Zum Inhalt der Seite

Das Maleficium

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sarik schüttelte den Kopf, schloss seine Augen und lachte leise dabei. Danach seufzte er gedehnt, und die Erinnerung stand ihm klar vor Augen.

Er mochte etwa im selben Alter gewesen sein, vielleicht jünger, als dieser Bursche, der nun vor ihm stand, mit seinen großen Augen und all der Naivität, wie sie in diesem Alter unvermeidlich war; damals hatte er seinen ersten Escutcheon bekommen, lange nach Beginn seiner Ausbildung. Genauso blauäugig wie er damals war jetzt dieser Junge, vielleicht noch blauäugiger.

„Also gut“, begann Sarik lachend und zog seine Waffe. Dorian erschrak sichtlich und wich einen Schritt zurück. Sarik studierte seine Reaktion amüsiert. Offensichtlich war dieser Bursche auf Flucht trainiert, und nicht für Auseinandersetzungen. „Ich kann dir etwas beibringen; aber du musst es wollen. Sonst nützt es nichts.“

Auf dem Gesicht des halbwüchsigen Burschen zeichnete sich eine Begeisterung ab, die Sarik von jungen Schülern kannte, die ihr erstes Lehrjahr als Mitglied der Kriegerkaste begannen. Nur bei diesem war es noch ausgeprägter. Wohl auch deshalb, weil diese ‚Ehre‘ gänzlich unerwartet für ihn kam.

„Wü- würden sie das tun?“ stammelte Dorian fassungslos. Sein Gesicht strahlte vor Freude und Unglauben. Sarik nickte ihm zu.

„Ja, schon in meinem eigenen Interesse. Wir werden nicht immer so viel Glück haben wie im Kaiserpalast.“

„Glück? A-aber das war doch- “

„Reines Glück“, stellte Sarik fest. „Ich habe nicht damit gerechnet, euch nach der Begegnung in der Schatzkammer lebendig wiederzusehen. Also, fangen wir an?“

Dorian starrte ihn immer noch an, so fassungslos war er vor Freude. Dann, als der Sinn dieser Worte in seinen Verstand eingesickert war, zog er mit fahrigen Bewegungen sein Schwert. Sein Bemühen, angesichts seines neuen Lehrmeisters alles richtig zu machen, führte zu derart unbeholfenen Bewegungen, dass selbst Sarik lächeln musste und langsam den Kopf schüttelte.

Endlich hatte Dorian seine Waffe aus dem Gurt heraus gefuzelt, um sich dann mit breit auseinandergestellten Füßen und der Klinge in beiden Händen seinem neuen Lehrer zu stellen.

„Das kann ja was werden…“, murmelte Sarik so leise, dass Dorian es in seinem Eifer nicht hören konnte. Dann ging er auf ihn zu, und Dorian bekam große Augen. „Fangen wir mal damit an, wie man ein Schwert hält.“

„Mache ich es denn falsch?“ fragte Dorian mit banger Stimme.

„Es ist nicht falsch, aber es ist für DICH falsch“, antwortete Sarik und nahm ihm das Schwert aus der Hand. Dorian sah ihn verschämt an und zuckte mit den Schultern.

„Aber dieser Hargfried hat es auch so gemacht.“

„Dieser Hargfried hat auch eine Waffe, die drei Mal so schwer ist wie deine. Und er ist auch mindestens doppelt so kräftig wie du.“

„Tatsächlich?“ fragte Dorian und betastete seinen bloßen Oberarm, der in der Tat wesentlich schmaler war als der des jungen Ritters. „Dann brauche ich mehr Kraft…“, sagte er ernst.

„Unsinn! Du brauchst nicht mehr Kraft, du musst nur das hier einsetzen.“

Sarik und klopfte ihm mit den Fingerknöcheln auf den Scheitel.

„Aua!“

„Siehst du? Habe ich dafür etwa Kraft gebraucht?“ fragte Sarik lachend. Dorian rieb sich den Kopf und schaute finster, worauf Sarik wieder ernst wurde. „Kraft ist nur eine von vielen Eigenschaften, die einen Kämpfer ausmacht. Bei dir ist die Schnelligkeit viel ausgeprägter, und auch deine Beweglichkeit.“

Sarik klopfte ihm mit der flachen Seite seiner Klinge gegen die Innenseiten seiner Beine, woraufhin Dorian, mehr aus Schreck, fast hinfiel. „Die musst du nutzen. Denn ein Muskelberg wie Hargfried wird aus dir sowieso nicht mehr.“

„Und wie soll ich dann mein Schwert halten?“ erwiderte Dorian, aus dessen Stimme zu hören war, dass seine Geduld im Schwinden war und er sich den Unterricht in der Kampfkunst wesentlich spektakulärer vorgestellt hatte.

„Halte es so!“

Sarik packte seine rechte Hand, drückte den Schwertgriff hinein, und verdrehte seinen Arm nach hinten.

„Aua, das tut weh!“

„Stell dich nicht so an“, bellte Sarik und schob seine Beine mit dem Fuß in eine andere Position. „So, jetzt ist es richtig!“
 

Dorian blickte an sich herab. Er stand mit dem linken Fuß nach vorn und mit dem Rechten in die entgegengesetzte Richtung. Sein Oberkörper war leicht eingedreht, und die Waffe hielt er schräg nach hinten.

„So soll ich also kämpfen?“

Sarik nickte; auf seinem Gesicht zeigte sich ein zufriedener Ausdruck, wie von einem Bildhauer, der über das Ergebnis seiner Arbeit hocherfreut ist.

„Ja, genau so. Für deine schmächtige Statur ist dies die richtige Angriffsstellung.“

„Was heißt hier ‚schmächtig‘… “, flüsterte Dorian beleidigt. Doch er konnte es nicht bestreiten: Je länger er in dieser Position dastand, desto natürlicher und auch selbstverständlicher kam sie ihm vor.

„Und jetzt probieren wir das aus!“ rief Sarik. Im nächsten Moment öffnete sich der Kampfdom über ihnen.

Verwirrt betrachtete er das Muster blauglühender Linien, die sie wie ein rotierender Käfig aus Licht einschlossen. Gegenüber sah er Sarik, der seine Waffe zu Boden hielt und ihn abwartend anblickte. Ungeordnete Gedanken kreisten in Dorians aufgeregtem Verstand.

Wird er diese Gelegenheit nutzen, um sich meiner zu entledigen? fragte er sich in einem Moment der Angst. Doch dann kam ihm zu Erinnerung, dass ihre Escutcheons es verhinderten, dass sie einander töteten. Und außerdem würde es ihm eh nicht gelingen, dachte er dann und erinnerte sich an den Kampf im Kanal, bei dem er über die Macht von drei vollen Scheiben verfügen konnte. Er blickte auf seine Armschiene, woraufhin der zufriedene Ausdruck auf seinem Gesicht schwand.

Statt der drei Scheiben glühte jetzt nur eine einzelne in einem satten Grün.

„Das waren beim letzten Mal aber mehr!“

„Ich sagte dir doch, mit der Entfernung zum Maleficium nimmt die Unzuverlässigkeit zu. Und jetzt greif mich an!“ befahl er. Dorian schüttelte verwirrt den Kopf.

„Soll ich das wirklich?“

Das Gewicht der Waffe in seiner Hand schien immer mehr zu steigen.

„Klar“, erwiderte Sarik knapp und legte sich seine Waffe über die Schulter. Dorian fühlte den abschätzenden Blick durch seine Brille hindurch und nahm all seinen Mut zusammen. Dann lief er auf seinen Lehrmeister zu, der immer noch regungslos dastand, und holte im Laufen aus.
 

Sarik senkte einfach nur seine Waffe, die im Moment zuvor noch auf seiner Schulter lag, woraufhin Dorians Klinge an ihr abprallte.

„Greife richtig an, nicht so lauwarm.“

„Wenn ich das Schwert nach hinten halte, wie soll ich da richtig angreifen!“ rief Dorian ihm entgegen, nachdem sich diese Bewegung gänzlich ungewohnt und kraftlos für ihn angefühlt hatte.

„Gerade so kannst du entsprechend Wucht aufbauen!“ ermahnte ihn Sarik. „Du hast nicht genügend Kraft in deinen Armen, um das Schwert wie Hargfried zu führen. Also musst du mithilfe deiner Beweglichkeit ein entsprechendes Moment aufbauen. Versuch’s nochmal.“

Dorian atmete tief durch und lockerte seine Schultergelenke. Dann stürmte er erneut vor, und auch diesmal kostete es Sarik keine sichtbare Mühe, den Hieb abzuwehren.

„Schon besser! Denk daran, die Kraft kommt nicht aus den Armen, sondern aus der Bewegung! Setze deine Schnelligkeit ein, wo es dir an Wucht mangelt!“

Wieder und wieder ließ Sarik ihn gegen seine undurchdringliche Verteidigung anrennen, und nach einer Weile begann er, Gegenangriffe durchzuführen. Dabei führte er seine Waffe nur mit einer Hand, und das nur aus dem Handgelenk, wie es Dorian vorkam. Aber trotzdem erschütterten Dorian die Hiebe, die er dann parieren musste, bis ins Schultergelenk. Er begann zu erahnen, was es für einen Kontrahenten bedeuten musste, wenn dieser unscheinbare Mann mit seinem blinden Auge, der Brille und den teilweise schon grauen Haaren seine gesamte Kampfkraft in die Waagschale warf. Dieser Gedanke ließ ihn schlucken, und so konzentrierte er sich wieder auf die Aufgaben, die Sarik ihm stellte.
 

Dorian saß im Gras und betrachtete seine Waffe. Die Klinge war kaum schartig geworden, und das, obwohl sie für seine Begriffe hart gefochten hatten. Seine Arme schmerzten so sehr, dass er sich in diesem Moment zu keinem einzigen Schwertstreich mehr in der Lage sah. Auch seine Handgelenke fühlten sich an, als hätten sie Hiebe mit einer Weidenrute abbekommen.

„Das war schon ganz gut für den Anfang“, hörte er Sarik sagen, der sich von einem Strauch ein paar frühreife Beeren pflückte. „Vergiss nicht, dein Kapital im Kampf ist deine Beweglichkeit. Wenn du mit jemandem deine Kraft misst, wirst du wahrscheinlich unterliegen. Stattdessen musst du deine dir eigene Stärke einsetzen. Puh, sind die sauer“, sagte er und spuckte eine Beere aus.

„Hm…“, erwiderte Dorian leise. Alles, was Sarik ihm gesagt und beigebracht hatte, schwirrte in einem lärmenden Durcheinander durch seinen Kopf. Er versuchte, Ordnung in dieses Chaos zu bringen und sich das Wichtigste noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Doch es fiel ihm schwer; er begann zu ahnen, dass die Kampfkunst nicht so lustig und spannend war, wie er es sich bei den Übungskämpfen mit Gaubert immer ausgemalt hatte. Sondern stattdessen harte und langwierige Arbeit.

„Du musst auch entschlossener angreifen“, meinte Sarik, der sich neben ihn in die Wiese setzte. Er kaute nun an Beeren, die ein wenig reifer waren als die anderen, die er vorher erwischt hatte. Dorian machte ein betrübtes Gesicht.

„Mit den Ungeheuern gestern ist mir das leichter gefallen“, sagte er und betrachtete nachdenklich seine Waffe.

„Ob Ungeheuer oder Mensch, es läuft auf dasselbe hinaus. Wenn ein Kampf erst mal im Gange ist, kann nur einer übrigbleiben.“

„Ja, aber… einen Menschen töten, das kann doch nicht richtig sein“, sagte Dorian leise, den es dazu drängte, dieses Argument vorzubringen.

„Ich bin in meinem Leben schon oft auf Menschen getroffen, die diese Meinung nicht vertraten. Oder nicht vertreten konnten in ihrer Lage“, erwiderte Sarik seufzend. „Und das wird uns auf unserer Reise womöglich noch öfter passieren.“

„Aber ich meine… mit Ungeheuern ist das was anderes. Das sind Tiere, die können nicht… denken, oder was weiß ich. Aber Menschen…“

Dorians Stimme stockte abermals. Die Erinnerung an den Kampf mit der Palastwache und an seine Raserei, in der es ihm so leicht gefallen war, zu töten, kam in ihm hoch. Diese Erinnerung schnürte ihm die Kehle zu und verdarb ihm für den Moment die Lust auf jedes weitere Training.

„Ich bin schon bald zwanzig Jahre bei der mosarrianischen Armee“, begann Sarik in einem weichen Tonfall, der sich stark von seiner zuvor strengen Stimme als Lehrmeister unterschied. „Ich habe mit beiderlei oft genug zu tun gehabt. Mit Menschen, und mit Ungeheuern. Oder auch mit beidem in derselben Form. Nicht immer kann man den Unterschied so genau sagen“, meinte er und erhob sich. Dorian sah fragend zu ihm auf. „Eines kann ich mit Sicherheit sagen, und das ist das Schlimmste…“ Dorian erkannte einen traurigen Ausdruck um seine Augen und um sein stoppeliges Kinn. „Das Töten wird mit der Zeit immer einfacher.“

Dorian blickte ihm ungläubig hinterher und sah, wie er mehrere Schritte von ihm wegging. Er traute seinen Ohren immer noch nicht, hatte er sich doch eingebildet, bei den letzten Worten so etwas wie ein Zittern in seiner Stimme zu hören. Weniger als die Worte selbst war es die Betroffenheit, die hier durchgeschimmert hatte, die ihn erstaunte.

„Es ist bald Zeit“, war das Nächste, das er von Sarik hörte. Seine Stimme war nun wieder gefestigt und offenbarte keine Spur der Bitterkeit wie eben noch. Es war die Stimme eines altgedienten Offiziers, und als dieser blickte er auf eine Taschenuhr, die er an einer Kette unter seinem Umhang hervorgezogen hatte.

„Zeit? Wofür?“

„Ich habe mit unseren Gastgebern gesprochen. Der Zug, der einmal täglich hier in der Nähe hält, müsste bald da sein. Wir sollten ihn nicht verpassen.“

Sarik ging los, und Dorian stand von der Wiese auf. Er hängte sich sein Schwert in den Gurt, wobei es ihm wie ein Bleigewicht vorkam. Dann folgte er Sarik. Es kam ihm vor, als ginge dieser gebückt von einer unsichtbaren Last. Doch wenn er blinzelte, sah er, dass sein Rücken gerade und seine Haltung aufrecht waren. Dorian wunderte sich über diese Täuschung und begann, ein Lied zu pfeifen.
 

Während ihrer Rückkehr in die Stadt schwand Dorians Nachdenklichkeit nur langsam. Sein Blick traf die Bewohner dieser Siedlung, die zu ihren Äckern gingen oder von dort kamen. Ihre klaglosen Gesichter kündeten von den Anstrengungen des bäuerlichen Daseins, aber auch von der Zufriedenheit, mit der sie die getane Arbeit erfüllte. Sie wirkten nicht, als würde ihnen etwas fehlen, und nicht einmal dem Schatten des heraufziehenden Krieges gelang es, den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu trüben.

So kamen sie wieder zum Haus ihrer Gastgeber. Nadim und Iria saßen auf einer Bank vor dem Haus und beobachteten, wie die zwei Kinder des Hauses die Hühner in ihrem Pferch jagten. Das Geschnatter der Tiere erfüllte die Luft, Federn schwirrten umher. Dorians Blick ging wieder zurück zu den Bauern, die unverdrossen ihrer täglichen Wege gingen. Er wollte es zuerst nicht wahrhaben, aber er beneidete sie.

Jetzt, wo das Scheiden von diesem Ort nahe war, fühlte er eine Beklemmung in sich. Das friedliche Dasein in einer Stadt wie dieser erschien ihm nun erstrebenswerter als das Abenteuer, in das er hineingerutscht war. Und das viel bedrohlicher war als all seine Träume der Vergangenheit.

Ihre beiden Mitreisenden, die ihnen ein seltsames Schicksal beschert hatte, traten gerade aus dem Haus. Brynja unterhielt sich mit Gauri Cinna, der Mutter der beiden Kinder. Von weitem hörte er nicht, was sie sagten, aber Brynja schien etwas zu erklären, bei dem sie aufmerksam lauschten. Die Schwiegereltern folgten ihr ins Freie; auch ihre Gesichter machten den Eindruck, als ging es um etwas Wichtiges.

Hargfried ging hinter ihnen her, blieb aber an einer Stelle vor dem Haus stehen und stützte sich auf sein Schwert. Er trug wieder seinen kompletten Harnisch, und sein Blick ging in eine ungewisse Ferne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war eine Mischung aus Verwegenheit und Einfältigkeit, was Dorian unwillkürlich zum Lächeln brachte. Dann wanderte seine Aufmerksamkeit zurück zu ihren Gastgebern und Brynja.

Iria und Nadim erhoben sich von der Bank und gingen ihnen entgegen. Dorian hörte nun Teile des Gesprächs zwischen Brynja und der Familie Cinna. Es ging dabei um den Verlauf des Krieges, wie er mitbekam. Dorian kannte diese Frau namens Brynja Peinhild erst seit zwei Tagen, aber es wunderte ihn, sie so zu erleben.

Sie sprach gewandt und vertrauenserweckend zu der jungen Frau und ihren Schwiegereltern. Dabei erwähnte sie manches Detail aus Nachrichten von jenseits der Grenze, und Dorian konnte nur vermuten, ob sie wahr waren oder nicht. Aber sie flößten der Familie Cinna sichtlich Mut ein, ihre besorgten Mienen lösten sich allmählich.

„Ich habe gehört, wir nehmen die Bahnlinie?“ waren Irias erste Worte, als sie auf Dorian zu kam.

„Ja, es scheint so…“, antwortete Dorian. Sein Blick trennte sich von Iria und ging wieder zu den Bauern, die gemessenen Schrittes zu ihrer Arbeit gingen oder von dort kamen. Sonst schenkte niemand ihrem Abschied Beachtung. Dorian vermutete, dass Sarik ihren Gastgebern das Versprechen abgenommen hatte, niemanden von ihren Taten wie der Rettung des alten Benero zu erzählen. Offenbar war dies erfolgt, denn sie verließen diesen Ort genauso, wie sie ihn betreten hatten: Als Fremde.

„Der da… bleibt der wirklich bei uns?“ fragte Nadim mit unsicherer Stimme und deutete mit dem Kinn auf Hargfried, der wie die Statue seiner Vorfahren im Hof stand, inmitten von Hühnerdreck und an die Wand gelehnten Mistgabeln.

„Ich schätze, ja.“

„Er macht mir Angst… er ist unheimlich“, sagte Nadim leise und tat einen Schritt auf Iria und Dorian zu, als erwarte er ihren Schutz.

„Es ist besser, wir haben ihn im Blickfeld“, entgegnete Dorian, der sich an Sariks Worte erinnerte. „Er sucht das Maleficium genauso wie wir, und sein Escutcheon weist ihm sowieso den Weg. Außerdem ist er harmlos, meint Sarik“, fügte er hinzu.

„Woher weißt du, dass er ebenfalls das Maleficium sucht?“ fragte Iria. Ihre Brauen senkten sich bei diesen Worten auf ihre Augen herab.

„Sarik hat das gesagt“, erwiderte Dorian und zuckte mit den Schultern.

„Dieser Sarik weiß wohl alles“, bemerkte Iria finster und ging los. Nach einigen Schritten blieb sie aber stehen, als sie sich gewahr wurde, dass sie den Weg gar nicht kannte. Nadim blieb zwischen ihr und Dorian stehen. Dabei wirkte er, als wäre er unschlüssig, wem er sich nun anschließen sollte.

„Nochmals vielen Dank für eure Gastfreundschaft“, hörte Dorian aus der Richtung, in der die Familie Cinna versammelt stand. Brynjas aufmunternde Worte hatten ihre Wirkung getan, alle drei machten nun einen optimistischeren Eindruck als noch zuvor. Die Kinder der Familie spielten nach wie vor im Hühnerpferch, und jetzt erst schenkten sie dem Ereignis Beachtung.
 

Benero, Felicia und Gauri Cinna winkten ihnen hinterher, ebenso wie Zenon und Gyriakus, die jetzt erst den Abschied der Reisenden realisierten.

Dorian drehte sich noch oft um, während sie sich dem Rand der Stadt näherten. Ihre Gastgeber verzichteten darauf, sie bis zur Bahnstation zu begleiten. Fast wirkte es für Dorian, ob sie auf diese Weise verhindern wollten, dass der Schatten der kommenden Ereignisse auf ihre Familie fallen konnte, als dessen Vorboten Dorian sich und seine Gruppe empfand. Dann wieder tadelte er sich selbst für diese Unterstellung, wenn er die dankbaren Gesichter ihrer Gastgeber hinter sich verschwinden sah.

Die beiden Kinder winkten lebhaft, um kurz darauf wieder in ihr Spiel überzugehen. Der Abschied fiel ihnen offensichtlich nicht schwer; Dorian ahnte, dass er und seine Begleiter bald nicht mehr als eine undeutliche Erinnerung für sie sein würden.

Sarik führte sie durch die kleine Stadt, deren Grundriss er offenbar bei ihren Gastgebern erfragt hatte. Sie kamen an weiteren kleinen Höfen vorbei, vor denen Misthaufen qualmten, Ziegen in kleinen Gehegen schrien und die allgegenwärtigen Windräder sich zum Antrieb der Maschinen auf den Dächern drehten. Schließlich kam ein Gebäude in Sicht, das offensichtlich nicht von den Menschen hier errichtet worden war.

Eine langgezogene Überdachung ruhte auf einem betonierten Fundament, und davor standen mehrere provisorisch erbaute Schuppen von zweckmäßiger Erscheinung. Schienenstränge liefen an der Überdachung vorbei. Dorian reckte den Hals nach ihrem Ursprung. Oft schon hatte er von der Bahnlinie gehört, die die beiden Reiche Mosarria und Galdoria verband. Nach den Geschichten war sie damals, nach dem letzten Krieg, als Zeichen des Friedens errichtet worden.

Er sah nun, dass sie jenseits der Stadt in einem tiefen Graben die grasbewachsene Ebene durchzog. Erst hier, am Rande der Stadt, kam sie aus den aufgeschütteten Gräben hervor und trat sichtbar ans Tageslicht. Auch sah er mehrere Fuhrwerke, die wohl für den Transport von landwirtschaftlichen Gütern zur Zugstation gedacht waren. Doch sie wirkten, als wären sie schon eine Weile nicht mehr benützt worden.
 

Dorian stand am Bahnsteig und betrachtete die zerbrochenen Gläser eines Signalmasts. Das rote Glas war trüb von Staub und Alter. Auch sonst boten sich wenig erhebende Anblicke, wie er feststellte.

Sarik und Brynja standen in einiger Entfernung und schienen etwas zu besprechen. Dorian erinnerte sich an ihr Zusammentreffen im Wald und an die Feindseligkeit, die bei dieser Begegnung in der Luft gehangen hatte. So verwunderte ihn nun die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden miteinander umgingen. Er selbst hatte immer noch ein mulmiges Gefühl in Brynjas Gegenwart, und das trotz der freundlichen Seite, die er heute an ihr erlebt hatte.

Hargfried stand ein gutes Stück abseits und blickte mit verschränkten Armen den Schienen entgegen, als würde er glauben, er könnte das Eintreffen des Zuges mit seinem entschlossenen Blick beschleunigen. Dorian schüttelte den Kopf und blickte wieder in Richtung der Stadt, an dessen Rand die Haltestation lag. Vereinzelt sah er Einwohner, doch keinen in der Nähe der Haltestation. Es wirkte auf ihn, als würden die Bewohner dieser Stadt diese Einrichtung, die von der kaiserlichen Verwaltung errichtet worden war, bewusst meiden. Dorian vermutete, dass dieser Bote des modernen Lebens von den Bewohnern dieses Orts als Bedrohung für ihr beschauliches Dasein empfunden wurde. Es war aber nur eine Vermutung, und so schob er diesen Gedanken beiseite und blickte sich nach Iria und Nadim um.

Die beiden standen an der Bahnsteigkante. Nadim balancierte auf der Kante entlang, und sein konzentriertes Gesicht verriet, dass ihn diese Tätigkeit soweit in Anspruch nahm, sodass er darüber ihre missliche Lage zu vergessen schien. Jedenfalls wirkte er in diesem Moment so gelöst wie seit Beginn ihrer Flucht nicht mehr.

Iria hingegen wirkte so zugeknöpft wie zuvor. Sie sah Nadim bei seiner Geschicklichkeitsübung zu. Dorian, dem die Zeit allmählich lang wurde, ging auf sie zu. Beim Näherkommen schien es ihm, dass ihr Blick durch Nadim in Wahrheit hindurchging. Er zögerte kurz, bevor er sie ansprach.

„Dass er halt nicht runterfällt, sonst überrollt ihn noch der Zug“, bemerkte Dorian zwinkernd mit einem Seitenblick zu Nadim. Dieser war zu beschäftigt, um diese Anspielung zu hören.

„Wenn überhaupt jemals ein Zug kommt“, sagte sie mit düsterer Miene.

„Er kommt bestimmt“, erwiderte Dorian und lachte sie aufmunternd an.

„Wir werden sehen.“

Dorians Mundwinkel wanderten nach unten, und er blickte sich um, als suche er etwas. Dann räusperte er sich, bevor er erneut zu sprechen begann, diesmal aber in einem ernsteren Tonfall.

„Warum tust du das alles?“ fragte er mit leiser Stimme. Iria blinzelte und konnte ihre Überraschung kaum verbergen.

„Was meinst du?“

Dorians Blick streifte für einen Moment Nadim, der um ein Haar von der Bahnsteigkante gekippt wäre, dann aber sein Gleichgewicht zurückerrang.

„Ich meine, alles eben. Du wolltest alleine in den Palast gehen. Wir haben es nicht geschafft, trotz der Hilfe von Gaubert und- “ Seine Stimme geriet ins Stocken, und er atmete tief durch. „ -trotz ihrer Hilfe haben wir es nicht geschafft. Jetzt ist die Armee des Kaisers hinter uns her, und wir reisen mit einem mosarrianischen Soldaten, einer Attentäterin und einem Verrückten durchs Land, auf der Suche nach wer weiß was. Ich frage mich nur, warum du das alles tust.“

Irias Augen verengten sich für einen Moment zu Schlitzen, bevor sie ihren Ausdruck veränderten. Die Schärfe und der Trotz wichen aus ihnen, und Dorian glaubte zu erkennen, dass sie sich mit Flüssigkeit füllten.

„Die Stadt, aus der wir kommen… Pielebott ist klein, verstehst du? Viel kleiner als Galdoria. Und auch nicht so schön“, sagte sie ganz leise, so dass nur Dorian sie hören konnte. Nadim wechselte die Richtung auf der Bahnsteigkante, und seine Zunge tastete durch seinen Mundwinkel, während er hochkonzentriert den Rückweg anging. „Aber es ist alles, was ich habe. Ich komme eigentlich aus Urakand, der Hauptstadt. An meine Eltern kann ich mich nicht erinnern, und ich kenne dort auch sonst niemanden.“ Wind kam auf und pfiff leise in der Überdachung des Bahnsteiges. Dorian fröstelte es plötzlich. „Pielebott ist meine Heimat, verstehst du? Mein Zuhause. Ich würde alles dafür tun.“

Irias Blick löste sich wieder von Dorian, um dem Zug entgegenzublicken, auf den sie warteten.

„Ich verstehe…“

„Ich werde alles tun, damit Pielebott wieder so wird, wie es war. Wie ich es kenne“, erzählte Iria weiter und schüttelte langsam den Kopf dabei. „Dafür muss dieser Krieg aufhören. Ich kann aber nichts gegen ihn tun, ich bin nur ein Mädchen… und Mädchen zählen nicht viel in einem Krieg.“

„Was willst du also tun?“

„Ich werde das Maleficium finden, und…“ Sie zögerte, und ein Ausdruck von Ratlosigkeit schimmerte auf ihren traurigen Zügen. „Ich weiß es noch nicht genau, aber man erzählt sich so viel von diesem Ding. Es kann sicher dafür sorgen, dass dieser dumme Krieg aufhört. Davon bin ich überzeugt“, sagte sie mit nun wieder fester Stimme. Dorian erwiderte nichts, sondern sah sie nur an. Iria wandte sich von ihm ab; er bemerkte nur, dass sie sich ins Gesicht griff. Dann hörte er sie tief durchatmen und ahnte zugleich die Energie, mit der sie an ihren Plan glaubte.

Nadim fiel von der Bahnsteigkante und kam einen Moment später lachend wieder zum Vorschein. Dorian schaute ihm nachdenklich zu, wie er diese sinnlose Unternehmung mit zuversichtlicher Miene erneut anging. Iria schaute weg, und er sah, wie ihr Haar in der hochstehenden Sonne glänzte. Er erinnerte sich an sein Zuhause, und es wurde ihm bewusst, dass er genauso wenig wie Iria wusste, ob es noch bestand. Ob es noch einen Ort gab, an den sie zurückkehren konnten. Einen Ort, den sie Heimat nennen konnten. Eine plötzliche Kälte machte sich in seinen Gedanken breit, woraufhin diese zu dem Ziel ihrer ganzen Reise wanderten, dem Maleficium.

Nun begann er zu verstehen, warum sie bereit war, alles zu riskieren. Und er begann ebenfalls zu glauben, dass es eine Möglichkeit gab, alles wieder in jenen Zustand zu versetzen, in dem Begriffe wie Heimat und Zuhause unantastbar waren. Dass eine Welt möglich war, in der kein Krieg die Schicksale der Menschen zerstören konnte, die unter seine unerbittlichen Räder kamen. Er dachte an Gaubert, an Ludowig und Nikodemus. Und an Meister Yannick, der jetzt vielleicht wieder allein war, so wie damals vor zwanzig Jahren, als er den Tod seiner Familie hatte betrauern müssen.

Dorian schämte sich. Er hatte Angst. Und er spürte die Verpflichtung, alles wieder in Ordnung zu bringen. Er fühlte sich wie ein Kind, das eine Vase zerbrochen hat und nun alles daran setzt, diese Tat ungeschehen zu machen. Nur, dass diese Vase eine ganze Welt voller Menschenleben war, für die er sich nun verantwortlich fühlte. Er blickte auf seinen Escutcheon, der auf ihm unverständliche Weise mit diesem Gegenstand namens Maleficium verbunden war und ihm den Weg weisen würde. Das ist kein Zufall, sagte er sich, und seine Zweifel schwanden. Er hatte nun keine Angst mehr, zumindest für diesen Moment nicht mehr. Dann erschrak er, als das gellende Pfeifen des sich nähernden Zuges in seinen Ohren klang.

Er blickte der einfahrenden Lok entgegen und ahnte, dass diese Momente ohne Furcht rar werden würden in der Zukunft.
 

Der Beton unter ihren Füßen begann ganz leicht zu zittern, und das Pfeifen der Lok erklang abermals. Alle liefen sie an die Bahnsteigkante heran und blickten der in einem feurigen Rot lackierten Lok entgegen. Ihr Stampfen und Zischen gewann an Stärke, bis sie schließlich in die Haltestelle einfuhr.

Dorian bekam große Augen. Schon oft hatte er im Bahnhof der Stadt Galdoria die ein und ausfahrenden Züge bewundert. Diese qualmenden und pfeifenden Kolosse waren ihm immer erschienen wie vorzeitliche Ungeheuer, und der Gedanke, sich von einem derartigen Ungetüm durchs Land transportieren zu lassen, hatte ihm einen Schauer über den Rücken gejagt. Den Traum, mit einem dieser eisernen Lindwürmer, die entlang ihrer metallenen Wege den Kontinent durchquerten, mitzufahren, hatte er seit langem gehegt, doch die Verwirklichung dieses Traums hatte er immer auf einen fernen Zeitpunkt verschoben. Doch heute war es soweit, und dieses Bewusstsein beschleunigte seinen Herzschlag.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  fahnm
2010-05-04T22:52:52+00:00 05.05.2010 00:52
Klasse kapi!^^
Freue mich schon aufs nächste.

mfg
fahnm



Zurück