schien der Junge durch ihre Frage aus der Bahn geworfen wurden zu sein, doch

dann – wie ein Wind plötzlich seine Richtung ändert – kehrte sich seine Laune um. Das kurze Aufblitzen von scheinbarer Unsicherheit verschwand aus seinen Augen und machte einem Glänzen von kaltem Hass Platz. Seinen gekräuselten Lippen entwich kein Laut, als er seine Haltung versteifte. Seine Hand zitterte nicht mehr, als er die Beretta entschlossen gegen ihre Stirn drückte, den Zeigefinger über den Abzug gleiten lies und …

„BEN!!!“

Am oberen Ende des Strandes brach eine Gruppe Menschen mit lautem Rascheln und Knacken aus Vegetation hervor. Davor hatte sie kein Geräusch angekündigt.

Ebenso erschreckt durch das Auftauchen der Fremden, war der Junge, dessen Namen sie nun kannte, hastig zur Seite getreten, die Waffe immer noch auf sie gerichtet, den Blick aber auf den Waldrand. Von dort kam nun ein Mann mit hastigen Schritten die Dünen herunter gelaufen. Der Sand wirbelte unter seinen Schuhen auf.

Hinter ihm bewegten sich vorsichtig mehr als ein Dutzend anderer Gestalten, einige – wie Susanna erkennen konnte – bewaffnet, den Strand hinunter.

Der Mann war nun fast bei ihnen angekommen. Sie erkannte, dass er ungefähr Vierzig sein musste. Er hatte ein ausgesprochen jugendliches Gesicht, schwarzes Haar und eine Besonderheit: Die Wimpern, um seine Augen herum, waren so dicht und dunkel, dass es aussah als hätte er sich mit dünnen Eyeliner geschminkt.

Sein Gesicht spiegelte eine Mischung aus Besorgnis, Fassungslosigkeit und Wut wieder, als er neben sie trat und den jungen Ben an der Schulter herumriss, sodass dieser endlich die Waffe von ihr nahm.

Susanna sackte ein Stück weit zusammen, als sich ihre Muskeln entspannten und atmete Stück für Stück ihre Todesangst aus. Kalter Schweiß perlte von ihrer Nasenspitze und hinterließ dunkle Sprenkel im zerwühlten Sand vor ihren Knien.

„Was soll das, Ben?!“, fauchte der Mann über ihr den Jungen an, „Wolltest du sie erschießen?“

Schweigen als Antwort. Ben sah zu Boden, eine schuldbewusste Geste, doch dies ohne die geringste Reue im Gesicht.

„Sie ist keine von ihnen! Sie steht nicht auf deren Listen, das hast du gewusst! Also, warum wolltest du sie töten?“

Wieder keine Antwort. Wieder keine Regung.

„Na gut.“, sagte der Mann trocken und stieß Ben, wie einen unartigen Schuljungen in Richtung der Anderen, „Verschwinde! Charles wird schon wissen, was er mit dir macht.“

Dann wandte er sich Susanna zu, die stumm zu seinen Füssen kniete.

„Hey?“

Er berührte sie an der Schulter.

„Alles in Ordnung?“

Mit einem Blinzeln erwachte sie aus ihrer Apathie und hob ihr Gesicht. Sie konnte sehen wie sich seine Lippen bewegten und seine Augen angespannt hin und her zuckten, aber sie hörte kein Wort, nur den durchgehenden Pfeifton, der wie bereits zuvor aus dem Nichts zu kommen schien.

Die Konturen ihres Gegenübers verschwammen vor dem glühenden Himmel und alles, was blieb, war der letzte Eindruck seiner irritierten Gesichtszüge.

Sie verschloss die Augen vor dem strahlenden Weiß und öffnete sie erst wieder, als auch der unangenehme Nachhall in ihren Ohren abgeklungen war.

Noch bevor sie ihre Lider vollständig aufgemacht hatte, war sie völlig durchnässt. Es schüttete wie aus Eimern. Ein warmer tropischer Platzregen, von einer Sekunde auf die andere. Dunkle, schwere Wolken zogen sich über den gesamten Himmel und es war finster wie die Nacht. An ihren Händen klebte der feuchte Sand wie hartnäckiger Schlamm und das Regenwasser rann in breiten Strömen über ihr Gesicht, über ihren vor unheimlicher Verblüffung offen stehenden Mund.

Sie war allein.

8

Das kleine Mädchen saß auf einem Bordstein und weinte, doch niemand konnte seine Tränen sehen, denn der sinnflutartige Regen spülte sie sofort aus ihrem blassen Gesicht, in den breiten Strom, der sich im Rinnstein sammelte, durch die Kanaldeckel, hinab in die Tiefen der Abwässer von Canterbury.

Ihre Beine taten weh. Sie war der Straße noch ein gutes Stück gefolgt, selbst als der schwarze Benz längst aus ihrer Sicht verschwunden war. Sie war gerannt, hatte geschrieen, hatte gebettelt und Gott angefleht, er solle ihr helfen, aber der Wagen hielt nicht an.

Sie war schneller gewesen, als alle anderen Male zuvor in ihrem Leben, doch es hatte nicht gereicht. Er war weg. Sie hatten ihn mitgenommen: Ihren Bruder, der alles war und doch mehr, als sie besaß. Sie nahmen ihr den Spielgefährten, den Geheimniswahrer, ihren Schützling und das letzte, an Vertrautem, was ihr geblieben war. Sie hätten sie mitnehmen können, doch sie wollten nicht. Sie hatten Angst vor ihr. Angst, dass das, was sie gesehen und erlebt hatte, sie krank gemacht hatte.

Sie könnte ihren Bruder verantwortlich machen, für das was geschehen ist, hatte die Frau gesagt.

Das Risiko ist zu groß, hatte der Mann zugestimmt; und die Betreuerin, der sie so lange vertraut hatte, hatte genickt und dem Paar den Vertrag zum Unterschreiben hingeschoben.

Dann nahmen sie ihn mit in ihr Auto. Dem Mädchen gaben sie keine Gelegenheit sich zu verabschieden, was sie wohl aus Absicht taten. Die Betreuerin sagte, als sie es am Arm zurückhielt, dass es seinem Bruder gut gehen würde und sie sich immer sehen könnten, wann sie wollten. Doch als die Autotüren zuschlugen und der Kleine, der in den Armen seines neuen Ziehvaters saß, sich hinter der Scheibe zu ihr umdrehte und anfing zu quengeln, zu strampeln und zu schreien, wusste sie es genau so gut wie er: Sie würden sich nicht mehr wieder sehen.

Da riss sie sich los und lief hinter dem fahrenden Auto hinterher. Der Regen, der an diesem Morgen fiel, störte sie nicht. Der dichte Schauer verschlang das schwarze Auto wie schwerer Nebel. Das letzte, was sie sah, waren die roten Rücklichter.

Nun saß sie am Straßenrand in aufgeweichten Kleidern und Schuhen und konnte über ihr Schluchzen hinweg, die schnellen Schritten zweier Betreuerinnen nicht hören, die kamen, um sie zurück ins Wohnheim zu bringen, welches die letzten 4 Jahre ihr neues Zuhause gewesen war. Und das ihres Halbbruders.

Sie wurde gepackt und nach oben gezogen. Sie schrie, schlug nach den Händen, die sie fest packten – so fest, dass es wehtat – und trat wild kreischend um sich, denn der Schmerz, der sie erwartete, wenn sie zurückging, war um Welten größer, als der, den die Fingernägel und scharfen Worte der Betreuerinnen ihr beibrachten. Doch sie zogen sie weiter, durch die Straße und den Vorhof, wieder hinein in die leeren Flure des Heims. Sie erschauderte, als die schwere Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und der dumpfe Knall zusammen mit ihren letzten lauten Schreien den Korridor entlang hallte.

Täglich würde sie aufwachen, zur Schule gehen, essen, schlafen, atmen und er würde nicht da sein.

Täglich würde sie aufwachen und sie würde allein sein...

9

Der Regen hatte sie unter das dichte Blätterdach des Urwalds getrieben. Obwohl das Wasser warm war und die Luft nichts an ihrer Schwüle verloren, sondern vielmehr dazu gewonnen hatte, zitterte sie heftig. Ihre Kleidung klebte an ihr, wie eine zweite Haut.

Sie befand sich an der Stelle, an der zuvor ein ganzer Pulk fremder Leute gestanden und sich von einem Moment auf den anderen in Luft aufgelöst hatte. Die seltsamen Geschehnisse mussten etwas mit dem Leuchten und Pfeifen zu tun haben. Oder mit ihrem Geisteszustand. Vielleicht hockte sie auch nicht hier im Regenschatten der Baumriesen und wartete darauf dass der Monsun nachließ, sondern lag ohnmächtig neben dem qualmenden Wrack der Kapsel und würde in den nächsten Minuten an einer Rauchvergiftung sterben. Wenn dies also ihr letzter Traum war, wäre es auf jeden Fall besser sie würde schnell verrecken. Langsam machten ihr die Dinge, die sie sah, hörte und fühlte, eine Heidenangst.

Ihre jungfräuliche Idee, es seien Halluzinationen, musste sie schnell verwerfen. Die Vorgänge waren viel zu komplex, um ihrer Fantasie zu entspringen und glichen keiner Situation, die sie früher einmal erlebt hatte, also stammten sie auch nicht aus einer ihrer Erinnerungen. Sie hatte keinen dieser Leute jemals gesehen. Nur bei diesem Mann hatte sie etwas Seltsames in ihrem

Inneren gespürt, so wie wenn man dieses Kribbeln in der Nase verspürt und denkt man müsste niesen, aber dann verschwindet dieser Reiz abrupt und das Einzige, was bleibt, ist ein ungutes Gefühl. Natürlich musste sie davon ausgehen, dass es zu unwahrscheinlich war, dass sie ihn irgendwann getroffen hatte, aber noch unwahrscheinlicher, dass sie sich daran erinnern würde. Aber war er derjenige gewesen, den die weibliche Erscheinung im Dschungel meinte, als sie zu Susanna sagte, es warte jemand auf sie? Er wirkte nicht so, als würde er sie kennen.
 

Es blieb dabei, dass niemand von denen wieder auftauchte. Aus Panik, sie würde keine Erklärung dafür finden, verdrängte sie die Gedanken und versuchte, da sich kein größerer Erfolg einstellte, einen neuen Plan zu machen.

Ihre Müdigkeit war dank des Adrenalins verflogen, ihr Hunger war noch nicht so stark, dass sie sich Sorgen machen müsste, aber das Verlangen nach trinkbarem Wasser war nur noch gewachsen. Ihr Mund war trocken wie ein Wüstenfels, die Zunge klebte abwechselnd am Gaumen und an den Zähnen. Susanna hatte viel geschwitzt, zu viel Flüssigkeit verloren. Der Regen kühlte die Temperaturen nur bedingt ab und wenn die schweren Regenwolken weiter ziehen würden, würde die Sonne alle Luft wieder in stickigen, schweren Nebel verwandeln.

Sie öffnete ihren Mund und hob ihren Kopf gen Himmel, um ein wenig von dem Süßwasser trinken zu können, welches permanent aus dem dunklen Firmament regnete. Dann ging sie dazu über die kleinen Pfützen zu schlürfen, die sich in den Ausbuchtungen wachsartiger Blätter angesammelt hatten. Es reichte, um sie wieder auf die Beine zu bringen, aber sie wollte mehr. Mit jedem Schritt, den sie weiter zurück in den Wald ging, nahmen auch die widerwärtigen Zirpgeräusche der Grillen zu. Ihre Lippen kräuselten sich in wütender Resignation. Was konnte sie schon gegen die unbarmherzige Wildheit des tropischen Urwalds tun? Dort war es selbst nachts lauter, als in jeder Großstadt.

Susanna hatte Metropolen wie London oder New York immer gehasst, allerdings ließ sich, durch die Hektik und die vielen Menschen, die Vergangenheit leichter verdrängen. Und das war ihr in den meisten Momenten wichtiger gewesen, als ihre geliebte Ruhe vor der Welt, nach der sie sich manchmal noch sehnte. Irgendwann, hatte sie sich geschworen, würde sie in ein Häuschen im Nirgendwo ziehen. Mindestens drei Kilometer entfernt von den nächsten Nachbarn, würde sie dort den Rest ihres Lebens verbringen. Ob mit einem Mann oder mit dreißig Katzen, das war ihr vorerst egal.

Ein gut zwei Meter hoher Wedel eines Farngewächses streifte ihr Gesicht und hinterließ Schlieren aus Erde und Wasser auf ihrer Wange. Wie sie wohl aussah? Wahrscheinlich war sie nur noch eine einzige Ansammlung von Dreck, Schürfwunden und Blutergüssen. Ein Blick auf ihre übel zugerichteten Handflächen genügte, um ihre Theorie fürs Erste zu bestätigen. Ihre Fingerkuppen und die Haut unter den Fingernägeln waren schwarz vom nassen Torf, rot von ihrem eigenen Blut und der lehmigen Dschungelerde, grün vom Moos der Baumstämme und rau vom feinen Sand des Strandes. Ihre Handflächen waren aufgeschürft und geschwollen. Susanna Hayden sah schnell wieder weg, als das Brennen und Stechen des Schmerzes verspätet einsetzte. Was für Scheiße wohl die ganze Zeit über in offenen Wunden gelangt war?

Unangenehme Gedanken an mögliche Infektionen und die daraus wachsende Wahrscheinlichkeit eines fiebrigen Todes begleiteten sie die nächsten drei Kilometer durch den Urwald. Ihr war auch aufgefallen, dass sie keine Ahnung mehr hatte wohin sie ging. Sie lief parallel zum Strand, sodass sie durch die Bäume hindurch immer noch den schwachen Glanz der Wellen auf dem Pazifik sehen konnte und hoffte im Unterholz auf eine größere Pfütze oder einen Bach zu stoßen.

Ihre Hoffnungen wuchsen als sie ein leises Plätschern, nicht weit von ihrem Standpunkt entfernt, vernahm. In ihren Gedanken formte sich das Bild kühlen Wassers, welches geschmeidig über helle Kieselsteine floss und die Gräser am Rand des Gewässers erzittern lies. Fast wahnsinnig durch den Drang, den diese Assoziation in ihr auslöste, zwängte Susanna sich durch das Gestrüpp. Sie musste etwas trinken und ihre Wunden notdürftig reinigen und vielleicht ihr Gesicht von der dicken Kruste rein waschen. Schwer atmend und mit einer gefährlichen Mischung aus Vorfreude und purer Gier im Leib, brach sie durch die dünnen Äste eines Strauchs, stolperte noch zwei Schritte auf die kleine Waldlichtung und erstarrte dann.

Das Wasser war da. Genau vor ihr, gefüllt in eine Reihe von Gefäßen und Auffangbecken aus blauen Müllsäcken. Daneben zahlreiche Plastikflaschen und Lebensmittelkartons. Müsli, Saft, Mayonnaise, Instandkaffee, akkurat aufgereiht in einem dürftig zusammen gezimmerten Holzregal. Rote und grüne Früchte stapelten sich in geflechteten Weidenkörben und auf einer langen Holzplatte, die als Tisch und Arbeitsfläche diente, lagen Kokosnüsse, einige noch in ihrer grünen Außenhülle.

All das nahm Susanna nur aus den Augenwinkeln in sich auf. Ihre volle Aufmerksamkeit ruhte auf dem großen Auffangbecken mit der Folie. Die Wasseroberfläche kräuselte sich leicht, als die letzten Tropfen von den Fingerspitzen der alten, schwarzen Frau rannen, die bis vor einigen Sekunden noch ihre Hände in dem kühlen Nass gewaschen hatte und nun fassungslos ihr Gegenüber anstarrte.

Susanna atmete flacher und bewegte sich keinen Zentimeter. Ihr wurde wieder schwindelig.

Die Lippen der schwarzen Frau zitterten und ihre Augen waren weit aufgerissen.
 

Als Susanna an der Stelle, wo sie stand aus Anstrengung und Überreizung bewusstlos zusammenbrach, war das Letzte, was sie hören und sehen konnte, wie sich die Alte kurz von ihr wegdrehte, um in die entgegen gesetzte Richtung nach jemanden zu rufen, der Bernard hieß.

10

Rose Nadler hatte sich zu Tode erschreckt. In ihrem Alter, dachte sie, konnte man diesen Ausspruch bereits wörtlich nehmen. Obwohl sie mit ihrem Ehemann Bernard schon drei Jahre allein an dieser Stelle der Insel lebte, hatte niemand sie je gefunden. Noch nicht einmal ihre ehemaligen Freunde hatten nach ihnen gesucht. Seit diesem verhängnisvollen Tag, an dem man sie mit Feuerpfeilen beschossen hatte und an dem so viele gestorben waren, waren sie auf sich allein gestellt. Für Rose und Bernard jedoch kein Problem. Sie hatten ja sich.

Doch nun, nach so langer Zeit der ungestörten Zweisamkeit, sah man von den Wildschweinen und Meerkatzen ab, die ab und zu ihr kleines Camp heimsuchten, um Essen zu plündern oder sich einfach die Zeit zu vertreiben, tauchte wirklich noch eine verirrte Menschenseele hier auf. Gut, was dort gerade vor ihr aus dem Gebüsch gekrochen kam, hatte nur noch wenig Menschliches. Ein verdrecktes, kleines Ding, das sich schwer auf seinen eigenen Beinen halten konnte und wahrscheinlich genauso schockiert war wie sie selbst.

Wie sie so dastanden und sich gegenseitig in die Augen blickten, beschlich Rose das Gefühl von angebrachter Vorsicht. Als man das letzte Mal einen hilflosen Umherirrenden angeschleppt hatte, war es dieser Ben gewesen, der sie als Dank alle ans Messer geliefert hatte. Allerdings: Was sollten die Anderen jetzt noch für Interesse an zwei alten, friedlichen Menschen haben, dass es eine solch aufwendige Aktion bedurfte. Wenn sie sie töten wollten, müssten sie einfach nur eine bewaffnete Person schicken und die Sache wäre erledigt. Rose und Bernard Nadler hatten sich zur Ruhe gesetzt. Sie waren sozusagen in Rente gegangen. Egal, was die anderen Bewohner oder Besetzer dieser Insel für teuflische Pläne gegeneinander ausheckten, was auch immer sie gerade spielten, es war ihnen egal. Sie hatten die Sinnlosigkeit der ständigen Konflikte längst begriffen und hielten sich aus allem raus.

Dennoch war es Rose in diesem Moment nicht möglich, sich aus dem Schicksal der jungen Frau heraus zu halten, die nun drei Meter vor ihr in die Knie ging und ihrer Sinne beraubt reglos liegen blieb.

Rose’ Herz raste immer noch, als sie laut nach ihrem Mann rief, sich die Hände an ihrer Bluse trocken wischte und um das Wasserbecken herumlief. Vor dem Mädchen hockte sie sich hin, was ihr einige Schmerzen im Rücken einbrachte.

Sie rollte mit den Augen. Du bist nun mal nicht mehr die jüngste, Rose.

Ihre Hand strich vorsichtig die dunkelroten Haare aus dem Gesicht der Bewusstlosen. Unter dem ganzen Dreck und dem Schorf musste sie ein ganz hübsches Mädchen sein.

Rose drehte sie auf den Rücken und hob ihre Beine auf ihre Schultern, damit das Blut zurück in den Kopf fließen konnte. Sie musste raus aus der Sonne. Doch alleine konnte sie unmöglich einen ausgewachsenen Menschen tragen. Sie hoffte, dass Bernard bald kommen würde.

„Bernard!“, rief sie noch einmal, doch im selben Augenblick tauchte er bereits hinter einem Baumriesen auf. Mit seinem Wanderstock in der Rechten, balancierte er den abschüssigen Trampelpfad herunter, dicht gefolgt von Golden Retriever Vincent.

Bernards graues, schütteres Haar klebte wie so oft durch den Schweiß in seinem Gesicht. Auf seiner Stirn waren tiefe Falten zu sehen und seine Bewegungen waren längst nicht so sicher wie sie früher einmal waren, doch für Rose, war er immer noch ein unbeschreiblich schöner Anblick.

„Wo warst du?“, warf sie ihm ungeduldig vor.

Bernard, der bereits angesetzt hatte, um sich zu verteidigen, blieb stehen und betrachtete mit offenem Mund den Fund seiner Frau.

„Rose, wer ist das?“

Seine Ehefrau sah hinunter in das Gesicht der Fremden und antwortete leise: „Ich weiß es nicht. Sie stand plötzlich vor mir und ist ohnmächtig geworden. Sie braucht Schatten und etwas zu trinken. Bitte, hilf mir sie rüber zur Hütte zu tragen!“

Bernard stand nur kurz unschlüssig neben der Szenerie, klemmte sich dann den Stock unter den Arm und fasste mit beiden Händen unter den Axeln hindurch an die Unterarme der fremden Frau, während Rose sie an den Beinen packte. Durch die Vereinigung ihrer Kräfte schafften sie es die gut 65 Kilo bis zu ihrer kleinen Holzhütte zu transportieren und sie dort auf das große mit riesigen Blättern und Wildschweinfellen ausgepolsterte Holzgestell zu legen, welches ihnen seit Jahren als Bett diente. Bernard wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich auf einen Hocker sinken. Vincent stellte sich mit seinen Vorderpfoten auf die Bettkante und schnüffelte den Neuling kategorisch ab, doch Rose schob ihn zur Seite und setzte sich selbst auf die Kante damit sie mit den feuchten Tücher, die sie gerade von draußen herein geholt hatte, das Gesicht der Frau sauber waschen konnte.

Die Bewusstlose war unnatürlich blass, fast wie tot. Rose prüfte sicherheitshalber den Puls. Etwas schwächer als normal, aber noch nicht im gefährlichen Bereich. Eigentlich war Bernard hier so etwas wie der Arzt, aber kleinere Dinge konnte sie auch gut alleine erledigen. Während ihr Mann sich von der Hitze und der Anstrengung durch das Tragen und die vorangegangene Gartenarbeit im selbst errichteten Beet erholte, schob Rose die Ärmel der blauen Kunstfaserjacke hoch und reinigte auch alle anderen kleinen Schürf- und Platzwunden, die sie an Händen und Armen fand. Den Rest des Körpers tastete sie nur oberflächlich ab, da sie vermutete die Fremde würde etwas dagegen haben, dass sie sie dafür auszog, auch wenn es dann einfacher gewesen wäre, nach Brüchen zu suchen.

„Oh …“, entfuhr es Rose, als sie gerade das Schlüsselbein der Frau mit den Fingern befühlte.

„Bernard?“

Dieser drehe sich aufmerksam zu ihr um, nestelte seine Brille aus der Brusttasche seines Hemdes und warf selbst einen geschulten Blick auf die Stelle, an der die Hand seiner Frau ruhte. Ohne zu zögern, rückte er mit seinem Hocker näher und tastete den gut sichtbaren Knochen selbst.

Bernard sah nach einigen Augenblicken auf, nahm seine Brille wieder ab und sagte ruhig: „Es ist nichts Schlimmes. Wahrscheinlich angeknackst, aber nicht durchgebrochen. Siehst du?“

Er deutete auf den starken Bluterguss über der unregelmäßigen Stelle.

„Das Gewebe ist ein wenig beschädigt und angeschwollen. Der Knochen ist aber noch in Position. Allerdings kann sich das schnell ändern, wenn es zu einer weiteren starken, mechanischen Einwirkung an dieser Stelle kommt. Er könnte ganz brechen. Lass uns lieber einen festen Verband um ihre Schulter anlegen. Etwas von deiner Salbe gegen die Schwellung und etwas Weiches als Stoßdämpfer. Hat sie noch irgendwelche Verletzungen?“

Rose sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Bernard, sie ist ein einziger blauer Fleck! Natürlich hat sie Verletzungen, aber keine weiteren, die man nicht mit ein bisschen Wasser und Salbe kurieren könnte, außer ihren kleinen Zeh. Ich glaube der Winkel, den er mit dem Rest des Fußes bildet, ist nicht normal.“

Leise schnaufend wanderte Bernard an das andere Ende des Bettes und betrachtete die unglückliche Zehe. Es sah nicht gut aus. Sie musste gebrochen sein, so wie er ihre derzeitige Position beurteilte. Er war kein Experte auf dem Gebiet der menschlichen Medizin. Größere Knochenbrüche waren für ihn noch im Bereich des Möglichen, aber nicht die von minimalistischen Körperteilen, die fast schon zur Arbeit eines Schönheitschirurgen zählten. Er seufzte.

„Ich kann ihn auch stabilisieren, allerdings wird er wohl an den Gelenken steif zusammenwachsen. Gut möglich, dass sie ihn nie wieder bewegen kann.“

Rose musterte Bernard mit einem undefinierbarem Ausdruck in ihren braunen Augen und sagte dann ganz langsam und simple: „Nun mal ehrlich? Meinst du wirklich die Beweglichkeit eines kleinen Zehs ist so lebensbestimmend, dass sie die Schmerzen aushalten wird, bis man sie in ein Krankenhaus einliefert, was wohl auf dieser Insel am St.Nimmerleinstag wäre?“

Der Grauhaarige sah sie resignierend an. Rose hatte Recht. Mit einem weiteren Seufzer brachte er Verbandsmaterial und Rose’ wirksame Wundsalbe aus einem kleinen Köfferchen und begann mit ihrer Hilfe die Patientin zu verarzten. Er knotete gerade die letzten Zipfel dünnen Stoffes über dem Schlüsselbein zusammen, als ihm etwas auffiel. Interessiert glättete er die Falten des blauen Overalls. In seinen Augen flackerte Erkenntnis und Überraschung auf.

„Sieh mal Rose!“, er deutete auf das bestickte Namensschild und das darunter liegende Emblem.

Rose nickte wissend. Sie hatte es beiläufig bemerkt, als sie die Erde von der Haut gewaschen hatte.

„Wahnsinn!“, sagte Bernard und warf einen weiteren Blick auf seine Entdeckungen, „Wie ist das möglich? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein. Ich meine, wir sind mit einem Flugzeug abgestürzt und sie? Wir können doch nicht wirklich davon ausgehen, dass irgendwo auf der Insel ein … ein …“

„Ein Raumschiff abgestürzt ist?“, ergänzte ihn seine Ehefrau gefasst, „Ich persönlich halte es für genauso unmöglich wie du, aber wenn es tatsächlich so ist, wird uns Ms Hayden von der NASA hier, aufklären können.“

Das alte Pärchen sah sich wie so oft in die Augen und ohne ein weiteres Wort zu sagen, einigten sie sich. Sie würden ihren neuen Gast zuvorkommend und offen gegenüber treten, ohne dabei die Wahrscheinlichkeit einer Falle außer Acht zu lassen. Bernard und Rose waren ein eingespieltes Team und ihre stärkste Waffe war ihre Erfahrung. Ohne weiteres würden sie es fertig bringen, die Wahrheit mit bestimmten Fragen heraus zu finden und Lügen durch ihre bisherigen Beobachtungen zu entlarven. In beiden schlummerte die Hoffnung, dass sie diesmal jemandem gegenüber standen, der sie nicht mit falscher Menschlichkeit betrog und sein wahres Gesicht bis zur letzten Stunde verborgen hielt. Was dies betraf waren die Anderen unerreichte Meister. Um Dinge zu schützen, deren Wichtigkeit kein anderer Mensch begriff, waren sie bereit alle Grenzen, Prinzipien und Gesetze der Welt außer Acht zu lassen, jeden zu belügen, zu foltern, zu verderben, zu töten oder zu manipulieren und diese Fähigkeiten so weit zur Perfektion zu treiben, bis sie sich selbst untereinander nicht mehr trauen konnten. Diese Tiere waren eine starke Gesellschaft, wenn es gegen einen gemeinsamen Feind ging, doch unsicher und zermürbt hinter der scheinbar festen Fassade. Vielleicht waren sie auch keine Tiere, sondern lediglich die Manifestation der wirklichen Natur des Menschen.

Rose war sich über ihre Beweggründe nie klar geworden. Sie hatte auch nie versucht sie zu verstehen, viel eher sich die Erkenntnis vom Leib zu halten, da sie Angst hatte, genauso umgedreht zu werden, wie einige ihrer alten Freunde. Doch, ohne es abstreiten zu wollen, war diese Insel etwas Außergewöhnliches. Rose war vor dem Absturz der Oceanic 815 von Sydney nach Los Angeles schwer krank gewesen, sterbenskrank. Doch als das Flugzeug über der Insel auseinander brach und alle Passagiere durch die Wucht des Aufpralls aus dem Rumpf über den Sand geschleudert wurden, musste etwas passiert sein, denn als Jack, ein Chirurg, der den Körper seines verstorbenen Vaters nach Amerika zurück holen wollte, um ihn dort zu bestatten und deshalb im selben Flug gesessen hatte, sie wiederbelebte, spürte sie, dass etwas anders war. Rose wusste, dass es etwas mit diesem Ort zu tun hatte, mit der Insel. Sie war der Meinung, wenn es einen Gott gab, dann würde er hier sein. Doch bereits eine Woche später war sie sicher statt im Paradies, in der Hölle gelandet zu sein.

Ab da an, gab es für sie alle nur noch ein Ziel: Überleben. Und um dies zu erreichen, musste jeder irgendwann eine Sache einsehen:

Nichts ist so wie es scheint. Niemals.

11

Susanna Hayden war zum Kotzen zumute. Als ihr Bewusstsein langsam wieder in sie zurück sickerte, war ihr so übel, dass ihr auch gut jemand mit aller Kraft in die Magengegend getreten haben könnte. Es hätte sich nicht anders angefühlt. Die gefährliche Kombination aus Sonnenstich, Wasser- und Schlafmangel machte Anstalten erneut die Macht über sie zu übernehmen, doch Susanna würde das unter keinen Umständen zulassen. Ihre neuerliche Panik, nie wieder aufzuwachen, wenn sie jetzt ein weiteres Mal abklappte, trieb sie dazu sich zur Seite zu drehen, um durch etwas Bewegung mehr Kontrolle über sich selbst zu gewinnen. Doch anstatt harter, stabiler Erde, befand sich in der Richtung, in die sie sich drehte, nichts, und Susanna stürzte zu Tode erschreckt einen halben Meter nach unten auf den wirklichen Boden der Tatsachen.

Schnelle Schritte näherten sich und zwei Paar Hände ergriffen sie behutsam an den Oberarmen und hoben ihren entkräfteten Körper zurück auf die Bettkante, von der sie gerade gestürzt war.

„Alles in Ordnung, Miss?“, fragte ein grauhaariger Mann, dessen Ausdruck in den Augen nicht einmal annährend seinem wirklichen Alter entsprach. Wahrscheinlich stand vor ihr gerade dieser Bernard und neben ihm die schwarze Frau, die gerade einem Golden Retriever das Fell kraulte.

„Nein.“, sagte Susanna frei heraus, „Schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.“

Bernard blickte einsichtig nach unten. Tiefe Falten lagen auf seiner Stirn und unter seinen Augen. Seine Stimme trug viel Wärme und Freundlichkeit in sich, aber auch Schalk. Er lachte leise und gab zu:

„Entschuldigung, eigentlich war mir das klar, aber Sie wissen ja: Der Anstand … und die Macht der Gewohnheit.“

„Ja, ja, Bernard. Ich dachte wir hätten alle Gewohnheiten zwangsläufig abgelegt seit wir auf der Insel sind. Kein Fernseher, kein Golf, kein Whiskey.“, sagte die alte Dame schmunzelnd.

„Sehr nett von dir, Rose.“, erwiderte er mit einem gekränkten Gesichtsausdruck, dem man aber keine Ernsthaftigkeit zukommen lassen konnte.

„Was machen sie hier auf dieser Insel? Wohnen sie hier?“ Susanna setzte sich aufrecht hin und begutachtete die neuen Verbände.

Die alte Frau, die Rose hieß, reichte ihr eine kleine Schale mit heißem Tee.

„Es ist besser bei Hitze etwas Warmes zu trinken als etwas Kaltes, auch wenn es schwer zu glauben ist.“ Dann fuhr sie nach einer kleinen Pause fort: „Wir kamen mit einem Flugzeug hierher. Es stürzte ab, genau über dieser Insel. Wir und noch viele andere Überlebende haben Monate damit zugebracht zu überleben, bis wir nacheinander die Hoffnung auf Rettung auf gegeben haben. Mein Mann und ich leben hier jetzt schon seit fast vier Jahren allein und genießen unsere Situation bereits mehr, als dass wir sie bedauern.“

„Und die anderen Leute aus dem Flugzeug?“, Susanna verschluckte sich beinahe an einem herum schwimmenden Teeblättchen und versuchte verhalten zu husten. Sie war aufgeregt und eigentlich wollte sie den Tee gar nicht, aber zurückweisen konnte sie ihn auch nicht.

„Nun ja.“ Rose setzte sich auf etwas, das aussah wie ein selbst gezimmerter Hocker. „Die meisten sind tot. Wo alle anderen sind, wissen wir selbst nicht so genau. Wir vermuten sie sind verstreut auf der Insel unterwegs und versuchen weiter zu überleben“

„Oder sie haben doch einen Weg von hier weg gefunden.“, ergänzte Bernard, um auch diese Möglichkeit anzusprechen.

„Aber warum haben sie euch nie gefunden? Wissen sie nicht, wo ihr seid? Ist die Insel denn wirklich so groß?“

Susanna hatte Mühe die restlichen tausend Fragen zurück zu halten.

Roses Lippen kräuselten sich. Ein unangenehmes Kapitel war auf geschlagen worden. Es fiel ihr sichtlich schwer darauf zu antworten, aber als sie es trotzdem tat, umspielte ein wehleidiges Lächeln ihren schmalen Mund.

„Nein, ich denke sie haben nie wirklich nach uns gesucht, Kleines.“

„Und“, Susanna schluckte, „woran sind die Anderen gestorben?“

„Sie sind auf viele Arten von uns gegangen, aber niemals natürlich. Durch wilde Tiere, merkwürdige Krankheiten, Unfälle wie Ertrinken oder Stürze und durch die Waffen anderer Menschen.“

„Heißt das, ihr seid hier nicht allein?“

„Nein, noch nie gewesen und die Chancen, dass wir es irgendwann sein werden, stehen schlecht.“, sagte Rose.

„Wir können dir nur raten, wenn du auf einen von ihnen triffst, egal wie freundlich, Vertrauens erweckend und hilfsbereit er auch erscheinen mag, merk dir eine Sache: Glaube ihm kein Wort, gehe keine Kompromisse ein und, um Himmels Willen, mach dass du ihn so schnell wie möglich los wirst.“

Susanna saß kerzengerade auf der hölzernen Bettkante, blickte mit zitternder Unterlippe in die Gesichter ihres Gegenübers und dachte darüber nach, ob den Beiden klar war, dass sie auch ebenso gut über sich selbst reden konnten.

12

Das Mädchen saß auf einem mit dunklem Leder bespannten Holzstuhl in der Eingangshalle und schaukelte mit den Beinen. Sein Blick war auf das gesprenkelte Laminat gerichtet, dessen große und kleine Flecken in ihren Augen zu abenteuerlichen Bildern und Geschichten verschwammen. Susanna sah dort, wo die kleinen Spritzer waren, eine Armee von Rittern, der Größte von ihnen war der König, die länglichen Linien waren Bäume und der besonders große Kaffeefleck war ein Drache, den es zu besiegen galt. Eigentlich war sie das Spiel leid. So oft hatte sie es schon gespielt, so oft hatte sie allein in der Halle gesessen und darauf gewartet, dass die Pärchen, die an ihr interessiert waren, wieder aus dem Büro der Hausleiterin kamen, nur um sie mit einem gespielt wehleidigen Blick zu bedenken und ihr zu versichern, dass sie eines Tages trotzdem ein schönes neues zu Hause finden würde, nur halt nicht bei ihnen. Ganze fünf Mal hatte es nicht geklappt mit ihrem tollen neuen Heim. Die ersten zwei Male, war sie traurig oder besser: Am Boden zerstört gewesen. Aber die folgenden drei Enttäuschungen hatte sie ertragen, im Wissen über ihre hoffnungslose Situation. Denn die kleine Susanna wusste sehr wohl, woran man ihr Debakel festmachen konnte; was ihre Unvermittelbarkeit verursachte.

Es war ihre Akte oder vielmehr, was darin stand. Die Hausleiterin hatte sie mit Hilfe der Betreuerinnen und Betreuer seit Susannas Aufnahme gewissenhaft geführt, genauso wie die Akten aller anderen Kinder. Es wurden solange Dokumente, Verträge, ärztliche Befunde und Notizen eingeheftet, bis man die entsprechende Person adoptiert wurde oder volljährig war und somit in einer eigenen Wohnung oder Wohngemeinschaft leben durfte.

Doch Susanna war weder gemein oder brutal zu ihren Leidensgenossen, noch hatte sie gesundheitliche Beschwerden. Was das Mädchen in den Augen der Interessenten so seltsam erscheinen lies, war eigentlich banal, stellte aber dennoch für die meisten Leute eine schwer zu überwindende Barriere dar:

Susanna war ruhig, unangenehm ruhig. Und in ihren Unterlagen stand leider Gottes auch der Grund dafür. Den Tod und Leidensweg seiner eigenen Mutter aufgrund des gestörten Freundes mit ansehen zu müssen und nichts dagegen unternehmen zu können, hinterließ unter normalen Umständen ein Trümmerfeld menschlicher Gefühle und ein festsitzendes Trauma. Man hatte alles gut korrigieren können. Auch wenn sich das Mädchen immer noch nicht gerne in Kellern aufhielt und ein starkes Misstrauen gegenüber Männern hegte, war Susanna im Grunde wieder genesen. Sie spielte gerne allein, aber auch mit den anderen Kindern. Sie aß regelmäßig und genug, machte keine größeren Probleme und hatte ihre anfänglichen Panikanfälle längst unter Kontrolle gebracht, nur war sie immer noch sehr ruhig, was aber weniger daran lag, was sie erlebte hatte, sondern vielmehr daran, dass sie die Ruhe mochte. Alle, die das Kind zum ersten Mal sahen, empfanden sie als süß, lieb, angenehm still und interessiert, doch sobald die Leiterin sie über die Vergangenheit des Mädchens aufklärte, sahen sie nur noch eine kleine angsterfüllte, unberechenbare, in sich gekehrte Psychotikerin, die ihnen noch eine Menge Probleme bereiten könnte. Natürlich fragt man sich, warum solche Paare ihre Kinder auch unbedingt aus Waisenhäusern holen mussten. Dort gab es wenige glückliche Kinder mit unspektakulär neutraler Vergangenheit. Immerhin waren es alles Kinder, denen etwas Wichtiges bisher fehlte: Ein stabiles Zuhause. Und sie alle hatten Tag für Tag Hoffnung darauf, eines zu bekommen.

Susannas kläglicher Rest an Hoffnung würde wohl auch dieses Mal an dem ausführlichen Gespräch mit der Hausleiterin scheitern. Dabei hatte die Frau, die sich nach ihr erkundigt hatte, ganz nett ausgesehen. Sie war allein gekommen. Vielleicht war ihr Mann zu Hause oder sie hatte keinen, immerhin war sie schon ein wenig älter, als der Durchschnitt der Besucher. Sie mochte bereits an die sechzig Jahre alt sein. Die auffallend bunt gewählte Kleidung versteckte faltige, weiche Haut, so dünn, dass man jede einzelne Ader darunter erkennen konnte und ihre grauen, zu einem Dutt zusammen genommenen Haare, bildeten den kunstvollen Rahmen eines Gesichts, dessen mütterliche Züge Gutmütigkeit, Offenherzigkeit und beständige Lebensfreude ausstrahlten. Ein viel versprechendes Äußeres und höchst wahrscheinlich ein noch reizvolleres Inneres, aber im Angesicht dessen, was sie hinter der dunklen Holztür des Leitungsbüros erwartete, vielleicht doch nur eine gut angefertigte Fassade?

Mit einem leisen Geräusch der sich öffnenden Tür wurde der Moment der Wahrheit eingeläutet. Susanna hob den Kopf und konnte ein leichtes Kribbeln der Zuversicht in diesem Moment nicht leugnen.

Die stämmige Hausleitung betrat als erstes den warm beleuchteten Gang.

„Okay, ich verstehe Sie. Tut mir leid, aber ich musste Sie über die Umstände informieren. Das ist meine Pflicht als leitende Aufsichtsperson. Ich frage Sie nur zur Sicherheit noch einmal: Sind Sie sich sicher, dass Sie es sich nicht doch noch einmal überlegen wollen? Sie wohnen doch ganz alleine und--“, versuchte sie es mit unsicherer Stimme.

Die ältere Dame stöckelte aufgebracht aus dem Zimmer. Ihrem Gesicht waren sämtliche Gelassenheit und Freundlichkeit gewichen. Entrüstung und Zorn waren an ihre Stelle getreten, als sie die Leiterin anherrschte:

„Nein und nochmals nein, ich schaffe das auch alleine. Mein Entschluss steht fest und Sie können endlich aufhören mich umstimmen zu wollen. Ich habe heute weiß Gott schon genug von Ihnen zu hören bekommen, Mrs. Wiggenstein!“

Das Mädchen auf dem Gang lies den Kopf wieder hängen. Wie sie es vermutet hatte, hatte sich das Gemüt der alten Frau völlig in sich umgekehrt. Sie reagierte sogar noch bösartiger als alle Anderen auf die Akte. So leicht wurde aus einem scheinbaren Engel ein giftiger Dämon.

Susanna war enttäuscht. Selbst jemand, der ansonsten niemanden hatte, wollte lieber weiterhin in Einsamkeit leben, als über ihre kleinen Mängel hinweg zu blicken und sie zu adoptieren. Doch wäre das Leben bei einem solchen Drachen angenehmer gewesen, als hier im Heim?

„Wenn Sie meinen Mrs. Steathham …“, gab die Leiterin klein bei.

Die Alte stopfte einen Stapel Papiere energisch in ihre Handtasche und sagte in einem bestimmenden, lauten Ton:

„Und ob ich das meine! Nun sagen Sie es doch endlich der Kleinen! Sagen Sie ihr, dass ich sie jetzt mitnehme oder soll ich es tun?“

Susanna fuhr zusammen und starrte ungläubig hinüber zu den zwei Frauen.

Dort stand sie, die heroische, starke Mrs. Steathham und bot der Leiterin entschlossen die Stirn. Sie hatte sich nicht von den unheilvollen Anmerkungen und Notizen beirren lassen und auch nicht von den eventuellen Bedenken der Hausherrin. Auf einmal wirkte sie so erhaben, beschützend, so engelsgleich. Ein Idealbild einer Frau, einer Mutter, gewachsen aus Verantwortung und Erfahrung.

Susanna rutschte vom Stuhl und versuchte gerade und ruhig zu stehen. Ihr Herz flatterte, in ihrem Bauch fühlte es sich an, als würden hunderte von kleinen Glasmurmeln durch die Gedärme rollen und aneinander stoßen. Da war es wieder, dieses Gefühl, was sie schon lange nicht mehr befallen hatte, welches sie aber stets vermisst hatte.

Sie erkannte es, an seinem Klang, als die Dame mit klackernden Schritten auf sie zu ging; an seinem Geruch, als sie die sanfte Note von Erdbeeren und Minze roch; an seiner Farbe, als sie in das helle Grau zweier Augen blickte; und an seinem Geschmack, als sie das Salz ihrer eigenen Tränen schmeckte.

Es war ein Wind aus purem Glück, der Susanna Hayden umgab, als Caroline Steathham ihre Hand nahm; und der ihr zuflüsterte, dass sie endlich wieder zu Hause war.

13

Susanna Hayden lag ausgestreckt auf einem Fleck festgetretener rot-brauner Erde vor der Hütte und lies sich von Retriever Vincent widerwillig das Gesicht abschlecken. Der Hundespeichel trocknete zwar dank der warmen Morgensonne im Sekundentakt wieder, hinterlies aber eine unangenehme Note von totem Tier. In dem kurzen Augenblick, der verging, als sie sich aufsetzte und mit vor Ekel verzogener Miene zum Wasserbecken kroch, fragte sie sich, was der Hund die ganze Zeit über auf der Insel essen mochte. Wahrscheinlich alles, von verschiedenen Insekten bis hin zu kleinen Affen, Schlangen, Eidechsen und Vögeln. Und eindeutig Fisch, vergammelter, alter Fisch.

Susanna tauchte ihr Gesicht eilig in das kühle, klare Regenwasser und rieb mit ihren Handinnenflächen unter Wasser wie besessen über ihre Wangen, bevor sie der beißende Geruch des Speichels zu weiteren weitgreifenden und weniger geschmackvollen Interpretationen hinriss.

Vincent, der das Spektakel anscheinend amüsant zu finden schien, sprang um sie herum, lies die Zunge heraushängen und bellte übertrieben hysterisch.

Susanna hob ihr Gesicht wieder aus dem Wasser und lies es abtropfen. Heute war ihr vierter Tag bei den Nadlers und das seltsame Geräusch, sowie der hell leuchtende Himmel hatten sich nicht noch einmal wiederholt. Langsam glaubte sie, es hatte wirklich an der Entkräftung und starken Dehydrierung gelegen, der sie anheim gefallen war, dass sie sich solch seltsame Dinge eingebildet hatte. Verglich sie ihre derzeitige Situation mit der von vor drei Tagen, hatte sich ihr Zustand nur gebessert. Seitdem sie hier war, hatte sie sich einen Großteil ihrer Kräfte wiederholen können. Ihre Wunden waren fachmännisch versorgt wurden oder zumindest soweit es Bernards Kenntnisse als Zahnarzt, der er einmal gewesen war, und Rose’ Erfahrungen als Dschungelhausfrau zuließen. Sie hatte ausreichend Wasser (Tee ...) und Nahrung bekommen und genügend gesunden Schlaf, sah man einmal von den Mücken, Spinnen, gigantischen Heuschrecken und Stechfliegen ab, die sie heimgesucht hatten, als sie die Nächte im Unterstand zwischen der Hütte und den Vorräten verbracht hatte, eingehüllt in eine mottenzerfressene Baumwolldecke und gebettet auf einer Schicht glänzender Dschungelfarne. Vincent hatte schnell die Angewohnheit entwickelt, statt vor der Hüttentür lieber auf jedem Körperteil zu schlafen, dass Susanna im Schlaf unbewusst von ihrem Körper wegzustrecken wagte, sodass sie fast jeden Morgen mit einem unangenehmen Kribbeln an der entsprechenden Stelle aufwachte und die erste viertel Stunde nach dem Aufstehen damit zubrachte, diese zu massieren, damit das Blut wieder hindurchfloss.

Als Dank für die zuvorkommende und unvoreingenommene Freundlichkeit, die man ihr entgegenbrachte (sah man einmal von Vincent ab), hatte Susanna in mehreren Gesprächen das Rätsel ihrer Anwesenheit auf dieser Insel gelüftet.

Natürlich war alles, was sie Rose und Bernard erzählt hatte, eine grobe Skizze wirklicher Ereignisse gewesen. Keine Lügen, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie ursprünglich aus Canterbury/England kam, aber schon seit mehr als zehn Jahren allein in einem Appartement in Houston-Stafford/Texas lebte, was sie ursprünglich studiert hatte, kleine Informationen über ihre Arbeit bei der NASA und dass sie mit dem Team der STS-185 kurz davor gewesen war, von einer Forschungsmission wieder zur Erde zurück zu kehren, als das Unglück geschah. An den Grund des Absturzes, behauptete sie jedoch, konnte sie sich nicht genau erinnern. Susanna verschwieg auch die wahre Intention der Forschungsmission und die Entdeckungen, die sie dort oben gemacht hatten. Zum einen, weil sie sich nicht mehr sicher war, ob sie etwas derartiges wirklich erlebt hatte und zum anderen, weil wenn es wahr wäre, es streng geheim behandelt werden musste. Des Weiteren verschwieg sie auch die ebenfalls seltsamen Vorkommnisse auf der Insel; die junge Frau, die Fremden bewaffneten Leute, auch wenn diese auf die Beschreibung der Anderen zutrafen, denen sie laut den Nadlers nicht trauen durfte. Sie sah keinerlei Schwierigkeit diesem Rat Folge zu leisten, da sie Menschen mit geladenen Waffen schon von sich aus nicht sehr vertrauenswürdig hielt.

Susannas Art die Dinge wiederzugeben, glich einem Lauf durch ein Labyrinth. Jedes Mal wenn sie die Gefahr spürte mit einer Bemerkung in einer Sagasse zu enden, drehte sie schnell um und wechselte das Thema. Geschickt, flüssig und ohne die geringste Spur von Unsicherheit. Wenn sie sich einmal die Wahrheit zurecht geschnitten hatte, aussortiert, was sie sagen durfte und was nicht, zog sie die Konversation in genau diesen abgesteckten Bahnen durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Talent oder eine Gabe, die sie sich in ihrer Jugend angeeignet hatte und von der sie immer wieder Gebrauch machte: Die Fähigkeit Menschen etwas mitzuteilen, ohne dass sie bemerkten, dass man ihnen nur die halbe Wahrheit sagte. Susanna Hayden wusste, dass es keine Eigenschaft war, die einen erfolgreich oder reich machen würde – vielleicht noch nicht einmal eine seltene - aber sie erleichterte das Leben ungemein.

Rose und Bernard waren aufmerksame und auffällig interessierte Zuhörer. Verblüfft musste Susanna feststellen, wie schockierend souverän die Beiden mit den Schilderungen des Absturzes, der Entdeckung der Leiche von Simon und ihrem Kilometer langen Marsch an der Küste entlang umgingen und wie distanziert sie selbst die Ereignisse von vor vier Jahren beschrieben:

Ihr Flugzeug war über dem Meer auseinander gebrochen. Warum genau es passiert war, warum genau hier, war ihnen noch unklar, doch Rose erwähnte einige Möglichkeiten – eine schleierhafter und tief gesponnener als die andere. Doch, was sie mit Bestimmtheit zu sagen vermochte, war, dass es nahezu einem Wunder glich, dass über vierzig Passagiere den harten Aufprall überlebten. Der Rumpf von Flug 815 der Oceanic Airlines war, nachdem er noch während des Absturzes in drei Teile zerbrochen war (von denen jedes an einer anderen Stelle herunterkam) im Sand eingeschlagen wie eine Bombe, die Insassen heraus geschleudert und über eine große Fläche verteilt wurden, einige sogar bis auf das Meer oder in den Wald hinein. Während sich Rose mit den meisten anderen Passagieren am Strand wiederfand, landete Bernard, der im hinteren Teil des Fliegers saß, mitten im Dschungel. Beide hatten für lange Zeit nicht gewusst, dass der jeweilig Andere überlebt hatte. Doch wie Rose mit einem überglücklichen, liebevollen Lächeln und einem zärtlichen Seitenblick zu Bernard beteuerte, hatte sie nie geglaubt, dass er tot war und letztendlich Recht behalten, als sie sich nach einigen Wochen wiederfanden.

Was neben ihrem persönlichen Schicksal alles geschah, klang so abstrus und unglaublich, dass Susanna ab und zu den Eindruck hatte, aus einem Roman, den Edgar Alan Poe und Stephen King zusammen geschrieben hatten, vorgelesen zu bekommen. Rose erzählte von seltsamen Geräuschen, die sie alle in den ersten Nächten gehört hatten und einem seltsamen Monster, dass aus schwarzem Rauch zu bestehen schien und diese fremdartigen und unnatürlichen Geräusche auf eine unbekannte Art und Weise von sich zu geben schien. Sie redete über Eisbären, seltsame Krankheiten und über das Wunder ihrer Heilung, denn Rose hatte Krebs gehabt, als sie in den Flieger gestiegen war. Sie konnte es sich selbst noch nicht ganz erklären, aber er war weg gewesen, sobald sie die Insel betreten hatte.

Bernard sprach über einen Verräter in ihren Reihen, bei dem sich nach seinem gewaltsamen Tod herausstellte, dass er zu der Gruppe anderer Menschen gehörte, die schon sehr, sehr lange auf dieser Insel lebten. Sie hatten Häuser, in denen sie wohnten und Stationen, die sie betrieben und die alle einen bestimmten Zweck zu erfüllen schienen. Immer wieder versuchten diese Anderen die Verunglückten auszuspionieren, zu entführen oder zu töten. Sie stellten seltsame Dinge an, über deren Sinn und Zweck sich keiner so richtig einig wurde. Schwangere Frauen wurden entführt und wieder frei gelassen, Vereinbarungen getroffen und gebrochen. Rose und Bernard waren sich einig, dass diese Leute, was auch immer sie hier auf dieser Insel taten und was auch immer sie mit ihren seltsamen Spielen erreichen wollten, weitaus weniger vertrauenswürdig waren, als die natürlichen Gefahren, die im Dschungel lauerten, ignorierte man einmal das beschriebene Monster. Susanna die sich längst dazu entschlossen hatte, alles, was sie hörte, nicht allzu ernst zu nehmen, blockte innerlich ab. Sie war jetzt knapp 38 Jahre auf dieser Welt, hatte auf zwei Kontinenten und in ungefähr 5 verschiedenen Städten gelebt, hatte mehrere Eltern gehabt und Duzende von verschiedenen Freunden, Mitschülern, Mitstudenten und Arbeitskollegen, aber von noch niemanden hatte sie eine so unsinnig klingende Geschichte gehört. Diese Leute waren alt und lebten schon -- weiß Gott wie lange -- auf dieser seltsamen Insel. Es gab so unfassbar viele Erklärungen, die ihr in diesem Moment einfielen, aber dennoch keine, die ihr die Angst vollständig nehmen konnte, die sie davor hatte, sich eingestehen zu müssen, dass vieles von dem, was die Nadlers erzählten und dem, was sie selbst gesehen hatte, wahr war.

Irgendetwas in ihr fand einen wahren Kern in den Geschichten oder wusste zumindest, dass man ihn finden konnte, wenn man ein wenig danach suchte. Und dieses Etwas trieb sie in den Wahnsinn.

Wie ein Kind, dem man statt einer Gute-Nacht-Geschichte, ein Horrormärchen erzählt hatte, wachte sie mitten in der Nacht auf, zitterte am ganzen Körper und griff im Reflex nach der Nachttischlampe, die natürlich nicht da war, weil sie ja auf einem behelfsmäßigen Bett schlief, mitten im Dschungel. Die unangenehme Erkenntnis, die daraus erwuchs, dass sie erkannte, wo und wie verletzlich sie dort war, auch wenn ihr Bernard versichert hatte, dass sich seit Jahren nur Einsiedlerkrebse und Ozelots so weit an den Strand heran wagten, verstärkte die namenlose Panik in ihr nur noch mehr. Susanna atmete schwer, zog die Decke und den leise schnarchenden Vincent näher zu sich und vergrub ihre Nase in dem hellen Fell des Labradors, bis sie vom warmen Muff eingehüllt wieder eingeschlafen war.

So war es nur die zwei ersten Tage gewesen.

Der Grund, warum Susanna nun viel tiefer und ruhiger schlief und völlig entkräftet auf dem Boden vor der Hütte lag, war ein ganz anderer.

Bernard hatte ihr voller Stolz am dritten Tag ein 4 mal 4 Meter großes Beet, ein gutes Stück hinter der Hütte gezeigt. Es war mit Tomaten- Kartoffel- und Maispflanzen bedeckt, die zwar nicht sehr groß und ertragreich, dafür aber gesund zu sein schienen. Neben Fisch, Mangos und gelegentlichem Wildschweinfleisch war dies ihre Hauptnahrungsquelle.

Susanna sollte ihm dabei helfen, das zahlreiche Unkraut, welches zwischen den Reihen der Pflanzen empor spross, auszureißen und die Erde danach zu lockern, damit im Boden genügend Sauerstoff vorhanden war, durch den die mikroskopischen Bodentierchen schneller abgestorbenes organisches Material in wertvollen Nährdünger umwandeln konnten. Aufgrund der größtenteils unfruchtbaren tropischen Roterde musste dieser anstrengende Vorgang mehrmals in der Woche wiederholt werden. Das Beet war nicht sehr groß, aber bei 40 Grad im Schatten war die Arbeit genauso anstrengend wie das Umgraben eines 3 mal größeren Feldes bei menschlichen Temperaturen.

Als sie heute die Holz- und Bambusgerätschaften weglegten, stand die Sonne bereits tief am Horizont und während Bernard noch ein paar Eimer Regenwasser über die empfindlichen Tomaten goss, schleifte sich Susanna den kleinen Abhang zur Hütte hinunter und lies sich auf den Rücken fallen.

So waren ihre letzten vier Tage verlaufen. Eine ungesunde Mischung aus Anstrengung, Unsicherheit und Angst ...
 

Susanna Hayden starrte ihr Spiegelbild im sich leicht kräuselnden Wasser an und stellte ernüchtert fest, dass sie sich im Moment in einer Situation befand, in der sie weder vor noch zurück konnte. Ihre eigentliche Suche nach Hilfe und einem Weg hier weg schien aussichtslos zu sein, aber auch wenn sie sich bei Rose und Bernard mit viel Arbeit und Geschick einen Platz zum Schlafen und Essen verdienen konnte, ging es ihr innerlich gegen den Strich, bereits nach fast einer Woche auf dieser Insel die Hoffnung aufgegeben zu haben, sich fallen gelassen, es nicht weiter versucht zu haben.

Sie formte mit beiden Händen einen Kelch und schöpfte Wasser aus dem Becken zu ihrem Mund, dann wischte sie sich mit dem Handrücken das restliche Nass aus dem Gesicht. Vincent bellte immer noch wie ein Verrückter und hetzte verspielt von einer Seite zur anderen. Oder war er eher aufgeregt? Sie warf ihm einen sporadischen Seitenblick zu.

Das Bellen hatte sich verändert. Zwischen Vincents normalen Lauten vernahm sie immer wieder ein kurzes Knurren und Winseln. Er sprang immer noch um sie herum, aber deutlich vorsichtiger, angespannter. Dann bewegte er sich plötzlich rückwärts zur Hütte hin.

Susanna atmete tief ein und in einem Seufzer wieder aus. Wahrscheinlich ein Ameisenbär oder eine kleine Baumkatze oder der Hund hatte einfach ein neues Spiel für sich entdeckt, wenn auch ein sehr seltsames.

„Vincent ...“, begann sie vorwurfsvoll, doch der Labrador Retriever war bereits hinterm Haus verschwunden.

Wie sie dort nun ganz allein saß, lief es ihr kalt über den Rücken. Wie ein schmelzender Eiswürfel, kroch die dunkle Vorahnung über ihren Nacken die Wirbelsäule entlang.

Nun konnte sie es auch spüren. Da war etwas. Etwas, was dort nicht sein durfte. Im äußersten Winkel ihres Sichtfeldes, dort wo alles nur noch eine verschwommene Masse undeutlicher laubgrüner Eindrücke war, war etwas aufgetaucht und es war deutlich größer als ein Ameisenbär oder eine Baumkatze.

Zwischen den wippenden Sträuchern und Gräsern, die den ersten schmalen Streifen Dickicht in Richtung des Waldes bildeten, stand eine schattenhafte menschliche Gestalt, so unbewegt, so unfassbar ruhig, dass nicht sicher war, ob sie atmete oder überhaupt irgendein Lebenszeichen zeigte.

Susanna keuchte. Sie hatte sich noch nicht umgedreht, um zu sehen, wer dort im Schutz der Pflanzen stand und sie beobachtete, doch sie konnte Bernard und Rose ausschließen, denn Vincent blieb immer noch verschwunden. Ihre Gefühle überschlugen sich. Sollte sie sich umdrehen, ihrer Neugier nachgeben und es wohlmöglich bereuen, oder sollte sie einfach die letzten Meter bis zur Tür rennen, sich in das Haus werfen und warten bis der Fremde oder was auch immer dort war, gegangen war? Letzteres erschien ihr als weitaus sinnvollere Reaktion auf dieser Insel. Sie hatte schon viel zu lange gezögert.

Unter ihren Schuhen wurden kleine Kiesel und Erdbrocken mit einem leisen Knirschen zur Seite gedrückt, als sie sich mit aller Kraft aufstemmte und den Schwung nutze, um mit möglichst wenigen Schritten an der Tür zu sein. Doch bevor sie auch nur in die Nähe des Türriegels kam, fuhr ein seltsamer, kühler Wind durch ihr weiches Haar und trug die Worte des Fremden an ihre Ohren.

„Su! Warte einen Augenblick.“

Susanna Hayden bekam keine Luft mehr. Auf einmal war ihr Gesicht weiß wie der Sand des Strandes, als sie sich langsam zu der Person umdrehte, der die Stimme gehörte, die ihr auf fatale Weise bekannt war. Ihre Hände verkrampften sich in den fein gewebten Stoff ihrer blauen Jacke und die dünnen Adern traten unter der bleichen Haut hervor, wie rote Bindfäden unter dünnem Papier.

„Warum rennst du weg, ohne zu sehen wovor?“

Die kühle Briese umspielte weiterhin ihre Wangen, aus denen alles Blut gewichen war, und brannte unangenehm in ihren weit aufgerissenen Augen. Doch sie konnte sie einfach nicht schließen, ihr Blick ruhte auf ihrem Gegenüber, er fraß sich daran fest und zwang sie dazu wie hypnotisiert zu beobachten, wie sich ein warmes Lächeln auf den Lippen von Kevin Eastwick ausbreitete und wieder verschwand, als wäre es nie da gewesen.

Er lebte und er stand direkt vor ihr, mit seinem seltsamen Lächeln und der dennoch gerunzelten Stirn. Alles an ihm war wie immer: Die Stimme, die Mimik, der durchtrainierte, athletische Körperbau und dennoch: Etwas war falsch.

„Eastwick, was machst du hier?“, begann sie vorsichtig. Ihr Misstrauen wuchs, auch wenn sie nicht wusste warum. Vielleicht war ihr nur unwohl, weil der Hund die Flucht ergriffen hatte oder sie sich so erschreckt hatte. Vorsichtig bewegte sie sich dennoch ein Stück auf ihn zu.

Er hingegen bewegte sich nicht einen Millimeter.

„Du solltest nicht hier sein, Su.“, sagte er leise, fast wie ein drohendes Flüstern. Es ging ihr durch Mark und Bein. Was war nur mit ihm los? War er wahnsinnig geworden in der Zeit, in der er alleine durch den Urwald geirrt war?

Susanna machte weitere Schritte auf ihn zu. „Ich weiß, aber du warst nicht da und ich habe gedacht“, die letzten Worte sagte sie nur leise, „dass du vielleicht gestorben wärst ...“

Eastwick blickte sie nur stumm mit einem Ausdruck an, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte: Mit einem wissenden. Dann drehte er sich auf einmal um und war zwischen den Sträuchern verschwunden.

Die Hitze schien ihm wirklich zugesetzt zu haben, aber da war noch etwas. Ein ungreifbares, tiefes Grauen, wie der kühle Luftzug, den sie vorhin gespürt hatte, als er mit ihr sprach, nur tiefer in ihrem Inneren. Der Dschungel schien ihr wie eine dunkle Mauer und würde sie in betreten, wie ein düsteres Gefängnis.

„Eastwick! Wo zum Teufel gehst du hin?“, schrie sie über die unsichtbare Grenze hinaus, dann murmelte sie zu sich selbst: „Ich habe Angst ...“

Aber sie würde ihn nicht ein zweites Mal aus den Augen verlieren. Er war ihr Anhaltspunkt, ein Vertrauter und wohlmöglich ihr Lebensretter.

„Oh Gott! Du verdammter Idiot!“, fluchte sie und beeilte sich, um mit ihm Schritt zu halten.

Sie musste sich stark konzentrieren, um ihn zwischen all der Vegetation nicht zu verlieren. Das Blau seiner Uniform war in den Schatten so dunkel geworden, dass es sich nur durch seine Bewegungen von den anderen lichtlosen Konturen unterschied. Aber egal wie sehr sie auch versuchte ihn einzuholen, sie kam keine zwei Meter an ihn heran. War sie ihm zu nahe, verschwand er hinter einem natürlichen Hindernis und tauchte erst wieder auf, wenn er den Abstand zwischen ihnen wieder hergestellt hatte.

Susanna war nicht mehr besorgt oder traurig, sie war wütend, als Kevin Eastwick ein weiteres Mal vor ihr erschien, vor ihr stehend, als wäre nichts gewesen. Er war nicht einmal außer Atem und stand so urplötzlich und staturgleich vor ihr, wie zuvor bei der Hütte. Susannas Aufgebrachtheit verhinderte, dass sie den fremden Ausdruck in seinen Augen bemerkte, der sich leise schleichend des ganzen Gesichtes bemächtigte. Ein Ausdruck von solcher Gefasstheit, wie sie Kevin nie besessen hatte.

Susanna machte zwei lange Schritte und bekam ihn am Kragen seines Overalls zu fassen. Sie zog sein Gesicht auf ihre Augenhöhe hinunter und flüsterte, um ihre Fassung ringend, durch ihre zusammen gebissenen Zähne hindurch:

„Sag mal, was soll der verdammte Scheiß? Bist du komplett wahnsinnig geworden, Eastwick? Ich bin dir zwar durchaus dankbar, dass du mich aus der Kapsel geborgen hast, aber warum“ Sie zog bekräftigend am blauen Stoff. „bist du einfach verschwunden und hast mich da allein gelassen? Und was war mit Simon? Wieso hast du ihn nicht geborgen, hm?“

Was nun geschah, war so unheimlich, dass Susannas sich erst Minuten später wieder daran erinnerte.

Eastwick entspanntes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Das selbe Lächeln, dass er aufsetzte, wenn er versuchte führsorglich, liebevoll oder einfach nur einfühlsam zu wirken. Doch auch wenn er von einem Ohr zum anderen grinste, jeden Muskel auf dieselbe Weise angespannt wie immer, gab es diesmal nur ein Gefühl, das er in Susanna auslöste und das war: Eiseskälte. Nun bemerkte sie es auch in seinen Augen, das Dunkel hinter dem strahlenden Blau; ein Schatten, dort, wo eigentlich eine Seele war.

Susannas Wut war verflogen, sie war wie gelähmt. Vom Scheitel bis zur Sole aus Stein. In Trance löste sie ihren Griff und ließ den Arm sinken. Eastwick nahm wieder seine gerade Haltung ein und sah zu ihr hinab, beobachtete einige Sekunden lang, wie sie dastand, der Dinge harrend, die er jetzt aussprechen würde. Sie wusste es. Sie wusste, dass er sich verändert hatte.

Langsam bewegte sie ihre Lippen. „Was ist passiert?“, fragte sie mit belegter Stimme und fassungslosem Blick, „Hast du ihn absichtlich dort zurückgelassen und nur mich gerettet? Aber wieso?“

„Du verstehst wohl nicht ganz? Ich habe nichts von alledem getan, Susanna.“, sagte er kühl.

„ Und Kevin auch nicht.“

14

Irgendwo in den dunkelgrünen Tiefen des Waldes verstummte auch der letzte Vogel, der bisher noch die Dreistigkeit besessen hatte, mit seinem Balzlied fortzufahren und ein großer Schwarm bunter Papageien flog mit einem düsteren Rascheln der Schwingen über ihre Köpfe hinweg.

Dann war die Stille absolut.

Kein Grashalm bewegte sich mehr, kein verirrter Tapir streifte durch das Unterholz, kein Wurm regte sich unter der dicken Schicht abgestorbenen Laubes. Die sonst so überaktiven Äffchen, die in den Bäumen nach Früchten suchten, verharrten in angstvoller Konzentration auf den noch wippenden Ästen hoch über dem Waldboden, darauf bedacht, nicht aufzufallen. Wildschweine, kleine Raubkatzen, Mungos, Schlangen und alles, was sich vor Sekunden noch durch das Gestrüpp geschlichen oder geschlängelt hatte, schien um jeden Preis mit seiner plötzlichen Nicht-Existenz überzeugen zu wollen.

Auch Susanna Haydens Körper war bis zur letzten Faser angespannt. So sehr, dass sich bereits Krämpfe in ihren Waden gebildet hatten und sich der brennende Schmerz durch das Gewebe fraß. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt, ihre Fingernägel schnitten in das weiche Fleisch ihrer Handinnenflächen, bis Blut aus ihnen tropfte.

Doch Susanna, ganz in einem Meer aus Leere verschwunden, spürte das Feuer nicht, was in ihren Gliedmassen brannte. Ihr Augenmerk ruhte immer noch auf Kevin Eastwicks Erscheinung oder dem Fremden, welches in seinen Körper gefahren war und sich seines Verstandes bemächtigt hatte. Die Dunkelheit, die heimtückische Schwärze, die hinter seinen Augen – hinter seiner ganzen jetzigen Existenz – lauerte, hatte sich endgültig manifestiert. Das Es machte sich keine Mühe weiter versteckt zu bleiben und eine Rolle zu spielen, die es scheinbar nur widerwillig angenommen hatte. Stattdessen hatte es mit aller Gewalt die letzten Überbleibsel von Eastwicks Persönlichkeit weggewischt und sich selbst an ihre Stelle gesetzt, sodass der unsichtbare Raum, um ihn herum – seine Aura – vor unmenschlicher Boshaftigkeit und unendlichen Hasses nur so brodelte.

Susanna wartete darauf, dass sie ohnmächtig wurde, sie hoffte darauf. Ihre Nerven waren im Moment des Begreifens nicht mehr fähig alle Gedanken und Emotionen umzusetzen, ohne dabei ihren Kreislauf zu vernachlässigen. Ihr Herz schlug laut und unregelmäßig, ihr Atem setzte im Rhythmus dazu aus und wieder ein und ihr Gehirn benötigte mehr Sauerstoff als normal. Sie wollte fliehen, angreifen, sterben. Alles gleichzeitig und deshalb konnte sie auch nichts von alledem tun.

Das Fremde vor ihr lächelte. Ihm gefiel, was es sah. Es weidete sich an dem stummen Entsetzen Susannas und fing leise an zu lachen, indem es Kevins Stimme dazu missbrauchte, die gequälten Laute hervorzubringen. Es war ein emotionsloses, trockenes Geräusch, bar jeder Wärme und fern jeder Realität.

„Deine Gabe ist wahrlich so effektiv wie sie simpel ist, Susanna.“, sprach es, „Nur nutzt sie dir nichts mehr. Du bist nun hier - auf meiner Insel. Irgendwann werde ich deine Hilfe brauchen und dann werden wir uns wieder sehen.“

Susanna atmete tief ein und atmete einige Sätze wieder aus:

„Egal, wer oder was du bist, meine Hilfe bekommst du nicht! Du existierst noch nicht einmal!“

In dieser festen Überzeugung, zu der sie ihr restlicher Verstand geleitet hatte, schloss sie die Augen und begann von 10 auf 0 herunter zu zählen.

9 …

Oh, bitte …

8 …

Bitte, lieber Gott, lass ihn weg sein …

7 …

Mach, dass er nicht mehr da ist, wenn ich die Augen öffne …

6 …

Ich flehe dich an …

5 …

Lass es nicht wahr sein …

4 …

Kevin ist tot, er muss tot sein …

3 …

Da ist nichts! Absolut nichts …

2 …

Nichts ist real! Nichts ist …

1 …

… wahr.

Getragen von einem Schwall neuer Panik, öffnete Susanna die Augen wieder und brach willkürlich in Tränen aus.

Die Lichtung vor ihr war leer.
 

Der Mann, der ihr am heutigen Vormittag bei der morgendlichen Teambesprechung als Kevin Eastwick vorgestellt worden war, stand nun vor ihr in der Schlange für das Kantinenessen. Es gab Bohnensuppe mit Schinkenwürfeln und Brokkoli-Käse-Auflauf, als Beilage bunten Gemüsesalat und als Nachtisch Schokopudding mit Sahnehäubchen.

Auch wenn Susanna sich bereits ein Tablett genommen hatte, mit der festen Absicht sich etwas von dem Auflauf und dem Salat aufzutun, bewegte sich ihre Hand nur beiläufig, um eine viel zu kleine Portion auf ihren Teller zu befördern.

Sie war verwirrt, hatte, wie nach einem Schlag auf den Kopf, zeitweise die Orientierung verloren. Während sich ihre Gedanken beim Versuch sich selbst zu ordnen, überschlugen, sorgte ihr Körper mit nahezu roboterhaften Reflexen dafür, dass sie samt Tablett den Weg zum Tisch fand, an dem Simon bereits auf sie wartete. Mit gerunzelter Stirn blickte er durch seinen rötlichen Pony zu ihr hinauf. Susanna beobachtete jemanden im vorderen Teil des Mittelganges zwischen den Tischgruppen.

Kevin Eastwick hatte angehalten. Er wirkte etwas verloren als Neuer, mitten im Raum mit seinem Tablett in den angespannten Händen, verzweifelt nach vertrauten Gesichtern suchend. Susanna konnte sehen, wie sich die Sehnen auf der erstaunlich glatten Haut weiß abzeichneten. Er war groß gewachsen und von erstaunlich kräftiger Natur für einen Astronauten. Er hätte eher ein U.S.Marine oder ein Offizier der Navy sein können.

Susanna schob sich gedankenverloren eine Gabel mit Brokkoli-Käse-Ladung zwischen die Zähne und fuhr damit fort, Kevin Eastwicks männlichen Körper mit ihren Blicken auseinander zu nehmen. Simon, der hingegen sie von der anderen Tischseite her taxierte, lies sein Besteck etwas lauter als notwendig auf den Teller zurückfallen.

Susanna blickte auf. „Was?“

„Waaaaas?“, äffte Simon sie mit lissbildner Stimme nach, „Ich würde nur gerne mein Mittagessen genießen, ohne mir dabei vorstellen zu müssen, was du dir gerade vorstellst.“

„Simon! Jeder starrt den Neuen an, wieso sollte ich ausgerechnet wegsehen?“

„Ganz einfach: Die sehen ihn an, weil sie wissen wollen, an wem sie sind. Du hingegen siehst ihn an, weil du wissen willst wie stramm sein glutaeus maximus ist.“

Susanna versenkte die leere Gabel mit einem leisen Matschen im Auflauf.

„Seid wann hast du mich zur Raumfahrermattratze degradiert, Simon? Hab ich irgendwas verpasst? Hab ich irgendwann einen Grund für diese Unterstellung geliefert?“

„Ach, red keinen Unsinn! An dich kommt man so leicht ran, wie an Da Vincis scheiß Mona Lisa.“ Simon blickte wieder auf seinen Teller und begann ein paar Babytomaten aufzuspießen. Dass man die „Mona Lisa“ bereits aus dem Louvre gestohlen hatte, schien er außer Acht gelassen zu haben. „Ich weiß doch nur, dass du auf diesen Typ Mann abfährst, Su. Na los, wink ihn schon rüber!“

Susanna brauchte nicht einmal zu überlegen, ob sie die Umsetzung dieses Vorschlags in Betracht ziehen oder aufgrund Simons dramatischen Tonfalls in den letzten zwei Sätzen lieber doch auf die Gesellschaft des Neuen und die sich dadurch ergebenden Pluspunkte bei diesem verzichten sollte, denn Kevin Eastwick war – wie einem eigenem Impuls folgend – bereits neben ihrem Tisch aufgetaucht und machte Anstalten sich zu setzen. Wenige Zentimeter über dem Stuhl blieb er zögernd in der Luft hängen und hob sich - vor Anstrengung das Gleichgewicht zu behalten, zitternd – wieder in den Stand.

Simon, der es selbst wahrscheinlich nicht einmal merkte, starrte ihn von unten her an, wie ein Hund, der hinter dem Hoftor den Briefträger zusah und nur darauf wartete bis dieser nah genug war, damit er ihn mit voller Kraft in den Arsch beißen konnte.

Susanna, die dies bemerkte, wollte unter dem Tisch nach ihm treten, fand sein Bein aber nicht und gab auf, bevor es noch peinlicher werden konnte.

„Ist hier noch frei?“ Eastwick sah zwischen den beiden unsicher hin und her.

Simon holte Luft und wollte gerade zu einer scharfen Antwort ansetzen, als Susanna ihm dazwischen fuhr.

„Ja, klar! Setz dich ruhig!“

„Danke.“ Eastwick setzte sich und schob sein Tablett auf den Tisch. Simon rückte kaum merklich von ihm weg. „Ich habe nämlich das Gefühl, dass die Meisten hier nicht besonders gut auf mich zu sprechen sind.“

Susanna kaute auf ihrem Essen herum bis es beinahe flüssig war. Fast zeitgleich schluckte sie und antwortete: „Keine Sorge! Das geht allen Neuen so. Ausnahmslos. Die Wissenschaftsliga ist wie ein Footballteam. Man muss sich im ersten Spiel beweisen.“

Susanna wurde ganz warm ums Herz, als sie Eastwick das erste Mal schmunzeln sah. Die erste Hürde war genommen.

„Nein, nein.“, sagte er und lies seinen Blick über die Tischreihen schweifen, als suche er nach denen die ihn beobachteten und über ihn redeten, „Ich weiß schon woran es liegt. Sie glauben ich wäre nicht qualifiziert genug für die Mission, zu wenig erprobt im Team. Sie denken ich bin nur hier wegen meinem Onkel.“

Die Haut auf Susannas Stirn legte sich in Falten.

„Erwin Shaw. Er ist mein Onkel, aber bei Gott! Das ist doch kein ausreichender Grund Verschwörungstheorien anzuleiern!“ Er nahm einen hastigen Schlug Saft aus seinem Glas.

Der Neffe von Erwin Shaw? Zu Susanna hatte niemand etwas gesagt. Selbst Tony Duprais hatte es bei ihrer Bekanntmachung verschwiegen. Umso schlimmer fand sie es, dass Simon gerade keineswegs überrascht wirkte.

Erwin Shaw war ihr Abteilungsleiter und ein äußerst seltener Besuch, da er meistens den Kontakt mit den hohen Tieren der NASA pflegte und anstatt seiner Selbst Berater und auswärtige Spezialisten mit der Kontrolle und der Lösung von Problemen in seiner Abteilung beauftragte oder einfach Tony als sein persönliches Sprachrohr nutzte.

Dennoch hielt ihn Susanna für einen sehr vernünftigen und rechtschaffenen Mann und wusste auch, dass ihn die meisten hier loyal gegenüber standen. Deswegen konnte sie sich kaum vorstellen, dass die spürbare Distanz ihrer Kollegen nur diesen einen Grund hatte.

„Schwer zu sagen, was sie denken. Ich jedenfalls glaube nicht das Shaw Sie hier einsetzen würde, wenn Sie nicht die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten mitbringen würden. Gut, die Mission gehört nicht zu den Komplexesten. Ein paar Tier- und Pflanzenversuche und vielleicht der Umgang mit Toxinen und anderen Zellgiften, aber Sie müssten mindestens Pharmazeutiker sein und eine Astronautenausbildung haben.“

Eastwick lächelte ertappt.

„Das ist es ja. Ich könnte mich noch nicht einmal als Krankenpfleger ausgeben. Außer einem freiwilligen sozialen Jahr in einem Krankenhaus in Dallas und zwei mehr oder weniger erfolgreich sezierten Fröschen, besitze ich keinerlei wissenschaftliche Erfahrungen. Allerdings bin ich ein staatlich bis auf die Knochen ausgebildeter Astronaut, habe genügend praktische Erfahrung und technisches Wissen um alleine zum Mond und wieder zurück zu fliegen und ein Shuttle von vorne bis hinten durchzuchecken und entsprechende Reparaturen durchzuführen.“

Susanna Hayden hatte kurz aufgehört zu atmen und überlegte, ob dieser Mann ihr vor ein paar Augenblicken wirklich weismachen wollte, dass er die Ablehnung studierter und diplomierter Wissenschaftler und Ingenieure ihm gegenüber nicht verstand. Simon kämpfte mit den Tränen. Er hatte Glück, dass seine Selbstbeherrschung soweit reichte, dass er nicht vor lauter Lachen zusammenbrach.

Na gut, Kevin Eastwick war hervorragend ausgebildet und wahrscheinlich ein extrem guter und zuverlässiger Mitarbeiter der NASA – sonst wäre er nicht dort – aber er war in der falschen Abteilung, und die hiesigen Gelehrten akzeptierten niemanden in ihrer Mitte, der sie nicht verstand, wenn sie über, für sie, alltägliche Dinge sprachen.

„Aber“, begann Susanna vorsichtig, „wenn Sie gar kein Forscher sind, sondern eher ein Pilot, was machen Sie dann hier … in der … Forschungsabteilung?“

Eastwick sah sie von unten her an. Er hatte ihr verwundertes Stocken bemerkt.

„Da müssen Sie schon meinen Onkel fragen.“, sagte er ruhig, „Mir hat er auf diese Frage nur geantwortet, ich solle mal an richtigen Missionen teilnehmen. An Missionen, die der Menschheit etwas brächten und nicht solche, deren einziges Ergebnis es ist, dass ein weiterer Amerikaner oder gottverdammter Russe mit seinen Stiefel auf dem Antlitz eines Himmelskörpers herumtrampelt und mit seiner Flagge kostbare Gesteine zerstört.“

Susanna starrte ihn an. „Das hat er gesagt?“

„Wortwörtlich.“

Was sollte man auch Anderes vom Leiter der Abteilung für Weltraumwissenschaften erwarten? Nun war wohl auch sein Neffe Opfer von Erwin Shaws Leidenschaft und einziger Überzeugung geworden.

Simon hatte seine Mahlzeit beendet und war aufgestanden. Bevor er sich mit seinem Tablett zum Gehen wandte, sagte er noch in ungewohnt strengen Ton:

„Eastwick, Ihr Onkel ist ein guter Mann. Ich, an Ihrer Stelle, würde ihm keine Schande machen.“

Kevin Eastwick lächelte gequält und sank in sich zusammen. Wahrscheinlich hatte er schon eine Menge ähnlicher Sätze gehört. Susanna konnte ihr wachsendes Mitleid nur schwer verbergen. Am liebsten wäre sie Simon gefolgt. Außerhalb der Problemreichweite Anderer lies sich ihre stark ausgeprägte Empathie meist unterdrücken. Doch nun war es zu spät. Auch wenn sich Eastwick, als der Neue, Mühe gab, nicht allzu verletzt zu wirken, bröckelte seine Fassade mittlerweile.

„Ich werde jetzt besser wieder in mein Büro gehen.“ Er warf seine Kabel neben dem unberührten Dessert auf das Tablett und stieg aus der Bankreihe.

Ohne genau zu wissen warum, war Susanna aufgesprungen. „Warte! Ich komme mit.“

Als sie den Speisesaal hinter sich gelassen hatten, machte sich ein Gefühl großer Erleichterung breit. Auf den Bürogängen traf man meist niemanden, der nicht beschäftigt war. Hier starrte ihnen keiner hinterher.

Kevin Eastwicks Einzelbüro – ein Privileg welches ohne jeden Zweifel auf die Gunst seines hochgestellten Onkels zurück zu führen war – befand sich am linken Ende eines Ganges, neben einem Fenster durch welches man einen guten Blick auf die anderen Gebäude und den Parkplatz hatte. Susanna bemerkte zum ersten Mal an diesem Arbeitstag, dass das Wetter ziemlich diesig und grau war. Typisch für den November. In den Labors in denen sie arbeitete gab es keine Fenster. Früh kam sie wenn es noch dunkel war und am Abend, wenn sie ging, war die Sonne bereits untergegangen. Susanna mochte die späte Jahreszeit mit ihren kurzen Sonnenphasen nicht. Die Müdigkeit kroch ihr während des Weckerklingelns schon in die Knochen und lies sie den ganzen Tag über nicht mehr los. Wenn sie aus dem Bett stieg, verkrampfte sich ihr ganzer Körper, weil sie über Nacht nicht heizte. Die wärmende Dusche wollte sie oft nicht mehr verlassen, weil das verdunstende Wasser ihre Haut die angeeignete Wärme sofort wieder entzog und sie auch im Bad sparsam von der Fußbodenheizung gebrauch machte. Die Treppe sowie die Auffahrt zu ihrer Garage waren heute Morgen vereist gewesen. Den Schal bis unter die Augen gezogen, den Steppmantel eng an ihren Leib gepresst, hatte Susanna dann eine viertel Stunde am zugefrorenen Garagentorschloss herumgefummelt und war zu guter Letzt doch noch erfolgreich. Ihr kleiner blauer Ford war wie immer eiskalt und bis die Autoheizung richtig angelaufen war, war sie bereits auf Arbeit.

Susanna starrte durch das quadratische Fenster auf dem Gang nach draußen und nahm sich vor das Schloss heute Abend abzudecken, bevor es vielleicht gar nicht mehr aufging.

„Ich bin kein Freund von kaltem Wetter.“, sagte Eastwick, der hinter ihr gerade sein Büro aufschloss. „Mein Wagen ist heute früh fast nicht mehr angesprungen. Ich habe schon befürchtet, dass ich am ersten Tag in dieser Abteilung zu spät komme. Das wäre sicher ein Spaß gewesen.“

Susanna lächelte angetan. Natürlich gab es Millionen anderer Menschen, die den Winter hassten, aber wenn Eastwick das sagte, klang es als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„Wenn ihr Wagen nicht mehr anspringen sollte, könnte ich Sie doch mit zur Arbeit nehmen.“

Eastwick lehnte im Türrahmen seines Büros und schmunzelte schief.

„Aber Sie wissen doch noch gar nicht, wo ich wohne. Und außerdem weiß ich nicht, was meine Frau dazu sagen würde, wenn eine Kollegin, die ich erst einen Tag kenne, mich mit ihrem Auto mitnimmt.“

Susanna war geschockt.

„Sie haben eine Frau?“, platze es aus ihr heraus.

Kevin Eastwick lachte. Er hatte ein ungewöhnlich helles, reines Lachen.

„Beruhigen Sie sich.“, sagte er und legte Susanna dabei seine Hand auf die Schulter, „Ich finde wir sollten uns erst auf einen Kaffee in der Stadt treffen, bevor Sie Ihr Benzin an mich verschwenden. Ich wohne ziemlich weit außerhalb.“

Susanna war rot im Gesicht, sie konnte es deutlich spüren.

„Okay… Entschuldigung. Ich wollte nicht … So wollte ich es nicht--“

„Keine Sorge.“, begann Eastwick, dem es sichtlich besser zu gehen schien, „Ich nehme Ihnen so etwas nicht übel. Wie wäre es am Samstagnachmittag um drei? Wir könnten uns vor dem Einkaufszentrum treffen und dann in die Altstadt gehen. Dort gibt es einige gute Cafés und Konditoren.“

Susanna nickte sprachlos. Eine lange Pause positiven Entsetzens entstand.

„Gut … Dann bis morgen auf der Arbeit, wenn mein Auto es zulässt.“ Er schenkte ihr noch einen lächelnden Augenblick, dann schloss er die Tür zu seinem Büro.

15

Die Vögel sangen wieder.

Das Leben war in die grünen Fluten des Waldes zurückgekehrt und machte langsam Anstalten auch zu Susanna zurückzufinden. Sie saß schon seid längerer Zeit auf dem klammen Laub, spähte auf einen undefinierbaren Punkt zwischen den Baumriesen und knetete ein tennisballgroßes Stück Moos. Der dunkelgrüne Pflanzensaft quoll zwischen ihren blassen Fingern hervor und tröpfelte auf die ohnehin schon feuchte Erde.

Ihre Augenlieder flatterten, als sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit erwachte. In der letzten Stunde hatte sie versucht alles zu verarbeiten, hatte sich abgeschottet und nach Erklärungen gesucht, hatte mögliche gefunden, andere ausgeschlossen. Am Ende stand jedoch nur eine Erkenntnis, nämlich, dass sie keine Ahnung hatte, was sie gerade erlebt hatte und warum.

Susanna hatte auch über die wirren Geschichten der Nadlers nachgedacht und darüber, wie wirr ihre eigenen klangen, würde sie sie wiedergeben. Sie überlegte, ob die beiden alles auch so real erfahren hatten und deshalb daran glaubten. Grund dafür könnte eine seltenere tropische Pflanzenart sein, die bei Hautkontakt oder durch die Luft Stoffe übertrug, die extrem starke, realistische Halluzinationen bei Menschen auslösten. Oder vielleicht hatte sie eines der lästigen Insekten mit einer noch unbekannten Krankheit infiziert, deren erste Symptome Wahnvorstellungen der besonderen Art waren. Oder es war der Tee gewesen.

All diese Überlegungen fielen jedoch einer simplen Tatsache zum Opfer: Vincent hatte Eastwick ebenfalls bemerkt und war, als der Klügere von ihnen beiden, sofort getürmt.

Mit der Zerstörung ihrer fähigsten Theorie war Susanna langsam wieder in die obere Bewusstseinsebene zurück gekehrt.

Ihre rechte Hand wurde sich ihres humiden Inhalts bewusst und lies in einer angeekelt verkrampften Geste das Stück Moos, welches jetzt aussah wie ein benutzter Kaugummi, zwischen die feinen Baumwurzeln plumpsen. Mit fahrigen Bewegungen strich Susanna Innen- und Außenfläche solange über ihren blauen Overall, bis nur noch die hartnäckigen, getrockneten Teile des Pflanzenblutes in den Falten ihrer hellen Haut übrig blieben.

Während sie ihre Finger zusammen rollte und wieder auseinander streckte, um zu sehen ob das Zeug klebte, erforschte sie ihre Umgebung. Susanna wusste noch die Richtung, aus der sie gekommen war, aber auch wenn sie sich anstrengte Zeichen menschlichen Einwirkens auf die Gräser und das Buschwerk zu erkennen, wie es die Spurenleser in Film und Fernsehen immer gekonnt vormachten, blieben ihre Versuche erfolglos. Ihr war, als hätte sich ein runder Vorhang um sie geschlossen, auf dem ein unberührter Urwald abgebildet war.

Susanna würgte den Keim neuerlicher Panik hinunter und begann zu schätzen, wie lange sie Eastwick in die grüne Hölle gefolgt war. Großzügig aufgerundet kam sie auf eine gute halbe Stunde. Außer Sicht- und Hörweite von den Nadlers sowie ohne einen sicheren Anhaltspunkt, der eine Orientierung ermöglichte, waren ihre Chancen in den nächsten drei Stunden zurück zu finden weniger als minimal. Rose und Bernard mussten ihr Verschwinden bereits bemerkt haben, aber auch wenn es sie ungemein beruhigen würde, falls die beiden nach ihr suchten, hoffte Susanna doch, sie wären welterfahren genug, ihr nicht ohne Kompass und einem ausgereiften Notfallplan in die wegelose Zone zu folgen. Hier sah jeder Baum wie der andere aus, jeder Grashalm glich seinem Nachbarn und die Steine schienen sich im Geheimen geklont zu haben. Für einen Menschen, der Zeit seines Lebens in Städten verbracht hatte und dort mit karten und Navigationssystemen, Straßen und Häuser anfuhr, die alle einen bestimmten Namen und eine unveränderliche Nummer hatten, ist die völlige Orientierungslosigkeit ein Zustand der dem Suizid ziemlich nahe kommt. Lässt man einmal die vorausschauende Existenzangst beiseite, stellt sich nach einigen Versuchen der Richtungsfindung, die meist einem konsequenten Lauf gegen eine Wand ähneln (verschwenden eine Menge Energie und bringen einen doch nicht weiter), eine absolute Leere im Denken ein, die wiederum solange unterbewusst die schwelende Panik nährt, bis diese darin gipfelt, dass der Betroffene einem gehetzten Kaninchen gleich, jede erdenkliche Richtung einschlägt bis ihn die Kräfte verlassen.

Unter leichtem Husten stand sie auf, indem sie sich an der feuchten Borke des Baumes hochzog, an dem sie gelehnt hatte. Ihr Hals kratzte und hinter ihrer Stirn begann ein leichter Kopfschmerz. Sie drückte mit ihrem Handrücken, der ihr von der ganzen Hand noch am saubersten erschien, auf die pochende Schläfe.

Es half alles nichts. Sie musste in irgendeine Richtung laufen. Susannas inneres Gefühl brachte sie schließlich dazu, den Weg einzuschlagen, von dem sie am meisten überzeugt war, dass er wieder zu ihrem Ausgangsort zurück führte. Natürlich war dem nicht so.

Mit fast schon brutaler Eindeutigkeit entpuppte sich das leise Gurgeln und Plätschern, dem sie voller Hoffnung nach längerem orientierungslosen Marsch gefolgt war, nicht als fernes Meeresrauschen, sondern als das Lebenszeichen eines kleinen Baches, welcher sich in seinem Bett aus Kies und Roterde durch den Dschungel schlängelte.

Gelbes Sonnenlicht fiel in geraden Strahlen durch die sich wiegenden Baumwipfel, fast so, als hätte sie jemand mit Hilfe eines Lineals dorthin gemalt. Am Boden wirkten sie wie Sprenkel heller Wandfarbe auf dem Dunkelbraun verwelkten Laubes. Susanna setzte sich, von einer unsichtbaren Last niedergedrückt in einen der Lichtkreise und ließ sich ein wenig von der frühen Mittagssonne wärmen. Als sie genug hatte, robbte sie aus dem Lichtkegel heraus in den Schatten. Neben ihr säuselte das Wasser sein Lied. Eine klare, geschmeidige Melodie, keine Note der anderen gleich. Kleine grüne Blätter segelten wie in Zeitlupe vom Himmel hinab, trafen auf die unruhige Wasseroberfläche und wurden davon getragen, auf verschlungenen Bahnen durch den Wald.

Susanna wusch sich die Hände, trank in tiefen Zügen und beschloss dem Lauf des Baches bis zum Meer zu folgen. Der Plan war idiotensicher. Natürlich wusste sie nicht über welche Strecke sich das glitzernde Band durch den Dschungel zog, aber angesichts ihres Repertoires an Alternativen konnte sie sich auf das Risiko nicht in der nächsten Stunde anzukommen, einlassen.

Sie stützte sich auf ihren Knien ab und stand mühsam auf.

„Wann wache ich endlich auf?“, fragte sie sich leise und das zum zweihundertsten Mal innerhalb der letzten Tage. Da sie seid ihrem Erwachen auf der Insel oftmals den Bezug zur Realität verlor, kam dieser Satz immer ton- und bedeutungslos über ihre Lippen in die Welt und starb, weil sie sofort wieder vergaß, dass sie ihn gesagt hatte.

Diesmal ging er aber nicht im Klang der Wildnis unter, sondern im ohrenbetäubenden Ton ihres – wie sie glaubte – anschwelenden Wahnsinns. Fast drei Tage lang hatte sie das seltsame Phänomen in Frieden gelassen und langsam hatte sie es auch geschafft, es aus ihren Gedanken zu verbannen, dorthin wo sie alle anderen Dinge verbannt hatte, die sie, wenn sie zu viel darüber nachdachte, verrückt machen würden.

Doch nun war es so nah an ihrem Bewusstsein. Es war wieder in ihrem Denken, in ihrem Kopf, in jeder einzelnen Zelle. Susanna hatte das Gefühl, es war stärker als die letzten Male. Es würde ihr den Schädel aufsprengen. Ein gewaltiger nicht endender Druck verdrängte ihre Sorgen und ihre Angst davor, dass die Schmerzen sie umbringen könnten. Licht schoss durch ihre geschlossenen Lider in ihre Augäpfel, blendete die Reste ihres Verstandes und ließ sie besinnungslos vor Qual in die Büsche fallen.
 

WOOM!

Susanna Hayden war sofort bei vollem Bewusstsein. Etwas hatte genau neben ihr eine Explosion ausgelöst. Dreck und Holzsplitter regneten auf sie herab, und irgendetwas Feuchtes spritzte in ihr Gesicht. In Sekundenbruchteilen schoss pures Adrenalin durch ihren Kreislauf, ihre Lungen blähten sich, ihr Herz hämmerte wie bei einem Marathonlauf auf ihren Brustkorb ein und ihre Gliedmassen fingen durch den plötzlich Bluthochdruck an zu kribbeln. Die durch den Schock hervorgerufene Kontraktion ihrer Muskeln hatte sie in den Stand katapultiert.

Susanna schnappte keuchend nach Luft und atmete den umher fliegenden Staub ein. Während sie unter reflexartigem Würgen den Hals wieder freibekommen wollte, entdeckte sie auf der anderen Seite des Baches, der durch die Detonation zerwühlt und von aufgewirbeltem Schlamm hellbraun gefärbt war, eine kleine Gruppe von Menschen, die ihrer Existenz ebenfalls gerade gewahr wurde. Auf den ersten Blick erspähte sie drei Personen. Eine auffallend rothaarige Frau und zwei dunkelhaarige Männer, einer davon mit großer Wahrscheinlichkeit asiatischer Abstammung. Alle drei waren kreidebleich und hatten die Arme hochgerissen, um sich vor den umher fliegenden natürlichen Schrapnellen zu schützen.

Zwischen den zwei Ufern entstand eine Barriere schockierten Schweigens. Die Gesichter der Drei zeigten einen solch dramatischen Ausdruck, dass Susanna einen kurzen Moment glaubte, neben der Tatsache, dass sie gerade überraschend aus dem Buschwerk hervor gesprungen war, ebenfalls absolut nackt zu sein.

Das Rinnsal klärte sich wieder. Auf den Kieseln lag ein massiger Männerkörper, regungslos und schlaff. Kleidung und darunter liegende Haut waren zerfetzt, die Haare verklebt von dunklem Blut, dass aus einer Platzwunde am Hinterkopf stammte. Ein einsamer Schuh trieb an der Leiche vorbei, den Bach hinunter.

„Scheiße!“, Susanna hustete das Wort in zwei Teilen hervor und starrte dann wieder zu den Leuten hinüber, „Wart ihr das?“

Der Asiat schüttelte mit offenen Mund den Kopf, sein ebenfalls stummer Begleiter war ausreichend beschäftigt damit, weiter zu atmen, nur der Rotschopf hatte sich zu ihr gedreht und formte langsam die Worte: „Wer bist du?“

„Was war das eben? Was war das für eine Explosion?“

„Eine Landmine. Ausgelöst durch einen Stolperdraht …“ Diesmal hatte der Schmächtigere der beiden Männer geantwortet. Er hatte einen dichten, dunklen Bart und eine markante Denkerstirn. Seine Bewegungen waren fahrig und seine Hände zitterten, als er eine ausladende Geste in Richtung Erde machte und sagte:

„ Sie sind hier überall am Ufer. Dieser Mann dort und noch ein anderer -“

Er sah über seine Schulter nach hinten in den Wald hinein.

„- ich weiß nicht, wo er jetzt ist – Sie sind beide in die Falle gegangen. Wir sollten uns also nur mit absoluter Vorsicht fortbewegen.“

Susanna, gerade zum paranoidesten Menschen der Welt geworden, bezweifelte, dass sie überhaupt noch einen Schritt machen würde, jetzt da sie wusste, dass sie eindeutig in der Hölle gelandet war.

„Wer zum Teufel bist du?!“

Die Rothaarige wurde aggressiv. Irgendetwas versetzte die Frau in Panik – etwas Anderes als Minen und Stolperdrähte. Die Fremde gab sich die allergrößte Mühe ihre Angst mit falscher Stärke zu überspielen und wäre Susanna nicht ebenso nervös und verstört gewesen, hätte sie all das bemerkt. Stattdessen runzelte sie nur die Stirn und antwortete schnippisch:

„Ich weiß nicht, ob dir das jetzt weiterhilft zwischen all den Minen und Leichen, aber wenn du willst stell ich mich dir gerne ausführlich vor und wir trinken nachher einen Tee zusammen. ZUM TEUFEL! Da liegt ein Mann genau vor meinen Füßen und er ist tot und ich glaube ich kann sein Gehirn sehen. Was willst du also mit meinem gottverdammten --“

Es knackte. Irgendwo hinter den drei Fremden bewegten sich die Äste des Buschwerks. Das Rascheln wurde lauter, die Bewegungen der Blätter stärker und einen Lidschlag später spie die Vegetation sieben zerlumpte und mit Pfeil und Bogen bewaffnete Gestalten aus.

Der Kopf der Roten zuckte zur Seite und blickte in die Pfeilspitzen der Neuankömmlinge. Auch wenn es schwer vorstellbar war, hatte sich die Überraschung in ihrem Gesicht eine neue Steigerung erschlossen. Der resultierende Ausdruck ließ nicht mehr die leiseste Chance, den Schrecken, den die Situation in ihr hervorgerufen hatte, zu verbergen.

Mit finsteren, unbewegten Mienen hielten die Fremden die Dreiergruppe im Schach. Susanna bemerkte die Ähnlichkeit im Erscheinungsbild mit der Menschengruppe, die sie an ihrem ersten Tag am Strand gesehen hatte, als ihr dieser Junge eine Pistole an den Kopf hielt. Auch sie trugen einfache, zerschlissene Kleidung mit vorwiegender brauner Färbung. Die Waffen, die sie benutzten stammten aus einer ganz anderen Zeit, ebenso wie ihre Verhaltensweisen. Sie waren aggressiv und nicht besonders redefreudig, vielleicht sprachen sie kein Englisch.

Zwischen der Gruppe tauchte eine kleine Frau auf. Sie trug ein Repetiergewehr vor ihrer Brust. Ihre Schritte gingen sicher auf dem unebenen Waldboden. Als hätte sie ihr ganzes Leben nichts Anderes getan, sprang sie über eine Baumwurzel und richtete den Lauf ihrer Waffe abwechselnd auf die Frau und die beiden Männer, während sie im Armeeton fragte:

„Wer von euch ist hier der Anführer?“

Nach einer kurzen Pause meldete sich der Schmächtige mit dem Bart zu Wort.

„Das bin ich.“

„Ihr konntet wohl nicht wegbleiben? Wo ist der Rest deines Trupps?“

„W-Wie? Ich verstehe nicht. Wir sind allein.“

Die Frau mit dem Gewehr rückte näher sodass die Waffenspitze auf seiner Brust zum Liegen kam.

„Versuch nicht mich zu verarschen! Wo – ist – der – Rest – von – euch?“

„Der wurde wohl von euren Landminen erwischt. Sie sind beide tot.“, warf der Asiat von der Seite ein.

Drei der Bogenträger hatten ihre Waffen beiseite gelegt, um die Leiche aus dem Flussbett zu ziehen und am Ufer im Sichtfeld ihrer Anführerin abzulegen. Sie betrachtete den zerstörten Körper ohne jegliches Mitgefühl und sagte tonlos:

„Das sind nicht unsere Landminen. Ihr habt sie dort hinterlassen, damit wir sterben. Ihr lügt! Ich frage noch ein letztes Mal: Wo sind die Anderen?“

Der Schmächtige holte hörbar Luft. „Ich weiß es nicht.“

Genau in diesem Moment bewegte Susanna, die sich bei der Ankunft der braun Gekleideten schnell hinter einem Gebüsch wegducken konnte, ihre rechte Hand, um sich auf dem Boden abzustützen, denn die Hockstellung war schnell unbequem geworden. Unter ihren Fingern spürte sie den dünnen Ast durchbrechen und hörte voller Schrecken das laute Geräusch, was er dabei verursachte. Mit weit geöffneten Augen starrte sie durch die Blätter hindurch zur anderen Bachseite, um zu sehen, ob man sie dort gehört hatte. Es war zu spät. Zwei Bogenschützen waren bereits ins flache Wasser gesprungen und wateten mit erschreckender Zielstrebigkeit auf sie zu.

Susanna schaffte es gerade noch sich aufzurichten, da griffen bereits zwei muskulöse Arme nach ihr und packten ihre Handgelenke. Wortlos wurde sie aus ihrem Versteck gezerrt und unter Ignoranz ihres, im Vergleich zu der Stärke ihrer Peiniger, kaum nennenswerten Widerstandes, zum Rest der Gruppe transportiert. Der eiserne Griff an ihren Unterarmen löste sich und man stieß sie zu den drei Anderen in den Dreck. In den folgenden Sekunden spürte sie den Stahl des Gewehrlaufs auf ihre Brust tippen, genau dort wo ihr NASA – Patch aufgenäht war.

Die kleine blonde Frau beugte sich ein wenig zu ihr hinunter. Ihr fein gelocktes, blondes Haar war straff nach hinten gebunden und verlieh ihrem noch jungen Gesicht einen Ausdruck männlicher Härte, als sie sich direkt an Susanna wandte:

„Wer bist du?“

„Sie gehört nicht zu uns!“ Der Asiat war auffällig unruhig im Angesicht der scharfen Pfeile mit denen man auf ihn zielte.

„Das sehe ich, Arschloch! Dich hat aber niemand gefragt, also halt deinen Mund! Es sei denn du möchtest das Schicksal deiner Kameraden teilen.“

Der Betroffene schwieg, Susanna antwortete.

„Ich heiße Susanna Hayden. Ich bin eine Wissenschaftlerin der Nationalen Luft- und Raumfahrtbehörde der Vereinigten Staaten. Ich bin zusammen mit meiner Crew in der Rettungskapsel unseres Spaceshuttles vor vier Tagen außerplanmäßig auf der Insel abgestürzt.“ Susanna blickte von unten her in die kalten Augen der Blonden. „Alle anderen Crewmitglieder sind tot. Sie haben den Absturz nicht überlebt.“

Es schien ihr am Einfachsten Eastwick nicht zu erwähnen, selbst wenn er noch über diese Insel wanderte und ihr eine Heidenangst einjagte.

Ihr Gegenüber erwiderte nichts. Sie nickte nur ihren Kumpanen zu, woraufhin diese Susanna auf die Füße rissen und sie zusammen mit der Rothaarigen und den beiden Männern an den Händen mit harten Hanfseilen verschnürten. Susannas Schultern und Handgelenke schmerzten von der brutalen Behandlung und das dumpfe Pochen in den Schläfen setzte wieder ein.

Die Blonde stellte sich breitbeinig vor ihnen auf. Die Waffe hatte sie immernoch im Anschlag.

„Egal, wo sich der Rest von euch versteckt, ihr habt unsere Warnungen ignoriert und werdet die Konsequenzen zu spüren bekommen. Wenn auch nur einer von euch versucht zu fliehen, werden alle dran glauben müssen. Das gilt auch für eure neue Freundin hier. Also macht keinen Ärger und kommt mit.“, erklärte sie.

Dann senkte sie ihr Gewehr, wandte sich um und verschwand hinter einem großblättrigen Farn.

Susanna spürte eine flache Hand in ihrem Rücken, die sie nach vorne stieß und folgte widerwillig der unfreundlichen Einladung.

Neben ihr flüsterte der bärtige Mann der Rothaarigen etwas ins Ohr:

„Es wird alles gut werden, Charlotte.“

Charlotte sah ihn lange ungläubig an, dann plötzlich überflog ihre Lippen der leise Hauch eines vertrauensvollen Lächelns.

16

„Herzlichen Glückwunsch zu deinem 16.Geburtstag Suzanna!“

Caroline Steathham kam lächelnd aus der Küche geeilt und umarmte ihre verdatterte Adoptivtochter so fest, dass diese nach Luft schnappte.

„Ist schon gut Mom. Danke!“ Suzanna kämpfte sich noch ein wenig benommen los. Sie war gerade erst vor zehn Minuten aufgestanden und im Pyjama die Treppe hinunter gekommen, um zu frühstücken, bevor sie sich langsam fertig machen würde. Dass heute der 14.Juli und damit ihr Geburtstag war, hatte sie dabei völlig vergessen.

„Ohje, du siehst ja noch völlig müde aus! Heute ist doch Samstag, du hättest ausschlafen können, mein Kind.“

Caroline tätschelte ihr spielerisch die Wange. Suzanna lies es in ihrem morgendlichen Tran über sich ergehen. Normalerweise hätte sie wieder eine sinnlose Diskussion begonnen, die insofern sinnlos war, weil ihre Ziehmutter einfach nicht verstand, dass man einen Jugendlichen nicht u jeden Preis wieder in die Rolle des Kleinkindes zurückdrängen sollte, weil dies zu starken Schäden in der weiteren menschlichen Entw—

Suzanna gab sich in Gedanken eine Ohrfeige. Sie hatte in ihrem Leben soviel Zeit mit Jerry verbracht, dass sie selbst schon so analytisch dachte wie er.

Jerry war ihr Psychologe, ihr Therapeut. Sie hatte ihn dass erste Mal besucht, als man sie nach dem Tod ihrer Mutter aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Er war in ihren Augen von Anfang an, ein sehr aufgeschlossener und vertrauenswürdiger Mensch gewesen. Entgegen seinen Bedenken, es würde ein großes Hindernis bedeuten, wenn sie von einem Mann behandelt werden würde, stellte sich schnell heraus, dass er mit seiner lockeren und teilweise kindlichen Art leicht Zugang zu Suzannas angeknackster Psyche fand. Das Mädchen öffnete sich schnell seinen Methoden, redete sich die Seele rein und verarbeitete mit seiner Hilfe Stück für Stück, was es früher oder später gesellschaftsunfähig gemacht hätte, hätte sie die Last noch weiter allein tragen müssen.

Am Anfang sahen sie sich beinahe täglich zur Behandlung. Bald wurde aus der reinen Prozedur ein freundschaftliches Verhältnis. Die Sympathie Jerrys für seine kleine Patientin führte sogar soweit, dass er es in Erwägung zog, sich ihrer vollständig anzunehmen und sie zu adoptieren. Da er aber als Mittdreißiger verheiratet war und selbst schon zwei Töchter hatte, scheiterten seine spontanen Pläne am Gespräch mit seiner Frau. Suzanna war über alle Maßen enttäuscht und traurig gewesen. Mit aller Kraft, die ein bockiges Kind aufbringen konnte, hatte sie ihn ignoriert und ihn seinen Fehler spüren lassen. Aber sie blieb immer noch seine Patientin und seine kleinste Freundin.

Selbst jetzt, Jahre nachdem sie endlich adoptiert worden war und nachdem jede weitere Sitzung unnötig geworden war, trafen sie sich einmal im Monat zu einer Tasse Tee oder Kakao in seiner Praxis und sprachen über Dinge, die sie bewegten, über Probleme die sie beschäftigten. Suzanna konnte mit ihm leichter darüber reden, als mit ihrer Adoptivmutter. Was ihr von Zeit zu Zeit einen Stich versetzte, war dass Caroline sehr darunter litt, dass ihre Tochter nicht bei ihr nach Hilfe suchte. Suzanna hatte sich schon oft vorgenommen das zu ändern, aber immer wieder hatten sie ihr jugendlicher Wunsch nach Selbstbestimmung und die Macht der Gewohnheit daran gehindert, das offensichtlich Richtige zu tun. Einer der Gründe, warum sie sich selbst hasste.

„So, jetzt setz dich erstmal!“ Caroline schwirrte um sie herum, wie eine Wespe um ein Stück Obstkuchen. „Ich will doch wissen, wie dir dein Geschenk gefällt.“

Suzanna setzte sich an den runden Esstisch. Sie konnte die Ringe unter ihren Augen deutlich spüren, als sie gähnte und sich die glatten dunkelbraunen Haare hinters Ohr strich. Auf der Tischplatte stand ein ziemlich großer Pappkarton. Kein Geschenkpapier, nur eine immense, giftgrüne Seidenschleife.

„Ähm, kann ich es nachher auspacken? Ich würde lieber erstmal etwas essen.“

„Nein, Schatz, dieses Packet solltest du lieber gleich öffnen.“ Caroline zwinkerte übertrieben und streichelte Suzanna mit fester Hand über die Schulter und den Nacken.

„Aber! Uh …“ Suzanna stöhnte resignierend und zog den Karton zu sich heran. Er war schwerer, als sie erwartet hatte und irgendetwas rollte darin lose herum. Es rollte immer noch, als das Geschenk ruhig vor ihr stand. Suzannas Neugier war geweckt.

Caroline, die dies bemerkt hatte, setzte sich mit einer Tasse Kaffee seitlich an den Tisch und lächelte, wie es nur eine Mutter kann, die sich ihrer Sache absolut sicher war.

Suzanna löste währenddessen etwas hastiger, als ihr jugendlicher Stolz es ihr empfahl, die Schleife und zog den giftgrünen Knoten auseinander. Mit vor freudiger Erregung zitternden Fingern klappte sie die Kartonflügel auseinander und griff nach kurzem Hinsehen hinein. Sie konnte sich ein beglücktes Quieken nicht verkneifen und dass ihre Augen funkelten wie zwei lupenrein geschliffene Saphire, konnte sie ebenfalls nicht verhindern.

Ihre Hand berührte weiches, weißes Fell. Noch weicher als Hunde- oder Katzenfell. Wie ungepresste, feine Watte. So leicht und seidig, dass sie es an manchen Stellen nicht mehr unter ihren Fingerspitzen spüren konnte.

Durch ihre Berührung lief ein kurzes Zucken unter dem Pelz entlang. Eine Reaktion aus Anspannung und Angst. Doch nach weiteren Strichen über die feinen Härchen entspannten sich die Muskeln und nahmen die liebevolle Geste der Zuneigung an.

Ein kleiner Kopf mit roten Knopfaugen ruckte zu ihr nach oben. Die pelzige Haut über dem kleinen Näschen bewegte sich unablässig vor und zurück und versuchte den neuen fremden Geruch der Umgebung schnellstmöglich in sich aufzusaugen. Die langen Ohren lagen flach an den Nacken gepresst und wurden von Suzannas warmer Hand gestreichelt.

„Ein Kaninchen! Wow, danke Mom!“ Suzanna bekam große Augen, als sie das verunsicherte Tier aus seiner dunklen Schachtel hob und an ihre Brust drückte.

„Es ist so niedlich! Und sein Fell ist so weich! Und es ist ein Albino!“

Suzanna hatte Mühe alle guten Eigenschaften, die das Tier besaß, aufzuzählen. Caroline erwiderte das Strahlen ihrer Tochter mit einem gütigen Lächeln.

„Ich habe schon beim Kauf gewusst, dass er dir gefallen wird. Ich dachte, vielleicht brauchst du ein wenig Gesellschaft über die Sommerferien, wenn deine Freunde im Urlaub sind. Und natürlich brauchst du auch im Winter jemanden, der dich warm hält, ich meine, wenn ich nicht da bin, um das selbst zu tun.“

„Ach Mom …“, äußerte sich Suzanna peinlich berührt. Die Emotionalität ihrer Ziehmutter war ihr manchmal sehr unangenehm, aber heute schaffte sie es darüber zu lächeln. Caroline hatte ihr gerade mit dem Kaninchen eine sehr große Freude gemacht. Die Dankbarkeit dafür hätte sie noch nicht einmal verstecken können, wenn sie es gewollt hätte.

Vorsichtig setzte Suzanna den weißen Widder auf die Tischplatte und beobachtete wie er seinen Kopf unsicher hob, die Ohren aufstellte und in alle Richtungen wandte. Sein Näschen zuckte weiterhin vor und zurück, als Suzanna ihm ihre offene Handfläche zum Beschnuppern hinhielt.

„Ich weiß schon wie ich ihn nennen werde. Ein weißes Kaninchen muss einfach so heißen.“

Caroline wärmte sich ihre alten Hände an ihrem Kaffeebecher und besah sich ihren neuen Mitbewohner aufmerksam.

„Er heißt Tic-Toc.“, beschloss Suzanna.

Caroline machte ein leises glucksendes Geräusch.

„Du benennst dein Kaninchen nach dem Geräusch einer tickenden Uhr? Ein Glück machen sich Tiere nicht viel aus ihrem Namen.“

Suzanna sah ein wenig verletzt aus. Sie hielt „Tic-Toc“ für eine geniale Idee.

„Ich finde ihn gut.“, sagte sie trotzig. Die Kritik hatte sie unsicher über ihre Entscheidung werden lassen und sie versuchte sie zu erklären. Wohl eher sich selbst, als ihrer Ziehmutter:

„Jedes Mal, wenn ich ein komplett weißes Kaninchen sehe, muss ich an „Alice im Wunderland“ denken, an das mit der Weste und der Taschenuhr, das ständig Angst hat, zu spät zu kommen. Das Kaninchen hat leider keinen Namen. Deshalb dachte ich, ich nehme das Geräusch der Uhr. Irgendwie charakteristisch, oder?“

Die Art wie Caroline ihre Stirn und ihre Mundwinkel in Falten legte, lies keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Erklärung nicht den Namen rechtfertigte.

„Na, immerhin hast du ihm nicht einen uneinfallsreichen menschlichen Namen gegeben. Ich hätte ihn gleich wieder zurück gebracht, wenn du ihn William, Jack oder John genannt hättest, meine Liebe“, sagte sie scherzhaft und glitt mit wehendem Strickmantel in die Küche.

„Was hast du an deinem Geburtstag denn noch alles vor?“, fragte sie, während sie Wasser in die Spüle laufen lies.

Suzanna legte ihr Kinn auf die Tischkante sodass sie mit ihrem neuen pelzigen Freund auf einer Augenhöhe war. Vor zwei Jahren hatte sie sich schon gegen Geburtstagsfeiern entschieden. Viel zu nervenaufreibend für sie und vor allem für ihre Mutter. Außerdem waren ihr die Ideen ausgegangen, was man an so einem besonderen Tag alles unternehmen konnte. Sie wollte nicht Teil des Konkurrenzkampfes werden, der bereits jetzt schon zwischen den weiblichen Teenagern tobte. Wer feierte die größte und teuerste Party? Wer hatte die meisten Gäste und somit auch offiziell die meisten Freunde? Wer bekam die teuersten Geschenke? Und so weiter …

Sie hatte schon genug Probleme in anderen Bereichen ihres Lebens. In der Schule war sie zwar glänzend und Klassenbeste, wenn nicht sogar Jahrgangsbeste, aber in Sachen Liebe oder zumindest Flirts, konnte sie keine Erfolge verbuchen.

Sie war nicht hässlich, das wusste sie. Sie war für ein Mädchen ihres Alters normal groß, eher schlank gebaut, hatte dunkelbraunes, mittellanges Haar und tanzte mit ihrer Kleiderwahl – wenn auch nicht in der ersten – zumindest auch nicht aus der Reihe. Ihr Problem bestand nur darin, dass sie das Interesse aller Jungs im Keim erstickte. Immer wieder rechtfertigte sie sich vor ihren Freundinnen – und auch vor sich selbst - für die zahlreichen Körbe die sie verteilte:

Der eine war zu jung, der andere zu dämlich. Beim nächsten störten sie seine Manieren, ein anderer war ihr zu hochnäsig, zu dick, zu dünn, zu schüchtern, zu stürmisch, zu unscheinbar, zu unreif. Die Liste lies sich noch endlos fortsetzen. Zum Glück hatte Suzanna noch nicht die tiefste Stelle des hormonellen Beckens erreicht, wie es bei ihren Freundinnen der Fall war, und konnte mit Recht behaupten, ihr sei es gleichgültig, ob sie nun mit Freund oder ohne durch Canterburys Altstadt schlenderte.

Allerdings hatte Ashley, eine ihrer Freundinnen, die sie noch nicht enttäuscht hatten, eine Art heilige Mission daraus gemacht, Suzanna an den Mann zu bringen. Zum Nachteil einer beträchtlichen Zahl armer, jungenloser Mädchen keine Seltenheit in Mädchencliquen. So war Suzanna dazu gezwungen häufige und lange Pirschgänge durch die örtlichen, angesagten Clubs zu unternehmen, was immer gleich und wenig erfolgreich endete: Und zwar mit einer besoffenen besten Freundin und dem Wissen, dass es einfach keine Jungs in Canterbury gab, die auch nur versuchten, Intelligenz vorzutäuschen – was in dem Fall ein Zeichen von Intelligenz gewesen wäre.

Und genau solch ein Pirschgang stand ihr heute noch bevor. Wegen ihrem Geburtstag zum Glück nicht auf eigene Kosten.

„Ashley, ich und ein paar andere Mädchen aus meiner Klasse gehen heute Abend noch ein wenig in die Innenstadt. Könnte spät werden. Du weißt schon.“

Sie verzog ihre Mundwinkel zu einem wagen Gesichtsausdruck, der etwas in Richtung Bedauern ausdrücken sollte, aber eher wie Qual aussah, „Ashley halt …“

Ihre Ziehmutter kannte die quirlige Klassenkameradin gut. Ashley hatte schon mehrmals bei ihnen übernachtet und während jedem ihrer Aufenthalte irgendeinen Einrichtungsgegenstand, sei es der Glastisch in der Wohnstube – dem nun eine Ecke fehlte – oder die blau gepunktete Kakaotasse – die schon längst zwischen den Scherben Millionen anderer unglücklicher Geschirrteile mit der ganzen Sehnsucht einer Tasse darauf wartete, Teil eines neuen Ganzen zu werden – die Würde genommen. Es war seltsam, dass sie immer noch beleidigt reagieren konnte, obwohl sie und der ganze Rest der Welt doch genau wussten, dass sie Gottes ganzer Stolz war, wenn es darum ging unter seinen Kreationen die beste Grobmotorikerin auszuwählen.

Egal wie umsichtig Ashley war, irgendeine unsichtbare Kraft an ihr sorgte dafür, dass jeder Haushalt, den sie betrat, danach nicht mehr vollständig war.

An dem „Aha“ ihrer Ziehmutter konnte Suzanna erkennen, dass sich in ihr gerade die Bilder wieder auffrischten. Sie lachte leise auf und bis sich dann angestrengt auf die Unterlippe.

Man wusste ja nie, ob man schon darüber lachen durfte.

Caroline war – seitdem sie Suzanna kannte – immer ein sehr fröhlicher, ausgeglichener Mensch gewesen. Offenherzig, tolerant und beherrscht. Momente, in denen sie die Fassung verlor, waren äußerst selten gesät. Wenn Ashley wieder einmal zu Besuch war, zum Beispiel.

„Stark ist, wer sich selbst nicht zum Feind hat.“ - Lautete die Weisheit, die Caroline jedem ins tiefere Gedächtnis pflanzte, den sie traf und Suzanna bereits so sehr verinnerlicht hatte, dass diese glaubte, es wäre der erste Satz gewesen, den sie nach ihrer Geburt gehört hatte.

Und sie bekam ihn immer noch zu vielen Gelegenheiten zu hören:

Wenn sie sich mit einer Freundin gestritten hatte, wenn sie schlechte Noten bekommen hatte, wenn sie sich zu dick fand, zu dumm oder zu unbeliebt. Wenn sich die Jungs seltsam über sie unterhielten, wenn ein Lehrer sie auf dem Gewissen hatte, wenn ihr an manchen Tagen einfach nichts gelingen wollte.

Sie selbst eingeschlossen – so hatte Suzanna feststellen müssen – gab es erschreckend viele schwache Menschen. Teenager waren ausschließlich damit beschäftigt, sich selbst zu hassen und ihr eigener Feind zu sein. Es hatte in vielerlei Hinsicht etwas Beruhigendes, nicht die Einzige zu sein, die sich selbst als Nemesis ansah. So konnte man sich ohne schlechtes Gewissen weiter nicht mögen und ein Kollektiv bilden, das aus gemeinsamem Selbstzweifel einen starken Zusammenhalt bildete.

Die Mädchen teilten ihre Sorgen und Depressionen, fanden Verständnis und Bestätigung und dachten nicht im Traum daran, aus ihrer dramatisiert depressiven Grundstimmung heraus zu kommen.

Auf Grund all dessen wusste Caroline Steathham, dass es noch Jahre brauchen würde, bis ihre Ziehtochter die Bedeutung hinter den klugen Worten erkennen würde.
 

Bis zum Mittagessen – es gab gebratenen Fisch mit Reis und einer wunderbaren Senfsoße – beschäftigte sich Suzanna intensiv mit Tic-Toc. Sie richtete seinen Käfig ein, den ihre Mutter ihr nach oben brachte und beobachtete, während sie im Pyjama auf dem dunkelblauen Teppichboden ihres Zimmers versuchte „Hamlet“ für die Schule zu lesen, wie das weiße Kaninchen seine neue Unterkunft erkundete.

Jetzt roch es in ihrem Zimmer nach Heu und Holzspänen. Caroline hatte das Fenster sofort geöffnet, aber Suzanna hatte den Vorgang wieder rückgängig gemacht, als sie allein war. Sie wollte den neuen Duft genießen, ihn überall haben. Sie fand ihn interessant und beruhigend.

Holzgeruch war ihr immer einer der liebsten natürlichen Düfte gewesen, neben dem von frisch gemähten Gras und dem unverkennbaren Odeur eines regnerischen Morgens, wenn das Wasser die Erde aufweichte und in kleinen Wasserfällen von den Dächern stürzte.

Egal zu welcher Jahreszeit, in England kam und ging der Regen, als wäre er an nichts gebunden. An heißen Sommertagen lag er wie eine freundliche Verheißung, an stürmischen Herbstnachmittagen wie eine dunkle Drohung in der Luft. Auch der Duft änderte sich, unabhängig davon, ob ein leichter Schauer – fast wie ein Nebel – niederging oder es Bindfäden regnete.

Suzanna glaubte, es lag an den Pflanzen, deren ganz eigene Note im frischen Ozongeruch mitschwang. Im Frühling Osterglocken, Krokusse und die ersten Kirschblüten, im Sommer Sonnenblumen, Buschwindrösschen und ganz eindeutig die Herbe der Rapsfelder.

Im Herbst konnte man, wenn man sich konzentrierte, Äpfel herausschnuppern, im Winter wehte einem bei Regen nicht mehr um die Nase, als der feuchte Geruch von Beton und Mauerwerk.

Suzanna fühlte viel über diesen ihrer Sinne. Er löste in ihr Emotionen aus, wie es meist nur schöne Musik konnte. Ihre Nase schien einen direkten Draht zu ihrer Seele zu haben. Sie konnte die Schönheit eines Geruchs überall im Körper spüren.

Nur leider verloren Dinge, die man oft roch, nach und nach ihre Sinnlichkeit. Ein markanter, betörender Duft wurde – je länger er in der Nase lag – umso gewöhnlicher.

Vielleicht war es eine absurde Eigenart und ein bisschen naive Kinderlogik, wegen der sich Suzanna zwang, besondere Gerüche nur eine bestimmte Zeit lang zu inhalieren und dann ihre Nase zu „neutralisieren“. Sie hatte einmal gehört, dass es so auch die Parfümdesigner machten, damit sich Einzelgerüche nicht festsetzten und die Wahrnehmung verfälschten.
 

Als sie nach guten fünfzehn Seiten und fast drei Stunden „Hamlet“ satt hatte, öffnete sie das Fenster wieder und ging hinunter zum Mittagstisch. Der Fisch und spätestens der Reis taten ihre Wirkung und Suzanna begann nur mit bedachten, sehr langsamen Bewegungen auf ihrem Zimmer mit den Ausflugsvorbereitungen.

Ihr Reich lag im zweiten Stock des Hauses, schräg gegenüber der Treppe, neben einem Bad und dem Schlafzimmer ihrer Ziehmutter. Es war 18 m² groß, hatte zwei viergeteilte Fenster an der Wand gegenüber der Tür, die zum Garten hinaus zeigten, und war Platz sparend eingerichtet.

Wenn man hinein kam, befand sich gleich gegenüber unter den Fenstern das Bett, links am Kopfende ein Tischchen und an der linken Wand ein Bücherregal. Am rechten Zimmerende standen ein heller Eichen-/ Sperrholzschrank und ein Eckschreibtisch, dessen Farbe meist nicht zu erkennen war, da er mit aufgeschlagenen Büchern und Zeitschriften zugepflastert war. Jeden Tag kam eine neue Schicht hinzu und formte Suzannas Arbeitsplatz zu einem perfekten alpinischen Faltengebirge. Wenn sie die kleine Tischlampe darüber anschaltete, warfen die Gebirgsgipfel – zurzeit ein Schulbuch über Stochastik und drei Ballen zusammengeknülltes Karopapier – monumentale Schatten über bunte Büroklammerseen und Wiesen aus Radiergummiflocken.

Unten auf dem Boden, gleich rechts neben der Tür, hatte nun der Kaninchenkäfig seinen Platz gefunden. Tic-Toc hatte sich nach all der Anstrengung doch entschieden seine Ohren und Augen innerhalb der kleinen Holzhütte auszuruhen, die Teil seiner neuen Behausung war. Seine Nase zuckte dennoch unablässig vor und zurück.

Die Sonne fiel zu jeder Tageszeit nur als Streiflicht in das Zimmer und warf durch die Apfelbäume im Garten, Schatten von Blättern und Ästen an die moosgrünen Wände und die hellen Möbel. Selbst bei geschlossenem Fenster konnte sie das Rascheln und Rieseln, das Kratzen und Flüstern in den vollen Baumkronen hören. Sie schlief damit ein und wachte damit auf. Und wie das Ticken einer Uhr, nahm sie es nicht mehr bewusst wahr.

Doch sie war sich sicher: Wenn die Bäume verschwinden würden, würde sie kein Auge mehr zutun können, so sehr hatte sie den einzigartigen Takt der Natur in sich aufgenommen.

Suzanna war mit Caroline nie umgezogen und mit großer Wahrscheinlichkeit würde es auch nie dazu kommen, dass sie Canterbury gemeinsam verlassen würden. Ihre Ziehmutter war alt, fast Sechsundsechzig, und hing sehr an dem historischen Städtchen mit seiner einprägsamen Altstadt, der Kathedrale und den kleinen Gasen und Eckläden.

Sie hatte den Großteil ihres Lebens hier verbracht, war reich und beliebt geworden und ebenfalls wieder arm und einsam. Alles in Carolines Leben war mit Canterbury verbunden – oder besser – mit ihrem Mann Walter, den sie hier kennen gelernt hatte.

Als sie Dreiundzwanzig war – in der Zeit knapp vor dem zweiten Weltkrieg - arbeitete sie in einer kleinen Herberge in der Innenstadt. Ein weitläufiger Geheimtipp, besonders unter den einheimischen Urlaubern, die die Geschichtsstadt oft im Frühjahr oder Herbst besuchten, wo sich die Anzahl der fremdländischen Touristen noch in Grenzen hielt.

Uriges Mittelalterflaire mit einem unglaublichen Gespür für die gewisse noble und royale Note, die die Engländer so schätzten. Die Unterkunft nannte sich „The Wells’ Botton“ – „Brunnengrund“ - und lag in eine Ecke gedrängt zwischen einem antiquierten Buchladen und einem Fahrradverkäufer, im Schatten einer üppigen Linde.

Keines der Gästezimmer hatte einen Balkon oder mehr als zwei kleine, schüchtern eingesetzte Fenster. Keines mehr als ein Bett, einen Schrank, einen Tisch und zwei Stühle und dennoch zog es Menschen geradezu magisch an.

Die eigentliche Besonderheit, die kundige Reisende aus allen Teilen des Landes dazu bewog, mindestens eine Nacht in diesem Etablissement mit seiner, mit dunklen Kirschholzbalken verzierten, weißen Fachwerkhausfassade, zu verbringen, war sein Keller.

Der Raum war ein Wunder in vielerlei Hinsicht. Von - für einen Gasthauskeller - geringer Größe und spartanischer Einrichtung, verbargen sich unter seinen schiefen Holzbalken und der grauen Staubschicht, die wie ein dünnes Leichentuch über den Weinflaschen und Bierfässern lag, zwei unermessliche Schätze:

Glaube und Erfüllung. So komisch das auch klang, das war es, was die meisten Leute, die dort hinab stiegen zu finden erhofften. Und sie fanden es am Grund des Brunnens, dem die Herberge ihren Namen verdankte. Unten im diesigen Ambiente des Untergeschossraumes des „Wells’ Button“, hinter einer grob gezimmerten, aber liebevoll beschrifteten und bemalten Balustrade, führte ein tiefes, schwarz-grünes Loch im Boden gut zehn Meter nach unten.

Davor präsentierte sich in bronzenem Guss eine Informationstafel, deren englische Aufschrift wie folgt lautete:
 

“What Is A Living Body Without Happy Thoughts?

Worthless.
 

What Are A Woman And A Man Without Love?

Strangers.
 

What Is A Story Without Listeners?

Nothing.
 

What Is A Wish Without Faith?

A Dream.
 


 

So Throw A Penny Into This Well And See Where It Gets You.

And Do Not Forget: Faith Is The Key To Open All Doors, Even Those Which Are Not Found Yet.”
 

Natürlich hatte dieser Brunnen, wie jeder andere Wunschbrunnen im schönen Großbritannien, ebenfalls eine mittelalterliche Legende, in der die Wurzeln seiner magischen Kräfte verborgen lagen. Diese stand auf einer zusätzlich angebrachten und weitaus weniger schmuckvollen Plastiktafel unter dem Guss.
 

Die Legende handelte von einem jungen namenlosen Knappen, der einem örtlichen Ritterorden Zeit seiner Jugend treu untergeben war. Jede Aufgabe, jedes Wagnis führte er mit Bravur aus sodass ihm seine Herren, die obersten Ritter des Ordens, große Chancen zusprachen, selbst eines Tages zum Ritter geschlagen zu werden.

Grundsätzlich bedurfte dies einer weit reichenden Ausbildung in den Künsten Schwertkampf, Ringen, Reiten, Bogenschießen und Etiquette, denn niemand wird Ritter ohne die Aufmerksamkeit und die gönnerhafte Hand eines Adligen mit Verbindungen zum Königshof. Der Junge war kein Taugenichts. Er lernte überaus schnell, war nie leichtsinnig und äußerst redegewandt. Seine Mentoren beobachteten nicht ohne Stolz seine Fortschritte und hielten ihre schützende Hand nur äußerst selten über sein Haupt.

So wurde aus dem halben Kind, ein ganzer Mann und es kam die Zeit, dass man ihn den Grafen von Canterbury persönlich vorstellte. Ein mächtiger und weiser Mann und ein Cousin des damaligen Königs. Perfekt, um den Ordensschüler in seiner Laufbahn zu unterstützen.

Natürlich lies sich dieser gescheite Mann nicht vom Erscheinen des Jünglings und seiner Redekunst allein blenden. Er wollte einen Beweis für seine Loyalität und schickte den Schüler aus, um den reichen Sohn eines anderen Grafen aus London hierher nach Canterbury zu geleiten, wo dieser dann die Tochter des Grafen zu Canterbury ehelichen sollte.

Der junge Mann widmete sich dieser Aufgabe, als hätte es in seinem Leben nie etwas Wichtigeres gegeben und brachte den zukünftigen Schwiegersohn in die Stadt.

Die Hochzeit sollte noch in derselben Woche stattfinden und der Knappe wurde mit der Hilfe des zufriedenen Grafen zum Ritter des Ordens ernannt.

Am Tag der Hochzeit war auch er zugegen. Mit stolzer Brust wohnte er im Kreise seiner Ordensbrüder der Feier bei und – verlor sein Herz!

Denn als er die Grafentochter das erste Mal sah, wie sie nun im Brautschmuck und mit zurechtgemachtem Haar zum Altar schritt, um verheiratet zu werden, so sah er einen Engel spürte, wie alles zuvor in seinem Leben verblasste, bei ihrem Anblick.

Doch seine Liebe kam zu spät. Sein Blick war zu falscher Zeit auf sie gefallen und er verfluchte sich und sein Schicksal, dass er den Mann zu ihr gebracht hatte, den sie jetzt heiraten würde.

Wochen brachte er damit zu, zu vergessen, was seine Augen und sein Herz gesehen hatten und scheiterte. Aus Trauer und Schmerz, wurden Verzweiflung und Hass. Er scheiterte an den einfachsten Arbeiten, an den leichtesten Aufträgen und mied bald auch die Gesellschaft seiner Mitbrüder. In seiner Einsamkeit verstärkte sich sein Wahnsinn nur und er beschloss den Gatten der Grafentochter aufzusuchen und ihn zu töten. So hoffte er, müsse sie sich, um die Ehre ihres Vaters zu wahren, einen neuen Mann erwählen und da er Ritter war, wäre auch er ein Kandidat.

Ohne den geringsten Fehler und ohne ein Anzeichen von Reue erschlug er den Ehemann beim nächtlichen Spaziergang in den gräflichen Gärten und hinterließ keine Spuren.

Nach der Trauerfeier drängte es den Grafen, einen neuen Mann für seine Tochter zu finden, denn er wusste, er war alt und brauchte einen männlichen Nachfolger. Hunderte von Bewerbern lies er antreten und nahm sie in Augenschein. Darunter auch der junge Ritter.

Doch zu ihm sagte der alte Graf nur:

„Dein Besitz ist verschwindend klein, mein Junge und die Beziehungen, die du hast, hast du nur durch mich. Ich schätze dich als guten Untertan und beispiellosen Kämpfer, aber als einen Schwiegersohn kann ich dich nicht akzeptieren.“

Die Worte trafen den Ritter wie ein scharfes Schwert und schnitten ihm durch Seele und Herz. Er wusste, solange der alte Herr noch lebte, würde nur ein wahrer Adliger seine Tochter ehelichen können. So fasste er auch den gräulichen Entschluss und mordete seinen alten Schirmherrn und Gönner mit einer giftigen Tinktur im Schlaf, noch bevor dessen Auswahl auf einen neuen Freier gefallen war.

Nach der Beisetzung und den Festlichkeiten war es nun an der Tochter selbst, die als Gräfin nur im Übergang regierte, einen Gemahl zu finden. Der junge Ordensmann begann alsbald ihr den Hof zu machen, ihr Briefe und Geschenke zu senden und Liebesbekundungen vorzutragen.

Doch das Schicksal wollte ihm nicht geben, nach was ihm so verlangte, denn die Gräfin antwortete nach langem Ringen nur mit einem einzigen Brief, mit einer einsamen Zeile auf feinem Papier in noch feinerer Schrift:

„Ich schätze dich als Untertan und beispiellosen Kämpfer, Ritter, aber als Ehemann kann ich dich nicht lieben.“

Seine Welt ging unter, in jener Nacht, in der ihn dieser Brief erreichte. Doch nun da es eigentlich an der Zeit war, seine Untaten zu bereuen und bei Gott um Vergebung zu flehen für sein wildes Herz, fasste er einen noch schlimmeren Entschluss:

Er suchte eine Hexe auf. Nicht weit von Canterbury entfernt, in den dichten Wäldern von .???, trieb ein bekanntes Teufelsweib sein Unwesen. Jeder wusste davon, doch niemand hatte den Mut gehabt, sich ihr mit Waffengewalt zu stellen.

„Hexe!“, rief er und warf sich vor dem Weib in den Staub, „Ich bitte dich, benutze deine Kraft und befiel der Gräfin mich zu lieben. Ich kann nicht ohne sie!“

Die Hexe sah ihn lange an und sprach dann mit wissendem Kichern:

„Nun gut, mein Ritter. Aber wenn ich dir gebe, was du begehrst, dann musst auch du mir geben, was ich begehre.“

„Alles!!!“, schrie der junge Ritter und kniete noch tiefer.

Die Teufelsanbeterin beugte sich zu ihm und flüsterte:

„Wenn du und dein Weib zehn Jahre lang glücklich wart, dann musst du ihr das Leben nehmen und mir ihre Seele bringen, ansonsten wirst auch du deine Seele verwirken.“

Der Ritter, überzeugt, der Hexe später durch einen Trick doch noch entrinnen zu können, willigte ein und der Zauber zeigte Wirkung.

Bereits im folgenden Monat wurde er mit der Gräfin vermählt. Sie lebten glücklich und er vergaß, dass ein Zauber ihre Liebe erzwang. Sie schenkte ihm zwei Töchter und einen Sohn und war ihm immer eine gute Frau. Er war ein weiser und gerechter Graf, nun da er hatte, was er immer gewollt hatte. Sein Herz hatte Frieden und er hatte den hohen Preis vergessen, den er bald würde zahlen müssen.

Nach zehn Jahren Ehe kam der Tag, an dem der ehemalige Ritter sein Versprechen der Hexe gegenüber einlösen sollte und er erdachte sich den Trick, das Leben einer anderen Frau zu nehmen, eines Dienstmädchens. Sie war der Gräfin nicht unähnlich und schien ihm gut geeignet, um das Leben seiner Frau zu schützen.

Ohne weiter zu überlegen erschlug er sie und brachte ihren Leichnam zur Hexe, damit sie sich die Seele her vor holen konnte, bevor diese zum Himmel fuhr.

Natürlich durchschaute die Hexe das falsche Spiel und wurde sehr zornig. Aus ihren Händen schlugen Blitze und ihre Augen glühten wie das Höllenfeuer, als sie schrie:

„Ein Lügner bist du! All die vielen Menschen konntest du töten, ohne einen Stich im Herzen! Nur eine Frau, die dich nicht wirklich liebt, kannst du nicht erschlagen? Du wirst das gebrochene Versprechen büßen und dein Leben lang dafür bezahlen!“

Mit einem lauten Knall verschwand die Hexe und mit ihr auch der Zauber, den sie auf die Gräfin gelegt hatte.

Als der Graf nach Hause zurück kehrte, wurde er sofort verjagt, da der Eheschwur unter Hexenzauber nicht anerkannt wurde.

Es war Winter und das Wetter eisig. Frierend verbrachte er die Tage bettelnd in den engen Gassen und die Nächte unter den Brücken der Stadt. Dort suchten ihn immer wieder fürchterliche Alpträume in seinem unruhigen Schlaf heim. Die Schuldgefühle über seine Taten waren erwacht und quälten den Mörder zu jeder Tageszeit.

Kein Priester wollte ihm die Tat vergeben, kein Gebet wollte ihm Linderung verschaffen. Nach einigen Wochen war aus dem Grafen ein Mensch geworden, der keine Freude mehr im Leben zu finden vermochte und der die Last der eigenen Schuld nicht mehr tragen konnte.

So beschloss er zu einer kleinen Schlucht unweit der Stadt zu gehen und sich in der Quelle, die dort unten entsprang, zu ertränken.

Es war eine sternenklare Nacht und das Wasser war kalt, als er sprang.

Sein Körper war noch vor seinem Geist tot. Und so geschah es, dass der Graf Angst bekam. Fürchterliche Angst vor der Hölle und den Qualen, die er dort für seine Todsünden erleiden musste, und sein Geist begann sich plötzlich an das Diesseits zu klammern. An das Wasser, welches den toten Körper umgab, an die Kieselsteine, an die Quellblüten. Die Angst vor der Hölle war so groß, dass die unsterbliche Seele des Mannes in die Quelle überging und sich dort in das Gestein grub.

Doch sie wusste, irgendwann würde das göttliche Gericht auch über sie richten und dann wäre die Strafe noch um Vieles größer. Da fasste das Unsterbliche einen Entschluss:

Jedem Menschen, der an der Quelle einen Wunsch aussprechen würde, sollte dieser Wunsch erfüllt werden, durch den Geist des verstorbenen Grafen. Niemand sollte mehr eine solch große Sünde begehen wie der Ritter, um etwas zu bekommen, was er sich von Herzen wünschte.

So tut der Ritter heute noch Buße und erfüllt am Quell die Wünsche der Menschen, in der Hoffnung auf Gottes Gnade, wenn die Zeit gekommen ist.
 

Der Brunnen unter dem „Wells’ Button“ ist, der Überlieferung nach, der einzige oberirdische Zugang zu dieser verwunschenen Quelle. Einige Geschichten berichten ebenfalls von einem versteckten Kellerloch in den Gewölben unter der „Canterbury Cathedral“, zu dem nur die Priester und Bischöfe Zugang haben. Der allgemeine Volksmund bezweifelt aber das Interesse, das die christlichen Würdenträger an so einer heidnischen Angelegenheit hätten.

„Es ist eine wahre Geschichte. Keine, die mit Gott oder Jesus zu tun hat, aber trotzdem eine wahre Geschichte.“

Suzanna erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem ihr Caroline das erste Mal von dem Brunnen erzählte. Sie schälte gerade Kartoffeln, als sie davon sprach.

Suzanna war gerade einmal elf Jahre alt und nicht geschickt genug im Umgang mit einem Messer, als dass ihre Ziehmutter ihre Hilfe abverlangt hätte. Lediglich ihre Anwesenheit und ihr offenes Ohr, um die Arbeit einfacher zu machen und genug Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen.

„Ich gebe dir Brief und Siegel darauf, dass das der Grund ist, warum unter der Kathedrale kein zweiter Brunnenschacht ist.“, hatte sie gesagt und sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn gewischt.

„Es gibt Dinge, die durchschaut man mit dem Glauben nicht, sondern man glaubt sie einfach. Und das ist es, was die Kirche nicht versteht. Obwohl sie sich doch selbst von dieser Art tiefsten Vertrauens nährt.“

Hätte jemand anderes außer der kleinen Suzanna, Caroline so reden gehört, wäre derjenige niemals zu überzeugen gewesen, dass sie eine fromme Katholikin war. Bis aufs Blut, bis in die Tiefen ihrer Seele stand sie loyal zu Gott und seinem Sohn, Jesus auf Erden.

Seid ihrer Geburt hatte man ihr die Lehren der katholischen Kirche vorgelebt, ihr Geschichten aus der Bibel vorgelesen und sie zum Gottesdienst mitgenommen. Die kleine Caroline musste Psalme auswendig aufsagen können und jeden Abend vor einem kleinen Altar auf dem Speicher für ihre Familie und ihre Freunde beten.

Dort, im Schein kleiner selbst gefertigter Wachskerzen, saß sie auch während der Nächte des zweiten Weltkrieges, die Hände stumm gefaltet, die Stirn an die hölzerne Altarplatte gepresst.

Draußen war es meist still. Canterbury blieb größtenteils verschont von Fliegerangriffen. Aber die Angst, das Blatt könnte sich wenden, hing spürbar in der Luft.

Carolines Vater und ihr älterer Bruder fielen im Krieg, als Mattrosen auf einem Bergungsschiff, welches bei der Suche nach alliierten Überlebenden deutscher

U-Bootangriffe selbst von einem Torpedo versenkt wurde.

Seitdem wohnten Caroline und ihre Mutter im alten Familienhaus. Caroline arbeitete härter als je zuvor als Kellnerin und Teilhaberin von „Wells’ Button“, bis ihre Mutter starb, danach arbeitete sie umso mehr, wurde Wirtin und Geschäftsführerin.

Selbst nachdem sie in Rente gegangen war, tauchte sie ab und zu in ihrem früheren Betrieb auf, um zu sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, mit alten Freunden zu unterhalten und den ein oder anderen Wein zu trinken. Wenn noch etwas Zeit war, ging sie immer hinunter zum Brunnenloch und starrte in die dunkle, feuchte Tiefe.

Suzanna nahm sie zweimal zu ihren Besuchen mit, stellte sie dem Personal vor, kaufte ihr eine Portion Pommes mit Ketchup und zeigte ihr natürlich den Brunnen.

„Der Brunnen hier ist älter als ich, älter als dieses Gebäude und älter als die Cathedrale.“, sagte sie.

Die kleine Suzanna machte ein paar unsichere Schritte die steinerne Kellertreppe hinunter und lies das schwarze Loch nicht aus den Augen. Im Untergeschoss war es angenehm kühl und die Luft war nicht so stickig und voller Zigarettenqualm wie oben im Schankraum, dennoch saßen hier selbst in den Sommermonaten keine Menschen, sondern nur bauchige Weinflaschen in Holzregalen. Das Essen und Trinken war im Keller verboten wurden, weil es sich ein paar Gäste zum Spaß gemacht hatten, Essensreste und anderen Müll den Schacht hinunter zu werfen.

Anstatt eines unansehnlichen Gitters auf dem Brunnen, nahm man lieber die Einschränkungen im Raum auf sich und verbannte Besucher der Gastwirtschaft ins obere Stockwerk.

Das kleine Mädchen Suzanna äugte staunend über den Rand des Wunschbrunnens und versuchte weiter unten Wasser zu erkennen. Aber da war nichts, keine Spiegelung, keine flüssige Bewegung, kein wässriges Glucksen. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen, während Caroline ihr die Geschichte auf der Tafel vorlas.

„ … und deswegen kann man hoffen, dass jeder Wunsch hier in Erfüllung geht.“, endete sie, „Möchtest du dir auch etwas wünschen, Sue?“

Das Kind wirbelte herum und sprang mit aufgeregt aufeinander klatschenden Händen in die Luft. Soviel ging ihm durch den Kopf. Ein weißes Pferd, eine dieser neuen Barbiepuppen, eine bunte Perlenkette …

„Aber es muss etwas ganz besonderes sein. Am besten etwas -“ Ihre Ziehmutter drückte ihr einen Penny in die kleine, vorgestreckte Hand und lächelte, „- was man nicht mit Geld kaufen kann! Und! Du darfst es nicht laut sagen!“

Suzanna zögerte, die kleine silbrige Münze in der Hand. Ihr kindlicher Verstand sagte ihr, dass alle Dinge, die sie sich gerade wünschen wollte, durchaus käuflich waren und suchte nun verzweifelt nach einem anderen Wunsch, nach einem besonderen.

In ihrem kleinen, blassen Gesicht lag Verwirrung.

„Keine Bange, mein Engel! Dir fällt schon was ein.“, sagte Caroline und schob sie sanft zum Schacht hin.

Es war still, als das Mädchen sich mit der Brust über den Rand beugte. Die kleine Hand schwebte über den Abgrund, die Augen waren geschlossen. Sie atmete kaum, so konzentriert war sie.

Ich wünsche mir … Ich wünsche, dass ich -, begann sie in Gedanken. Sie hatte Angst etwas falsch zu formulieren. Vielleicht verstand der Geist des Ritters sie dann nicht.

Ich wünsche mir, dass ich meinen Bruder wieder sehe! Bitte bring mir meinen Bruder wieder!

Suzanna öffnete die Faust und der Penny löste sich von ihrer Handfläche. Unsicher atmete sie aus und beugte sich noch weiter über den Rand, um dem metallenen Glitzern hinterher zu starren. Caroline hielt sie sanft an der Schulter fest.

Sekunden verstrichen wie Stunden. Wie goldener Honig, geräuschlos und zart, floss die Zeit dahin. Der Staub rieselte im Schein der nostalgischen Öllampen langsam von der Decke, die Schatten der Besucher, die durch die Deckendielen fielen, flogen über den Boden und die Wände hinauf. Dieser Moment, dieser Raum hatte etwas Magisches.

Caroline drückte ihre junge Ziehtochter an sich. Tief im Brunnen platschte es. Der Zauber war vorbei, der Wunsch gesprochen und gehört.

An diesem Tag glaubte die kleine Suzanna jede Minute daran, ihr kleiner Bruder würde plötzlich vor ihr stehen. Caroline bemerkte die Unruhe und sagte nur, sie müsse viel mehr Geduld haben. Der Geist brauche Zeit. Manchmal dauere es nur Stunden oder Tage, manchmal Jahre. Niemand konnte das genau sagen.

Unerschütterlich und fest, wie der Glaube ihrer Mutter, war auch Suzannas Glaube an die Macht dieses Ortes. Sie war ja noch ein Kind. Was blieb ihr anderes übrig, als dass sie glaubte.

Doch jetzt, an ihrem 16.Geburtstag, glaubte sie schon lange nicht mehr daran. Sie hoffte darauf, aber sie wusste auch, dass es wohl später an ihr liegen würde, ihn zu finden. Wenn sie erwachsen war. Wenn Caroline sie nicht mehr aufhalten konnte.
 

Sie riss sich vom hypnotisierenden Anblick der Apfelbäume los und öffnete ihren Kleiderschrank. Nach zehn Minuten lagen eine Jeans-Shorts, ein bunter Holzperlengürtel und ein zerschnittenes Top in Suzannas Lieblingsfarbe weinrot auf ihrem Bett. Einen Moment später gesellten sich ein dünnes Paar frischer Socken und eine silberne Halskette hinzu.

Danach lief sie ins Badezimmer, duschte, zog sich um und schminkte sich.

Ihr langes dunkelbraunes Haar, band sie zusammen und steckte es mit einer großen Plastikspange nach oben.

Jetzt, da sie zufrieden mit ihrem Aussehen war – so zufrieden wie es ein Teenager überhaupt werden konnte – fütterte sie Tic-Toc, packte die wichtigsten Sachen für den Abend zusammen in eine Handtasche und ging nach unten, um sich von ihrer Ziehmutter zu verabschieden.

Ashley und die anderen Mädchen wollten sich mit ihr um acht Uhr vor dem „Underdome“ treffen.
 

Suzanna überquerte im Stechschritt den sich füllenden Parkplatz vor der Jugenddiskothek, die Handtasche sicher unter den Arm geklemmt.

Ashley, Sarah Boyles, Jessica Oakbridge und Cindy Tyler aus der Parallelklasse warteten füßetippelnd vor dem Eingang.

„Alte, wo warst du?“ Ashley schloss sie fröstelnd in die Arme.

Der Sommerabend war kälter geworden, als jeder von ihnen gedacht hatte.

Ashley hatte einen Faltenrock und ein bauchfreies Shirt an, Sarah zitterte in Dreiviertelhosen und Tangtop, und Cindy krallte ihre langen Fingernägel in die Pailletten ihres funkelnden Cocktailkleidchens. Nur Jessica hatte eine Röhrenjeans und eine Lederjacke an. Sie war älter als die Anderen, ironischerweise auch vernünftiger.

„Können wir jetzt reingehen, Leute?“, quiekte Cindy, die sich vor Zittern zu hart auf die eigenen Zehen getreten hatte und schon ein wenig angepisst vom Abend war.

Jessica ging mit einem Seufzen als Erste zum Türsteher und wurde mit einem steinernen Nicken eingelassen. Der Rest der Mädchengruppe folgte ihr. Cindy verlor einen Schuh und fluchte.

Das Underdome war eine der angesagtesten Diskotheken dieses Jahr. Was vor allem daran lag, dass die Betreiber das verstaubte Altprogramm, gegen ein frisches Konzept ausgetauscht hatten. Das hieß: Themenabende, wie „Ladies Night“, „Duple Beer“, „Couple Dance“, „Techno Love“ und „Black Light Event“.

Die Jugendlichen hatten Spaß daran, sich nach einmal bezahlen, besinnungslos zu trinken, sich im Schwarzlicht mit weißer Farbe anzumalen oder eine Nacht lang Independent Bands zu hören, anstatt die Charts.

Heute bewegten sich die jungen Massen in der alten Industriehalle zu einer Mischung aus Industrial und Techno.

Die Mädchengruppe fand sich also in einem Meer vorwiegend schwarz gekleideter Tänzer wieder, die es fertig brachten, sich selbst zu dieser Musik noch angemessen zu bewegen.

Sarah lies die Schultern hängen und starrte Ashley an.

„Davon hast du nichts gesagt!“, brüllte sie durch den Dunst hindurch, „Ich hätte mir etwas Anderes anziehen sollen!“

Ashley zuckte mit den Schultern. Auch Jessica sah wenig begeistert aus und verzog sich sofort stumm zur Bar, um Guinness zu bestellen. Cindy war bereits auf der Tanzfläche untergegangen und glitzerte irgendwo glücklich zwischen einer Jungsgruppe.

Als dann auch noch Sarah beleidigt zur Theke abzog, standen Ashley und Suzanna alleine neben dem Halleneingang und blickten einander an, dann lachten sie.

Wenn es etwas gab, was sie beide in diesem Moment genau wussten, dann war es, dass sie spätestens in einer halben Stunde wieder alle gemeinsam auf dem Parkett standen und im Kreis tanzten, während Sarah neben ihnen angetrunken auf einer Box stand und ein wildes Headbanging vollführte. Egal zu welcher Musikrichtung.

Bis zu diesem historischen Moment mussten sie sich aber erst einmal alleine beschäftigen. Cindy war unwiederbringlich in der Masse verschwunden und Jessica nippte an ihrem ersten Bier.

Ashley begann mit geübten, koordinierten Bewegungen.

Suzanna nahm den Beat in sich auf, genoss den Bass in ihrem Bauch und schloss die Augen, während sie ihre Beine und Arme rhythmisch umherschwirren ließ.

„Und, Darling? Was hat dir deine Mutter geschenkt?“

Ashley begann sie anzutanzen, um in Hörreichweite zu bleiben.

„Sie hat mir einen Hasen geschenkt.“

„Einen WAS?“

„Ein Kaninchen!“ Suzanna hob beide Hände neben den Kopf und versuchte die Ohren eines Kaninchens zu imitieren, wobei sie ebenfalls die obere Zahnreihe nach vorne schob.

„Echt jetzt? Cool!“, rief Ashley verdutzt, „Hätte ich nicht gedacht. Ich mein, meine Mutter … MEINE Mutter würde mir kein Tier schenken. Noch nicht mal eins, das nicht haart.“

Suzanna runzelte die Stirn.

„Sie mag den Geruch nicht. Manchmal bildet sie sich sogar ein, dass sie ein Tier riecht und dann fragt sie mich jedes Mal, ob ich eins mit nach Hause gebracht habe! Ich sag dir, die ist vollkommen paranoid!“

Suzanna lachte solidarisch und bemerkte in ihrem Rücken den Ellenbogen eines anderen Tänzers. Seine Entschuldigung, wenn es denn eine gab, ging im Lärm unter.

Kurze Zeit später rempelte sie jemand mit seinem Hintern an und sie fiel in Ashleys Arme.

„Weißt du“, sagte sie dann, „ich geh mal was trinken. Vielleicht mein erstes offizielles Bier, oder so.“

Ashley grinste. Sie war schon immer scharf darauf gewesen, Suzanna einmal betrunken zu sehen.

„Wir sehen uns später, Süße! Pass ja auf, dass Cindy genug trinkt. Eine Wiederholung vom letzten Mal wäre eine weitere wertvolle Erinnerung!“

An der Bar war es seltsam übersichtlich. Jessica saß an ihrem zweiten Guinness und von Sarah war nichts zu sehen. Suzanna nahm neben ihrer Freundin platz und bestellte doch ein Ginger Ale.

„Wo ist Cindy?“, fragte sie und kühlte sich die Hände an ihrem Glas.

Jessica hob nur ihre freie Hand und drehte die Handinnenfläche nach oben. Die kleinen goldenen Armreifen an ihrem Handgelenk klimperten. Jedenfalls täten sie das, wenn die Musik nicht so laut wäre.

„Weiß nicht. Vielleicht nach Hause, sich umziehen.“

Das war einleuchtend. Sarah wohnte nur drei Straßen vom Underdome entfernt und es war noch nicht spät genug, um sich nicht mehr allein raus trauen zu können. Trotzdem hätte sie bescheid sagen können. Sie war wohl sehr eingeschnappt.

Suzanna seufzte und schlürfte an ihrem eisigen Ale.

„Ich geh mal da rüber.“, räusperte sich Jessica und deutete auf die Tür zur Damentoilette, „Passt du bitte auf meinen Drink auf, Sue?“

Suzanna nickte. Auch hier gab es natürlich männliche Besucher und perverse Barkeeper, die sich Mädchen ausguckten und ihnen K.O.-Tropfen in die Getränke schütteten.

Man hatte schon von Fällen gehört, in denen direkt vor der Tür der Diskothek Vergewaltigungen stattgefunden hatten. Die Welt war so verdammt pervers …

Genau in diesem Moment quatschte sie ein Typ von der Seite an.

Zuerst versuchte sie die männliche Stimme zu ignorieren, die sich ihr von links näherte. Sie drehte sich sogar ein wenig weg, damit der Idiot merkte, dass sie kein Interesse hatte.

Doch dann legte er auch noch seine Hand auf ihre Schulter. Nicht vorsichtig oder unsicher, sondern fest.

„EY?! Siehst du nicht, dass ich nicht mit di- Oh!“

Suzanna hatte sich entschlossen umgedreht, bereit dem Kerl ins Gesicht zu fauchen und ihm die Augen auszukratzen, wenn seine Dreistigkeit danach verlangte. Der Laut des Erstaunens hing in der Luft zwischen ihrem und seinem Gesicht.

Vor ihr saß ein junger Mann, Anfang Zwanzig. Er hatte schwarz glänzendes, glattes Haar. Der sorgsam sortierte Seitenscheitel bedeckte ein Auge. Das andere sah sie mit einem glänzenden Grau an.

Er lächelte, dann lachte er. Auf seiner Zunge konnte sie ein silbernes Piercing sehen, einen weiteren Ring an seiner Augenbraue.

Seine Kleidung war schwarz, vom Oberteil bis zu den Schnürsenkeln seiner Lederschuhe und an seinem Hals und seinen Unterarmen hingen unzählige dicke und dünne Silberketten mit Pentagrammen und umgekehrten Kreuzen.

Er war wunderschön. Auf eine seltsame Art wunderschön.

„Hey.“, sagte er erheitert, „Ich wusste nicht, dass ich dich so sehr nerve. Ich wollte eigentlich nur wissen, wie du heißt.“

„Ich, äh, ich“ Suzanna rang nach Worten, sie suchte nach Sätzen. „Also, ich. Entschuldige. Ich werde nicht so oft angesprochen. Das kam ein bisschen plötzlich.“

Er blinzelte freundlich und musterte sie mit aufrichtigem Interesse.

„Ich denke, du wirst nur von den falschen Leuten angesprochen. Zumindest sieht man das an deiner Reaktion.“

„Jaaaaaa … Das kann sein.“, lachte sie peinlich berührt, „Nein, aber wirklich, tut mir leid. Ich heiße Suzanna.“

Sie drehte sich mit ihrem Glas direkt zu ihm und merkte, dass ihr Gesicht warm geworden war. „Wie – Wie heißt du?“

Seine Haltung war lässig, aber nicht unangenehm. Er saß ihr gegenüber, Arme und Beine in einer offenen Haltung, Gesicht gehoben, die Augen aufmerksam auf die ihren gerichtet.

„Ich habe drei Vornamen, die mir meine Mutter gegeben hat, die mir aber nichts bedeuten. Meine Freunde nennen mich Beast.“

Suzanna stutze kurz.

„Beast? Wie „The Beast“ aus „The Beauty and the Beast“?”

”Na ja, so was in der Art, könnte man sagen.“ Er nahm einen kräftigen Schluck seines eigenen dunklen Bieres. „Eigentlich hat es mit anderen Dingen zu tun.“

Beast deutete auf seine Ansammlung von umgekehrten Pentagrammen und Kreuzen und Suzanna nickte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich eine Ahnung hatte.

Sie hatte nichts gegen Satanisten. Eigentlich wusste sie auch nicht viel über sie.

Es gab einfach viele Jugendliche, die sich gerne darüber unterhielten, sich schwarz anzogen und die Zeichen trugen. Sie hatte auch von interessanten Hexenspielen, wie das Gläserrücken oder Pendeln, gehört und einfach alles in einen Topf geworfen. Als sie Beast ansah, interessierte sie sich schlagartig für diese Dinge und begann, mit dem Ziel, das Gespräch aufzulockern, einen Schwall an Fragen zu stellen.

Beast antwortete geduldig. Oft lachten sie.

Jessica war zwischendurch zurück gekehrt um ihr Bier zu holen und war auch gleich wieder verschwunden.

Suzanna trug ein dauerhaftes, unauslöschbares Lächeln auf ihren Lippen und verfolgte seine Worte gebannt. Aber wirklich zuhören tat sie nicht.

Sie beobachtete die Bewegung seiner Lippen, das enthusiastische Glimmen in seinen Augen und die erklärenden Bewegungen seiner Hände. Was auch immer er da redete, er kannte sich damit aus.

Seltsamerweise stellte sich auch heraus, dass er in der Abschlussklasse ihrer Schule war. Er war zweimal sitzen geblieben und hatte die Schule gewechselt. Zudem war er mit einem von Sues Klassenkameraden befreundet: Anthony Foster, reicher Sohn, eines reichen Geschäftführers. Beast traf ihn sehr oft und war der Meinung, dass Tony ein unglaublich vielschichtiger Typ war. Suzanna wollte das nicht so recht glauben, genauso wie sie nicht glauben konnte, dass sie Beast in der Schule übersehen hatte.

Nach einer Weile, war sie sich sicher, dass sie sich verknallt hatte. Und das in einer Diskothek! Ashley würde sie dafür ewig mit einem Ich-wusste-es-doch-Gemurmel verfolgen und sich einen Wolf freuen, zu Suzannas Glückseeligkeit beigetragen zu haben.

„Weißt du was ich jetzt am liebsten machen würde, Sue?“, flüsterte Beast geheimnistuerisch am Ende seines Vortrags über die wahre Bedeutung des Drudenfußes.

„Wäh? Nein?“

„Am anderen Ende der Stadt treffen sich einige meiner Leute, um zu feiern. Tony kommt auch. Ich hab ein Auto hier. Ich dachte mir, ich könnte mit dir da hin fahren und dir noch mehr erklären, wenn du dich so dafür interessierst.“

Oh ja. Alles, was du willst!, dachte Suzanna aufgeregt und war schon halb im Auto. Die Party hier war zu langweilig. Sie fühlte sich in einem kleineren Kreis besser aufgehoben.

„Und was macht ihr da so? Auf euren Feiern?“, fragte sie dann kichernd und bezahlte ihr Getränk.

Beast blickte kurz auf einen undefinierten Punkt an der Barwand, trank sein Bier mit einem riesigen Schluck aus und sah das Mädchen neben ihm wissend an.

„Sag mal, Sue, weißt du, was eine Schwarze Messe ist?“

17

Bereits ihre Ankunft auf der Insel war besonders gewesen. Der Helikopter der Charlotte und die anderen ihres kleinen Teams auf die Insel gebracht hatte, war – sobald er eine Art unsichtbarer Grenze überquert hatte – von einem spontanem Unwetter erfasst worden. Daniel hielt es für eine Anomalie der Insel selbst, eine Art Schutzfunktion. Allerdings hielt er es auch für äußerst bedeutungsvoll, dass sie überlebt hatten. Er meinte, hätte die Insel sie wirklich umbringen wollen, hätte sie das mit dem Blitzeinschlag leicht schaffen können. Die enorme Spannung hatte die Rotorblätter des Helis sofort lahm gelegt, die gesamte Mechanik überladen und quasi zerfetzt. Während Frank, den sie seit dem Absturz nicht mehr gesehen hatten, die Maschine unter Aufwendung seiner wirklich außergewöhnlichen Fähigkeiten als Pilot zurück Richtung Boden steuerte, waren sie mitten im Unwetter mit ihren Fallschirmen abgesprungen. Der Wind hatte an ihnen gezerrt wie an gewichtslosen Stoffpuppen und hatte sie durch eine Wand aus Regen hinunter in das Dunkel des Waldes geschleudert. Jeder von ihnen hätte sich leicht das Genick oder sämtliche andere Knochen brechen können, aber das war nicht passiert. Die Schrammen und Blessuren, die sie davon getragen hatten, waren kaum einer Erwähnung wert. Es war nahezu unheimlich.

Miles zumindest war es unheimlich und das, obwohl der Asiat eigentlich ein recht großer Anhänger des Unheimlichen sein sollte.

Daniel schien weitaus weniger überrascht. Er hatte stets seine Theorien und darauf angesprochen, meinte er lediglich: „Entweder gibt es die Möglichkeit sein Schicksal auf der Insel selbst zu verändern, z.B. durch Eigeninitiative und Zusammenwirken von mehreren abhängigen Variablen oder wir sind doch wichtiger als ich dachte. Ich muss unbedingt Messungen durchführen!“

Charlotte hingegen hatte sofort gespürt, dass es eine Bestimmung gab, die sie alle am Leben gehalten hatte. Sie wusste nicht, genau welche das war, aber sie war seit ihrer Kindheit, seit sie ungefähr 10 war, dieser einen Bestimmung gefolgt. Jeder Schritt, jede Entscheidung war darauf gegründet gewesen. Sie hatte viel leisten müssen und noch viel mehr aufgeben müssen. Freundschaften, Liebe, die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter und zu ihren beiden jüngeren Schwestern. In ihr hatte nichts weiter existiert neben diesem einen Wunsch:

Diese Insel zu finden, endlich sich selbst und allen Anderen zu beweisen, dass sie nicht verrückt war, dass sie sich das nicht alles eingebildet hatte.

Der frühe Auszug von zuhause, das Studium an der University of Kent, der Doktorgrad in Oxford, ihre jahrelange Arbeit als Kulturanthropologin, das ständige Ringen um Fördergelder, die ständigen Rückschläge, die zunehmende Vereinsamung. Jetzt bemerkte sie, dass es das alles wert gewesen war. Kein Zweifel. Das alles war verkraftbar gewesen, nahezu leicht, gegenüber dem Ziel, endlich wieder zuhause zu sein. Am Ort ihrer Geburt.

Charlotte Lewis atmete die feuchte Luft ein, als würde sie all die Jahre, die sie an anderen Orten dieser Welt mit Atmen verschwendet hatte, wieder aufholen wollen. Sie roch das ferne Salz des Meeres, wie es zwischen den Felsen und Algenteppichen hindurch rollte und mit den Wellen auf den Strand lief. Sie roch den silbernen Tau, der sich in den Kelchen der exotischen Baumpflanzen gesammelt hatte und sie nahm die süßlichen Noten der Nektar tragenden Blüten war, die hoch über ihren Köpfen, auf dem bemoosten Ästen der Urwaldriesen wuchsen, als wären sie deren natürlicher Schmuck.

Über ihnen flog ein Schwarm grüner Sittiche aufgeschreckt in den Himmel empor und kleine Laubblätter regneten zu ihnen herab. Es war, als würde sie in einem Märchen wandeln, das sie seit ihrer Kindheit begleitete. Allein deswegen befiel sie keine größere Sorge, als Daniel ihr versicherte, es würde Alles gut werden. Sie glaubte ihm. Sie war hier. Es war bereits alles gut geworden in ihrem Leben.

Der Tross bewegte sich recht langsam durch den Urwald, was zum größten Teil nur an ihnen lag. Ihre neuen Freunde schienen keinerlei Schwierigkeiten mit dem unebenen Untergrund und den undurchsichtigen Dickicht zu haben. Sie bewegten sich durch das grüne Wirrwarr wie durch einen Perlenvorhang, die Bögen immer im Anschlag und die Augen immer abwechselnd auf die Umgebung und auf ihre Gefangenen gerichtet.

Die junge Rothaarige – oder besser gesagt Brünette, Charlotte konnte ohne Weiteres erkennen, dass das Haar gefärbt war, im Gegensatz zu ihrem eigenen roten Haar – hatte einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der weder Angst, noch Aufmerksamkeit in irgendeiner Form darstellte. Viel eher sah sie danach aus, als würde sie zu einer Hinrichtung schreiten, kraftlos und zu müde, um überhaupt noch etwas zu fühlen. Gut möglich, dass ihr auch die Hitze zu schaffen machte. Sie trug ihren fast bis zur Unkenntlichkeit beschmutzten NASA-Overall nur leicht geöffnet. Darunter lag, wie eine zweite Haut, schwarze Funktionskleidung. Charlotte tat es beinahe leid, sie vorhin so angefahren zu haben, aber gefährliche Situationen ließen einen ziemlich rüde und misstrauisch werden.

Daniel, der neben ihr lief, war mit seinen Gedanken wieder ganz woanders. Seine Stirn war kraus gezogen und sein Mund nur noch ein schmaler Strich im Gestrüpp seines Bartes. Tief in seinen Gedanken verloren, fiel es ihm schwer auf seinen Untergrund zu achten und er stolperte sich seinen Weg voran, was ihrer blonden, mies gelaunten Oberaufseherin sehr zu missfallen schien. Unter mehrmaligen scharfen Bemerkungen packte sie ihn am Arm und zerrte ihn aus Hecken heraus oder beförderte ihn über am Boden liegende Baumstämme. Dabei sah sie aus, als hätte sie ihm lieber eine Kugel aus ihrer Schrotflinte in die dürre Brust gejagt, als ihre Kraft darauf zu verschwenden, ihn auf der Spur zu halten.

Miles wirkte dagegen noch viel nervöser als sonst. Blass und deutlich verunsichert lief er zwischen zwei Bogenschützen, die gut zwei Köpfe größer waren als er. Der Schweiß, der ihm auf die Stirn getreten war, ran in kleinen Sturzbächen seinen Nasenrücken entlang und tropfte ihm vom Kinn. Sein Atem ging schnell, beinahe so, als ob er nur einen Schritt von einem hysterischen Anfall entfernt war.

Charlotte versuchte gerade mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, als sich die fremde Mitgefangene in ihr Blickfeld schob und Miles vorsichtig ansprach.

„Ist alles okay? Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen.“

Miles antwortete nicht gleich, stattdessen schwammen seine Augen einen Moment lang unruhig umher, blinzelten und fixierten sich nur widerstrebend auf die, die ihn gerade angesprochen hatte.

„Alles in Ordnung.“, murmelte er mit beinahe geschlossenen Mund, „Ich werde nur nicht sehr oft beinahe von Minen zerrissen und von Waldmenschen entführt.“

Die Fremde sah ihn an. Sie wirkte vor den Kopf gestoßen, erwiderte aber nichts und fiel schnell wieder zurück in ihre Anteilnahmslosigkeit.

Miles wie er schon immer gewesen war. Ein kaltes, unhöffliches und sehr sarkastisches Arschgesicht mit einem Hang zu endgültigen Formulierungen. Charlotte fand, dass er das besondere Talent, was er besaß, gar nicht verdiente. Würde sie können, was er konnte, hätte sie damit Gutes getan, aber er hatte es anfänglich nur zu seinem eigenen Wohl und für seine eigene Habgier eingesetzt und hatte damit mehr Leuten geschadet, als er in seinem Leben getroffen hatte. Insgeheim vermutete sie, dass diese Gabe, die er besaß, als Einziges zwischen ihm und dem sicheren Tod auf dieser Insel stand.

Der feste Druck einer männlichen Hand gegen ihre Schulter, sagte ihr, dass die Wanderschaft zum Stehen gekommen war. Ein paar Meter vor ihnen hatte sich ihre Anführerin ihnen zugewandt, das Gewehr jetzt nicht mehr im Anschlag, sondern wie beiläufig zu Boden gerichtet. Die freie Hand hatte sie in ihre Hüfte gestemmt und lies einen eisigen Blick über die versammelte Gesellschaft schweifen.

„Wir sind da! Ich denke ihr wisst, was das heißt.“

Charlotte wusste rein gar nichts. Seitdem die Sache mit den Zeitsprüngen ihren Anfang genommen hatte, war auf keine Vorrecherche über die Insel mehr Verlass gewesen. Sie wussten weder wann, noch genau wo sie auf der Insel waren. Daniel jedoch schien immer eine gewisse Vorstellung davon zu haben, sobald sie an etwas Bestimmten vorbei kamen, das ihnen einen Hinweis auf die Zeit geben konnte. Nur leider war er in letzter Zeit wenig mitteilsam geworden und lies sie über seine Berechnungen und Thesen im Dunkeln.

„Im Lager wird man entscheiden, was mit euch geschieht. Solltet ihr trotz allem noch Unfug machen, wird euch diese Entscheidung abgenommen und ihr werdet ohne Vorwarnung erschossen!“

Sie hob zur Veranschaulichung ihr Gewehr. Dann drehte sie sich um und ging weiter in den unverändert dichten Wald hinein.

Falls hier ein Lager sein soll, dachte Charlotte, dann ist es wirklich unglaublich gut versteckt.

Die allgegenwärtig laute Dschungelkulisse war auch hier unverändert. Auch wenn sie es wirklich versuchte, sie konnte keinerlei ungewöhnlicher, von Menschen verursachter Geräusche in dem Durcheinander von Insektenzirpen, Vogelrufen und dem Balzgesängen ihr unbekannter Kreaturen ausfindig machen, bis auf ihre eigenen raschelnden Schritte in der Bodenvegetation. Ihr Blick blieb angestrengt auf der kleinen Gestalt der Frau mit dem Gewehr hängen, bis diese einfach verschwand, als wäre sie hinter ein Hindernis getreten und stehen geblieben. Doch ein paar Schritte weiter, konnte Charlotte sie wieder sehen, weiter unten. Und plötzlich bemerkte sie wie der Untergrund schnell immer abschüssiger wurde, bis sie sich nach hinten Fallen lassen musste, um langsam wie an einer Leiter nach unten zu kriechen.

Sie befanden sich nun am Rande eines Talkessels, mitten im Wald. Die Mulde war groß und völlig baumlos. Dennoch fiel nicht viel mehr Sonnenlicht auf den Waldboden als anderswo um sie herum. Die umstehenden Baumriesen hatten die Lücke genutzt und ihre Kronen immer weiter über den Kessel wachsen lassen, bis sie sich wieder gegenseitig berührten. So wurde keine Sonnenenergie verschenkt.

Der Boden der Einbuchtung war bedeckt mit einer dicken Schicht abgestorbenen Laubes. Die kreuz und quer gebauten Hütten und Zelte waren deswegen erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Die Hütte bestanden fast ausschließlich nur aus natürlichen Materialien. Dicke Äste und breite Rindenstücke, die man von Stämmen gebrochen hatte, dienten als Wände, zusammengehalten von dicken Seilen aus Pflanzenfaser und getrocknetem Lehm. Auch die Dächer waren allem Anschein nach Konstruktionen aus Stockgeflechten und dazwischen gewobenen gewachsten Blättern. Darüber hatte man eine Schicht Laub gestreut, damit das verräterische Grün nicht hervor stach.

Zwischen den Hütten standen zwei Zelte, mit einer ähnlichen Tarnung. Sie schienen allerdings aus schweren Leinen zu bestehen, welches gegen das Wetter mit einer besonderen Art von Öl imprägniert wurden war. Das gesamte Lager bestand aus acht solcher zusammen gezimmerter Behausungen. In der Mitte, wo man eine Art öffentlichen Platz frei gelassen hatte, brannte ein winziges Feuer, auf dem eine kleine Kupferkanne hin und her schwang. Auf den ersten Blick konnte Charlotte ungefähr zwanzig Leute sehen, die zwischen den Hütten und um das kleine Feuer herum standen. Niemand schien mit etwas beschäftigt zu sein, keiner hielt etwas anderes in der Hand außer einer Art von Bewaffnung. Ihre Blicke waren zu ihnen hinauf gerichtet und ihre Gesichter zeigten keinerlei Emotion, nur die abgehärmte Härte und den Schmutz ihres einfachen Lebens. Sie waren beinahe so dreckig, dass Charlotte annehmen musste, dass auch das zu ihrer Tarnung gehörte.

Zwischen den Eingangsflügeln eines Zeltes meinte sie plötzlich ein Paar neugieriger Kinderaugen zu sehen, aber dann war der Moment vorbei und die schweren Tücher des Zeltes schwangen wieder vollends zu. Charlottes Beobachtungen waren noch nicht sehr tiefgehend, aber dennoch war sie sich jetzt sicher, dass sie die Ureinwohner gefunden hatten, vor denen man sie ebenso gewarnt hatte, wie vor allem anderen Leben auf der Insel. Egal wann sie jetzt waren, diese Leute hatte es schon ewig gegeben. Sie waren weit länger dort gewesen, als die spätere Dharma Initiative und ihr Auftraggeber hatte unmissverständlich angedeutet, dass sie immer noch existierten. Allerdings hatte da noch niemand gewusst, dass sie mitten in einer Zeitanomalie landen würden und alle Informationen – da sie sich nur auf die Gegenwart bezogen – völlig nutzlos waren.

Sie versammelten sich in der Mitte des Platzes, rund um das Feuer. Sofort hatte man sie umringt und lies sie nicht mehr aus den Augen. Ihre Anführerin war anscheinend zufrieden gestellt mit der Sicherung ihrer Gefangenen und verlies den Kreis, um in einem der Zelte zu verschwinden.

„Was machen wir jetzt?“ Miles duckte sich hinter Daniel hervor und warf einen drängenden Blick in die Runde.

Charlotte sah wie Daniel Faraday den Kopf schüttelte. „Ich weiß es noch nicht. Das hier ist eine äußerst interessante Entwicklung. Wirklich äußerst interessant…“

Seine Stimme wurde zu diesem unverständlichen Brabbeln, mit dem er immer zu sich selbst sprach. Doch Miles war durch diese Aussage nicht zufrieden gestellt.

Gerade als er zu einer erneuten Frage ansetzen wollte, wurde der Verschlag des Zelteingangs zur Seite geworfen und die kleine blonde Frau trat in Begleitung eines wesentlich größeren Mannes heraus.

Er trug abgetragene, schlichte Kleidung in Braun- und Beigetönen, seine Füße waren nackt und verursachten kaum ein Geräusch auf dem unruhigen Waldboden. Er schien nicht bewaffnet. Diese Tatsache und die bestimmte Art wie er sich auf sie zu bewegte, lies keinen Zweifel daran, dass er hier eine Art Sonderposition genoss. Er schien sogar im Rang über der Frau neben ihm zu stehen, auch wenn sie sich Mühe gab, ihre niedere Stellung nicht zu zeigen. Sie wirkte sogar ein wenig säuerlich. Gut möglich, dass sie gerade ein eher unangenehmes Gespräch gehabt hatte.

Auf der Stirn des Mannes wurden tiefe Falten und einige dicke Adern sichtbar, als er zu ihnen in den Kreis trat, dabei war er vielleicht Ende 30.

„Ich bin Charles Widmore“, begann er ohne Umschweife, „Warum habt ihr die Waffenruhe gebrochen? Ihr habt die Grenzen überquert und seid in unser Gebiet eingedrungen. Ist euch die Strafe dafür bekannt?“

Charlotte hielt den Atem an. Niemals! Das kann nicht sein!

Wenn das wahr ist, dann hatten sie ab jetzt wirklich Probleme. All die Informationen, die sie bekommen hatten, von oberster Stelle, waren die überhaupt vertrauenswert? Das änderte einfach alles.

Auch Miles schien in eine Art Hypnose gefallen zu sein. Nur Dan richtete sich vollends auf.

„Mein Name ist Daniel Faraday. Wir wollten keinen Vertrag verletzen. Wir besitzen nicht einmal die Kenntnis eines solchen. Die Leute, für die Sie uns anscheinend halten, sind ganz Andere.“ Er sprach schnell und in kurzen Sätzen, wahrscheinlich weil ihm die Zeit davon lief, sich zu erklären.

„Wie meinst du das, die Leute für die ich euch anscheinend halte? Machst du dir einen Spaß mit mir?“ Widmore tat einen weiteren Schritt auf sie zu. „Die Initiative leistet sich weitaus mehr, als ihr zusteht. Wir schließen die Verträge nicht zum Spaß! Ihr betretet unser Land, verletzt die Grenzen, die wir vor Jahren gemeinsam ausgehandelt haben und besitzt die Frechheit uns auch noch zu belügen. Glaubt nicht, das würde euch den Hals retten, jetzt da wir euch aufgegriffen haben. Wie oft in den letzten Monaten habt ihr die Grenzen noch überschritten? Was für ein Plan steckt dahinter?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie da reden. Bitte, glauben Sie mir. Ich möchte Ihnen gern alles erklären, nur ist das nicht so leicht getan. Es ist-“, er atmete tief ein und resignierend wieder aus, „kompliziert.“

„Er will nur Zeit schinden, Charles!“, bellte die Blonde und richtete ihren Gewehrlauf auf Daniel.

„ELLI!“ Beim Klang seiner widerspruchslosen Stimme zuckte sie zusammen und lies das Gewehr automatisch ein Stück sinken, bevor er es selbst mit solcher Härte nach unten drückte, dass der Lauf gegen ihr Knie schlug.

„ICH rede hier. Und ICH entscheide auch, was mit Ihnen zu passieren hat. Wenn du an der Reihe bist, etwas zu sagen, dann lasse ich es dich wissen.“

Ellis Gesichtsausdruck entglitt ihrer Kontrolle. So schnell, dass es beinahe schon grotesk war. Unsagbare Wut, aber auch Enttäuschung und Angst verformten ihre Züge in etwas Bedrohliches. Dennoch biss sie sich auf die Zunge und blieb still.

Charles wandte sich erst nach einigen langen Sekunden wieder der kleinen Gruppe zu.

„Ihr haltet das hier vielleicht für ein Spiel. Aber Gnade habt ihr nicht zu erwarten. Übertretet die Grenze und eurer Leben gehört uns. Noch einfacher hätten wir es euch nicht machen können.“

Er griff hinter seinen Rücken und holte eine Pistole hervor, die vom Modell her aus den 50ern zu stammen schien. Doch sie glänzte neu und bedrohlich in seiner Hand.

Charlotte spürte wie sie von hinten gepackt und zu Boden gedrückt wurde. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie hatte noch nicht einmal die Konzentration zu widersprechen.

Daniel, Miles und ihre fremde Mitleidende wurden ebenfalls auf ihre Knie geworfen.

Daniel hob erklärend die Hände. „Bitte … bitte. Bitte, Sie machen einen Fehler. Wenn Sie uns erschießen, machen Sie einen Fehler. Vielleicht den größten überhaupt!“

Widmore schenkte dem keine Beachtung. Für ihn war das Flehen von Vertragsbrechern nur etwas, was man ignorieren musste. Er richtete die Pistole auf Daniels hohe Stirn und ging beinahe so nah heran, dass das Haar des jungen Mannes den kalten Lauf der Waffe berührte, die ihn in einigen Sekunden das Leben kosten würde, würde es ihm nicht gelingen, den Hals doch noch aus der Schlinge zu ziehen.

„Bitte, Sie machen wirklich einen Fehler.“, Daniel wurde immer leiser, je näher ihm die Waffe kam. Er kniff die Augen fest zusammen und mit einem letzten beinahe geflüsterten Satz, den Charlotte nicht mehr verstehen konnte, versuchte er den Mann zu überzeugen, der ihren sicheren Tod in Händen hielt.

Widmore lies die Waffe sinken und starrte Daniel von oben herab an. „Was?!“

Daniel blickte zu ihm hinauf. Die Augen immer noch zu ängstlichen Schlitzen verengt, wiederholte er die Worte etwas lauter: „Da ist eine Bombe … auf dieser Insel. Eine Wasserstoffbombe.“

„Das ist unmöglich!“, flüsterte Elli hinter ihnen ehrfürchtig.

„Was sollte eine Bombe auf dieser Insel zu suchen haben? Hat die Initiative sie hergebracht?“

Daniel schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Die U.S. Army hat vor Jahrzehnten einige Tests im Pazifikraum gemacht und ein verloren gegangener Trupp wurde auf dieser Insel stationiert. Sie haben erst bemerkt, dass sie nicht auf einer normalen Insel waren, als es zu spät war. Da sie aber keine Verbindung zur Basis herstellen konnten, haben sie die Bombe nicht in die Luft gejagt. Eigentlich müsste euch der Verbleib dieser Soldaten bekannt sein. Ihr habt ihre Zelte.“

Daniel deutete auf die Stoffgebilde hinter ihnen.

„Das war … vor unserer Zeit.“ Widmore atmete schwer. Seine kleinen Augen fixierten Daniel, als würde er versuchen heraus zu finden, ob man ihm gerade eine weitere Lüge auftischte oder ob der Druck gereicht hatte, um dem Mann die Wahrheit zu entlocken.

Daniel wirkte immer ruhiger, je mehr er erzählte und je mehr Abstand er zwischen sich und dem sicheren Tod bringen konnte, auch wenn es nur durch Reden war.

„Die Initiative hat sie noch nicht gefunden, aber wenn sie es tun“ Er atmete wieder hörbar ein. „dann werden sie sie wahrscheinlich als Druckmittel gegen euch verwenden.“

„Das ist nicht möglich! Wir haben seit Jahren einen Vertrag, der den Frieden wahren soll. Wenn sie ein Druckmittel besitzen ist der Friede nichtig. Das würde das Ende aller Abkommen bedeuten. Sie können nicht wirklich so dumm sein.“

Widmores Gesicht war fassungslos. Seine starke Position begann unter seiner wachsenden Verunsicherung zu bröckeln.

„Das spielt keine Rolle.“, sagte Daniel mit einem verzogenen Lächeln, „Ich kann sie entschärfen.“

Widmore sah ihn plötzlich an, als hätte er gerade eben von sich behauptet, er sei Gott.

„Ich werde sie entschärfen, aber nur, wenn ihr danach mich und meine Leute gehen lasst.“

Der Spieß hatte sich umgedreht. Charles hatte zwar eine geladene Pistole in der Hand, aber Daniel, der kleine Bursche, der vor ihm im Dreck kniete, stand ihm auf einmal mit einer scharfen Wasserbombe gegenüber, die, falls sie losgehen sollte, einen großen Teil der Insel mit sich reißen würde und sollte sie in die Hände der anscheinend verfeindeten Initiative fallen, ein noch größeres Dilemma auf lange Zeit gesehen anrichten würde.

Fassungsloses Schweigen breitete sich aufgrund dieser neuen Umstände in der Versammlung aus. Dann brach eine hitzige Diskussion aus. Die Lagerbewohner wirkten zutiefst beunruhigt über die neue Entwicklung. Viele sahen einander mit Angst in den Augen an, einige machten den Eindruck, als würden sie gerne ihre Sachen packen und verschwinden. Charlotte konnte sehen, dass die Situation kurz davor war zu eskalieren. Eine scharfe Bombe auf dieser Insel. Das war etwas, womit keiner von ihnen auch nur im Entferntesten gerechnet hatte.

„WAS WENN ER LÜGT?!“ Die Stimme schnitt durch das Durcheinander wie ein scharfes Schwert durch gespanntes Tuch. Elli umklammerte ihr Gewehr wie eine Stütze. Ihre Arme zitterten. „Was ist, wenn er lügt? Wenn er doch von Dharma ist und diese Geschichte nur erfindet, damit wir ihm zu einer bestimmten Stelle folgen, wo man uns eine Falle stellt? Wie wahrscheinlich ist es denn, dass eine Gruppe völlig Fremder mitten im Dschungel auftaucht und nichts über die Insel weiß. Woher sollen sie gekommen sein, wenn nicht von der Initiative?“

Sie wandte sich jetzt direkt an Charles. „Du weißt, sie haben uns schon oft betrogen. Und sie haben nie etwas daraus gelernt. Diese Menschen sind besessen davon, uns los zu werden. Sie wollen diese Insel für sich allein. Die scheren sich schon längst nicht mehr um alte Verträge! Du willst dir das Geschwätz noch länger anhören, von einer Bombe, von der U.S. Army? Charles, nur zu! Aber ich weiß, dass du nicht so naiv bist!“

„Nein, Elli…“ Widmores Gesicht hatte eine ungesunde rötliche Färbung angenommen.

„Nein, bin ich nicht. Deswegen wirst du ihn begleiten. Du allein.“

„Das geht nicht, ich-“

„Ihr werdet diese Wasserstoffbombe finden, ihr werdet sie entschärfen und dann kommt ihr wieder. Seine Freunde werden hier bleiben und falls er uns hintergeht, werden sie auch nicht mehr woanders hingehen.“

Er blickte dunkel in die Runde. Elli widersprach nicht mehr, aber auf ihrem Gesicht lag ein verzweifelter Ausdruck, so als wäre etwas in ihr zerbrochen. Wie einem Reflex folgend hielt sie ihre freie Hand auf ihren Bauch gepresst.

„In zwei Stunden brecht ihr auf!“

Damit war das letzte Wort gesprochen und Charles Widmore zog sich in die Abgeschiedenheit seines Zeltes zurück, wo ihn auch niemand so schnell mehr zu belästigen wagte.

Die Versammlung löste sich nicht auf. Viele der Bewohner fanden sich in kleinen Gruppen zusammen und versuchten mit seichten Worten und abgeklärten Feststellungen ihre eigene Unruhe und Angst zu mindern. Sie gingen dabei so vertraut miteinander um, wie Mitglieder einer großen Familie. Einige gaben sich die Hände, umarmten sich oder drückten die Schulter eines Anderen. Alles von einem ruhigen Strom aus Worten begleitet. Diese Menschen waren keine kalten, brutalen Höhlenmenschen. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die während ihrer Existenz neben einem gemeinsamen Feind bereits viele Rückschläge und Leiden hatte erfahren müssen. Charlotte akzeptierte nur sehr widerstrebend, dass der Grund für das Versteckspiel im Wald und für die besorgten Gesichter die Dharma-Initiative zu sein schien. Die andere Gemeinschaft auf dieser Insel, von der sie wussten.

In ihrem Zeitstrang existierte sie längst nicht mehr. Doch Charlotte fragte sich das erste Mal während ihrer Mission, ob sie hier nicht einen riesigen Fehler machten. Es schien alles viel mehr miteinander verstrickt zu sein, als sie vermutet hatten und außerdem konnten sie sich anscheinend kaum noch auf die Informationen verlassen, die man ihnen gegeben hatte. Langsam wurde ihnen allen klar, dass man ihnen nur das gesagt hatte, was für ihr eigentliches Primärziel wichtig gewesen war. Es war nie gedacht gewesen, dass sie weiteres Hintergrundwissen benötigen würden. Hin und wieder zurück. Und als weiteren Anreiz hatte man ihnen gestattet, Messungen und Tests auf der Insel durch zu führen, solange sie einen bestimmten Zeitplan nicht überschritten. Doch von ihrem Zeitplan und ihrem eigentlichen Ziel waren sie jetzt dank der Anomalie sprichwörtlich Welten entfernt. Und das schien nur das kleinste aller Probleme zu sein, die sich in den letzten zwanzig Minuten ergeben hatten.

Charlotte sah zu Daniel hinüber, den man gerade vom Boden aufhalf und bemerkte wie ihm eine tonnenschwere Last abfiel, als er realisierte, dass er noch am Leben war.

Dann sah er zu ihr herüber. Er sah sie eine kleine Ewigkeit unverwandt an, bis sie ihn ganz vorsichtig – fast so, als würde sie sich jeden Moment umentschließen wollen, diese Frage zu stellen – fragte: „Ist das wirklich wahr?“

„Ich schätze, du meinst nicht die Sache mit der Bombe.“ Er verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln und sie schüttelte mit offenem Mund den Kopf.

„Nun ja, wenn du die Tatsache meinst, dass wir gerade Charles Widmore, unseren Auftraggeber und Chef von Widmore Industries, in seiner wesentlich jüngeren Ausgabe auf einer Insel getroffen haben, die er angeblich nie betreten hat, dann bin ich genauso überrascht wie du.“

18

Die Wände des Zeltes waren klamm und klebten an ihrem Rücken und an ihren Schultern, als sie sich dagegen lehnte. Die Luft roch muffig und ein wenig nach etwas Vertrautem. Kräuterbalsam oder Kräuterbonbons oder … kalter Tee.

Nach dem Gespräch mit Widmore hatte man sie wortlos in ein Zelt geführt, den Eingang zur Seite geschlagen, damit Licht hinein fiel und damit die davor postierten Wachen besser ein Auge auf sie haben konnten.

Im Inneren waren vier Feldbetten aufgestellt. Darauf lagen säuberlich zusammen gefaltete Decken, aus diesem kratzigen Stoff, den man ihn in Notfallunterkünften oder Feldlazaretten finden konnte. Zwischen den Kissen und auf den Kisten und Fässern, die scheinbar als Beistelltischchen dienten, lagen zahlreiche persönliche Gegenstände von Lagerbewohnern, die in diesen Betten wohl ihre Nächte und heißen Nachmittage zubrachten.

Suzanna schob einen kleinen, grob genähten und wahrscheinlich steinalten Plüschaffen zur Seite, als sie sich auf eine der Pritschen niederließ. Sie betrachtete das ergraute Tier einen kurzen Moment lang ohne es wirklich zu merken. Ein Glasperlenauge schielte zur Seite, das andere starrte nach Vorne in die Leere. Der Affe trug eine schief genähte rote Weste und ohne jeden Sinn auch einen breiten, arabischen Gürtel. Auf seinem kleinen Gesicht befand sich ein breiter lächelnder Mund aus dem ein kleiner Stofffetzen ragte. Wahrscheinlich eine Zunge.

Die Hitze war in dieser abgeschlossenen Kammer beinahe unerträglich. Die Schweißperlen auf ihrer Stirn liefen immer wieder zusammen und rollten über ihre Wimpern sodass sie sie wegblinzeln musste. Die Temperaturen würden sie noch wahnsinnig machen!

Sie stützte ihre Ellenbogen auf ihre Oberschenkel und lies ihre glühende Stirn in den Mulden ihrer Handflächen verschwinden. Ihre Fingerspitzen gruben sich in das wilde Haar über ihren Augenbrauen und sie bemerkte, dass es so feucht war, als wäre sie gerade unter der Dusche gewesen, nur dass sie mit ihrem eigenen Schweiß geduscht hatte.

Sie konnte noch nicht einmal das Wort denken, welches das Gefühl beschrieb, bei der Hitze schon über einen Tag nicht mehr gebadet zu haben und schon seit knapp einer Woche (Wer wusste das schon?) nicht mehr die Kleidung gewechselt zu haben.

Widerlich! Ja, das war eines der Wörter, womit man es hätte beschreiben können. Aber es schien ihr noch nicht treffend genug. Noch nicht hart genug,

Sie gab den Versuch schnell auf, Synonyme zu finden. Was machte es schon für einen Sinn immer neue Worte für einen Zustand zu haben, während man ihn nicht ändern konnte?

Der junge Asiat, der Miles hieß, fummelte interessiert in den Papieren herum, die er in einem Kästchen auf dem Boden gefunden hatte. Alles Fotos oder alte vergilbte Briefe.

Suzanna fragte sich, ob er es selbst nicht für unangebracht hielt sich an den privaten Sachen ihrer Entführer zu vergreifen. Wahrscheinlich war es sogar gefährlich. Sie selbst hatte keine Lust es heraus zu finden. Der Mann schien ihr nicht allzu wohl gesonnen zu sein und auf noch mehr unangenehme Überraschungen hatte sie keine Lust. Also schwieg sie sich gegen die anderen Drei aus und hoffte, dass ihn keiner der Wachen erwischte, wie er mit seinen Fingern in ihren Familienbildern herum fuhrwerkte.

Nach einigen Minuten und mit aller Wahrscheinlichkeit erst nachdem sie sich durch Warten und Lauschen genügend versichert hatten, dass man sich wirklich dazu entschlossen hatte, sie am Leben zu lassen, fingen die rothaarige Charlotte und ihr Begleiter Daniel Faraday ein Gespräch an.

Ihre Stimmen waren leise, hastig und drängend. Dennoch war sich Suzanna sicher, dass man sie ohne Mühe auch draußen hören konnte. Auch wenn man es schnell einmal vergaß, boten Zeltwände nicht mehr Geräuschabschirmung als eine Wand aus purer Luft.

„Wie hängt das alles zusammen, Dan? Er hat mit keinem Wort erwähnt, dass seine Vergangenheit etwas mit der Insel zu tun hat. Ich habe gedacht, er schickt uns auf der Basis von Hören-Sagen los. Dass er vielleicht Andere vorher geschickt hat, Erkundigungen eingeholt hat durch Wissenschaftler und Forscher wie uns. Aber dass er hier gelebt hat! Das ist unmöglich! Was ist, wenn die Anomalien uns nicht durch die Zeit befördern, sondern durch alternative Wirklichkeiten? Was dann? Das wäre doch eine Erklärung, Dan, oder nicht?“

Daniel schüttelte sofort den Kopf.

„Nein, selbst wenn wir es hier mit einer alternativen Realität zu tun hätten, wären die Chancen, dass Charles Widmore in genau dieser einen Realität Anführer der Feinde auf der Insel wäre, verdammt gering, nahezu gegen Null gehend. Es ist am Wahrscheinlichsten, wenn wir davon ausgehen, dass er uns mit vollstem Gewissen etwas verschwiegen hat, von dem er es nicht für notwendig gehalten hat, dass wir es wissen.“

„Oder es war etwas, dass wir auf gar keinen Fall wissen sollten!“, rief Charlotte aufgebracht, „Er ist der Anführer der Gruppe, die die Dharma-Initiative immer wieder angegriffen und später sogar ausgelöscht hat oder er war es zumindest. Was, wenn er einfach nur vertuschen wollte, dass er gar keine guten Absichten oder ein rein wissenschaftliches Interesse an der Insel hat?!“

„Und wenn schon?“ Miles warf den Stapel Fotos, den er gerade durchgeblättert hatte, wieder zurück in die Blechdose und schob sie mit einem scharrenden Geräusch unter das Feldbett zurück, auf dem er saß. „Seine Absichten können uns doch vollkommen egal sein. Wir haben diese Aufgabe nicht angenommen, weil wir der Menschheit oder irgendjemand Anderen was Gutes tun wollten. Ich will nur mein Geld! Ein hübsches, fettes Sümmchen am Ende des Monats. Dann bin ich auf meiner eigenen kleinen Insel und die wird nicht voll sein mit durchgeknallten, bis an die Zähne bewaffneten Idioten. Da ist es mir egal, ob Widmore der Öko-Diktator dieser Insel war oder ein religiöser Fanatiker oder wirklich nur der alte, reiche Sack, der sich auf seinem Imperium ausruht! Solange die Bezahlung stimmt und wir hier lebend raus kommen, ist mir alles recht. Nur nicht dieses verdammte Durcheinander mit der Zeit! Ich hab seit dem letzten Sprung Kopfschmerzen und die werden nicht mehr schwächer.“

„Toll, Miles!“ Charlotte reagierte entsprechend aufgebracht und warf ihr langes Haar mit einem Schwung über die Schulter. „Von dir habe ich auch nichts Anderes erwartet. Du redest schon so, wie diese verfluchten Söldner auf dem Frachter. Geld, Geld, Geld! Sobald davon genug auf dem Tisch liegt, muss man nur noch das Gehirn ausschalten. Man könnte sich ja sonst von eventuellen moralischen Konflikten ablenken lassen.“

Auch wenn Suzanna die übertrieben zickige Art und die beinahe schon unecht wirkenden moralischen Vorwürfe von Charlotte als sehr unangenehm empfand, hatte die andere Frau recht mit dem was sie sagte. Miles Mangel an jeglichem Feingefühl für die Situation war unangebracht. Er wirkte beinahe so, als wäre er sich nicht bewusst, dass er in dieser Situation steckte. Als wäre es eigentlich etwas anderes als die Realität.

Miles Augen wurden noch enger. „Du hast gut reden, Püppchen. Ihr beide - wenn ich mich recht entsinne – seid hier, weil Widmore euch eine einzigartige Gelegenheit geboten hat, eure Forschungen voran zu bringen. Diese Insel ist etwas Besonderes. Das wisst ihr. Und nur weil ihr so verdammt heiß darauf wart, eure Messgeräte in die Erde und in die Bäume zu stecken und jeden kleinen Winkel zu kartografisieren, seid ihr hier. Oh ja, ihr seid die selbstlosesten Menschen, die ich kenne. Zumindest in diesem Zelt!“

Charlotte schwieg und Daniel sah weiterhin nicht vom Boden auf.

„Lass gut sein, Charlotte. Du weißt, er hat recht. Wir wollten hierher. Um jeden Preis. Wir können jetzt nicht vom ursprünglichen Plan abweichen, nur weil uns klar geworden ist, dass Widmore gelogen hat. Er hat es einfach getan. Und vielleicht nicht nur in dieser Sache.“

„Und dass wir in einer komplett anderen Zeitlinie sind? Ist das vielleicht ein Problem?“ Charlotte hatte sich an die Zeltwand gelehnt und starrte zu Daniel hinüber, als würde sie ihn am liebsten fressen.

„Das …“ Daniel seufzte. „… wird nicht so einfach zu beheben sein, fürchte ich. Aber keine Sorge, ich habe einen Plan, der – denke ich – funktionieren wird.“

Miles strich sich über die schmerzenden Schläfen. „Den wirst du uns natürlich nicht mitteilen, oder?“

„Noch nicht. Bis dahin behaltet nur gut im Gedächtnis, was eure Konstanten sind. Wenn wir getrennt werden sollten, was ich nicht glaube, dann erinnert euch daran.“

„Klar… Die Konstanten!“ Miles schnaubte. „Den Mist hast du uns auch nicht erklärt. Aber ist nicht so wild, wir würden dein Wissenschaftsgeschwafel eh nicht verstehen.“

„Du vielleicht nicht.“ Charlotte blickte ihn nicht einmal an. Sie tat sich wirklich schwer damit, nicht auf die Sticheleien des Asiaten einzugehen.

Suzanna schaute zwischen ihren Fingern in die kleine Runde. Es war ein seltsames Gefühl im selben sinkenden Boot immer noch ausgeschlossen zu sein. Die Tatsache, dass die Drei viel mehr wussten, als sie selbst, war unerträglich geworden, aber sie wollte die Sache langsam und behutsam angehen, anstatt ihrer schwelenden Panik nachzugeben und einfach verrückt zu spielen und vielleicht alle so zu verschrecken, dass sie nie wieder etwas aus ihnen raus bekommen würde.

„Ähm … Mr. Faraday?“ Sie nahm die Hände vom Gesicht und lehnte sich interessiert nach vorne.

Daniel blickte überrascht zu ihr. Er schien ganz vergessen zu haben, dass sie noch mit ihnen in einem Raum war. Dann blinzelte er die Verwirrung weg und sagte sofort: „Daniel, nenn mich ruhig Daniel. Das sind übrigens Miles und Charlotte. Und du bist?“

Er blinzelte noch mal, was er ausgesprochen oft tat, und fügte dann hastig hinzu: „Ja, tut mir leid. Es steht ja auf deinem Revers.“

Suzanna, die ihre eigene Kleidung auch bereits vergessen hatte, blickte verwirrt an sich hinunter und entdeckte dort in den Falten ihres Anzuges ihren mit Gold eingestickten Namen.

„Äh, ja. Suzanna. Sue reicht aber vollkommen!“ Es war beinahe so wie der erste Tag in einer neuen Klasse. Sie fühlte sich absolut bescheuert während sie sich vorstellte.

„Sue. Wann genau bist du hier gelandet? Ich meine, vor wie vielen Tagen oder besser: Wie oft hat sich der Himmel so seltsam verfärbt und du hast dieses Summen gehört?“

„Ihr habt es auch gesehen?“ Sie war nun ehrlich überrascht. Immer wieder hatte sie daran gezweifelt, ob sie wirklich gesehen hatte, was sie da gesehen hatte. Am Ende hatte sie geglaubt die Ausdünstung einer seltenen Pflanze ließ sie halluzinieren oder sie hatte sich beim Absturz einfach nur den Kopf so fest angehauen, dass ihr Gehirn doch beträchtliche Schäden davon getragen hatte.

„Die Sprünge treten seit ungefähr 55 Zeitstunden auf. Immer wieder in verschiedenen Abständen. Mal nach acht Stunden, mal aber auch wieder nach dreißig Minuten. Ich bin mit meinen Berechnungen auf eine Formel gekommen, die vorhersagen kann, wann sich der nächste Sprung ereignet, aber bis jetzt habe ich noch nicht genug Möglichkeiten gehabt ihr Zutreffen zu beweisen. Wie lange ist dein letzter Sprung her?“

„Ich – ich denke so ungefähr 5 Stunden. Verzeihung, von was für Sprüngen reden wir hier?“

„Fünf Stunden? Interessant. Unser letzter Vorfall war vor gut 3 Stunden, kurz bevor wir zu dem Bachlauf gelangt sind. Das bedeutet …“ Daniel griff in seine Umhängetasche, die man ihm nach gründlichen Durchsuchen doch gelassen hatte, und zog ein dünnes, in Leder gebundenes Notizbuch hervor. Als er es aufklappte konnte Susanna, die ihm gegenüber saß, einen Blick hinein werfen. Die zerdrückten Seiten waren bis auf den letzten Millimeter vollgeschrieben. Formeln und Berechnungen und dazwischen zierliche, fast mädchenhaft geschriebene Notizen. Susanna verstand bereits recht viel von Physik, aber das! Sie musste noch nicht einmal einen näheren Blick darauf werfen, um zu wissen, dass sie hier niemanden vor sich hatte, der einen einfachen Abschluss an einer beliebigen Universität hatte. Der Junge mochte einen verwirrten und ein bisschen verrückten Eindruck machen, aber das vielleicht auch nur, weil ein großes Genie ein gewisses Maß an Wahnsinn voraussetzte.

„Natürlich…Natürlich, natürlich!“ Daniel blätterte vor und zurück. Die Papierseiten raschelten zwischen seinen Fingern, tanzten hin und her und verhedderten sich ineinander, während er nach Worten jagte, die er irgendwann einmal auf ihnen niedergeschrieben hatte.

„Es wird klarer. Ja, jetzt! Jetzt verstehe ich!“

Was?! Was verstehst du, Dan?“ Charlotte hatte die Geduld verloren. Mit verschränkten Armen und unsteten Augen hockte sie da und blickte genervt zu ihrem Freund.

„Es ist anders, als wir gedacht haben. Die Zeitverschiebungen. Die Sprünge. Sie sind nicht linear. Es gibt sie nicht für Jeden zur gleichen Zeit! Versteht ihr?“

„Ich versteh nicht wirklich.“, sagte Miles.

„Es ist wie - … Stellt euch eine Kuppel vor! Einen Halbkreis über der Insel. Im Zentrum dieses Halbkreises befindet sich am Boden der Insel der Auslöser dieser Phänomene, aller Phänomene. Die Zeitsprünge gehen von genau diesem Punkt aus. Wie eine Art Welle, ein Impuls. Die Menschen, die besonders nah an der Quelle dieser Anomalien sind, werden von dieser Welle zuerst erfasst. Dort wirkt sie am stärksten. Die Kraft schwächt sich erst nach Außen hin ab. Die Impulse breiten sich quasi kuppelförmig aus, in alle Richtungen. Im Inneren, wo sie noch genügend Kraft besitzen, wirken sie heftiger. Die Zeitreisen, die betroffene Personen dort erleben, gehen weiter. Viel weiter vielleicht sogar.“

„Aber wie erklärst du dann, dass sie nicht unsere Zeitsprünge geteilt hat, als sie annährend auf unserer Position war?“, fragte Charlotte, die jetzt ernsthaft interessiert wirkte.

Daniel sah nur hinunter in sein Notizbuch und schüttelte ganz langsam den Kopf.

„Na ja, ich bin mir da noch nicht ganz sicher, aber meine Theorie wäre, dass nur der erste Impuls entscheidet, in welchem Sprungrhythmus man gelangt. Wenn sie zur Zeit der Zerstörung des normalen Zeitgefüges in einem Außenbereich oder sogar vielleicht außerhalb der Insel war, ist sie in einem sich verlaufenden Impuls gelandet, der sich die ganze Zeit, die er sich um seine Quelle herum ausbreitet, verändert. Wie ein Audiosignal, welches seinen Kurvenverlauf dadurch bekommt, indem Teilchen in Schwingung versetzt werden und sich durch Hindernisse oder den Übergang in einen anderen Stoff ändert. Wahrscheinlich ist sie in eine andere Frequenz geraten und es ist nur ein Zufall, dass wir gerade in ein und demselben Zeitfenster stecken. Wenn ich Recht habe, dann könnten ihre Sprünge tatsächlich in andren Abständen auftreten und in andere Zeiten führen, als unsere.“

Susanne sah Daniel an und versuchte nicht allzu geistig zurück geblieben auszusehen. Seine Theorie klang wie reinste Science-Fiction. Etwas, was sich ambitionierte und wissenschaftlich interessierte Autoren in ihren kühnsten Träumen auszudenken pflegten. Allerdings war die klassische Science-Fiction schon immer eine Wiege fortschrittlicher Ideen gewesen und hatte selbst zu den Erfindungen angeregt, die man bis dato gemacht hatte oder hatte die Zukunftsvisionen großer Wissenschaftler, die durchaus realistisch waren, in bunte und abenteuerliche Geschichten eingehüllt. Aber so oder so wehrte sich der menschliche Verstand immer gegen Neuerungen, die außerhalb der Vorstellungskraft noch keinen anderen Platz im öffentlichen Leben gefunden hatten.

Susanna versuchte also neutral zu bleiben, auch wenn selbst diese abgespeckte Version einer Zeitanomalie-Theorie nach etwas klang, dass man am liebsten als naturwissenschaftliche Blasphemie auf einem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Wenn so etwas möglich war, dann unter Garantie nicht auf dieser Erde.

„Es tut mir leid, aber ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen. Du meinst, diese Phänomene veranlassen unsre Körper sich durch die Zeit zu bewegen?“, fragte Suzanna schließlich.

Daniel nickte.

„Und es gibt eine Quelle auf dieser Insel, die diese Sprünge auslöst?“

Erneutes Nicken.

„Ich bin mir nicht sicher, aber viele Theorien besagen, dass Zeitreisen, wenn sie denn möglich sind, einen sehr negativen – vielleicht schon destruktiven Effekt auf Körper haben, die in ihrer Beschaffenheit und Veränderung stark an einen linearen Zeitstrang gebunden sind. Manche Menschen haben schon bei einem einfachen Jetlag so starke Probleme mit ihrer inneren Uhr, dass es sich auch ihre Gesundheit auswirkt. Was passiert dann mit uns, wenn wir weiterhin durch die Zeit geschickt werden?“

Daniel sah Suzanna einen Moment lang traurig an und sagte dann: „Ich denke es beginnt mit Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Vielleicht stark gesteigerter Blutdruck und einer Art Amnesie. Ich denke, wenn sich die Intervalle in ihrer Abfolge nicht verlangsamen, folgt nachdem jeder von uns durch die Verwirrung seiner zeitlich gebundenen Erinnerungen und Orientierung im Raum-Zeit-Gefüge verrückt geworden ist, unweigerlich der Tod.“

Miles rieb sich etwas energischer die schmerzende Stirn. „Tja, nett euch gekannt zu haben, Leute.“

Charlotte stemmte sich von der Liege hoch.

„Wir müssen sofort los. Wenn wir den Ursprung des Impulses finden, können wir ihn vielleicht auslöschen!“

„Charlotte, das ist nicht ganz so einfach. Der Ursprung könnte überall auf der Insel sein. Außerdem sind wir immer noch Gefangene und man wird uns wohl kaum gehen lassen aufgrund einer so unglaubhaften Geschichte, zumal hier niemand dieselben Erfahrungen gemacht hat wie wir. Wir sind die einzigen Fremdkörper in diesem Zeitstrang. Alle anderen nehmen weder das seltsame Licht, noch dieses unerträgliche Geräusch wahr.“

„Was dann, Dan? Hierbleiben und sterben?“

„Nein, wir müssen nur bis zum nächsten Zeitsprung warten. Die Quelle existiert immer. Wenn uns also die nächste Welle hier herausholt, sollten wir schauen, dass wir schleunigst von der Insel verschwinden. Wenn wir aus dem Wirkungsradius raus kommen, sind wir gerettet. Es muss nur alles sehr schnell gehen.“

„Was ist dann mit mir?! Werde ich nicht vollkommen woanders landen?“ Suzannas Panik trieb ihr Adrenalin durch den Körper und sie packte Daniel an der Schulter.

Faraday sah sie einen kurzen Moment mit tiefem Mitleid an, aber entzog sich nicht ihrem Griff.

„Es tut mir leid…“

Auf den festgetretenen Boden zwischen ihnen fiel plötzlich ein langer, unscharfer Schatten.

Sie hoben ihre Blicke und versuchten gegen die einfallende Sonne anzukämpfen.

Suzanna hob die Finger vors Gesicht und blinzelte.

Im Zelteingang stand ein Mann. Es war weder Widmore noch einer der Wachen oder der anderen, ihnen bekannten Campbewohner. Sue konnte sich nicht erinnern, ihn vorhin in der Versammlung entdeckt zu haben, allerdings war sie sich auch sicher, nicht so sehr auf anwesende Personen geachtet zu haben, während man ihr mit dem Tod drohte.

Er war nicht ganz so groß wie Widmore, aber ebenfalls von schlanker, trainierter Gestalt und viel jünger. Vielleicht Mitte, Ende Dreißig. Auf den ersten Blick konnte man feststellen, dass er wahrscheinlich Hisspanier war oder zumindest aus dem südeuropäischen Mittelmeerraum stammte. Seine Haut schien von Natur aus brauner zu sein und sein Haar war dicht und pechschwarz. Der Fakt, dass es so aussah, als würde er Kajal um die Augen herum tragen, ließ Suzanna für einen kurzen Moment stutzen.

„Hallo, ich bin Richard Alpert.“

Er streckte weder die Hand aus, noch kam er näher. Stattdessen fuhr er fort, ohne jemanden die Chance zu lassen, sich vorzustellen.

„Ich würde gerne wissen, woher Sie das mit der Wasserstoffbombe wissen!“

Daniel blinzelte ihn an.

„Ich denke, das tut nichts zur Sache…“

„Oh doch, eine ganze Menge sogar! Die Bombe befindet sich schon seit Jahrzehnten auf dieser Insel. Sie ist sicher und keiner hat sie bis jetzt angerührt. Allerdings habt ihr unseren Anführer jetzt dazu gebracht, sie zu suchen und den Versuch zu unternehmen sie zu entschärfen. Und ihm ist vollkommen egal, ob das eine gute Idee ist oder nicht.“

Miles setzte sich ein Stück weiter auf seiner Liege vor. „Moment! Sie wissen davon? Sie wissen von der Bombe?“

„Ich weiß von der Bombe. Charles wusste es nicht. Das heißt, bis vorhin, als Sie, Mister Faraday es erwähnt haben. Seitdem herrscht da draußen völliges Chaos!“

Alpert deutete durch die Zelttür nach draußen.

„Was soll das?“, fragte Daniel sichtlich verwirrt, „Wieso haben Sie es keinem gesagt, wenn Sie bescheid wussten? Woher wissen Sie überhaupt davon? Die Bombe befindet sich in einem unterirdischen Silo. Es ist komplett zugewuchert. Unmöglich, dass das jemand gefunden hat, der nicht vor 50 Jahren dabei war, als sie aufgestellt wurden ist!“

„Nun Mr. Faraday, da haben wir beide wohl unsere Geheimnisse. Oder wollen Sie mir sagen, Sie wären vor 50 Jahren hier gewesen? Ich bin wirklich sehr schlecht darin, Menschen in ihrem Alter einzuschätzen, aber Sie sehen mir nicht aus wie Anfang Fünfzig.“

Richard griff unter eines der Armeebetten und zog eine offene Holzkiste hervor, gefüllt mit Wasserflaschen und kleinen Schachteln, die anscheinend trockene Cracker enthielten, von einer Marke, die es seit Jahrzehnten eigentlich nicht mehr gab. Er warf den Vieren, jeweils zwei Flaschen Wasser und eine Crackerpackung hin.

„Ihr verschwindet hier. Und zwar sofort! Ich will auf gar keinen Fall, dass irgendeiner von euch noch einmal den Mund aufmacht. Charles Widmore darf den Standort dieser Bombe nicht erfahren. Der Versuch sie zu entschärfen, könnte gefährlicher sein, als sie einfach dort zu belassen, wo sie ist. Ich werde die Wachen kurz ablenken und ihr verlasst das Camp durch die unbewachte Schneise hinter diesem Zelt und lauft dann in jegliche Richtung, die euch einfällt. Ich würde euch raten, so weit weg wie möglich von diesem Camp entfernt zu sein, wenn die Sonne untergeht.“

Erschrockenes Schweigen. Richard blickte ihnen allen noch einmal fest in die Augen, stand dann auf und verlies das Zelt, um mit den Wachen zu reden.
 

„Tja, ehm“, begann Miles zögernd, „Ich denke, das lief eigentlich ganz gut. Nur sollten wir wirklich verschwinden, im Falle unser Muchacho noch seine Meinung ändert. Und ich traue diesem Kerl kein Stück. Nichts von alledem hat bis jetzt einen Sinn ergeben. Ich weiß nur mit Sicherheit, dass die hier anscheinend ein echtes Kommunikationsproblem haben.“

Daniel und Charlotte zögerten keine Sekunde und packten ihre Wasserflaschen und den Proviant zusammen, während Miles aus dem Zelt späte, um den richtigen Moment für ihren Ausbruch abzupassen.

Suzanna bewegte sich keinen einzigen Millimeter. Sie war sich vorher noch nicht ganz sicher gewesen, aber jetzt war es kaum zu überhören. Das vibrierende Surren, das von ganz weit her zu kommen schien, konnte sie jetzt nicht mehr ignorieren. Die Sonne, die durch den Zelteingang fiel, wurde gleißend hell und von einer Sekunde auf die andere explodierte das Geräusch in ihrem Kopf und war plötzlich überall. Um sie herum, in ihren Gedanken, in jeder Faser ihres Körpers.

Daniel musste etwas bemerkt haben und kam zu ihr gestürzt. Sie hielt die Hände gegen die Ohren gepresst. Ihre Nase hatte zu bluten begonnen und ihre Augen schmerzten, weil das Licht durch ihre Augenlider immer noch alles überstrahlte.

Daniels Hand drückte fest in ihre Schulter. So fest, dass sie gezwungen war, aufzublicken. Sein Gesicht schwamm in einem See aus milchigem Weiß und sie konnte kaum seine Augen und seinen dunklen Bart erkennen, weil ihr die Tränen kamen.

Dennoch bewegte er unablässig seinen Mund. Er schrie so laut, dass sie ihn trotz des Lärms um sie herum noch zu verstehen glaubte. Einige Worte und Bruchstücke von Sätzen.

„D…musst … stopp… zurück … Oxford … einen Weg zurück … es stoppen … deine anderen … Konstante…“

Sie sah wie er einige Worte wiederholte, aber sie konnte ihn schon längst nicht mehr verstehen, auch wenn er so laut schrie, dass das ganze Camp es bemerkt haben musste.

Aber das Camp existierte nicht mehr. Nicht mehr für Suzanna. Für sie gab es nur noch helles, dichtes, schmerzendes Weiß und einen Ton, der ihre Eingeweide zum Bersten brachte.
 

Das Erste, was sie diesmal wahrnahm war ein unangenehmer Geruch. Er biss sich in ihre Nase und blieb dort bis sie nicht mehr wagte zu atmen. Sie verzog ihr Gesicht und drehte den Kopf zur Seite, in der Hoffnung dort etwas frischere Luft zu atmen.

Sie wurde enttäuscht. Überall um sie herum schien es erbärmlich zu stinken. Wie Biomüll im Hochsommer, verrottendes Fleisch in der Mittagshitze.

Sie griff nach oben an das Revers ihres Overalls und zog sich den Stoff über die Nase. Er roch nach einer Mischung aus Schweiß und Erde, aber viel angenehmer, als ihre Umgebung.

Allmählich merkte sie, dass bis auf den scharfen Geruch, um sie herum nur wenig wahrzunehmen war. Es schien dunkel zu sein und relativ kühl im Vergleich zur voran gegangenen Mittagshitze. Ruhig war es dennoch nicht. Grillen, Frösche und vereinzelte Affenschreie. Sie war also noch im Dschungel. Und es war Nacht.

Sie öffnete nur vorsichtig die Augen. Die Schwärze war angenehm und beruhigte ihre verkrampften Gesichtszüge. Dennoch ließ der Gestank sie nicht in Frieden.

Sobald sie die Kraft gefunden hatte, aufzustehen, rollte sie sich zur Seite und stützte sich auf ihren Handballen ab. Der Boden war feucht und etwas Kleines bewegte sich zwischen ihren Fingern hindurch. Vor Schreck wäre sie fast wieder zu Boden gestürzt, konnte sich aber mit der linken Hand abfangen. Die Erde eines Urwaldes war voller Getier, aber in der Dunkelheit nicht zu erkennen, was einem da über die Hand krabbelte, war auf eine besondere Weise beunruhigend.

Suzanna kniete sich vorerst hin bis der Schwindel nachgelassen hatte.

Erst Kopfschmerzen, dann Schwindel, Bluthochdruck, Übelkeit. Dann Wahnsinn und Tod.

Sie spähte in das schwarze Nichts vor sich. Langsam glaubte sie ein paar Details zu erkennen. Die Schatten von Bäumen und Buschwerk und auch etwas, das für sie erst wie eine Schlange aussah, sich aber zu ihrer Erleichterung als herunterhängender Ableger einer Baumpflanze herausstellte.

Die Ursache des Gestanks konnte sie so allerdings nicht erkennen. Im Dunkeln auf die Quelle zuzutasten, hielt Suzanna nicht für eine ihrer besten Ideen. In ihrem Nacken saß die Angst vor Daniels Worten. Sie musste diese Insel verlassen, so schnell es ging und möglichst vor dem nächsten Zeitsprung. Sie würde sich zum Strand durchkämpfen und dort sehen, was sie tun konnte. Vielleicht konnte sie ein Boot bauen oder traf unterwegs auf Jemanden, der eine Möglichkeit wusste, von hier weg zu kommen. Auch wenn „auf Jemanden treffen“ bis jetzt immer zu den schlechtesten Dingen gehört hatte, die einem auf dieser Insel passieren konnten, klammerte sich Suzannas verzweifelter Verstand an das Gefühl der Hoffnung, das die Begegnung mit einem weiteren Menschen in diesem Fall bedeuten konnte.

Ihre Knie gaben fast augenblicklich nach, als sie sie belastete. Panisch griff sie nach etwas, um sich zu stabilisieren und griff dabei in die Luft. Ihr Körper kippte nach rechts und ihre Schulter traf auf die harte Rinde eines Baumes. Der unerwartete Aufprall erschreckte sie und das Gewebe an ihrem Oberarm wurde schmerzhaft gequetscht, als sie an der Rinde entlang schrammte und kleine Baumstücke abbrachen.

Sie drückte sich vom Stamm weg und stand nun sicherer auf ihren Beinen. Sie konnte kein bisschen sehen. Die Angst in ihr, langsam den Verstand zu verlieren und beim nächsten hellen Licht einfach Tod umzukippen, veranlasste sie in die Richtung zu gehen, die sie für die richtige hielt. Sie musste es versuchen. Sie musste sich wenigstens irgendwohin bewegen. Wenn sie Glück hatte, war die Insel vielleicht nur klein und sie würde in jeder Richtung bald auf den Strand treffen.

Die Arme weit von sich gestreckt, bewegte sich Suzanna schlurfenden Schrittes über den unebenen Waldboden, der auf jedem Zentimeter entweder abfiel oder anstieg. Sie konnte keinen ihrer Schritte planen. Der Grund ließ sich nicht vorausahnen und für ein paar Meter brauchte sie mehrere Minuten. Nicht nur einmal drohte sie auf ganzer Länge hinzufallen und sich den Kopf auf einem Stein oder einer Wurzel anzuschlagen, aber das Schicksal hatte bald ein Einsehen und ihre Augen gewöhnten sich soweit an das schwache Licht, dass sie Bäume und große Hindernisse auf dem Waldboden erkennen konnte.

So lief sie gefühlte Stunden umher, ohne zu wissen, ob sie sich noch in die gleiche Richtung bewegte, wie am Anfang oder ob sie bereits im Kreis lief. Immerhin hatte sie den Gestank nicht mehr gerochen und war also nicht noch einmal exakt da vorbei gekommen, wo sie gestartet war.

Dann hob sie den Fuß und stieß mit der Oberseite so heftig gegen eine aufgerichtete Wurzel, dass sie nach vorne in das Dickicht hinein kippte, welches sie gerade umgehen wollte. Ihr Fuß schien innerlich zu splittern und wurde augenblicklich heiß und dick in ihrem Schuh. Sie spürte wie die Venen gegen den festen Stoff pochten und biss sich auf die Zunge, um nicht los zu flennen, wie ein kleines Mädchen. Es war nichts gebrochen, aber der Fußknochen war angeknackst und steckte jetzt in einem Schuh fest, der jeden weiteren Schritt zu klein für die Schwellung wurde.

In dem Moment, in dem sie sich zwang ruhig zu bleiben, bemerkte sie das erste Mal um sich herum die Stille. Weder Grillen, noch Vögel, noch Affen waren zu hören. Und im Unterholz bewegte sich nichts mehr.

Suzanna hatte den Schmerz vollkommen vergessen und lauschte nun angestrengt in den Wald hinein. Je länger und gewisser die Abwesenheit jeglicher Geräusche wurde, desto schneller und heftiger ging ihr Herzschlag. Ein Unbehagen breitete sich in ihrer Magengegend aus und das Einzige, was ihr ihr Verstand noch sagte, war: Lauf! Lauf! LAUF!

Und sie lief! Sie hatte den Moment nicht bemerkt, indem sie aufgestanden war und angefangen hatte zu rennen, aber jetzt trugen sie ihre Füße über den Waldboden, als wäre nie eine Schwierigkeit dabei gewesen. Sie stolperte, fing sich wieder und spürte kaum die Schmerzen in den Knochen, die sie sich dabei anschlug.

Die Geräusche kehrten nicht wieder, aber sie war sich jetzt sicher, dass etwas sie verfolgte. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie ohne einen klaren Grund so beunruhigt gewesen wie in diesem Moment. Wie bei einem in Angst versetzten Kaninchen hatte ihr Körper jegliche Kontrolle übernommen und kein einziger Gedanke drang mehr zu ihr durch.

Ihre Füße flogen über den Boden, ihre Hände schürften an Rinde, Blättern und Ästen entlang, ihr Blick war in einem engen Winkel nur nach vorne gerichtet und ihre Ohren versuchten die Umgebung hinter ihr zu überwachen. Tatsächlich war dort ein Geräusch. Wie das zu schnelle Ticken einer Uhr oder das das metallene Klappern einer Kette, die über kalten Stein gezogen wurde oder – erinnerte sie sich plötzlich – wie wenn man eine Spieluhr sehr langsam aufzieht.

Fast blind vor Panik versuchte sie noch schneller zu laufen, streckte ihren Kopf nach vorne und hob ihre Unterarme schützend vors Gesicht. Da glaubte sie zwischen ihren angewinkelten Armen etwas zu erkennen. Ein helles Viereck aus Licht irgendwo zwischen den Bäumen. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es ein Fenster war hinter dem in einem warmen Orange Licht brannte.

Gottseidank, gottseidank, gottseidank!!!

Das waren ihre ersten Gedanken seit einer Ewigkeit und sie trugen sie auf das Licht zu, als wäre es ihre einzige Hoffnung. Sie wusste nicht, was sie verfolgte. Sie konnte noch nicht einmal sehen, ob dort etwas war. Aber in diesem Moment war Suzanna sich sicher:

Sie würde sterben, wenn sie es nicht bis zum Licht schaffte.

Mittlerweile war sie so nah heran gekommen, dass sie erkennen konnte, dass sie auf ein Haus zulief. Auf eine Art flachen Containerbau mit einem dunklen Dach und Wänden aus blauem Wellblech. Es stand auf einer großen Lichtung und war teilweise umgeben einem metallenen Viehzaun, an dem die Farbe abblätterte und der anscheinend eine Weide absteckte. Davor standen altes Feldarbeiter-Gerät und Unmengen sonstiger verrosteter Abfall wie leere Blechdosen und Glasflaschen. Hinter dem Gebäude und auf dem Dach reckten sich einige angelaufene Satellitenschüsseln in den Nachthimmel und kleine grüne und rote Lichter zeigten an, dass sie in Betrieb waren.

Das Haus wirkte heruntergekommen und vernachlässigt, aber das Licht hinter dem Fenster und die blinkenden Satellitenschüsseln deuteten darauf hin, dass es bewohnt war.

Suzanna sprintete auf die Anlage zu. Als sie an dem Viehzaun vorbei hechtete, flackerte eine kurze Neonröhre über der Eingangstür auf und tauchte den schlammigen Boden vor ihr in kaltes Licht.

Den unsichtbaren Verfolger immer noch hinter ihr, stürzte sie auf den Eingang des Hauses zu. Sie verringerte ihre Geschwindigkeit nicht einmal, als die Tür vom Gebäude aufgestoßen wurde und eine großer Schatten auf den Boden vor ihr fiel.

„Bleib stehen! Keinen Schritt weiter!“

Sie blieb nicht stehen. Sie durfte nicht. Das Licht war ihre einzige Chance.

„Ich hab gesagt, BLEIB STEHEN!!!“

Der Schuss war ohrenbetäubend laut. Der Schreck riss Suzanna so heftig von den Füßen, dass sie im ersten Moment nicht wusste, ob sie einfach im Schlamm ausgerutscht war oder ob sie die Ladung der Schrottflinte tatsächlich getroffen hatte.

Sie lag nach vorne gestreckt in einer warmen braunen Suppe aus Dreck und Gras; und Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hob schwach die Hände. Durch den salzigen Schleier vor ihren Augen konnte sie nicht viel mehr erkennen, als den verschwommenen, formlosen Schatten auf der Türschwelle einige Meter vor ihr und durch ihr Schluchzen klangen ihre Stimme eher wie das sinnleere Gewimmer eines Kindes, das noch nicht gelernt hatte, zu sprechen.

„Bitte… Bitte! Bitte… Da ist etwas. Etwas verfolgt mich! Ich weiß nicht, was es ist. Aber Oh Gott !“ Ihre Stimme brach ab und ging von wimmerndem Geschrei in das scharfe Flüstern einer vor Angst Wahnsinnigen über.

„Es ist ganz nah. Ich habe es nicht gesehen, aber ich kann es hören. Es kommt näher. Es kommt hierher!!! Bitte …“

Sie stütze sich auf die Knie und hob ihre leeren Hände in die Luft, damit der Schatten sehen konnte, dass sie unbewaffnet war.

„Sie müssen mich reinlassen. Bitte, SIE MÜSSEN MICH REINLASSEN!!!“

Sie hörte wie jemand die Treppen zum Eingang hinunter stieg und auf sie zukam. Die Schritte waren forsch und zielgerichtet. Suzanna wurde an der Schulter gepackt und auf ihre Füße gezogen. Dann stieß man sie nach vorne auf die offene Tür zu.

„Geh da rein! BEEIL DICH!“

Sie stolperte nach vorne und die drei Stufen hinauf. Im Haus stürzte sie an die gegenüber liegende Wand und rollte sich zusammen, während sie hörte wie die Tür hinter ihr geschlossen und verriegelt wurde.

Weitere Schritte in der Stille. Ein Vorhang wurde zur Seite gezogen und wieder geschlossen. Der Schatten bewegte sich im Raum von einer Seite zur anderen. Etwas Metallenes kratzte über den Boden. Das Geräusch endete kurz vor ihr.

Suzanna löste ihr verheultes Gesicht aus der Umarmung ihres Körpers und blickte in den Raum hinein. Das Haus bestand fast nur aus einem einzigen Raum. Weiter hinten teilte eine Wand aus Stahlstreben das Innere des Hauses. Die Wände und der Boden waren kalt und abgenutzt, aber trotzdem nicht kahl. Jemand hatte einen großen, ausgeblichenen Teppich den grauen Beton geworfen und weiter hinten im Raum konnte sie eine Couchgarnitur mit einem Tisch erkennen. Zwischen den Streben konnte man einen Wanddurchbruch zu einer Küche erkennen und daneben noch zwei weitere Türen, die wahrscheinlich in andere Räume führten. An den Wänden hingen Bilder und Zeitungsartikel. Ein Poster, auf dem eine Ballerina oder eine Turnerin in konzentrierter Pose abgebildet war. Die Schrift darauf war kyrillisch. Suzanna konnte russisch lesen. Sie erkannte auf den ersten Blick nur, dass die Bildunterschrift darauf hinwies, dass die Frau eine gewisse Nadia Comaneci war. Der Name sagte Suzanna nichts.

Die anderen Bilder und Zeitungsfotos waren zu klein, um sie zu erkennen. Viele von ihnen waren vergilbt und so oft gefaltet wurden, dass die Druckfarbe in den Falten bereits verschwunden war.

Der Schatten saß vor ihr auf einem umgedrehten Stuhl. Auf der Lehne ruhte der Lauf eines Gewehres und zeigte mit präziser Bestimmtheit auf ihre Brust. Suzanna atmete stockend ein. Ihr Herz pochte immer noch schmerzhaft gegen den Stoff ihres Overalls und ihr Fuß begann wieder zu schmerzen. Aber sie fühlte sich sicherer. Die Waffe, die man auf sie richtete war nichts im Vergleich zu der unsichtbaren Bedrohung zuvor.

„Wer schickt dich?“

Suzanna wischte sich mit dem Handrücken den Dreck und die Tränen aus den Augen. Ihr Gegenüber war ein Mann und er sprach mit einem starken kyrillischen Akzent. Als erstes erkannte sie den Gewehrlauf und zwei außerordentlich ruhige Hände, die ihn hielten. Über der Zielhilfe blickte ein schmal zusammen gekniffenes Auge auf die Stelle, an der ihr Herz lag. Kein Wimpernschlag verriet auch nur die Absicht ihr ins Gesicht zu sehen. Das andere Auge lag unter einer schwarzen Augenklappe.

Suzanna spürte, wie die Anspannung des Mannes auf sie überging. Jeder einzelne Muskel verharrte in seiner vorgesehenen Stellung. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob er überhaupt atmete.

„Antworte! Wer schickt dich?“

„Niemand. Niemand! Wer sollte mich schicken? Ich weiß nicht, was Sie--“

Der Mann mit der Augenklappe ließ den Ladehebel demonstrativ laut zurück schnellen. Suzanna hätte schwören können, dass die Waffe bereits vorher schon durchgeladen wurden war, aber anscheinend benutzte er diese Geste jetzt zur Verstärkung seiner Worte. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Suzanna wurde sich ihrer erneut bedrohlichen Situation schlagartig bewusster.

„Ich frage kein drittes Mal! Bist du eine von Bens Leuten?“

„Ob ich was bin? Wer ist Ben?!“

Er stand auf und stieß den Stuhl dabei nach vorne um. Die Lehne krachte wenige Zentimeter vor ihr auf den Boden. Dann trat der Mann den Stuhl zur Seite und Suzanna spürte den unangenehm festen Druck des Gewehres auf ihren Rippen.

„Ich habe keine Ahnung, wer Ben ist! Ich war gerade noch mit ein paar Leuten unterwegs. Daniel, Char…Charlotte und den Namen von dem anderen hab ich vergessen! Bitte, ich habe keine Ahnung, wer Ben ist. Ich weiß nicht…“ Sie zögerte einen kurzen Moment, dann sagte sie aus einer Eingebung heraus: „Ich weiß nicht, kennen Sie einen Charles Widmore?“

Für einen kurzen Moment leuchteten die Augen des Mannes auf und Suzanna hatte das Gefühl den richtigen Nerv getroffen zu haben.

„Ja.“, sagte der Einäugige in einem seltsamen Ton, „Ja, ich kenne Charles Widmore.“

Dann riss er den Griff seiner Waffe nach vorne und bevor der Schmerz an ihrem Kinn bis in ihren Kopf vorgedrungen war, hatte Suzanna bereits ihr Bewusstsein verloren.



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Kommentare zu dieser Fanfic (32)
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Von:  Chosei
2014-04-22T13:41:03+00:00 22.04.2014 15:41
Da Kapitel 18 ja noch nicht oben ist, erst mal nur ein Kommentar zur 17.^^
Es hat zwar laaaange gedauert, bis du weiter geschrieben hast, aber dein Stil ist immernoch klasse!
Ich war direkt wieder gefesselt, obwohl es mehr um Charlotte ging, die ich ja so gar nicht ausstehen kann.
Meine Erinnerungen reichen leider nicht mehr, um noch zu wissen, was in der Serie zu der Zeit genau passiert ist. Ich dachte zum Beispiel, das Widmore bei der Sache mit dem Zeltcamp noch ein richtig junger Mann war...aber in der Serie war da vielleicht noch ne Zeitlinie dazwischen, die mich jetzt verwirrt. xD
Ansonsten sehr gut!
Schön wie du die Hitze beschreibst...da bekommt man fast selbst Schweißausbrüche und hat lust sofort Duschen zu gehen und die Klamotten zu wechseln.
Die Charaktere hast du auch gut getroffen. Miles war schön Miesepeterig, Daniels Worte haben mich verwirrt (Physik...ha...|D) und Charlotte war...halt...da...zu der kann ich nichts sagen. xD

Den nächsten Kommi gibts mit dem nächsten Kapitel.
Und, wie immer: Schreib weiter! °______°
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T20:10:21+00:00 07.01.2011 21:10
O_O Man was für ein langes Kappi
*sich da erstmal durchkämpfen musste*
Naja aber ich fands echt toll, dass man wieder so viel aus ihrer Vergangenheit erfahren hat ^.^
Freu mich schon wenns mal weiter geht ^.^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:59:46+00:00 07.01.2011 20:59
Oh man dein Schreibstil is so geil *.*
*würde auch gerne so schreiben können*
Aber schon interessant wer da so alles nach und nach auftaucht ^.^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:52:51+00:00 07.01.2011 20:52
WOW *.*
*geflasht ist von dem Kappi*
War zwar etwas lang aber ich habs geschafft durch zu kommen XD
Also ich mag Sue irgendwie recht gerne inzwischen^^
Freu mich schon wenn ich mal mit ihr im RPG playn darf^^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:46:10+00:00 07.01.2011 20:46
Sehr schöne Erklärung wie alles so passiert ist^^
Aber die 2.Hälfte des kappis war einfach nur spannend *.*
*wie gebannt am Bildschirm sahs und sich jetzt mal ins nächste Kappi stürz*

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:40:18+00:00 07.01.2011 20:40
*.*
Wie süß *schon fast Karies bekomm*
Aber echt schlimm was die kleine Sue alles mitmachen musste T_T

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:37:14+00:00 07.01.2011 20:37
Ach ja die beiden sind ja so süß^^
Aber bin mal echt gespannt was Sue dann so alles zu sagen aht wenn sie aufwacht^^

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:31:44+00:00 07.01.2011 20:31
Traue niemanden! Ganz genau!
Endlich mal ein guter Satz XD
Na aber endlich hilft mal jemand Sue ^.^ *freu*

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:27:45+00:00 07.01.2011 20:27
O_O Die haben Sue da echt einfach so stehen gelassen?
Öhm joa die waren ja aber nett....
*mal lieber weiterlesen geht*

LG Amalia
Von:  Vanilla_Coffee
2011-01-07T19:20:46+00:00 07.01.2011 20:20
Oh man die arme Sue
*Sue mal knuddel*
Was die nicht schon alles durchmachen musste T_T

LG Amalia


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