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Sternstunden im Holzschuppen

Sternenkinder Teil 1
von

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★☆

Eigentlich bin ich bekannt dafür, am Samstag Mittag bis um halb zwei durchzuschlafen, mindestens, aber heute mache ich einmal eine Ausnahme.

Ich darf für unseren Nachbarn nämlich das Holz stapeln.

Und bevor jemand fragt, wie viel Geld ich für den Spaß bekomme: Keinen Cent, ich mache das umsonst. Klingt komisch, finden die meisten auf jeden Fall, aber unser Nachbar, Herr Segeberg ist schon an die siebzig und ich will wirklich keinen älteren Menschen die Kohle aus der Tasche ziehen, nur weil sie nicht mehr so viel können wie ich.

Ja, ich bin sozial. Oder versuche es zumindest zu sein.

„Dennis, beeil dich, es ist gleich 10!“, hallt die Stimme meiner Mutter quer durch unsere kleine Wohnung. Ein Wunder, dass sie überhaupt weiß, was ich für heute Vormittag geplant habe, sonst ist sie immer so sehr mit ihrer Arbeit und allem Drum und Dran beschäftigt, dass sie mich gerne übersieht.

„Ja, ich weiß.“ Zufällig habe ich eine Uhr in meinem Zimmer hängen und mir extra pünktlich den Wecker gestellt, damit ich nicht wieder zu spät komme. So was ist nämlich verdammt peinlich, wenn man zu einer verabredeten Uhrzeit nicht antanzt, sondern erst eine halbe Stunde später.

Ein letztes Mal überprüfe ich mein Outfit im Spiegel – zwar wird es Herrn Segeberg piepegal sein, wie ich aussehe, aber ich bin einfach etwas eitel – und spaziere langsam in die Küche zum Frühstück. Nicht, weil ich nicht schneller gehen könnte, sondern weil ich es nicht möchte. Ich bin schon viel zu oft mit zu viel Schwung ausversehen gegen den Türrahmen gerannt.

Ausnahmsweise sitzen auch mal beide Elternteile von mir am Küchentisch und diskutieren über irgendwelche Nachrichten, die der Mensch im Radio verkündet hat. Kommt selten genug vor, die meiste Zeit des Tages befinden sie sich nämlich außer Haus.

„Dennis, du hast nur noch zehn Minuten.“ Meine Mutter legt mir eine Brötchenhälfte auf den Teller und widmet sich wieder ihrem Kaffee und meinem Vater, der gleichzeitig sein Frühstücksei isst und sich über irgendeinen Politiker aufregt.

Seufzend bestreiche ich das Brötchen mit Butter und Marmelade und frage mich, wieso meine Eltern es bis heute nicht verstanden haben, dass ich meinen Geburtsnamen nicht ausstehen kann. Er klingt so gewöhnlich und langweilig, damit habe ich mich noch nie anfreunden können. Aus dem Grund nennen mich eigentlich alle in meiner Klasse Deneb, obwohl ich immer noch nicht genau weiß, was das eigentlich ist. Sollte ich mal googlen.

Wie immer habe ich nach drei Bissen keinen Hunger mehr, lasse es liegen und verschwinde ins Bad, wo ich mich zurechtmache, mir die Zähne putze und versuche, meine Haare in eine einigermaßen annehmbare Frisur zu zwängen. Klappt fast, wie immer.

„Ich geh dann“, warne ich meine Eltern vor, während ich mir meine dunkelblaue Jacke überziehe und im Schuhschrank nach meinen Schuhen suche.

„Nimm einen Schlüssel mit, wir sind heute Nachmittag im Kino“, werde ich von meinem Vater informiert und fühle mich dadurch ziemlich verarscht. Können die nicht dann etwas unternehmen, wenn ich Zeit habe und dabei sein kann?

Kopfschüttelnd über diese Unverschämtheit knalle ich die Tür hinter mir ins Schloss und laufe auf das Haus gegenüber zu, in dem Herr Segeberg wohnt.

Früher haben er und seine Frau immer auf mich aufgepasst, weil meine Eltern es nicht eingesehen haben, für ihren Sohn ihre Arbeitsstunden zu senken. Leider ist Frau Segeberg vor zwei Jahren gestorben und seitdem sehe ich immer von Zeit zu Zeit bei ihm vorbei, ob alles in Ordnung ist. Zwar hat er drei Kinder und fünf Enkel, aber die finden es wohl nicht so spektakulär, ihn zu besuchen.

Kann ich nicht nachvollziehen, wenn ich noch Großeltern hätte, würde ich sie gerne öfters besuchen.

Das Haus, in dem Herr Segeberg lebt, sieht allein von außen schöner als unsere gesamte Wohnung aus, weshalb ich mich gerne dort aufhalte. Meine Eltern besitzen keinen Sinn für Ästhetik und würden auch nicht besonders viel Geld in irgendwelche Dekoration stecken, weil sie sowieso kaum etwas davon haben.

Herrn Segebergs Frau hat sich immer um eine hübsche Einrichtung bemüht und auch nach ihrem Tod legt ihr Mann viel Wert darauf, dass man sich im Inneren und auch im Garten wohl fühlt.

Ich drücke auf die Klingel und warte, dass die Tür geöffnet wird. Aus Gewohnheit will ich mich auf die Treppenstufen setzen, da Herr Segeberg natürlich nicht im Eiltempo die Treppen hinuntergehen kann und es somit immer etwas dauert, bis ich hineingehen kann, allerdings komme ich heute nicht einmal dazu, mich von der Tür abzuwenden, da sie ruckartig aufgerissen wird. Erschrocken zucke ich zurück und wäre fast rückwärts die paar Stufen vor dem Eingang hinuntergefallen.

Mein Talent verfolgt mich wirklich in allen Lebenslagen.

Der Junge, der vor mir im Türrahmen steht, mustert mich etwas überrascht und ich frage mich zuerst, ob ich vielleicht aus Schusseligkeit das falsche Haus erwischt habe, doch er klärt mich recht schnell auf.

„Hi, ich bin der Enkel von Herrn Segeberg, er hat mich gebeten, dir etwas beim Holzstapeln zu helfen, damit es nicht ganz so lang dauert und du dich nicht so allein fühlst. Man weiß ja nie, bei solchen Sachen langweilt man sich ganz schnell zu Tode, deshalb konnte ich auch nicht ablehnen und bin gleich hierher gekommen, obwohl ich ja eigentlich meiner Schwester bei Physik helfen wollte. Aber naja, muss sie jemand anderen fragen. Ich bin übrigens Kitalpha, wie heißt du?“

Völlig überwältigt von dieser Wortflut starre ich ihn einfach ein paar Sekunden an, bevor ich überhaupt das ganze Gesagte verarbeiten kann. „Nenn mich einfach Deneb.“

Er sieht mich an und fängt plötzlich an zu lachen. Einfach so, als hätte ich einen besonders interessanten Witz erzählt. Was ist an meinem Spitznamen denn so lustig? Ich hätte mich wirklich schlau machen müssen, was das überhaupt ist.

„Äh, sorry“, bringt er nach einer geschlagenen Minute vor und grinst trotzdem noch ziemlich erheitert. „Nimms nicht persönlich, okay?“

„Hatte ich auch nicht vor.“ Immerhin lacht er nicht, weil ich mich gerade zum Affen gemacht habe. Hoffe ich doch zumindest und selbst wenn das der Fall wäre, ich würde ihn so schnell nicht wiedersehen. So viel ich weiß, wohnen Herrn Segebergs Enkel alle in den Nachbarstädten und gehen auf andere Schulen als ich.

„Gut, dann fangen wir mal an. Je schneller wir beginnen desto eher kannst du wieder nach Hause gehen und sonst was machen. Ich weiß ja nicht, was du in deiner Freizeit unternimmst, ich geh wahrscheinlich mit meinen Kumpels auf den Fußballplatz oder frage meine Mutter, ob ich... ich rede zu viel, kann das sein?“

„Naja...“ Zumindest mehr als meine Bekannten und als ich allemal. Ein großer Vielredner bin ich nämlich ganz sicher nicht.

„Sei ehrlich, ich überleb das schon. Meine Freunde sind zwar dran gewöhnt, dass ich gerne meine Klappe nicht halten kann, aber vor allem fremde Typen haben da sehr oft Probleme damit. Kann ich nicht verstehen, ich finde es viel schlimmer, etwas sagen zu wollen, aber es nicht zu dürfen, weil sich sonst irgendein Idiot darüber beschwert.“

Inzwischen stehen wir vor dem Holzschuppen, in dem wir das ganze zerkleinerte Holz an den Wänden aufschichten sollen. Der Berg ist wirklich beachtlich groß und ich fürchte gerade um mein freies Wochenende, aber was man verspricht, hält man auch, also werde ich ganz sicher nicht davor kneifen.

„Wenn du unbedingt reden willst, tu das ruhig“, antworte ich Kitalpha mit deutlicher Verspätung. Zwar ist das unter keinen Umständen sein richtiger Name, aber meinen habe ich ihm auch nicht genannt. Erstens finde ich ihn wie gesagt nicht toll und zweitens geht es ihn auch nichts an.

„Aber sag vorher, wenn es dich nervt, ich habe keine Lust, dass wieder hinter meinem Rücken über mich gelästert wird, nur weil jemand sich nicht traut, mir offen ins Gesicht zu sagen, was ihm an mir nicht passt.“

So leicht geht man mir nicht auf die Nerven, da muss man schon wirklich viel leisten. Und selbst wenn zeige ich nicht sofort, wenn mir jemand mit seinem Verhalten auf den Wecker geht.

„Am besten holen wir das erst einmal alles rein. Wenn es regnet, wird es sonst nass und man kann Stunden warten, bis es einigermaßen trocken ist“, schlägt Kitalpha vor und schließt den Holzschuppen auf, drückt mir aber ein paar Handschuhe in die Hand, bevor ich mich nach der ersten Ladung Holz bücken kann. „Hier, zieh sie an, sonst holst du dir schneller einen Splitter als du gucken kannst und ganz ehrlich, ich hab eine verdammte Abneigung gegen Blut. Also pass auf, dass du dich nicht verletzt, sonst kannst du mich vom Boden aufkratzen.“

So selbstbewusst ist bis jetzt noch kein Junge, den ich kenne, mit seinen Schwächen umgegangen und das macht mir Kitalpha doch ein bisschen sympathisch. Nicht, dass ich ihn irgendwie nicht leiden kann – wir kennen uns seit gerade mal drei Minuten –, aber ich bin im Umgang mit fremden Menschen immer ein wenig vorsichtig und bleibe gerne auf Distanz. Ich reagiere nicht mit völliger Abweisung, aber auch nicht mit unglaublicher Offenheit auf sie; bis jetzt hat das noch keinen gestört.

Mit vereinten Kräften gelingt es uns, den Berg von draußen nach drinnen zu verlagern. Die Idee mit den Handschuhen ist wirklich gut gewesen, ich habe mir nicht einen Kratzer geholt, dabei schaffe ich es sogar an einer abgeschliffenen Tischplatte, mich unpraktisch zu verletzen.

„Na also, den Anfang hätten wir schon geschafft“, freut sich Kitalpha und beginnt etwas planlos, die ersten Holzstücke aufeinander zu türmen. „Am besten legen wir erst eine Reihe unten und dann immer mehr, damit es nicht einfach einstürzt.“ Klingt logisch, so hätte ich das sicher auch vorgeschlagen. „Wir müssen aber trotzdem aufpassen, dass uns nichts auf den Kopf fällt. Das tut verdammt weh und nachher ist die Frisur ruiniert.“ Er wirft mir einen Blick zu, als wüsste er genau, dass mir das nicht gefallen würde. Sieht man mir so sehr an, dass ich großen Wert auf mein gepflegtes Aussehen lege? Anscheinend schon oder er hat eine gute Menschenkenntnis, womit ich jedenfalls nicht angeben könnte.

„Du fragst dich sicher, wie mein richtiger Name ist“, setzt Kitalpha seine Alleinunterhaltung fort, während er nachdenkt, welches Stück Holz am besten in die Lücke direkt an der Wand passt. „Also eigentlich heiß ich ja Kevin, aber der Name ist völlig idiotisch. Alle Welt denkt bei dem Namen doch erst an einen an ein unterbelichtetes, fettes Möchtegernhopperkind ohne Schulabschluss, das faul zuhause bei seinen fünf Geschwistern und den Hartz Vier Eltern hockt, oder?“

„Äh...“ Mein Gott, dieser Junge überrumpelt mich jedes Mal aufs Neue mit seiner grundehrlichen Meinung, die er auch nicht besonders hübsch verpackt, sondern einen einfach so an den Kopf ballert. Über den Namen Kevin habe ich mir in meinem ganzen Leben noch keine Gedanken gemacht, ich bin eher mit meinem eigenen beschäftigt gewesen.

„Aber ich bin überhaupt nicht dumm, ich geh aufs Gymnasium, habe in der Grundschule eine Klasse übersprungen, bin Klassenbester in Chemie, gebe Nachhilfe in Physik und Geschichte und... naja, interessiert dich sowieso nicht, auf jeden Fall kann ich mich nicht mit dem Namen identifizieren. Meine Eltern hatten wirklich einen ziemlichen Dachschaden. Deshalb habe ich mir einen Spitznamen zugelegt, der eher zu mir passt.“

Einfach zuhören und nicken, rede ich mir ein, mehr kann ich zu Kitalphas Beschwerde sowieso nicht beitragen. Ich bin nicht dafür gemacht, gleich heftig mitzudiskutieren, dafür hat es bis jetzt bei uns zu Hause zu wenig Diskussionen gegeben, an denen ich beteiligt gewesen wäre.

„Weißt du überhaupt, was Kitalpha ist?“

„Nein.“ Bis eben habe ich nicht einmal gewusst, dass sich dahinter eine großartige Bedeutung versteckt. Es gibt viele Menschen, die basteln sich ihren Spitznamen aus allem Möglichen zusammen, da vermutete man doch nicht, hier an etwas real Existierendes geraten zu sein.

„Gut, dann erkläre ich es dir. Du weißt doch sicher, dass es am Himmel verschiedene Sternbilder gibt. Die bestehen wie erwartet aus Sternen. Manche sind größer, andere kleiner. Kitalpha ist der größte Stern im Sternbild Füllen, also Fohlen. Du weißt schon, die Kinder von Pferden.“

„Magst du Pferde?“ Oder wieso soll er sich sonst daran orientiert haben?

Sein entsetzter Blick verrät mir, dass diese Theorie wohl nicht der Wahrheit entspricht. „Nee, danke, die sind eher was für Mädchen. Aber eine Freundin von mir meinte, ich wäre manchmal so neugierig und aufmerksamkeitsbedürftig wie ein Fohlen, deshalb. Also keine Panik, ansonsten habe ich mit den Tieren nichts am Hut.“

Hätte mich auch stark gewundert, aber man soll sich nie vom ersten Eindruck auf etwas festlegen.

Während wir in genauer Kleinarbeit das Holz immer höher an den Wänden aufschichten, versuche ich gleichzeitig, Kitalphas Berichte über seine Klasse zu lauschen und darauf zu achten, mich nicht großartig zu verletzen. Erstens wegen Kitalphas Drohung, dass er mir dann vor der Nase wegkippen könnte und zweitens muss meine Ungeschicklichkeit nicht ständig über meinen eigentlich vorhandenen Verstand siegen. Natürlich funktioniert das nicht besonders.

„Au, verdammt noch mal“, fluche ich leise, als mir zum dritten Mal dasselbe Stück aus der Hand gerutscht und auf meinen Fuß gefallen ist. Da kommt man sich wirklich wie ein Vollidiot vor, da meine kleine Unterstützung sich noch kein einziges Mal wegen irgendwelcher Fastschäden beklagt hat.

„Brauchst du irgendwie Hilfe?“, erkundigt sich Kitalpha neugierig. „Mag dich das Holz nicht?“

„Nein, alles in Ordnung“, weise ich seine Anfrage ab und mühe mich stattdessen allein damit ab. Wäre ja noch schöner, wenn er mir auch noch bei einem kleinen Stück Holz behilflich sein muss. „Scheiße!“ Nur leider fällt mir das dumme Ding fast auf den Kopf.

„Ob du willst oder nicht, ich helfe dir jetzt, bevor es Tote gibt.“ Ohne um Erlaubnis zu bitten reißt mir Kitalpha mein Problemkind aus den Händen und platziert es gekonnt ganz oben auf den Stapel. „Guck, geht doch ganz einfach, wenn man mich machen lässt.“ Er grinst mich schief an. „Kann es sein, das du...“

„Ja, ich bin ziemlich ungeschickt“, unterbreche ich ihn. „Kann ich leider nichts ändern, so wurde ich schon geboren.“

„So meinte ich das auch gar nicht“, beschwichtigt mich Kitalpha sofort. „Das ist kein Problem, du bist halt nicht geschickt wie ein Weltmeister und ich kau dir dafür das Ohr ab, passt schon. Ich meinte eher wegen deinem Namen...“

„Was ist damit schon wieder?“ Aus irgendeinem Grund hat er es heute mit Namen und ihren Bedeutungen. Ist er in Wirklichkeit ein hochintelligentes Lexikon? Obwohl zumindest der erste Teil laut seiner Selbsteinschätzung stimmt. Bis jetzt hat er mir auch noch nicht das Gegenteil bewiesen.

„Du bist echt lustig. Lässt dir Spitznamen geben, ohne zu wissen, was sie eigentlich meinen. Sehr gewagt.“ Er sieht mich anerkennend an und ich räuspere mich absichtlich, um ihn wieder auf das eigentliche Thema zu bringen. „Okay, Deneb ist auch ein Stern.“

Was ein Zufall.

„Und zufällig im Sternbild Schwan.“

Oh, Übereinstimmungen lassen sich da wirklich nicht finden. Weder trage ich oft weiße Kleidung noch kann ich besonders gut schwimmen und Eleganz sucht man bei mir auch eher vergeben.

„Sag mal, woher weißt du das?“ Lernt der das ganze Zeug etwa auswendig? Oder ist er stolzer Besitzer eines extrem kleinen Computers, den er immer in unbeobachteten Momenten zum Einsatz bringt, um schlau zu wirken?

„Ich interessiere mich dafür. Ich doch nichts Schlimmes. Manche Kerle spielen sich am PC alle Hirnzellen aus dem Kopf, andere brechen sich beim Handball spielen alle Knochen und ich lerne Sterne auswendig. Ist ganz lustig.“

Zwar entspricht das nicht unbedingt meiner Vorstellung von gut genutzter Freizeit, aber solange es Kitalpha Spaß macht, soll er es machen. Kann ich ihn nicht daran hindern.

Langsam zeigen sich die Tücken, wenn man sich dauernd bücken muss und mein Rücken sendet kleine Schmerzwellen an mein Gehirn. Das sichere Zeichen, dass er gerne eine Pause hätte. Zum Glück sieht Kitalpha das genauso, weshalb wir uns nebeneinander an die noch freie Wand hocken und einfach mal entspannen. Immerhin arbeiten wir schon seit knapp zwei Stunden und es wird es ganz langsam weniger.

Müde lehne ich meinen Kopf nach hinten und warte, dass ich wie durch Zauberhand neue Energie erhalte und schon gleich wieder aufstehen und weitermachen kann. Ich mag angefangene und nicht beendete Dinge nicht. Sie stehen in der Landschaft herum und erinnern einen immer daran, dass man noch lange keine freie Minute vor ihnen hat.

Mein Blick wandert aus Mangel an Alternativen zu Kitalpha, der mich unverwandt fixiert. Etwas verwundert blinzele ich, da ich mir das sicher nur einbilde, etwas Besonderes gibt es bei mir nicht zu sehen. Habe ich etwas im Gesicht kleben?

„Weißt du eigentlich, dass du verdammt gut aussiehst?“

Mein Herz setzt spontan für ein paar Schläge aus und ich werde sicher schrecklich blass.

„Ja, das klingt jetzt bestimmt voll oberflächlich und von einem Typen willst du das sicher erst gar nicht hören. Aber es stimmt. Finde ich.“ Er lacht leise. „Und bevor du fragst: Nein, ich bin nicht schwul.“ Er sieht mich wieder direkt an. „Ich bin bi.“

Der Junge ist wirklich faszinierend, wie er offen und ehrlich Dinge zugeben kann, die ich nie irgendjemandem anvertrauen würde. Und er kennt mich erst seit heute morgen.

„Naja, ich dachte mir, ich sags dir lieber vorher, bevor ich nachher dumm angemacht werde, weil ich ja die Unwissenheit anderer ausgenutzt habe und mich an sie herangemacht hätte.“ Genervt verdreht er die Augen über diese Aussage, die wohl irgendjemand ihm mal an den Kopf geworfen haben muss. „Also, bild dir deine Meinung darüber.“

Mehr als Nicken bringe ich nicht zustande; dauern sagt er Sachen, die mich komplett verwirren. Nicht, weil sie so bescheuert sind, sondern weil er mir – einem fast Fremden – seine halbe Lebensgeschichte erzählt. Das würde ich mich nie trauen, wer weiß, was andere damit anstellen können.

Kitalpha ist wirklich ein schrecklich ehrlich und direkter Mensch, aber das macht wohl den Reiz an ihm aus, denn normalerweise hätte ich ihm bei so viel Gerede schon längst nicht mehr richtig zugehört. Aber er steht so hundertprozentig hinter allem, was er sagt und verleiht ihm so viel Nachdruck, dass ich einfach zuhören muss.

Und das verwirrt mich erst recht. Wenn ich bald auch noch anfange, von mir selbst zu erzählen, dann ist wirklich alles verloren.

Dann darf ich anfangen, mir richtig Gedanken um mich zu machen.

Um mich von ihm abzulenken, stehe ich auf und mache weiter, irgendwas muss ich immerhin tun, um nicht gleich völlig durchzudrehen. Und das nicht einmal unbedingt im negativen Sinn.

„Bist du jetzt schockiert?“, möchte er von mir wissen, nachdem er mir gefolgt ist und sich neben mir abmüht, einen Holzklotz einigermaßen gerade hinzustellen.

„Nein, nur überrascht.“ Außerdem bewundere ich ihn für seinen Mut. Ihm muss doch klar sein, dass ich einer von denen sein könnte, die sich jetzt erst recht über ihn beklagen.

„Dann ist gut. Und wenn es nicht so wäre... dann könnte ich auch nichts daran ändern. Entweder man akzeptiert mich so wie ich bin oder man verschwindet ganz schnell wieder.“ Unbestimmt zuckt Kitalpha mit den Schultern und krallt sich den nächsten Klotz. „Falls es dich interessiert: Ich habe zwar schon ein paar Mal einen Typen geküsst, aber leider noch mit keinem geschlafen. Irgendwie wollen die hier alle in der Umgebung nicht.“

Jetzt ist es aber um meine Selbstbeherrschung geschehen und ich werde rot. Langsam, aber deutlich schmilzt meine schöne distanzierte Haltung ihm gegenüber. Was informiert er mich auch so nebenbei über sein Sexleben? Ich beichte ihm ja auch nicht, dass ich noch nie einen Freund oder eine Freundin gehabt habe.

„Ich will das gar nicht wissen“, nuschele ich leise und konzentriere mich noch mehr auf meine Arbeit.

„Ach, stimmt ja, sorry.“ Verlegend grinsend widmet er sich ebenfalls dem kleiner werden Holzstapel.

Und schweigt.

Am liebsten würde ich ihn wieder dazu bringen, mich mit allem Möglichen zuzutexten, da ich nun genügend Zeit habe zu denken. Und zwar über ihn und das will ich im Moment nicht.

Er verwirrt mich, er fasziniert mich und er macht mich mit seiner Art fertig. Keine gute Kombination für meine Nerven und meinen Verstand, der doch so ungerne Menschen an sich heranlässt. Nicht, weil er eine besondere Abneigung gegen sie hegt, sondern weil ich es einfach nicht gewöhnt bin, dass sich jemand für mich interessiert.

Meine Eltern lieben ihre Arbeit fast mehr als sich selbst.

Meine Klassenkameraden sind zwar freundlich und nett, aber irgendwie kann ich mit ihnen nicht so viel anfangen.

Und Herr Segeberg ist einfach nicht mein Jahrgang, obwohl man auch ganz gut mit ihm reden kann.

Und plötzlich taucht Kevin Kitalpha auf, macht den Mund auf und haut mich einfach um, das habe ich noch nie erlebt und ich hoffe auch, dass es bei dieser einen Ausnahme bleibt. Ich finde es nämlich sehr beängstigend, wenn ich mich selbst nicht verstehe.

Vorsichtig werfe ich einen verstohlenen Blick in seine Richtung und blicke gleich in ein paar graublaue Augen. Anscheinend hat da jemand genau dieselbe Idee wie ich gehabt. Automatisch wird mein Herz wieder von seltsamen Anfällen heimgesucht und ich wende mich beschämt zur Seite. Das kann doch gar nicht sein, was hier mit mir passiert. Vielleicht wache ich gleich auf und stelle fest, dass ich mich in meinem schlimmsten Alptraum wiedergefunden habe.

Kitalpha verschwindet nicht. Ziemlich real bleibt er neben mir und setzt seine fast unauffällige Musterung fort. Es ist zum Wahnsinnig werden, da ich nicht weiß, wie ich mich am besten verhalten soll.

War sein Geständnis von vorhin der Auslöser für alles oder nur der entscheidende Anstoß, um meine Gefühle bis zum Nervenzusammenbruch durcheinanderzuwirbeln? Warum räumt mein Verstand sie nicht einfach in eine kleine Ecke und schließt die Tür zu, sodass sie still sind?

Erschöpft von so viel Chaos in meinem Inneren fahre ich mir durch die Haare und warte, dass sich alles endlich klärt. So schwer kann das doch gar nicht sein.

Neben mir ertönt ein leises Lachen und ich drehe mich zu Kitalpha um, der sich anscheinend sehr über mich amüsiert. Über welche Tatsache an mir genau weiß ich allerdings nicht.

„Was ist?“, frage ich deswegen. Warum lachte er so oft über mich? Ich bin kein lustiger Mensch, ganz im Gegenteil.

„Deine Frisur sieht sehr interessant aus“, begründet er mir seine gute Laune. „Ich wusste gar nicht, dass Sägespäne die neuste Mode sind.“

Das darf doch nicht wahr sein, ich habe tatsächlich mit meinen dreckigen Handschuhen in meinen Haaren herumgefuhrwerkt, kein Wunder, dass Kitalpha wie ein Honigkuchenpferd grinst.

„Warte, ich mach sie weg.“ Natürlich achtet er nicht darauf, ob ich damit vielleicht nicht einverstanden bin, sondern zieht den Handschuh aus und streicht mir vorsichtig mit den Fingern durch die Haare.

Wo ist meine Allzeitbegleiterin Distanz hin verschwunden? Seit Jahren ist mir niemand mehr so nahe gekommen wie Kitalpha es im Moment ist. Es fühlt sich seltsam an, ganz anders als irgendetwas zuvor, aber deshalb nicht schlecht. Ich kann es einfach nicht definieren und das macht mich verrückt.

Dieser Junge ist eine Zumutung für meinen Verstand. In meinem Kopf dreht sich alles. Nichts will mir mehr gehorchen. Eine leichte Übelkeit breitet sich in mir aus.

Mein Herz freut sich über diesen ungewohnten Zustand.

Ganz besonders, als Kitalpha die letzten Zentimeter zwischen uns überwindet und seine Arme mich in die erste Umarmung seit Jahren ziehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  Minzou_Sshi
2017-11-02T23:33:40+00:00 03.11.2017 00:33
Voll nice! :D Das mit den Stenen als spitznamen ist wirklich eine gute Idee! ^^
Irgendwie verstehe ich Dennis! Kitalpha redet wirklich übertrieben viel. Das würde mir dann wohl auch zu viel werden und mich leicht verwirren. Erst recht wenn dann das Tehma Liebesleben kommt! XD ;)
Von: abgemeldet
2010-03-06T15:08:43+00:00 06.03.2010 16:08
wuaaaaaah~
wie toll *o* ich fürchte du kennst meine gedanken, die mir grade durch den kopf schwirren und ich mag eine fortsetzung!
ich sentimentaler mensch bin wieder mal total bewegt *hach*
aber ich mag offene enden nicht... in meinem kopf kommen die beiden zusammen >.<
Von: abgemeldet
2010-01-12T13:35:22+00:00 12.01.2010 14:35
hey!

also die geschichte ist echt toll!

hach kevin is einfach zu niedlich <3
ich mag leute die viel reden und offen sind und nicht einfach stumm dastehn. bin ja selbst so gesprächig (:

dennis ist auch ganz niedlich. zwar nicht so sehr wie kevin, aber vl färbt kevin ja mal auf ihn ab :P

und ihre namen sind auch einfach genial! wie bist du nur auf die idee gekommen? XD

ich mag das doch etwas offenere ende zwar total, würd mich aber trotzdem über ne fortsetzung freuen! :D

GLG mizuki
Von:  Akanishi
2010-01-07T19:40:27+00:00 07.01.2010 20:40
Du hast ein kurzes und prägnantes Ereignis gewählt, das deinen Protagonisten scheinbar total aus der Bahn zu werfen scheint und ich finde gerade deswegen ist dir Umsetzung meines Themas im Wettbewerb sehr gut gelungen.
Deine beiden Charaktere sind gut erdacht und ich finde die Idee, dass sie beide nicht ihren wahren Namen mögen, sondern lieber mit einem Pseudonym oder Nick leben wollen ziemlich interessant, vor allem die Erklärung von Kitalpha.

Besonders hebt sich der Kontrast der beiden Protagonisten hervor, die auf den ersten Blick so gar nicht zueinander passen wollen, während der eine plappert wie ein Wasserfall, ist Deneb viel mehr der ruhige Typ, der sich zurücknimmt und mir scheinbar auch nie auffallen will und schon gar nicht aus dem Rahmen fallen. Er akzeptiert, was andere ihm 'aufdichten' wie seinen Namen, einfach hin und fragt sich auch nicht, was er eigentlich bedeutet, die Hauptsache für ihn, ist, dass er seinen echten Namen nicht mehr preis gibt, umso besser, dass der Enkel seines Nachbarn ihn aufklärt.

Du baust gerade dadurch, dass dieser zunächst nur lacht und nicht erklärt, warum, als er Denebs Namen hört, lacht, die Spannung auf und man fragt sich, was wohl an den Namen ist. Das ist dir gut gelungen und deswegen kann ich dir auch zu dem zweiten Platz in meinem Wettbewerb gratulieren.

Liebe Grüße
Von:  Inan
2009-12-22T19:32:46+00:00 22.12.2009 20:32
Also kevin ist ja mal lustig echt!
Das ist so geil, wie dennis immer nur so vollkommen verwirrt ist
so nach dem motto "einfach lieb lächeln und nicken^^"" xD
Der Junge ist spitze :D
Kann ich dennis haben?
Der ist doch noch frei oder?
('zu haben' klingt so sexistisch xD)
Ich kann ihn doch haben oder?
Hm ja xD dein schreibstil ist echt hammer und das ist saucool und ja xD
Ist sternenkinder teil 2 schon da?
Von: abgemeldet
2009-11-25T18:03:33+00:00 25.11.2009 19:03
Noch kein Kommi?? o0 kann ich gar nicht glauben ^^
dein FF ist so toll geworden >.< obwohl ich ja jetzt mehr von der Geschichte will ne... xD

Ich find auch dein Schreibstil echt voll toll~

auf jeden fall find ich die beiden echt zucker süß, vorallem kevin ^^ *haben wills >.<* krieg ich??? xDD

ggglg

♥-_Tiky--Mick_-♥


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