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Hungerstreik

von

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ceathair

Langsam schlägt er die Zeitung auf und blättert Seite für Seite um. Vorsichtig, als könnte das Papier bei einer zu schnellen Bewegung zerreißen. Er hat bereits auf dem Titelblatt die kleine Notiz gesehen, von einem weiteren Hungerstreikenden berichtend, mit einem Hinweis auf Seite vier. Dort der genaue Bericht von dem Mann, der wie alle anderen auch ein Gefangener im Maze ist. Maze Prison. Her Majesty's Prison Maze. Long Kesh. Die H-Blocks. Bei Kieran.

Mittlerweile sind es zehn Männer, sechs noch am Leben. Auch lebendig?

Er schließt für einen Moment die Augen und reibt sich den Kopf. Es fühlt sich an, als würde jemand langsam und beständig einen Rhythmus darauf schlagen. Mit einem Eisenhammer und enormer Kraft. Er hat kaum geschlafen letzte Nacht, lag lange wach, nachdem er sehr früh am Morgen aufgeschreckt war. Er hat geträumt, miserabel geträumt.

Noch immer sieht er Kieran vor sich, liegend, wie tot, die Wangen eingefallen, die Arme und Beine knochig und zu schwach, sein Gewicht noch länger zu tragen. Die Augen matt, glanzlos, tief in die Höhlen eingesunken. Und er steht nur als stummer Beobachter davor, kann nichts tun, sich nicht bewegen. Mit einem Mal dreht Kieran den Kopf, die blutunterlaufenen Augen richten sich nun auf ihn. Sehen ihn an. Ein fast lautloses »Seán« verlässt seine Lippen, nicht mehr als ein Flüstern. Kieran versucht, sich aufzurichten, sackt jedoch wieder zurück, schließt für einen kurzen Moment die Augen, öffnet sie jedoch gleich wieder. Er liegt nun wieder auf seiner Pritsche; starrt ihn unverwandt an. Langsam hebt er einen Arm, es sieht so aus, als würde Kieran nach ihm greifen wollen, doch fällt der Arm fast augenblicklich wieder hinunter neben seinen ausgemergelten Körper. Ein fast verzweifelter Ausdruck tritt nun in Kierans dunkle Augen und fieberhaft versucht er, sich zu bewegen, zu Kieran zu kommen, irgendetwas zu tun, doch er kann nicht. Es ist, als wäre er an Ort und Stelle festgefroren.

Er war aufgewacht, noch immer benommen, wie gelähmt. Eine Weile hatte er bloß ins Dunkel des Raumes gestarrt und sich den Rest der Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt.

Auch jetzt drängt ihm sich das Bild von Kieran wieder auf, lässt ihn nicht in Ruhe.

Abrupt reißt er die Augen auf, versucht, es einfach aus seinem Gedächtnis zu streichen.Es ist gerade einmal der einunddreißigste Tag für Kieran Doherty, der erste für Michael Devine. Mickey genannt. 27 Jahre alt. Geboren in ihrer Gegend, lebte sogar in der Bogside. Er fährt sich über das Gesicht. Die Welt ist klein, zu klein.

1976 war Mickey Devine zu 12 Jahren Haft verurteilt, mit 34 Jahren wäre er aus dem Gefängnis entlassen worden. Nun wird seine Strafe wohl kürzer ausfallen. Sein Leben allerdings auch.

Aufgebracht schlägt er die Zeitung zu, steht auf und verlässt den Raum. Die Tatsache, dass sein Frühstück nun kalt wird, kümmert ihn herzlich wenig.

Im Wohnzimmer knicken ihm plötzlich die Beine weg und mit einem Schluchzer lässt er sich zu Boden fallen. Wütend klatscht seine Hand auf das Holz neben ihm und landet dann, zur Faust geballt, an dem Bücherregal. Zwei schief und wacklig auf dem obersten Brett stehenden Bücher landen auf seinen Füßen, doch er bemerkt es nicht. Unwillkürlich sackt er in sich zusammen, gegen den Sessel hinter ihm, dessen Holzrahmen sich ihm nun in den Rücken bohrt. Mit einem Mal macht sich ein Gefühl in ihm breit, was ihn die Augen schließen lässt, die Hände krallen sich in den dünnen Teppich, der nur einen Bruchteil des Wohnzimmerbodens bedeckt und eigentlich eine ziemlich sinnlose Anschaffung war. Hilflos, er fühlt sich hilflos. Und allein. Einsam.
 

Nach vielleicht zehn Minuten, in denen er nur ins Nichts starrt, steht er langsam auf, streckt sich und zuckt aufgrund des Schmerzes in seinem Rücken zusammen. Wie in Zeitlupe geht er zu seinem Schreibtisch, setzt sich auf den klapprigen Holzstuhl, greift nach Stift und Papier. Auch wenn Kieran den Brief nie bekommen wird, er hat gehört, dass das der beste Weg ist, seine Sorgen loszuwerden.

Es ist ihm egal, dass er sich eigentlich keine Sorgen macht. Dass es schon längst darüber hinaus geht. Dass er Angst hat. Dass diese Angst ihn nicht mehr loslässt, ihn selbst in seinen Träumen verfolgt. Dorthin, wo er sich eigentlich immer sicher gefühlt hat. Seit seiner Kindheit hat er kaum mehr schlecht geträumt, eigentlich waren es immer gute Träume, die ihn mit einem Lächeln auf dem Gesicht haben aufwachen lassen, mit einer leichten Melancholie, dass sie nicht die Wirklichkeit darstellten. Jetzt kann er nur hoffen, dass Kieran nicht wirklich so aussieht, dass er nicht wirklich so schwach ist, dass es ihm vielleicht wirklich gut geht. Dass er genug Kraft hat, so lange auszuhalten, bis der Hungerstreik beendet ist. Bis jemand nachgibt. Aber wird jemand nachgeben?

Er kennt das Ausmaß des Hungerstreikes. Er weiß, dass viele Iren – Nordiren – große Hoffnungen darin haben. Dass sie darin vielleicht sogar die Möglichkeit eines Sieges sehen. Aber könnte es in diesem Fall überhaupt einen Sieger geben? Es ist kein Krieg. Es gibt bloß Tote und ein Ideal, für das sie gestorben sind.

Vorsichtig setzt er den Stift auf, schreibt das erste Wort. Er hält für einen Moment inne, dann, mit einem Mal, kommen die Worte. Sie sind zahlreich, viel mehr als erwartet und sie kommen wie von selbst.

Ciarán, a chara.

Hätte man mich vor zehn Jahren gefragt, wer du bist, hätte ich gesagt, »mein bester Freund«. Ob ich das heute auch noch sagen würde? Ja. Denken? Ich weiß es nicht. Früher haben wir uns gekannt, in und auswendig. Ich dachte, das bleibt auch so. Dass wir uns zumindest in den Briefen alles erzählen können, alles von uns. Dass wir keine Geheimnisse voreinander haben. Aber langsam glaube ich, dass ich dich nicht kenne. Nicht den neuen Kieran, der nicht mehr Kieran Doherty heißen möchte, sondern Ciarán Ó Dochartaigh, weil man sich nicht unterkriegen lassen soll, auf seine irischen Wurzeln vertrauen. Du warst auch damals schon so, so... irisch. Natürlich, jeder Jugendliche in Derry hasst die Briten, möchte, dass sie verschwinden, dass sie Nordirland wieder den Iren zurückgeben, weil das ihr Recht ist. Auch damals hatte ich manchmal das Gefühl, mit einem Fremden zu sprechen, als du deine Hassparolen losgelassen, als du Steine auf Soldaten geworfen, andere Menschen im Geheimen beleidigt hast, bloß, weil sie Protestanten waren und nicht katholisch wie wir. Aber das hielt nicht lange, denn spätestens am nächsten Tag warst du wieder der alte Kieran, der fast schon ein wenig ängstlich die ständige Gegenwart der IRA geduldet hat. Wir wollten alle beitreten, natürlich. Aber niemand hat ernst gemacht, zumindest nicht, als ich noch da war. Ich denke, du bist irgendwann danach dann eingetreten. Wie die anderen auch? Wie Mickey Devine nach dem Bloody Sunday? Oder vorher? Kieran, sag es mir! Ich habe das Gefühl, nichts über dich zu wissen. Ich könnte alle wichtigen Ereignisse deiner Kindheit aufzählen, es gab ja quasi keinen Tag, an dem wir nicht etwas zusammen gemacht haben. Doch nach meinem Umzug? Nichts. Gar nichts. Natürlich, du hast mir immer eine Zusammenfassung deiner Woche geschickt, aber langsam bezweifle ich, dass du dir nicht einfach irgendetwas ausgedacht hast. Dein Brief über den Bloody Sunday war ehrlich, ich habe es gespürt, man hat den Schmerz aus jeder verdammten Zeile herausgehört. Ich habe tagelang nichts getan, als ich von Jackies Tod gehört habe. Ich bin nicht rausgegangen. So wie jetzt, wo ich kurz davor bin, auch dich zu verlieren. Aber habe ich das nicht schon?

Als du mir davon geschrieben hast, wie Jackie erschossen wurde, war ich unendlich traurig und dachte, dass es dann wohl nur noch uns beide gebe. Was ich nicht realisierte, war, dass ich zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon nur noch alleine war. Weil es den alten Kieran, den ich aus Erinnerungen kannte, schon damals nicht mehr gab, weil er etwas erlebt hatte, dass über die Schmerzgrenze eines Menschen hinausgeht. Er – du – hattest die menschlichen Abgründe gesehen. Brutalität. Das, wozu Menschen fähig sein können, wenn sie aus Hass getrieben werden. Du hattest Unschuldige sterben sehen. Ich habe an diesem Tag also vielleicht gleich zwei meiner engsten Freunde verloren, denn von nun an kann ich die Wahrheit in deinen folgenden Briefen nicht beschwören. Ich glaube allerdings, dass nicht viel davon wirklich wahr ist, wahr sein kann. Wer Hass in dieser Form erlebt hat, wird ihn selbst auch nicht wieder loswerden können.

Das war der Einschnitt. Ist. Die Kluft zwischen uns. Der Grund, weshalb ich das Gefühl habe, dass du, der neue Kieran, ein Fremder für mich ist.

Ich liebe dich noch immer. Als Freund, als besten Freund. Als der, der du warst und innerlich auch noch bist. Du hast immer gesagt, man solle die Politik den Politikern überlassen, die Ahnung davon haben, im Gegensatz zu dir. Jetzt plädierst du auf einen Status als politischer Gefangener. Witzig, nicht?

Le gean,

Seán.

Er legt den Stift beiseite. Atmet tief durch, liest den Brief noch einmal sorgfältig. Dann faltet er ihn, sucht auf dem Schreibtisch nach einem Briefumschlag, in dem er ihn für immer verstauen kann. Noch während er den Umschlag schließt, rollt ihm die erste Träne über die Wange.
 

-“All men must have hope and never lose heart. But my hope lies in the ultimate victory for my poor people. Is there any hope greater than that?”



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