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Das Zusammenfügen

von

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Wieder An Deiner Seite

„Bill.“, flüsterte ich. „Mein Gott, du bist hier.“

Zitternd beugte ich mich zu meinem Bruder herunter, kniete mich vor diese gebrochene und weinende Gestalt. Ich berührte seine Hand und spürte ein altbekanntes Gefühl von Wärme.

„Bill...“, sagte ich noch einmal, dieses Mal etwas deutlicher.

Vorsichtig ergriff ich seine Finger, strich darüber. Ich hatte geglaubt, dass ich ihn nicht mehr wieder sehen würde.

Mein Bruder. Bill. Meine Familie. Mein letztes, mein allerletztes Stück aus meinem vergangenen Leben.

Immer noch regte er sich nicht, wagte weder zu sprechen, noch sich zu bewegen. Ich wusste, dass er Angst hatte. Vor mir, vor der Wut die er von mir erwartete.
 

Doch ich war nicht wütend. Nicht mehr.

Es hatte wehgetan, so weh. Wie oft hatte ich gedacht, nicht mehr weiterleben zu können, seitdem wir als Band Vergangenheit gewesen waren. Immer wieder war ich aufgestanden, weil es noch jemanden gegeben hatte für den ich gekämpft hatte und um den ich gehofft hatte.

Und immer wieder war ich enttäuscht worden.

Ich hatte Georg nicht davon abhalten können, sich letzten Endes doch den goldenen Schuss zu geben, ich hatte ihn nicht dazu bringen können, sich wieder aufzurappeln und sich nicht hängen zu lassen. Ich hatte Gustav nicht gefunden, hatte ihn nicht erreicht, trotz meiner Bemühungen und der brennenden Sorge.

Wie oft hatte ich seinen letzten Brief gelesen. Wie oft hatte ich mir dieses Video angesehen und in stummem Entsetzen uns selbst betrachtet, als wir noch so anders gewesen waren. So ganz und gar anders.
 

Um Bill hatte ich nicht kämpfen können, Gott weiß wieso. Ich konnte nicht mit ihm sprechen, konnte ihn nicht einmal ansehen, hatte ihn gemieden seit unserem letzten Gespräch, seitdem die Band aufgelöst worden war.

Ich habe ihn manchmal gehasst. Nein, ich hatte ihn wirklich eine ganze Zeit lang gehasst, für alles was er getan hatte und dafür dass ihn mein Kampf niemals interessiert hatte, dass er so lange gegen mich gearbeitet hatte. Deshalb war ich hierher gezogen, deshalb hatte ich alle Anker gelichtet und alles hinter mir gelassen was aus meinem alten Leben stammt. Ich hatte ihn nie wieder sehen wollen.

Meine Wut war verflogen. Langsam, mit der Zeit. Alles hatte sich gesetzt, alles hatte sich verändert und letzten Endes auch ich.

Und nun kniete ich hier, vor ihm. Vor Bill. Vor dem Menschen, den ich niemals wieder sehen wollte und bei dem ich merkte, wie schrecklich ich ihn vermisst hatte.
 

„Tom.“, sagte er dann sehr leise, mit einer fürchterlich traurigen Stimme. Das und nicht mehr. Nur meinen Namen. Aber ich wusste, was er nicht zu sagen wagte.

Tom, es tut mir so leid. Tom, bitte verzeih mir, bitte, mein Bruder, ich brauche dich. Tom, ich habe dich vermisst, ich habe dich so vermisst und es tut mir alles so abartig leid, ich habe so viele Fehler gemacht, so unendlich viele Fehler die ich nicht wieder gut machen kann. Tom. Tom, du bist mein Bruder. Bitte sag mir, dass du noch mein Bruder bist.
 

Ich hob sein Kinn an und sah ihm in die Augen. Sein Gesicht hatte sich verändert. Es war um so vieles reifer geworden, nicht durch die Zeit, sondern vor allem durch die Dinge die geschehen sind. Dann legte ich meine Stirn an die seine und schloss die Augen, atmete seinen Geruch ein, der mir trotz so vieler Jahre immer noch vertraut war. Wie ein altes Buch, das man in der Kindheit geliebt hatte und nun, nach einer unendlich langen Zeit hatte man es wieder gefunden und schlug es auf und all die Eindrücke, Wünsche und Gefühle, alles kehrte für Sekunden wieder.

„Ich bin nicht mehr wütend.“, flüsterte ich. „Mein Gott, ich hatte gedacht dich nie wieder zu sehen.“

Ich spürte, dass Tränen aus seinen Augen liefen, sie benetzten mein Gesicht. Eine Hand suchte sich zitternd ihren Weg, hielt sich an mir fest und dann klammerte sich mein Bruder an mich, als würde er sonst zu ertrinken drohen. Er nickte heftig, konnte nicht sprechen.
 

Eine lange Zeit verweilten wir so, ich konnte nur sehr langsam begreifen, dass ich wirklich in der Realität war und dass es wirklich Bill war, der in meinen Armen weinte.

Dann lösten wir die Umarmung langsam, ich sah ihm in die Augen.

„Komm mit.“, sagte ich. „Du kannst bei mir schlafen und wir reden.“ Zaghaft nickte mein Gegenüber und wir erhoben uns. Mit sehr kleinen Schritten gingen wir schweigend zu meiner Wohnung, sodass es ziemlich lang dauerte bis wir dort ankamen, aber das war nicht schlimm.

Wir hatten Zeit, endlich wieder Zeit.

Ich öffnete die Tür, die ich zuvor in aller Hektik nur angelehnt hatte um meinem Bruder zu folgen und führte ihn ins Wohnzimmer.
 

Bill und ich ließen uns genau wie bei unserem Weg auch bei dem Gespräch sehr viel Zeit, sodass es schon fast drei Uhr war, als eine endgültige Stille entstand.

Wir sprachen über alles.

Alles was geschehen war, vor und nach unserem Auseinander, alles was wir gedacht und gefühlt haben und alles was wir schon so lange hätten sagen sollen.

Als das Schweigen dann den Raum erfüllte fühlte ich mich sehr, sehr müde. Und doch war ich glücklich, wirklich glücklich. Und er war es auch.

Bill.

Mein Bruder, Meine Familie.

Mein Zwilling.
 


 

Ω



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