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Another Side, Another Story

The Traitor's Tale
von

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Der Anfang vom Ende

Die Bibliothekarin kehrte erstaunlich schnell zurück, mit nur drei Büchern und einer sehr unglücklichen Miene.
 

„Es tut mir wirklich leid“, sagte sie, während sie Jowy die Folianten überreichte, „aber das ist alles. Ich kann nicht glauben, dass wir nicht mehr Bücher zu diesem Thema haben! Und das, obwohl man hier sonst wirklich alles finden kann! Oh, ich muss mich wirklich dringend mit meinen Vorgesetzten darüber unterhalten…“
 

„Das ist schon in Ordnung“, erwiderte Riou beruhigend. „Ich bin froh, dass es hier überhaupt Bücher dazu gibt.“ Nachdem sie sich noch ein paar Dutzend Mal entschuldigt hatte, eilte die junge Frau davon, wahrscheinlich um herauszufinden, warum die Stadtbibliothek nicht mehr Bücher über Wahre Runen führte.
 

„Na ja“, murmelte Jowy, schob je ein Buch zu den Geschwistern herüber und nahm sich das dritte, „immerhin werden wir jetzt nicht ganz so lange damit beschäftigt sein.“
 

„Das macht es nicht besser!“ Trotz ihres Murrens vergrub sich Nanami bereits hinter dem teuer aussehenden, doch irgendwie dünnen Buch mit Ledereinband, auf dem in dicken Lettern Die 27 Wahren Runen – Entstehung und Bedeutung stand. Riou vertiefte sich in die Lektüre eines Folianten namens Antike Lehren und Jowy selbst blieb nichts Anderes übrig, als sich mit Der Torrunenkrieg zu befassen.
 

Dieses Buch, so stellte er fest, konzentrierte sich mehr auf die geschichtlichen Ereignisse des Krieges, der vor drei Jahren darin gegipfelt hatte, dass das Reich des Scharlachroten Mondes zerfiel und stattdessen die Republik Toran gegründet worden war. Und obwohl Jowy eine vage Ahnung von dem hatte, was im Nachbarreich passiert war – seinem Hauslehrer sei Dank – fand er, dass das Buch durchaus lehrreich war.
 

Es beschrieb komplizierte Strategien von Mathiu Silverberg, wie etwa die bei der Schlacht um Pannu Yakuta oder beim Fall von Gregminster, und behandelte sogar die Geschichte des jungen Rebellenanführers der Befreiungsarmee, einem gewissen Tir McDohl, Sohn eines der sechs Generäle des Scharlachroten Mondes.
 

Freilich wurde die Torrune, die dem Krieg ihren Namen verliehen hatte, nur am Rande erwähnt, fast so, als ob jemand hatte vertuschen wollen, worum es wirklich gegangen war. Offiziell war der Torrunenkrieg ausgebrochen, weil die Befreiungsarmee unter der Führung von Odessa Silverberg und später von Tir McDohl selbst gegen das Kaiserreich rebelliert und schlussendlich Kaiser Barbarossa gestürzt hatte. Aber jetzt, nachdem er Leknaat kennen gelernt hatte, fragte sich Jowy zwangsläufig, ob sie nicht etwas damit zu tun gehabt hatte. Sie war doch die Hüterin der Torrune, nicht wahr…?
 

Aber offensichtlich war die Torrune nicht die einzige Wahre Rune gewesen, die in den Krieg verwickelt gewesen war. In dem Buch wurden Gerüchte erwähnt, denen zufolge der junge McDohl auch eine gehabt haben sollte – und allein der Name Souleater war genug, um Jowy einen Schauer über den Rücken zu jagen. Was genau die Rune des Lebens und des Todes, der man diesen Spitznamen verpasst hatte, auch tun mochte, er war sich sicher, dass er das gar nicht so genau wissen wollte.
 

Und außerdem war das alles zwar hochinteressant, aber momentan kein bisschen relevant für seine Suche nach der Bedeutung der Rune des Anfangs…
 

„Was für ein öder Schinken…“ Jowy hob den Kopf und sah, dass Nanami ihr Buch genervt zuschlug und es zurück auf den Tisch fallen ließ.
 

„Nichts gefunden?“, fragte er. Nanami schnaubte und entgegnete:
 

„Dieses Buch ist völlige Zeitverschwendung! Den Schöpfungsmythos kennt jedes Kind auswendig, man braucht ihn nicht auch noch aufschreiben…“
 

„Aber auf dem Einband steht doch etwas von der Bedeutung der Wahren Runen…?“ Riou sah stirnrunzelnd von seinem Buch auf, doch seine Schwester schüttelte nur den Kopf.
 

„Wer auch immer dieses Buch verfasst hat, hat nur Papier verbraucht“, brummte sie. „Schaut es euch an, na los!“ Jowy zog das Buch zu sich herüber und überflog seinen Inhalt. Auf den ersten Seiten war in großen, schönen Buchstaben der Schöpfungsmythos niedergeschrieben, illustriert mit Holzdrucken von Ivanov, dem weltberühmten Maler. Wirklich etwas Neues lernte er dadurch jedoch nicht… Nanami hatte Recht, den Mythos von der Erschaffung der Welt kannte jedes Kind.
 

Die letzten paar Seiten beinhalteten eine Auflistung der 27 Wahren Runen – und eine kurze Definition.
 

„’Die Rune des Anfangs verkörpert den Anfang’“, las Riou vor und rümpfte irritiert die Nase. „Das ist alles?“
 

„Ich sage doch, dass es lächerlich ist!“ Nanami warf sich die Haare aus dem Gesicht und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. Enttäuscht ließ auch Jowy das Buch sinken und kratzte sich abwesend an seinem rechten Handrücken.
 

„Was ist mit dir?“, fragte er und sah zu Riou. Dieser grinste schwach und antwortete:
 

„Ich würde gern sagen, dass ich eine Menge rausgefunden habe, aber…“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist das komplizierteste Buch, das ich je gelesen habe!“ Er schob den Wälzer, in dem er gelesen hatte, von sich und erklärte:
 

„Wer auch immer dieser Levi ist… Ich verstehe kaum ein Wort von dem, was er hier schreibt!“ Da Nanami keinerlei Interesse zeigte, beugte sich nur Jowy über die dicht mit Winzschrift beschriebenen Seiten.
 

Von dem, was er da las, verstand er mit viel Fantasie zumindest die Hälfte – der Autor teilte die 27 Wahren Runen in drei Klassen auf, die er als Ethos, Logos und Pathos bezeichnete, welche für Ethik, Logik und Gefühl standen. Seitenlang ließ sich Levi darüber aus, dass die Runen bloß Symbole waren, welche Gestalt angenommen und einen Verstand entwickelt hatten, wobei er sich in solche wissenschaftlichen Höhen schraubte, dass Jowy der Kopf rauchte.
 

Das einzige, was sich ihm wenigstens ein kleines Bisschen erschloss, waren Levis Ausführungen darüber, dass die Rune des Anfangs niemals in ihrer ursprünglichen Form auftrat, sondern immer zweigeteilt blieb – in Schild und Schwert. Damit symbolisierte diese Wahre Rune die zwei Seiten der Realität. Was das jedoch genau heißen sollte, war ihm schleierhaft.
 

Zweifellos war der Autor ein Genie auf dem Gebiet der Runenmagie – aber Jowy war es nicht, da er letztendlich nur erfahren hatte, dass die Rune des Schwarzen Schwerts und die des Hellen Schilds genau das waren, was Leknaat gesagt hatte: die zwei Seiten der Rune des Anfangs.
 

„Das war wohl nichts“, stellte er deprimiert fest.
 

Er hatte sich zwar gedacht, dass sie keine bahnbrechenden Entdeckungen machen würden, aber dass sie so wenig finden würden, enttäuschte ihn doch sehr. Ausgerechnet die Stadtbibliothek von Muse hätte eigentlich mehr zu diesem Thema enthalten müssen…
 

„Wir können immer noch Jess fragen“, bemerkte Riou nach einer Weile sichtlich widerwillig. Jowy verzog das Gesicht.
 

Gerade das war das Letzte, was er wollte – sicher, der Beamte hatte gesagt, dass sie jederzeit fragen konnten, wenn sie etwas brauchten, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass Jess das nur gesagte, damit sie ihn für den Moment in Ruhe ließen und er in Frieden die Flucht ergreifen konnte.
 

Es beruhigte ihn nur geringfügig, dass auch die Geschwister nicht wirklich begeistert von dieser Lösung waren. Nachdem sie jedoch noch eine halbe Stunde überlegt hatten, ob es nicht noch einen anderen Weg gab, an Informationen über Wahre Runen heranzukommmen, beschlossen sie schließlich, doch Jess aufzusuchen.
 

Jetzt hoffte Jowy nur, dass sie sich nicht hoffnungslos in diesem Rathaus verirrten und irgendwo landeten, wo sie nie wieder herauskommen würden…
 

Sie erfragten sich den Weg zu Jess’ Büro und als sie es endlich fanden, stellten sie fest, dass die Tür nur angelehnt war; von innen erklangen Stimmen.
 

„… aber das ist die einzige Größe, die wir haben!“
 

„Und was nützt uns das?“ Zweifellos Jess, der gereizte Unterton war unverkennbar. „Das sind Uniformen der Jugendbrigade! Keiner unserer Männer würde auch nur entfernt als einer von ihnen durchgehen.“
 

Allein schon bei dieser Tonlage verging Jowy sämtliche Lust, den Beamten nach irgendetwas zu fragen. Er hatte irgendwie im Gefühl, dass man ihn anschnauzen würde, sobald er auch nur einen Schritt in dieses Büro machte… Und was waren das für Jugendbrigadeuniformen, um die es ging?
 

„Na ja, wir können es immer noch versuchen…“
 

„Und riskieren, durch reine geistige Umnachtung einen guten Mann zu verlieren? Nein, danke.“ Jess schnaubte gut hörbar.
 

Riou seufzte leise, murmelte etwas, das sich nach „Jetzt oder nie“, anhörte und klopfte an. Die Reaktion von Anabelles Assistent kam sofort – missmutig wie erwartet:
 

„Ach, verflucht… Worum geht es?“ Unsicher schob Riou die Tür auf und gab damit den Blick frei auf Jess und einen zweiten, wichtig aussehenden Mann, die sich über eine Kiste gebeugt hatten und sich nun wieder aufrichteten.
 

Das Büro war bei weitem nicht so geräumig wie das von Anabelle – dafür hätte Jowy schwören können, dass er in seinem Leben kein Arbeitszimmer gesehen hatte, dass aufgeräumter aussah. Fast so, als hätte der Besitzer einen Ordnungswahn.
 

Als Jess die Jugendlichen erkannte, wurde sein ohnehin missmutiger Gesichtsausdruck noch ein wenig saurer, wenn das überhaupt möglich war. Ob der Mann wohl konstant gestresst war, dass er ständig so miesepetrig drein sah?
 

„Lord Jess, kennt Ihr diese Kinder?“ Der zweite Beamte runzelte die Stirn, während sein Blick über die drei glitt.
 

„Viktor hat sie mitgebracht“, erwiderte Jess entnervt mit den Augen rollend, als ob das alles erklären würde. „Dieser Hornochse belästigt mich schon die ganze Woche mit allerlei Nonsens. Vielleicht sollte er seine faulen Söldner endlich dazu bewegen, zu unseren Truppen zu stoßen… Wozu zahlen wir ihnen denn das ganze Geld?“ Er massierte sich kurz die Nasenwurzel – während sein Kollege eher irritiert aussah – dann atmete er tief durch und schien sich dazu durchzuringen, etwas freundlicher zu sein.
 

„Kann ich etwas für euch tun?“, erkundigte er sich, jedoch nicht ohne den leicht gereizten Unterton, den er wohl nur im Gespräch mit Anabelle ablegte. Jowy zögerte – wollte er diesen Mann wirklich noch um etwas bitten? Der Beamte zog schamlos über Viktor her, jemanden, den der Aristokrat eigentlich als etwas wie einen Freund betrachtete. Seine ohnehin nicht besonders hohe Meinung von Jess sank mit jedem Augenblick.
 

„Äh“, machte auch Riou nicht sonderlich entschlossen, aber die Entscheidung wurde ihnen von Nanami abgenommen.
 

„Habt Ihr gestritten? Wir haben Stimmen gehört.“ Hätte Jowy sie nicht schon fast sein ganzes Leben lang gekannt, hätte er sich wahrscheinlich gefragt, wie ein Mensch so wenig diskret sein konnte. Aber so war Nanami nun einmal…
 

Jess schien im ersten Moment wütend zu werden, dann blitzte jedoch etwas in seinen Augen auf und er betrachtete die Jugendlichen mit einem nachdenklichen Blick, der seltsamerweise eine gesunde Portion Argwohn mit sich trug. Schließlich verschränkte er die Arme vor der Brust und fragte:
 

„Was haltet ihr davon, Muse und dem Staatenbund einen Gefallen zu tun?“ Skeptisch verengte Jowy die Augen und entgegnete:
 

„Was für eine Art Gefallen?“ Wo jeder Andere vielleicht noch gezögert hatte, bevor er ihnen seinen Plan vorstellte, war Jess erstaunlich entschlossen und selbstsicher.
 

„Luca Blights Truppen campieren nah an der Grenze zwischen Muse und Highland – sie werden uns hier in Muse als nächstes angreifen, so viel steht fest.“ Jowy schauderte, doch Jess fuhr ungerührt fort:
 

„Wir müssen unbedingt wissen, wie viel Proviant sie dabei haben. Aber wir haben nur Jugendbrigadeuniformen stehlen können und keiner unserer Männer ist jung genug dafür – ihre Tarnung würde sofort auffliegen.“ Es war fast schon abartig, wie ruhig Jess klang, während er ihnen all das erzählte. Aber mehr noch schockte Jowy die folgende Frage:
 

„Riou, Jowy – ihr beide wart doch in der Jugendbrigade, nicht wahr?“
 

Der junge Aristokrat konnte nicht fassen, wie taktlos dieser Mann war; seine Abscheu wuchs und wuchs.
 

Die Bilder aus jener Nacht mühsam unterdrückend, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor:
 

„Ja, waren wir…“
 

„Sehr gut“, nickte Jess. „Könnt ihr sie dann nehmen?“
 

„Ihr wollt, dass wir uns ins Highland-Camp schleichen und herausfinden, wie viel Proviant sie dabei haben?“, fragte Riou skeptisch nach.
 

„Was?!“, rief Nanami dazwischen. „Das ist doch furchtbar gefährlich!“ Jess bedachte sie mit einem gleichgültigen Blick und zuckte dann mit den Achseln.
 

„Nun, vielleicht ein bisschen“, räumte er ein. „Aber es wäre eine große Hilfe für Muse. Wenn wir wissen, wie viel Proviant sie dabei haben, können wir uns darauf einstellen, ob sie eine lange Belagerung oder einen Blitzangriff planen. Also, macht ihr es?“
 

Jowy starrte den Mann ungläubig an. Schlug er ihnen gerade ernsthaft vor, sich in Lebensgefahr zu begeben und eine Arbeit zu erledigen, für die Muse sicher massenhaft Spione hatte?!
 

Er wollte gerade vehement widersprechen – allein schon, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, diese Uniform wieder anzuziehen – als er sich plötzlich daran erinnerte, was Viktor vorhin zu Anabelle gesagt hatte. Dass sie Kinder seien. Dass man nie sicher sein konnte, wohin der Krieg einen bringen würde.
 

Aber er war kein Kind. Er war kein Kind! Er hatte Dinge gesehen, die mancher Erwachsener nicht ertragen hätte, hatte Schlachten überlebt, in denen erfahrenere Männer gescheitert waren. Nach all dem hatte niemand mehr das Recht, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln!
 

Der junge Aristokrat ballte die bandagierte rechte Hand zur Faust. Er hatte es ernst gemeint, als er gesagt hatte, dass er kämpfen würde. Lange genug hatte er tatenlos zusehen müssen, wie alles um ihn herum in Chaos versank… Aber jetzt, wo Jowy die Rune des Schwarzen Schwertes besaß, konnte er endlich etwas tun.
 

Entschlossen sah er zu Riou hinüber und sagte leise:
 

„Ich mache es. Was ist mit dir?“ Der Jüngere sah ihn überrascht an, dann runzelte er die Stirn. Jowy sah die vielen Fragen, die seinem besten Freund auf der Zunge lagen, förmlich, ein Sturm tobte in Rious dunklen Augen, während er angestrengt zu überlegen schien.
 

Einen endlosen Augenblick lang blickten sie einander in die Augen, bis Riou schließlich zu Jess sah.
 

„Wir machen es“, erklärte er entschlossen und Jowy atmete befreit aus. Nanami jedoch dachte ganz anders darüber:
 

„Was?! Das ist gefährlich! Seid ihr beide jetzt völlig übergeschnappt?“ Jess überging ihren Einwand völlig und nickte den Jungen zu.
 

„Danke“, sagte er ohne eine Spur von Dankbarkeit in der Stimme. „Ihr seid uns eine große Hilfe.“ Er beugte sich über die Kiste und förderte zwei Garnituren der Jugendbrigadeuniformen zutage, die er Jowy in die Hand drückte. „Eure Uniformen. Ich nehme an, ihr wisst, wie ihr sie anziehen müsst?“
 

Irrte Jowy sich oder betrachtete der Beamte sie tatsächlich mit einem süffisanten Lächeln?
 

„Keine Sorge“, knurrte er zur Antwort. „Wir kommen klar.“
 

„Wunderbar“, erwiderte Jess mit dezent gehobener Augenbraue. „Ich werde veranlassen, dass euch morgen früh jemand zur Grenze begleitet, damit die Wachen dort Bescheid wissen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch seine Augen strahlten noch immer nichts als Kälte aus. „Viel Glück.“
 

„Vielen Dank“, entgegnete Riou höflich, doch Jowy bemerkte den reservierten Unterton. Er selbst sagte nichts, sondern drückte die verhassten Uniformen an sich und wandte sich zum Gehen. Dieser Mann war ihm so derart unsympathisch, dass er sich wirklich stark zusammenreißen musste, um nicht etwas zu tun, das er später mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereuen würde.
 

Die Geschwister folgten ihm auf dem Fuße und bevor die Tür zu Jess’ Büro ins Schloss fiel, hörten sie noch den anderen Mann unsicher fragen:
 

„Lord Jess, war das wirklich eine gute Idee?“
 

Natürlich wusste Jowy, dass dieser Auftrag in erster Linie dazu diente, der Stadt Muse zu helfen – aber er kam einfach nicht umhin, noch andere Gründe hinter Jess’ Bitte zu finden. Auf jeden Fall wurde er somit seine drei unerwünschten Schützlinge los. Und gleichzeitig war dies ein eindeutiger Seitenhieb auf Viktor, indem Jess dessen Autorität einfach untergrub und sie eben doch an Kriegshandlungen teilnehmen ließ.
 

Und dennoch… er konnte nicht mehr einfach nur tatenlos daneben sitzen.
 

„Dann habe ich wohl keine Wahl“, brummte Nanami, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte beide Jungen mit einem strafenden Blick. „Ich würde die Wände hochgehen vor Sorge… also komme ich mit.“
 

„Völlig ausgeschlossen“, widersprach Jowy sofort. „Es reicht, wenn wir uns in Gefahr begeben. Und außerdem muss auch noch jemand auf Pilika aufpassen.“
 

„Das kann Leona machen“, sagte das Mädchen grimmig. „Du kannst mich nicht einfach zurücklassen, Jowy!“ Sie wandte sich schwungvoll zu ihrem Bruder um. „Sag etwas, Riou!“
 

„Du kannst uns ja bis zur Grenze begleiten“, schlug Riou vor, diplomatisch wie eh und je. „Und ehrlich gesagt, mir ist wohler, wenn noch ein paar andere mit bis zu diesem Punkt kommen. Nur für alle Fälle…“ Er sah ehrlich besorgt aus; das konnte man ihm aber auch nicht verübeln.
 

„Na gut“, seufzte Jowy. „Dann lasst uns in Leonas Taverne zusehen, ob wir noch ein paar Leute auftreiben können, die mitkommen.“ Sie setzten sich in Bewegung und verließen das Rathaus schnell, sich einen Weg durch die vielen beschäftigten Leute bahnend, die sich trotz der späten Stunde noch immer in der Eingangshalle befanden. „Vielleicht können wir ja auch endlich etwas tun…“
 

„Was redest du denn da?“, fuhr Nanami ihn an. „Wenn es gefährlich wird, musst du um dein Leben rennen, Jowy!“
 

Nun… inzwischen hatte er darin ja genug Übung…
 


 

„Riou! Jowy, Nanami! Euch geht’s gut! Was für ein Glück!!“ Sie waren kaum über die Türschwelle zu Leonas Taverne getreten, als sie auch schon in eine feste Umarmung gezogen wurden. Jowy ächzte, da er mit dem Kopf schmerzhaft gegen Rious gestoßen wurde, und brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es Millie war, die ihnen da um den Hals gefallen war.
 

Er war so verdutzt, dass er sich nicht einmal aus ihrer Umklammerung lösen konnte, bis sie die drei Freunde von sich aus losließ und sie anstrahlte.
 

„Wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht!“, rief sie. „Nachdem das Fort gefallen ist, haben wir euch aus den Augen verloren und keiner hatte euch gesehen… Runen, bin ich froh, dass ihr drei in Ordnung seid! Das seid ihr doch, oder?“
 

„Äh“, machte Jowy und grinste dann unbeholfen. „Ja, uns geht es gut.“ Millie klatschte begeistert in die Hände und hob den dösenden Bonaparte von seinem angestammten Platz auf ihrer Ballonmütze.
 

„Seht ihr?“, fragte sie und hielt ihnen das hässliche Tier direkt unter die Nasen. „Bonaparte hat sich auch Sorgen gemacht. Nicht wahr, mein Kleiner?“
 

„Was soll denn die ganze Aufregung, Millie? Ist etwas passiert?“ Jowy hob den Kopf, noch bevor er das Bellen hörte, das diese Frage nur einen Moment später begleitete. Es waren Kinnison und Shiro, die gerade die Treppe, die in den ersten Stock führte, hinunterkamen. Als der Jäger die drei Jugendlichen erkannte, breitete sich ein erfreutes Lächeln auf seinen Zügen aus und er eilte auf sie zu. Dabei wurde er von seinem Wolfshund überholt, der an Riou hochsprang und ihm, wild mit dem Schwanz wedelnd, das Gesicht abschleckte.
 

Kinnison lachte über diesen Anblick und sagte dann:
 

„Den Runen sei Dank, dass ihr es geschafft habt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für Vorwürfe sich Rikimaru und Tsai gemacht haben…“
 

„Sie sind auch hier?“, fragte Nanami erleichtert und der Jäger nickte.
 

„Ich habe Tsai vorhin in die Küche gehen sehen und Rikimaru…“
 

„Da seid ihr ja!“ Die Stimme war unmöglich zu verwechseln. Und tatsächlich, als Jowy an Millie und Kinnison vorbei sah, entdeckte er Tsai und Rikimaru, die aus dem Kellergewölbe neben Leonas Tresen – der im Übrigen unbesetzt war; wo war sie? – die Treppe hochkamen, beladen mit zwei kleinen Fässern und einer Kiste.
 

Allerdings stellten beide Männer ihre Last auf dem nächstbesten Tisch ab, um zu den Versammelten zu stoßen.
 

„Den Runen sei Dank, es geht euch gut“, seufzte Tsai. „Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn euch etwas zugestoßen wäre.“ Riou, der die ganze Zeit Shiro gestreichelt hatte, richtete sich auf und lächelte.
 

„Keine Sorge, es ist alles in Ordnung. Wir haben nur ein paar Probleme damit gehabt, in die Stadt zu kommen.“
 

„Ach, so ist das?“ Rikimaru runzelte die Stirn. „Wir hatten keinen Ärger damit.“
 

„Wir waren ja auch in Begleitung einiger Söldner“, erwiderte Kinnison. „Aber ich schätze, ihr wart allein?“
 

„Zamza, Gengen und Hanna waren noch bei uns“, erklärte Jowy. „Aber das hat auch nicht viel geholfen, fürchte ich.“ Millie kicherte.
 

„Das kann ich mir bei Zamza gut vorstellen!“, rief sie, womit sie einen Heiterkeitsausbruch bei Rikimaru auslöste.
 

„Setzen wir uns hin und ihr erzählt uns, was ihr angestellt habt, um hineinzukommen. Ich rieche eine gute Geschichte!“ Der Schwertkämpfer lachte und schlug Riou auf die Schultern – wovon dieser beinahe in die Knie ging.
 

Jowy sah ein wenig sehnsüchtig zur Treppe in den ersten Stock hinüber, doch bevor er Proteste äußern konnte, saß er bereits mit den anderen an einem Tisch und nahm am Gespräch teil. Dass er dabei abwesend schien, fiel auch Tsai irgendwann auf – Millie war bereits zu Bett gegangen und auch Rikimaru hatte sich verabschiedet. Einzig Kinnison saß noch bei ihnen, während Shiro unter dem Tisch lag und döste.
 

„Ist… etwas passiert?“, fragte Tsai stirnrunzelnd und sah die drei Jugendlichen nacheinander an. Jowy und Riou wechselten einen Blick, dann legte der Aristokrat die zwei Uniformen der Jugendbrigade von Highland auf die Tischplatte vor sich und erwiderte leise:
 

„Es… gibt da schon etwas…“
 

Tsai und Kinnison schwiegen sehr lange, nachdem Jowy geendet hatte. Dann schüttelte der Speerträger den Kopf und brummte:
 

„Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
 

„Mir auch nicht“, stimmte der Jäger ihm zu, der offenkundig besorgt drein sah. Nanami schnaubte und brummte:
 

„Mir auch nicht, aber mich fragt ja keiner!“
 

„Darum geht es nicht“, entgegnete Riou. „Es ist wichtig, dass wir das machen. Allein schon, weil wir Anabelle, Viktor und Flik etwas schulden.“
 

„Ich wette, die drei sind absolut nicht damit einverstanden“, murmelte Nanami und Jowy nickte düster.
 

„Gerade deshalb werden wir ihnen auch nichts davon sagen. Ich kann nicht mehr einfach nur tatenlos daneben sitzen, Nanami, ich will helfen!“ Sie begegnete seinem Blick, hielt ihm jedoch nicht stand und sah zur Seite.
 

Tsai wählte diesen Moment, um die Spannung zu lockern:
 

„Da ihr schon zugestimmt habt, es zu tun, ist es ohnehin zu spät… Was soll’s, dann werde ich euch begleiten. Der Gedanke, euch drei allein nach Highland wandern zu lassen, behagt mir nicht im geringsten.“
 

„Ich komme auch mit“, sagte Kinnison. „Vier Augen sehen mehr als zwei… Und außerdem ist Shiro auch dabei.“
 

Jowy sah von einem der beiden Männer zum anderen und seufzte schließlich ergeben. Aber vielleicht… war es gar nicht so schlecht, dass jemand ihnen auf dem Weg zur Grenze Gesellschaft leisten würde.
 

Denn allein beim Gedanken daran, die Uniform anzuziehen und die Grenze nach Highland zu überschreiten, verknoteten sich seine inneren Organe schmerzhaft. Entweder würde er bei dieser Mission sterben oder zurückkehren und wirklich und wahrhaftig Hochverrat begangen haben.
 

Und irgendwie war er sich nicht sicher, was davon die bessere Lösung war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Mismar
2010-10-15T08:20:20+00:00 15.10.2010 10:20
Ich fand das Kapitel ziemlich gut. Auch diese schönen Informationen, für die man entweder Charaktere rekrutieren oder die man auf diverse Seiten nachlesen muss.
Auch hier kann ich nicht sonderlich viel sagen, irgendwo war ein Zeitfehler, ich glaube von wegen "gesagte" in einem sehr komischen Kontext. Suche ich dir bei Gelegenheit mal raus.
Ansonsten fand ich es sehr, sehr schön. Nur finde ich wirklich, dass du ein wenig ZU sehr deine Abneigung/Verehrung in die Story einspielst. Bei Jess habe ich das Gefühl, dass du jedes Mal, wenn er was gesagt hat oder es um ihn geht, die Abneigung stark betonen muss. Das immer und immer wieder. Und bei Anabelle halt, wie toll er sie doch findet. Und seltsamerweise machst du das nur bei diesen beiden Charakteren, bei den davor hast du es nicht gemacht - zumindest nicht so extrem ^^" also so empfinde ich es. Weil beim Lesen habe ich irgendwann schon gedacht: Ja, wir haben es verstanden, Jowy XD
Von:  Flordelis
2010-10-11T10:52:24+00:00 11.10.2010 12:52
Mir gefällt der Kapiteltitel - seit "Alundra" verwende ich persönlich ihn aber zu oft, aber ich mag ihn noch bei anderen Personen und FFs.

Zweifellos war der Autor ein Genie auf dem Gebiet der Runenmagie
Oder ein Wichtigtuer. =D
*von einem Buch getroffen wird*
Aua. >_>

Mich irritierte bei Jess' Plan immer, dass offenbar keiner in dem Moment daran dachte, dass es die Jugendbrigade eigentlich gar nicht mehr "gibt" und wieso niemand sich vorher etwas einfallen ließ, weswegen da plötzlich zwei von ihnen auftauchen.
Sure, Jowy hat sich spontan was einfallen lassen, aber hätte man das nicht auch vorher überlegen können? *missmutig zu Jess blick*

Jetzt ist es ja nicht mehr weit bis zur Trennung der beiden~
Die Spannung steigt. >D


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