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Herzenhören.

Herzenhören.
 

Ich will euch nun eine Geschichte erzählen. Ich weiß nicht, inwiefern sie für euch interessant sein wird, denn Geschichten wie diese werdet ihr wohl alle schon einmal gehört haben. Vielleicht langweilt sie euch sogar.

Aber für mich, für mich ist sie ein Teil, der zu meinem Leben gehört.

Ich möchte diese Seiten Papier nutzen, um euch von der Person zu erzählen, die mich und meine Sicht auf Einiges maßgeblich verändert hat.

Ich will euch von meiner Schwester erzählen.

Doch bevor ich damit anfange, will ich euch noch kurz etwas zur ihr sagen:
 

Wenn ihr Vivien Roche kennen lernen würdet, würdet ihr sie wohl als schön erachten. Und klar, das stimmt. Sie hat tiefblaue Augen, rote Haare, blasse Haut und ein Lachen, das mich selbst immer ganz neidisch machte. Heutzutage lache ich mein eigenes Lachen, das ist auch ganz schön.

Vielleicht würdet ihr stehen bleiben, wenn ihr meine Schwester lachen hören würdet. Ihr würdet stehen bleiben und euch nach der Quelle dieses Lachens umdrehen.

Und wenn ihr Vivien dann entdecken würdet, was würdet ihr sehen? Was würdet ihr denken?

Die Antwort ist leicht, findet ihr nicht auch? Wahrscheinlich ‚Die ist aber hübsch’ oder ‚Wow’

Ja, das wären wohl die Standardreaktionen auf ihr Lachen oder ihr Aussehen. Die Wenigsten unter euch würden sich fragen, warum sie überhaupt lachen würde.

Ich will euch nun etwas sagen: Klar, Vivien ist hübsch anzusehen.

Aber würdet ihr sie kennen, wüsstet ihr, dass sie das nicht immer war, und das meine ich nicht abwertend.

Denn ich bin Viviens Schwester. Wer also könnte sie besser kennen, als ich?

Der äußere Schein trügt sehr gerne. Und genau das will ich euch heute beweisen:
 

*
 

Also, wie ich bereits sagte: Vivien war nicht immer die strahlende Schönheit, die sie heute ist. Allerdings nicht. Vor circa fünf Jahren hätte sich wohl niemand nach meiner Schwester umgedreht, geschweige denn, sie als hübsch erachtet.

Vivien war lange, lange Zeit magersüchtig. Angefangen hat das, glaube ich – denn ich merkte es damals noch nicht – also, angefangen hat das Ganze, als sie vierzehn war. Ich bin mir sicher, dass es an meinen Eltern lag. Vivien hatte es nicht leicht. Natürlich, denn sie war die Ältere von uns beiden, Mom und Dad erwartete von ihr immer, dass sie in allem, was sie tat, ein sehr hohes Niveau hielt.

Das machen sicher nicht alle Eltern. Meine jedoch schon. Immerhin sollte „ihre Kleine“ zu ihrer großen Schwester aufschauen und sich an ihr orientieren können.

Das habe ich auch immer getan.

Aber ich will weiter reden:

Vivien war also vierzehn und ich zehn Jahre alt. Sie hatte es aufs Gymnasium geschafft und ihre Noten waren mehr oder minder brillant. Jede Schulaufgabe von ihr musste ich lesen, um zu sehen, wie man es „richtig macht“.

„Schau, so sollst du das machen, Susannchen. Deine Schwester zeigt es dir.“

Der Druck auf Viviens Schultern – im Nachhinein weiß ich das nun – war gewaltig. Er setzte sich aus verschiedenen Komponenten zusammen: Gute Noten – die Eltern wollten nur gute Noten sehen! Die Eltern selbst – wenn Vivien eine nicht mehr als annehmbar geltende Note mit nach Hause brachte, wurden sie wütend. Und zuletzt kam noch das Bestreben, mir eine gute große Schwester zu sein, hinzu.

Vivien vertuschte ihre Magersucht ganz erfolgreich. Die Eltern waren selten da, meist nur zum Abendessen und am Morgen, und alles, was sie interessierte, waren Noten und andere schulischen Leistungen. Der Mensch Vivien war ihnen nicht so wichtig. Und ich war damals erst zehn, ja, von Magersucht hatte ich sogar noch nie etwas gehört. Ich achtete in dieser Zeit auf ganz andere Dinge.

Vor allem darauf, immer dem Beispiel meiner Schwester zu folgen. Mit siebzehn dann, ich war in meinem dreizehnten Lebensjahr, ging Vivien in die Klinik. Nicht freiwillig – ihre beste Freundin hatte sie überredet, und ich bin ihr im Nachhinein sehr dankbar dafür.

Die Eltern schrieen Zeter und Mordio, schimpften mit mir, dann mit sich selbst. Die Schuld an dem Desaster wurde Vivien zugeschrieben.

„Ein Mädchen, wie sie, sollte sich um die Schule kümmern und nicht ums Abnehmen!“

Für mich war Viviens Weggang ein harter Schlag. Von einen Tag auf den anderen war meine einzige Bezugsperson, mein Vorbild, weg. Magersüchtig in einer Klinik. Ich machte mir Vorwürfe. Mit zwölf, dreizehn war ich doch schon schlau genug, um zu erkennen, dass mit Vivien etwas nicht stimmte. Aber ich hatte es nie gesehen. Dies verfolgt mich selbst heute noch.

In dieser Zeit war niemand für mich da, niemand, dem ich mich hätte anvertrauen können. So gute Freunde hatte ich nicht, als dass ich ihnen die Krankheit meiner Schwester auf die Nase binden wollte. Und die Eltern stritten sich sowieso die ganze Zeit.

Anfangs besuchte ich Vivien auch nicht, ich hatte Angst, sie sehen zu müssen. Meine für mich so schöne, so perfekte große Schwester - als Magersüchtige war sie doch nur ein Schatten ihrer selbst. Sie war für mich immer etwas ganz Besonderes gewesen, jemand, dem nichts etwas anhaben konnte. Dass sie der Magersucht verfallen war, machte sie plötzlich so menschlich, dass ich in den ersten Wochen einfach nicht mehr wusste, wie ich mit ihr umzugehen hatte. Das war schlimm für mich, denn es fühlte sich für mich an, als würde ich Vivien betrügen, durch die Zweifel, die ich hatte.

Nach gut eineinhalb Monaten schaffte ich es zum ersten Mal, ihr einen Besuch abzustatten. Wir redeten fast nichts, sie sagte mir nur, dass sie sich zu dick fühle. Da wusste ich, dass ich besser den Mund halten sollte. Erst, wenn Vivien selbst eingesehen hatte, dass sie krank war, so sagte ich mir, erst dann würde ich mit ihr darüber sprechen. Das fiel mir schwer – vor allem die Frage nach dem ‚Warum’ hämmerte in meinem Kopf.

Ich weiß nicht mehr genau, wie lange Vivien in Behandlung blieb, aber als sie zurückkam, änderte sich vieles. Oder es hatte sich schon vieles geändert. Für mich war und blieb sie ein Vorbild, die große Schwester. Doch sie versuchte von da an, mich zu lehren, dass nicht meine Noten mein Leben bestimmen sollten. Jahrelang hatte sie selbst immer nach ‚sehr gut’ und ‚gut’ im Zeugnis gestrebt und war an diesem Leistungsdruck krank geworden. Nun war es ihr wichtig zu leben, wie sie es ausdrückte, und das nicht über Schulbüchern. Ebenfalls Wert legte sie auch darauf, mir diese Gedanken nahezubringen.

Nun ja. Vivien kam verändert aus der Klinik. Und gesund. Die Beziehung zwischen ihr und den Eltern war schlecht, sie konnten einfach nicht vernünftig miteinander reden. Der ständige Leistungsdruck und ihre hohen Erwartungen an Vivien hatten etwas zerstört. Die Eltern-Tochter-Beziehung konnte sich nicht regenerieren.

Der nächste harte Schlag kam, als ich mich noch im Freudentaumel über eine gesund zurückgekehrte Schwester befand: Vivien zog aus.

Für meine Eltern war das absehbar gewesen. Für mich nicht. Ich verstand natürlich, warum sie das tat, aber das machte es doch nicht leichter für mich. Sie zog an das andere Ende der Stadt in eine WG und machte einen anderen Schulabschluss. Dass meine Eltern sie immer ein Studium hatten machen sehen, ließ sie kalt. Es war eine sehr gewöhnungsbedürftige Situation für die Eltern und lange Zeit wussten sie nicht, wie sie nun mit mir, ihrer Kleinen, umgehen sollten. Vor allem Dad brauchte lange, um ansatzweise zu akzeptieren, dass ich a) nicht Vivien war und b) nicht nur gute Noten im Leben zählten. Schlussendlich musste ich nicht mehr das Leistungsniveau meiner Schwester erreichen, meine Mutter fing langsam an, sich weniger für schulische Leistungen zu interessieren.

Am Tisch, zum Beispiel beim Abendessen, kamen von da an so ziemlich alle Gespräche zum Erliegen. Mein Vater fragte zu Beginn immer noch, ob etwas in der Schule passiert war. Ob ich eine Schulaufgabe herausbekommen hätte. Aber auch das hörte nach einiger Zeit auf.

Weiterhin wohnte jedoch in mir die Sorge, nicht gut genug zu sein. Das war mir nun mal anerzogen worden und bis heute verfolgt mich die Angst, in allem, was ich tue, nicht genug Leistung erbracht zu haben.

Aber ich will weiter von Vivien sprechen – genug also von mir.

Meine Schwester veränderte ihr Leben, aber die Konstanten, die sie die letzten Jahre begleitet hatten – damit meine ich die Magersucht und den Leistungsdruck – fehlten nun.

Hier kommt also eine neue Person ins Spiel.

Pierre Lavie.

Vivien lernte ihn auf einem Open-Air-Festival kennen, bei dem er beim Ausschank half.

Was ab da geschah, kann ich nicht so gut erzählen, denn während dieser Zeit, während dieser Monate, in denen die beiden sich verliebten und zusammenkamen, war ich nicht wirklich Teil ihres Lebens. Wir hatten nur wenig Kontakt, nur einige kurze Gespräche über die Monate verteilt. Vivien wollte sich erst ein stabiles Umfeld schaffen, ehe sie wieder mit Verbliebenen aus ihrem alten Leben sprach.

Als wir uns endlich wieder persönlich trafen, sie war neunzehn, ich fünfzehn, brachte sie Pierre gleich mit und stellte ihn mir vor. Zuerst war ich erstaunt, ich hatte meine Schwester immer an der Seite eines Hemden tragenden Studenten gesehen, aber die beiden belehrten mich eines Besseren:

Während Vivien ihr Leben ordnete und neu strukturierte, war Pierre für sie da. Und wenn ich das so sage, meine ich: zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das und die Probleme, die meine Schwester noch immer wegen ihrer Krankheit hatte, schweißte die beiden zusammen. Sie hatte jemanden gefunden, der ihr Unterstützung gab, Unterstützung, die sie von ihren Eltern oder mir einfach nicht bekommen hätte.

Nein, ganz so stimmt es nicht: natürlich bekam sie auch von mir Unterstützung, aber nicht auf die gleiche Art und Weise, wie von Pierre. Dafür bin ich dankbar.

Die Eltern hielten nichts von ihm, das machten sie deutlich, als Vivien mit ihm einmal zu Besuch kam. Von da an brach der Kontakt zwischen ihnen komplett ab. Unsere Schwester-Schwester-Beziehung wurde jedoch um einiges besser. Vivien wurde meine Freundin, war nicht länger nur das Vorbild für mich.

Das tat uns beiden gut, diese Annäherung, die wir nach ihrer Magersucht erfuhren. Natürlich, wir waren uns auch die ganze Zeit vor ihrer Krankheit nahe gestanden, doch damals gab es immer noch das Hindernis der Schule zwischen uns – das, und unsere Eltern.

Dies wurde jedoch erfolgreich aus dem Weg geräumt.
 

In mir lebt bis heute eine Frage, die ich Vivien nie gestellt habe. Sie ist also bis heute unbeantwortet. Ich wollte sie immer fragen, ob ich selbst auch Schuld an ihrer Magersucht gewesen sei.

Ich selbst glaube nämlich, dass ich das war. Immerhin hatte ich ihr damals immer gezeigt, dass sie mein Vorbild war, und sie strebte auch immer danach, diese Rolle zu erfüllen.

Aber solange Vivien mir diese Frage nicht beantwortet, kann ich das nicht zu hundert Prozent behaupten.
 

Vivien Roche und Pierre Lavie starben am 11.09.2001, als sie in einem der Flugzeuge saßen, die in das World Trade Center flogen.
 

Ich habe euch hier die Geschichte meiner Schwester erzählt … gegen das Vergessen.

Ihr sollt nicht vergessen.

Aber auch ich – ich selbst will mich erinnern. Ohne Vivien und ihren Lebensweg und ohne das, was sie mir beibrachte, wäre ich heute nicht ich.
 

Und dafür bin ich dankbar.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Eleven
2010-08-13T13:43:10+00:00 13.08.2010 15:43
Wow, also...
ich weis grad echt kaum was zu sagen. Ich fang mal mit dem sachlichen an:
dein schreibstil ist echt schön, er ist nicht zu übertrieben und gut leserlich, man hat das Geschehen gut vor Augen und es lässt sich sehr flüssig lesen. Dafür schonmal nen großen Pluspunkt.
Dann... also mir ist es mehrere Male echt kalt den Rücken runter gerieselt. So wie du es beschrieben hast... also die Stimmung die einem vermittelt wurde war einerseits beruhigend und auf der anderen seite so niederschmetternd ehrlich... total passend zu dem thema, was du ebenfalls echt schön ausgewählt hast. Es ist keines Falls übertreiben, weil sowas in unserer Gemeinschaft immer häufiger vorkommt, der Schulstress, Magersucht...
Am ende musste ich erst einmal alles auf mich wirken lassen und kann dazu nur sagen :
wunderschöne FF, ich werd sie auf jeden fall faven und weiter empfehlen, mach bloß weiter so <3
greezes, Eleven
Von:  Blut
2010-08-04T15:47:12+00:00 04.08.2010 17:47
Ich find die Geschichte irgentwie voll traurig.



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