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Cruel Nature

von

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Der Mann am Friedhofstor

Der Mann am Friedhofstor
 

Im Flur schaut Keisuke prüfend in den Spiegel. Einen Anzug besitzt er nicht, deswegen hat er ein schwarzes Hemd zu einer schwarzen Hose angezogen, und dabei die schwarzen Schuhe, die er sonst auch immer trägt.

„Kommst du endlich?“, fragt Sakito genervt, der schon an der Haustür wartet.

Miho konnte kein Taxi bestellen, da am Sonntag alle Angestellten des Unternehmens frei haben.

Dazu kommt, dass der einzige Bus, der in diese Richtung fährt, sonntags frühestens um 12:00 Uhr kommt, also ist das auch keine Alternative.

Die einzige Möglichkeit war es also für seine Schwester, Sakito zu bitten, ihn auf seinem Motorrad mitzunehmen. Etwas, das Sakito allgemein nur sehr ungern tut. Das Motorrad ist sein ein und alles.

Keisuke verlässt langsam das Haus und geht mit seinem Bruder zum Motorrad, das in der kleinen Einfahrt steht. Sakito setzt sich darauf, und Keisuke gesellt sich hinter ihm dazu.

Nachdem sein großer Bruder seinen Helm angezogen hat, saust er los.
 

Die Fahrt auf dem Motorrad, mehr als zwanzig Minuten lang, hat Keisukes Haare total zerstrubbelt, als sie ankommen. Sakito stellt sich mit der Maschine weit links vor das Friedhofstor.

„Kommst du nicht mit?“, fragt Keisuke, der gerade losgehen wollte, verwirrt.

Sakito schüttelt den Kopf: „Beerdigungen sind nicht so mein Ding, ich warte hier auf dich. Aber beeile dich besser, ich glaube, du kommst zu spät.“

Keisuke läuft, ohne vorher nach der genauen Uhrzeit zu fragen durch das Tor und dann über den riesigen Friedhof immer weiter geradeaus, bis er an eine Stelle kommt, wo sich der Weg in drei Richtungen gabelt.

Hätte Samuel nicht etwas präziser sein können? Er will die Beerdigung auf keinen Fall verpassen.

Aber Keisuke war bisher noch nie auf dem St. Johanna Friedhof, und hat Probleme sich zurecht zu finden. Wahllos läuft er weiter geradeaus.

Aber nirgendwo ist ein Mensch zu sehen, niemand der ein Grab pflegt, den Rasen mäht, oder einen verstorbenen Verwandten besucht. Nach gut fünf Minuten dämmert es ihm, dass er wohl in die falsche Richtung gelaufen ist, und beeilt sich zurück zum Ausgangspunkt, diesmal geht er nach rechts und läuft immer weiter.

Nach ein paar Minuten sind Stimmen zu hören, denen Keisuke folgt.

Es kommen ihm einige Leute entgegen, manche unterhalten sich, andere schweigen und sehen bedrückt zu Boden.

Keisuke läuft an ihnen vorbei, immer weiter dahin, wo die Menschenmenge hergekommen ist.

Schließlich sieht er es: Eine tiefe Grube, in der ein Sarg liegt, der mausgraue Grabstein bereits dahinter platziert, auf dem in heller, silberner Schrift steht: „Verena Engels“

Es sind nur noch ein paar Leute anwesend. Keisuke hat die Beerdigung wohl verpasst.

Wie konnte ihm das passieren? Aber noch ist es nicht ganz vorbei, immerhin wurde die Grube noch nicht zugeschaufelt.

Keisuke sieht sich nach Raito und Samuel um, kann aber keinen von beiden finden.

Ihm fällt ein Paar auf, das ganz nah am Grab steht.

Eine Menge weiße Lilien liegen zu ihren Füßen – der Blumenstrauß muss einem der beiden hinunter gefallen sein.

Die Frau hat weinend ihr Gesicht in den Händen vergraben und der Mann hält sie schwer atmend im Arm. Irgendwo hat Keisuke diese beiden schon einmal gesehen...

Da fällt es ihm wieder ein: „Die beiden waren auf dem Foto in Raitos Versteck...“, flüstert er.

„Es sind ihre Eltern“, sagt eine Männerstimme hinter ihm.

Erschrocken dreht Keisuke sich um, Raito steht lächelnd hinter ihm.

„Aber... Ich dachte, ihre Eltern haben sie verstoßen...?“, fragt Keisuke, während er das leidende Paar verwundert ansieht.

„Mein Versteck, das ist das Miethaus von Verenas Eltern. Das dort, sind Herr und Frau Engels. Sie...“ Raitos Hände ballen sich zu Fäusten; „Sie haben ihre Tochter immer geliebt.“

Keisuke weiß nicht, was Raito meint.

Haben ihre Eltern sie in Wahrheit aus tiefsten Herzen geliebt?

Würden sie ihre Tochter jetzt, nach ihrem Tod, auch als Vampir, wieder zurücknehmen?

Keisuke entschließt, sein Beileid auszusprechen, und geht zu den beiden hin.

Die Mutter scheint ihn nicht zu bemerken und weint einfach weiter, während der Vater Keisuke traurig anschaut.

Wie schön muss es sein, wenn man Eltern hat, die um einen weinen...

Keisuke kennt das nur umgekehrt, von sich, Miho, Sakito und Shizuka.

Er entscheidet sich aber, diese Gedanken jetzt zu verwerfen, und streckt dem Paar seine Hand aus.

„Mein... aufrichtiges Beileid...“, sagt er leise, und versucht zu lächeln.

Der Vater nickt nur, und seine Frau öffnet die Augen.

Sie sieht Keisuke mit Tränen in den Augen, aber dennoch ruhig an.

„Du bist... auch einer...“, haucht sie und klammert sich noch fester an ihren Mann, der Keisuke daraufhin verachtend ansieht.

„Entschuldigung!“, ruft Keisuke und will zurück zu Raito laufen, der aber mittlerweile nicht mehr da ist. Stattdessen setzt er sich einige Meter entfernt an einen Baum.

Ob man Verena wohl irgendwie zurückholen kann? Das wäre so toll...

Aber Keisuke kann, selbst wenn er seine Fähigkeit von Emily wiedererlangen würde, nur Menschen wieder zum Leben erwecken. Gibt es keine andere Möglichkeit?

Er grübelt eine Weile...

Aber selbst wenn es irgendwie gehen würde, würde Verena das überhaupt wollen?

Sie wollte nichts weniger, als ein Vampir sein.

Vielleicht wollte sie ja sterben...

Keisuke steht nach einer Zeit auf und beschließt, wieder zu gehen, Sakito wartet schon mehr als eine Stunde. Er schlendert über den grünen Friedhof und versucht, den frischen Duft der vielen Blumen zu genießen.

Als er das Friedhofstor sieht, bemerkt er, dass ein Mann davor steht.

Es ist Verenas Vater. Keisuke nickt ihm zu und möchte an ihm vorbeigehen, aber er packt ihn am Arm und hält ihn fest: „Warte bitte.“

Keisuke hält inne und sieht ihn fragend an.

„Du...“ Der Mann lässt den Arm los und holt tief Luft: „Ich wollte mich für unsere abweisende Reaktion dir gegenüber entschuldigen. Es war nett von dir, dein Beileid zu bekunden.“

Keisuke antwortet nicht.

„Meine Frau... verachtet euch Wesen jetzt noch mehr. Aber ich glaube, das ist falsch. Dieser ganze Hass muss doch irgendwann enden! Ich will nicht, dass Verena umsonst gestorben ist...“

Keisuke schaut ihn dankbar an. Er scheint wirklich kein schlechter Mensch zu sein.

„Du warst mit ihr befreundet, oder?“, fragt er Keisuke.

Dieser ist leicht verwirrt: „Woher wissen Sie das?“

Verenas Vater lächelt nun: „Ich habe sie gesehen. Deine Tränen.“

Keisuke berührt seine Augen. Sie sind trocken, vertrocknet um genau zu sein.

Er hat also geweint, ohne es selbst zu merken?
 

Im Haus der Valleys sucht Shizuka währenddessen die Katze.

„Miho? Hast du Shya gesehen?“ Miho, die gerade das Mittagessen vorbereitet, schüttelt nur den Kopf, ohne aufzusehen. „Wo könnte sie sein?“, fragt Shizuka besorgt und setzt sich hin.

„Sie hat sich bestimmt nur irgendwo versteckt...“, vermutet Miho und schaltet den Herd an.

„Was möchtest du denn von ihr?“

„Gar nichts!“, antwortet Shizuka schnell; „Aber mir ist aufgefallen, dass sie das Futter, das ich ihr gestern Abend hingestellt habe, noch nicht gefressen hat.“

„Hmm...“ Miho zieht eine Augenbraue hoch; „Wir suchen sie nach dem Essen, einverstanden? Ich hoffe, Keisuke und Sakito sind bis dahin wieder da.“

„Wo sind die beiden denn?“

Miho hält kurz inne, und erwidert nervös: „Ähm, in einem Freizeitpark...“

„Was? Und warum nehmen sie mich nicht mit?“, fragt Shizuka entsetzt.

Miho zuckt mit den Schultern. Es gefällt ihr gar nicht, dass sie Shizuka anlügen muss, aber es ist Keisukes Entscheidung gewesen, ihr alles zu verheimlichen.

Da wird Miho wohl mitspielen müssen, ob sie will oder nicht. Und auch wenn sie weiß, dass es falsch ist.

Man hört, wie die Haustür aufgeschlossen wird, und Sakito kommt mit Keisuke im Schlepptau ins Haus.

„Mann, diese Beerdigung hat ja ewig gedauert!“, schimpft Sakito.

„Beerdigung?“ Shizuka macht große Augen.

„Ähm, 'Beerdigung', das ist eine Attraktion in diesem Vergnügungspark!“, ruft Miho schnell.

Shizuka seufzt: „Achso...“

Keisuke will hoch in sein Zimmer, aber Shizuka fängt ihn vor der Treppe ab und fragt:

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum ihr mich nicht mitgenommen habt? Habe ich irgendwas falsch gemacht?“

Er antwortet: „Nein, hast du nicht, beim, ähm, nächsten Mal nehmen wir dich mit, okay?“

Shizuka nickt betrübt, und Keisuke rennt hoch in sein Zimmer.

Er wirft seine Schuhe in eine Ecke und legt sich auf das Bett.

Eine Weile versucht er an nichts zu denken, und genießt die Ruhe.

Er hört die Stimmen von Miho und Sakito unten, Shizuka kann er aber nicht hören.

Nur herumliegen und entspannen... Endlich mal wieder abschalten.

Nach zehn, zwanzig, oder dreißig Minuten klopft es an der Tür und Miho kommt rein:

„Essen ist fertig!“

Keisuke, der bei seiner Ruhe gestört wurde, erwidert gelassen: „Du weißt doch genau, dass ich nichts essen muss... Sag den anderen, ich habe keinen Hunger.“

Miho seufzt: „Hm... Ist vielleicht besser so... Ich muss dich um etwas bitten.“

„Ja?“ „Könntest du morgen Abend irgendetwas mit Shizuka unternehmen? Könnt ihr irgendwas machen, sodass ihr nicht hier seid?“

Keisuke blickt sie fragend an, und Miho errötet leicht: „Ich habe Stephan morgen Abend zum Dinner eingeladen... Sakito ist ja sowieso meistens weg, aber Shizuka und du...“

Keisuke muss sich ein Grinsen verkneifen: „Ich habe schon verstanden. Aber hast du vielleicht eine Idee, was ich mit ihr machen könnte?“

Miho sieht selbst überfragt aus: „Ähm, geht doch ins Kino oder ins Einkaufszentrum, euch fällt schon etwas ein. Es ist mir nur wichtig, dass ihr von acht Uhr bis zehn Uhr weg seid. Geht das?“

Keisuke nickt. Er hat sowieso nichts vorgehabt, also würde es für ihn kein Problem darstellen.

„Gut...“ Miho sieht erleichtert aus:

„Das muss ich auch noch Shizuka sagen... Ich glaube aber nicht, dass sie etwas dagegen hat.“

Sie will das Zimmer gerade wieder verlassen, aber da ruft Keisuke noch schnell: „Miho!“

Sie dreht sich um.

„Gefällt dir dieser Stephan?“

Sie wird leicht rot, aber nickt lächelnd, bevor sie endgültig rausgeht.

Keisuke merkt, dass auch er lächelt.

Er freut sich wirklich für seine Schwester, niemand hat es mehr verdient, glücklich zu sein, als sie.

Etwas deprimiert muss er an Verena denken, die nie die Gelegenheit hatte, einen Partner zu finden, mit dem sie glücklich werden konnte.

Ihr wurde diese Möglichkeit genommen, ihr wurde ihr Leben genommen...

Dieses stechende, schmerzende Gefühl in seiner Brust, etwas verloren zu haben, was nie wieder kehren wird.

Wird es je aufhören? Wird es besser?

Keisuke seufzt. Er will endlich an etwas anderes denken!

An etwas, das nicht so weh tut.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-12-19T19:44:50+00:00 19.12.2012 20:44
19tes Türchen (Kaum zu glauben, dass ich schneller bin als du.)
Das Kapitel war *schluchzschluchz* sehr traurig, darum aber nicht minder gut geschrieben. Verenas Vater war sehr glaubwürdig und alles, deshalb bin ich froh, dass du ihn reingebracht hast - auch wenn du ihre Mutter voll fies hast dastehen lassen. Tsk.
Würde mehr schreiben, bin gerade voll schlecht drauf, denn irgendsoein Depp hat mein Handy geklaut
Ava
Von:  LittleLuna
2010-02-24T12:48:45+00:00 24.02.2010 13:48
:( so traurige Kappis in letzter Zeit *sniff*
Aber schön beschreiben kannst du es jedenfalls.
Ich glaube trotzdem, dass Keisuke es schaffen wird sie wieder zu beleben ^^
Im übrigen möchte ich nicht wissen, wie diese Attraktion "Beerdigung" aussieht, das müsste man sich wirklich mal vorstellen XD
Naja, wie immer gute Arbeit (hatte ich das beim letzten Kommi vergessen? Wenn ja, sorry, denk es dir einfach dazu ;p)
LG Lunalein :3


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