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Hungerstreik

von

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Anmerkungen (weil ich dachte, dass es vielleicht interessiert): - Raymond McCreesh trat 1973 in dieFianna Éireann ( http://en.wikipedia.org/wiki/Fianna_%C3%89ireann ) ein. Mit 19 Jahren wurde er verhaftet und erhielt eine Gefängnisstrafe von 14 Jahren. 1981 verstarb er nach 61 Tagen in dem Hungerstreik. Über seine Großmutter weiß ich leider nichts. Die Frau in diesem Kapitel ist also rein fiktiv.

- Martin Hurson wurde 1974 verhaftet und nach einem Geständnis »unter tagelangem Verhör und Folter« zu 20 Jahren Haft verurteilt. Am 13. Juli starb er 25-jährig nach 46 Tagen im Hungerstreik.

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Sie lächelt, als sie ihn ansieht, doch wirkt es nicht offen, nicht ehrlich, sondern bloß müde. Angeschlagen. Langsam steht sie auf, bringt die benutzten Tassen zur Spüle.

»Seán, so heißt du doch, oder?« Sie mustert ihn von oben bis unten, bis ihr Blick wieder auf seinem Gesicht landet.

Er nickt knapp. Etwas in dieser Wohnung hat eine unglaublich bedrückende Wirkung auf ihn, er fühlt sich fehl am Platze neben dieser alten Frau, die seiner Mutter zufolge die Großmutter von Raymond McCreesh sein soll.

»Ein schöner Name«, murmelt sie, setzt sich dann wieder ihm gegenüber an den Tisch. »Ich bin Constance. Wie Constance Markiewicz.«

Er müht sich ein Lächeln ab und ist sich sicher, dass es genau so aussieht: bemüht.

Sie winkt ab. »Du brauchst nicht aus Höflichkeit lächeln, Seán. Ich verstehe dich gut, sehr gut sogar. Es ist einem in so einer Situation nicht nach Lächeln zumute.« Sie hat die Lippen fest aufeinander gepresst, den Blick nun aus dem Fenster gerichtet. »Weißt du, Seán, wenn man dabei ist, eine Person zu verlieren, die einem lieb ist, lieb und teuer, dann kann niemand von einem erwarten, dass man sich noch an irgendwelche oberflächlichen Höflichkeitsfloskeln hält. Dass man noch in der Lage ist, zu berechnen, abzuwägen, zu kalkulieren. Das sollte niemand tun. Weil man nämlich nicht in der Lage ist. Weil man nichts mehr kann. Man hat nur Angst. Und eine Riesenwut im Bauch, aber das merkt man oft erst nachher. Wenn-« Ihre Stimme bricht und sie braucht einen Moment, um sich wieder zu fangen. Er wartet ab und sie steht auf, geht wieder zur Spüle, lehnt sich ein wenig dagegen. Dann fährt sie fort, wenn auch nun mit erstickter Stimme.

»Wenn alles vorbei ist. Zumindest erscheint es einem so. Weil vielleicht noch gar nichts vorbei ist. Weil es gerade erst angefangen hat.«

Mit einem Mal beginnt sie zu schluchzen, die dünnen, faltigen Hände einen Moment lang ringend, dann hängen sie fast nutzlos an den ebenso dünnen Armen neben ihrem Körper.

Er sitzt wie erstarrt auf seinem Platz und weiß nicht, was er tun soll. Das weiß er nie, wenn jemand weint. Hilflos betrachtet er den schmächtigen Körper der zerbrechlich wirkenden, kleinen Frau, die nun wieder ihm gegenüber am Tisch sitzt und muss mit ansehen, wie sie immer wieder von Schluchzern geschüttelt wird. Am liebsten möchte er sich einfach umdrehen, aufstehen, rausgehen. Nicht mit ihr konfrontiert werden, nicht damit, dass sie weint, dass sie wegen ihm weint. Er weiß, dass es feige wäre, jetzt einfach abzuhauen und doch ist das Bedürfnis danach umheimlich groß.

Noch vor einer Stunde hätte er alles dafür gegeben, hat darauf gebrannt, mit ihr zu sprechen, doch nun ist dieser Wunsch förmlich wie weggeblasen. Verschwunden. Nur der Drang, mehr zu erfahren, das Gefühl zu verstärken, nicht alleine zu sein, hält ihn davon ab, die kleine Wohnung jetzt sofort zu verlassen.

Langsam nehmen die Schluchzer ab, werden leiser und verstummen schließlich ganz. Die alte Frau sieht ihn an und stellt dann mit erstaunlich fester Stimme fest: »Du kannst nicht damit umgehen.« Sie starrt nun, wartet auf eine Reaktion, doch die kommt nicht. Traurig schüttelt sie den Kopf. »Du solltest darauf hoffen, dass deine Freunde damit umgehen können. Weil du genau so werden wirst. Ein Wrack. Wie ich.« Sie lacht bitter.

Wieder erfüllt ihn ein Gefühl der Einsamkeit, aber auch Angst. Sie würden auch nicht damit umgehen können, das weiß er. Sie können ja nicht einmal jetzt damit umgehen. Weil sie es nicht verstehen, so viel Mühe sie sich auch geben. Er nimmt es ihnen nicht übel, wie kann er auch? Für sie ist es nahezu unmöglich, das weiß er. Sie sind in Irland aufgewachsen, nicht im Norden, wo die Konflikte am schlimmsten waren. Sind. Wie gerne wäre er jetzt in ihrer Situation, erschüttert, aber nicht direkt betroffen vom Hungerstreik. So ist es aber nicht. Und das weiß er auch. Er -

»Du kannst nichts tun. Du kannst es nicht aufhalten, Seán.«

Er schluckt. »Ich kann es aber versuchen«, flüstert er, doch die alte Frau lacht bloß trocken.

»Wofür? Doch nur, damit du dein verdammtes Gewissen beruhigen kannst. Du hilfst Kieran damit nicht, vor allem nicht damit, dass du eingebuchtet wirst.«

Er starrt sie an. Er wusste nicht, dass sie weiß, mit wem er in Verbindung steht, aber wahrscheinlich hat seine Mutter ihr etwas gesagt. Dieses Gespräch wühlt ihn schon jetzt auf und er hat das Gefühl, dass die alte Dame noch nicht einmal angefangen hat zu reden. Wie, um dieses Gefühl zu bestätigen, fährt sie fort:

»Weißt du, ich habe es versucht. Und ich kann dir aus eigener Erfahrung sagen, dass es einen Scheißdreck bewirkt hat. Ray ist schließlich tot, oder nicht?«

Er kann den Blick nicht von ihr nehmen, ist eingenommen von ihren Worten. Er hatte Frauen ihres Alters immer automatisch mit seiner Großmutter gleichgesetzt: sehr gläubig, liebevoll und... alt. Nie im Leben hätte sie auch nur ein bei weitem nicht so starkes Schimpfwort in den Mund genommen und auch ihm hatte sie es immer streng verboten. Seine Großmutter lebte in Galway, vor einem Jahr war sie verstorben. Sie hatte ihm immer Kekse gebacken und ihn als ihren »kleinen Jungen« bezeichnet, auch mit über zwanzig Jahren noch.

Und jetzt sitzt er vor einem so deutlichen Gegenteil der ruhigen und gleichsam herzlichen Rose O'Sullivan, dass es ihm mit einem Mal ganz anders wird. Diese Frau lebt mit einer enormen Wut im Bauch. Vielleicht ist sie deshalb weg aus Nordirland. Wenn sie auch nicht ganz in den Süden gegangen ist.

»Weißt du«, nimmt sie den Faden mit den beiden Worten wieder auf, die sie im Laufe des Gespräches bereits mehrmals verwendete, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Er sieht sie an und sie atmet einmal tief durch. »Ich hab Raymond nicht so sehr gekannt, wie man sein Enkelkind vielleicht kennen sollte. Ich bin schon Ende der Sechziger aus Nordirland weg, um dem Trubel zu entgehen. Battle of the Bogside, du weißt.«

Er nickt knapp.

»Das hat mir Angst gemacht. Ich wollte nicht, dass so etwas bei uns auch geschieht. Ray war da vielleicht 16. Ich kenne also im Prinzip nur das Kind. Und zu dem Zeitpunkt erschien er mir auch noch nicht so... entschlossen. Natürlich, die ganze Familie ist...« Sie sucht nach einem passenden Wort. »...radikal, aber Ray... er war eher zurückhaltend. Ja, vielleicht sogar ein bisschen ängstlich. Gegenüber der IRA, seiner Familie und dem was sie taten, gegenüber allem. Er hat sich nie wie seine Kumpels in irgendetwas reinziehen lassen, er war auch nicht in der Fianna Éireann, jedenfalls anfangs nicht. Vielleicht war es der verdammte Sonntag '72. Sie wohnten zwar nicht in Derry, aber vielleicht war es das trotzdem. Ich kann es ja nicht mehr nachvollziehen und seine Mutter hat ja sowieso nichts bemerkt.« Sie schnaubt und er wird ein wenig blass. Der Ton, in dem sie von ihrer Tochter spricht – zumindest hatte seine Mutter ihm mitgeteilt, Constance McCreesh wäre Raymonds Großmutter mütterlicherseits – jagt ihm einen Schauer über den Rücken. Dann lacht sie höhnisch auf. »Sie sieht nie die Schuld bei sich, den anderen oder gar bei Raymond. Die Briten sind die Bösen, generell. Weil sie eben Briten sind. Bei Gott«, stößt sie aus, »diese Ignoranz macht mich wütend. Seán, ich sage dir das jetzt ganz ehrlich und erwarte, dass du damit umzugehen weißt: Auch Kieran Doherty ist kein Unschuldslamm. Vielleicht hat er Menschen getötet, andere Menschenleben zerstört. Er war – ist – in der IRA, falls du das vergessen hast. Die IRA zögert nicht bei unwichtigen Menschenleben. Das hat sie nie und sie wird es auch nie tun. Meinetwegen darfst du gerne um deinen Kindheitsfreund Kieran Doherty trauern, aber nicht um einen Mörder.« Sie steht auf. »Und jetzt raus mit dir, ich muss mich hinlegen.«

Sie scheucht ihn mit hastigen Handbewegungen aus der Wohnung und völlig vor den Kopf gestoßen, stolpert er hinaus. Er weiß nicht, was er denken soll.

Noch auf der Treppe ruft sie ihm plötzlich hinterher: »Ich habe Ray immer geliebt. Unendlich. Und ich tue es auch jetzt noch. Ich habe alles versucht, was ich als alte Frau tun konnte, um seinen Tod zu verhindern, auch wenn das für ihn vielleicht Schmach und Schande bedeutet hätte. Sein Leben wäre mir so viel wichtiger gewesen.« Sie stockt. »Es hat nichts genutzt. Rein gar nichts. Ich kann nicht vergessen, was er getan hat, was er getan hätte, aber er ist immer noch mein Ray, der viel zu früh von uns gehen musste. Und deshalb hoffe ich von ganzem Herzen, dass ein Weg gefunden wird, dass nicht noch mehr Männer sterben, ihr Leben lassen für eine anständige Behandlung im Gefängnis. Denn sie hinterlassen Familien, Kinder, Freunde. Fassungslos müssen die zurückbleiben. Auch wenn sie teilweise schreckliche Verbrechen begangen haben, sind sie doch immer noch die Kinder Irlands. Unsere Kinder.«

Mit diesen letzten Worten, durchdrungen von einem Nationalstolz, wie er ihn bereits von vielen anderen kennt, schließt sie die Tür. Nur schwerlich schafft er es, das Haus zu verlassen, in seinen Wagen zu steigen und die Heimreise anzutreten. Sein Hände zittern, können kaum das Lenkrad richtig festhalten. Zum Glück ist kaum etwas los auf den abgelegenen Straßen.

Zu Hause angekommen, trinkt er als erstes einen Schluck Wasser. Noch einen, noch einen. Der Tag hat ihn mitgenommen, auch wenn er fast nichts tat. Weil Constance McCreesh so unheimlich ehrlich gesprochen hatte. Niemand würde es wagen, den Hungerstreik offen zu kritisieren. Es sind die Briten, die dafür die Schuld tragen. Es sind ausschließlich die Briten, niemals Iren. Er stellt das Glas vorsichtig wieder ab, dann umschlingt er seinen Körper mit den Armen. Sie hat Recht. Er weiß nicht, was Kieran getan hat, aber er weiß, dass oftmals kleine Aktionen zu unwahrscheinlich langen Gefängnisstrafen führen. Natürlich hofft er, dass es sich darum handelt, dass Kieran eigentlich nichts getan hat, dass er niemanden verletzt hat, oder gar getötet.

Er kann es aber nicht glauben. Weil Kieran Doherty, der neue Kieran, der, der er geworden ist, ein Fremder für ihn ist. Und weil dieser Fremde alles getan haben könnte, ohne, dass er es nachvollziehen kann.

Langsam macht er sich auf, die Post zu holen, die in der Küche auf dem Tisch liegt. Seine Mutter war hier, hat ein wenig aufgeräumt. Wie sie es immer tut, auch wenn er es nicht möchte. Er muss unwillkürlich lächeln, doch das Lächeln erreicht nicht seine Augen. Zu müde ist er, zu kraftlos, zu mitgenommen, als dass es ehrlich sein könnte.

Auf dem Tisch liegt ein Brief. Kein Absender, bloß seine Adresse und die Briefmarke. Trotzdem erkennt er die Schrift. Es ist Geraldines. Nur sie schreibt das a so, wie es auch gedruckt wurde, die offene Form. Er erinnert sich an das, was sie gesagt hatte, über das 'Etwas' von Kieran. Seine Augen werden groß und mit zittrigen Fingern reißt er den Briefumschlag auf. Heraus fällt ein Stück Papier, nicht groß, aber groß genug. Gerade will er anfangen zu lesen, da klingelt das Telefon. Für einen Moment lang meint er, sein Herz bliebe stehen, aber doch schlägt es weiter. Es ist Montag und eigentlich sollte er sich entspannen können. Er kann es aber nicht.

»O'Sullivan?«, meldet er sich, unüblicherweise mit seinem Nachnamen. Ein Kloß hat sich in seinem Hals breitgemacht.

»Seán.« Geraldines Stimme klingt kratzig und so, als hätte sie geweint. Er schluckt mehrmals, doch der Kloß will nicht verschwinden. Er gibt keine Antwort und es dauert ein paar Momente, bis sie schließlich sagt:

»Martin, Martin Hurson. Er... er ist tot.«
 

-”We must see our present fight right through to the very end.”



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