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Götterhauch

Löwenherz Chroniken III
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Da jetzt der erste Höhepunkt beginnt, gibt es ein - für meine Verhältnisse - extra-langes Kapitel, um das gebührend einzuführen. =) Komplett anzeigen

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Kampfansage

„Und du erinnerst dich an absolut gar nichts mehr?“, fragte Marc am nächsten Morgen, als er gemeinsam mit Anthony und Rena im Klassenzimmer saß und alles mit den beiden noch einmal durchgegangen war.

Anthony schüttelte mit dem Kopf. „Nichts. Und Kai kam auch nicht dazu, mir zu sagen, was geschehen ist, weil er schläft. Aber danke für die Erklärungen.“

Auch wenn sie für Kai vermutlich ohnehin nützlicher waren, als für ihn selbst. Er verstand immerhin nicht so recht, was das eigentlich alles zu bedeuten hatte. Und insgeheim hoffte Anthony auch, dass das so bleiben würde. Er hatte schon genug mit seiner eigenen Vergangenheit, die ihm so fremd war, zu kämpfen, da konnte er es nicht noch gebrauchen, sich mit der von Kai auseinanderzusetzen. Je länger er mit Rena sprach, desto mehr fiel ihm auch auf, dass er der einzige zu sein schien, dessen letzte Inkarnation so abgespaltet und losgelöst von seinem jetzigen Ich lebte – und er fragte sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Er äußerte seine Bedenken allerdings nicht, da er nicht glaubte, dass es wichtig für die anderen war und noch dazu kam gerade in diesem Moment Leen ins Klassenzimmer, die ihnen wie üblich die kalte Schulter zeigte und sie nicht einmal beachtete, als sie sich neben Heather setzte. Marc und Rena verstummten und sahen zu ihr hinüber, offenbar machte es ihnen genauso Gedanken, in ihrer Gegenwart über derartige Dinge zu sprechen. Die anderen Schüler dagegen hatten sie bislang nicht gestört, aber von denen hatte auch keiner zugehört, bei Leen dagegen ... es schien, als lauschte sie aktiv nach ihnen, ihre angespannten Schultern verrieten auf jeden Fall, dass sie auf etwas wartete.

Marc begriff das anscheinend ebenfalls, weswegen er als erstes beschlossen, das Thema zu wechseln: „Hatten wir eigentlich Hausaufgaben?“

„Ein bisschen spät, das zu fragen, oder?“, erwiderte Rena.

Anthony kümmerte sich nicht weiter um die möglichen Hausaufgaben und sah stattdessen lieber zu Heather hinüber. Zuvor war dafür keine Gelegenheit gewesen, da er in sein Gespräch vertieft gewesen war. Woran er sich vom Vortag noch erinnerte, war der Besuch von Alona, als sie vom Verschwinden ihres Mannes berichtet hatte. Die Zwillinge ließen sich davon aber nichts anmerken. Sie blickten so neutral wie eh und je, als ob sie im Moment gar nichts kümmern würde, nein, es schien ihm plötzlich sogar noch ein wenig schlimmer, da er inzwischen wusste, dass Heather anders sein konnte und nun wieder zu ihrem früheren Ich zurückgekehrt war. So traute er sich noch weniger, sie anzusprechen.

Dabei musste er besonders an diesem Tag mit einem von beiden sprechen – und eigentlich sollte er das so schnell wie möglich machen, wie er musste. Da Leen absolut keine Option war, blieb ihm aber nur Heather. Also entschuldigte er sich knapp bei Marc und Rena, die inzwischen in ein Gespräch vertieft waren und ging zu Heather hinüber. Dort beugte er sich ein wenig vor, ehe er sie leise darum bat, kurz im Gang mit ihr sprechen zu dürfen.

Sie stellte, zu seinem Glück, keine Frage und schloss sich ihm sofort an. Die anderen sahen ihnen verwirrt hinterher, aber für den Moment kümmerten ihn die möglicherweise neu entstehenden Gerüchte nicht im Mindesten.

Vor der Tür war es etwas ruhiger, nur wenige Schüler liefen noch umher, die meisten unterhielten sich miteinander, keiner von ihnen beachtete sie. Also konnte er relativ offen mit ihr sprechen, nahm er an. „Ich wollte dir das hier zeigen.“

Er griff in die Tasche seiner Jacke, die er trotz der Wärme noch trug, und zog eine Brille hervor. Die Brillengläser waren zerbrochen, was ihn zumindest mit großer Sorge erfüllte. Heather musste nur einen kurzen Blick darauf werfen, dann wurde sie blass und sog erschrocken die Luft ein, was ihn nur in seiner Vermutung bestätigte. „Die gehört meinem Vater! Wo hast du sie gefunden!?“

Sie nahm ihm die Brille ab und betrachtete sie weiterhin, während Anthony ihr erklärte, dass er sie am Morgen in diesem Zustand auf dem Boden seiner Wohnung gefunden hatte.

„Aber wie kommt sie dahin?“

„Ich weiß es nicht. Aber es heißt, dass Mr. Lionheart in meiner Wohnung gewesen sein muss.“

Heather runzelte die Stirn und hob dann den Blick, um ihn anzusehen. „Das müssen wir meiner Mutter sagen!“

Ohne seine Antwort abzuwarten, lief sie bereits an ihm vorbei, so dass er Mühe hatte, ihr überhaupt noch folgen zu können. Kaum hatte er es geschafft, wieder gleichauf mit ihm zu laufen, sprach sie bereits weiter: „Wenn seine Brille zerbrochen ist und er in deiner Wohnung war, muss etwas mit ihm geschehen sein, wie meine Mutter befürchtet.“

„Aber was denn?“, hakte er nach.

Auf diese Frage schwieg sie deswegen folgte er ihr einfach still weiter. Dabei wunderte er sich weiterhin, was das alles eigentlich zu bedeuten haben sollte.

Als Anthony an diesem Tag im Kindergarten der Akademie ankam, waren tatsächlich Kinder an den Tischen, wo sie zu malen und zu basteln schienen und sich dabei lautstark unterhielten. Die Erzieherinnen saßen ebenfalls oder liefen geschäftig umher, von Alona war nichts zu sehen. Heather schien die Geduld zu fehlen, lange nach ihr zu suchen. „Mum!“

Sofort blickten alle auf und sahen zu ihnen herüber, aber das störte sie nicht weiter, im Gegensatz zu Anthony, der ein wenig zurückwich. Zu seinem Glück kam Alona gerade aus einem der angrenzenden Räume heraus und, bevor sie irgendwelche Fragen stellte, führte sie die beiden in den Gang zurück. Vor dem Kindergarten war es wesentlich ruhiger als vor den Klassenzimmern, hier lief niemand umher, weswegen es sich auch einfacher reden ließ.

Erst als sie dort wieder stehenblieben, konnte Anthony die Frau genauer betrachten – und stellte dabei irritiert fest, dass etwas mit ihren Augen nicht stimmte. Normalerweise waren sie von einem gleichmäßigen dunklen Braun, aber an diesem Tag war zumindest das linke heller als gewöhnlich und erinnerte mehr an ... Karamell. Es irritierte ihn, aber er sprach es lieber nicht an.

„Was ist los?“, fragte Alona ungeduldig. „Ihr solltet doch im Unterricht sein.“

Heather reichte ihr die Brille und erklärte ihr dabei, was Anthony ihr zuvor gesagt hatte, weswegen er sich fragte, warum er eigentlich dabei war.

Alonas Gesicht schien sich derweil nicht entscheiden zu können, ob es besorgt oder wütend sein sollte, also beschränkte es sich auf zusammengezogene Brauen und mit Tränen schimmernde Augen. „Also ist es jetzt passiert.“

„Was ist passiert?“, fragte Anthony ratlos. „Worum geht es hier überhaupt?“

„Das frage ich mich auch“, stimmte Heather zu.

Er warf ihr einen Blick zu, fast schon dankbar darüber, dass er sich nun nicht mehr so allein fühlen musste. Solange er nicht der einzige war, der nicht verstand, was vor sich ging, schien ihm alles irgendwie ... einfacher.

Alona drehte die Brille in ihren Händen umher und lief einige Schritte auf und ab, als kämpfte sie mit sich selbst und der Frage, ob sie wirklich darüber reden sollte – und endlich kam sie zu einer Entscheidung, die zu Anthonys Gunsten ausfiel. Als sie allerdings wieder innehielt, schien ihr Blick noch ernster als zuvor zu sein und er war direkt auf Anthony fixiert. „Ich war schon am Anfang dieser ganzen Sache ein wenig skeptisch, denn im Gegensatz zu sonst, wurdest du uns geradezu aufgezwungen. Als ob der Direktor des Waisenhauses sicherstellen wollte, dass du auf jeden Fall zu uns kommst. Im Normalfall ist so etwas nicht üblich, die Akademien suchen sich selbst unter den Bewohnern des Waisenhauses jemanden aus, den sie für geeignet halten.“

„Ich weiß, dass das bei mir anders war“, erwiderte Anthony. „Man wollte mich loswerden, weil es in meiner Gegenwart zu seltsamen Vorkommnissen gekommen ist. Die anderen Schüler und das Personal hatten deswegen Angst und das sollte beendet werden.“

„Ist so etwas denn mal passiert, seit du hier bist?“, fragte Alona.

Er musste gar nicht lange darüber nachdenken und schüttelte deswegen sofort mit dem Kopf. „Nein, bislang nicht.“

Etwas flammte in ihren Augen auf, verschwand aber sofort wieder. „Man hat uns Informationen und Dokumente über deine Familie zukommen lassen und kaum wusste Raymond, wer deine Eltern sind, war es keine Frage mehr, ob er dich herholt, sondern wann er es tut.“

„Dann kannte er meine Eltern?“

„Sie waren Erzieher und Lehrer des Peligro-Waisenhaus.“

Das erklärte natürlich, weswegen er sich daran zu erinnern glaubte, dass er gemeinsam mit seinen Eltern dort gewesen war. Wenn sie dort gearbeitet hatten, war es nur natürlich, in der ganzen Umgebung gab es immerhin keinerlei andere Gebäude oder gar Städte.

„Raymond hing sehr an ihnen“, erklärte Alona weiter, „deswegen war es absolut klar, dass er jemanden zu uns holen würde, sobald er davon wusste, dass diese Person mit ihnen verwandt wäre. Es war eine Falle, in die er mit offenen Augen gerannt ist.“

Das erklärte nun endgültig, weswegen er selbst überhaupt in diese Stadt gekommen war und nicht irgendwo anders hin, aber nicht, was das mit Raymonds Verschwinden zu tun hatte. Heather sah das wohl ebenfalls so: „Was hat das denn jetzt mit Dad zu tun?“

Alona sah auf die Brille hinunter, als sie weitersprach: „Schon als ich Raymond das erste Mal, während eines Kampfes, begegnet bin, wusste ich, dass er außergewöhnlich ist. Er ist definitiv anders, als andere Drachenmenschen und ich habe lange Zeit nicht verstanden, inwiefern. Ich weiß es immer noch nicht wirklich – aber ich bin mir sicher, dass es mit dem Direktor des Waisenhauses und auch dir zu tun hat. Weil du jetzt hier bist, Anthony, sind alle Teile in Position und was auch immer der Plan beinhaltet, kann beginnen.“

„Aber du weißt nicht, was genau es bedeutet“, stellte Heather noch einmal sicher, dabei klang sie reichlich genervt. „Also war dieses ganze Gespräch jetzt total unnötig.“

Alona bedachte ihre Tochter mit einem tadelnden Blick. „Das war es nicht. Ich wollte euch damit nur darauf vorbereiten, dass es möglich ist, dass Raymond als unser Feind wiederkehrt.“

Anthonys Augen weiteten sich erschrocken. „Bedeutet das etwa, das Peligro-Waisenhaus dient nur dazu, Feinde auszubilden?“

Er konnte sehen, wie Heather einen Blick zu ihm warf und er achtete darauf, ob sie zurückwich, aber sie tat es, glücklicherweise, nicht, sondern wandte ihre Aufmerksamkeit dann direkt ihrer Mutter zu, die das erklären sollte. Alona hob aber nur die Schultern. „Ich kann es dir nicht sagen, ich weiß fast gar nichts darüber. Aber ich weiß, dass Raymond dazu ausgebildet wurde, gegen alle möglichen und unmöglichen Monster zu kämpfen. Das wurde bestimmt nicht ohne Grund gemacht.“

Heather sah wieder zu Anthony. „Wurdest du das auch?“

„Nicht, dass ich mich daran erinnern würde, nein.“

Das musste vielleicht nicht unbedingt viel bedeuten, da er immerhin wusste, dass es zu viele Dinge gab, an die er sich nicht erinnerte, aber das erschien ihm doch wie etwas Wichtiges. Und spätestens bei dem Kampf gegen den Drachen in der Lagerhalle wäre das doch sicher hilfreich gewesen und dort wäre es wieder in sein Bewusstsein gekommen. Aber das war nicht geschehen.

Sie nickte zufrieden und senkte dann bedrückt den Kopf. „Wenn Dad wiederkommt und unser Feind ist, was werden wir dann tun?“

Er wusste darauf nichts zu sagen, aber es war auch eher Alonas Meinung gefragt. Sie schwieg allerdings, offenbar wollte sie nicht antworten, aber ihr finsteres, entschlossenes Gesicht, sprach mehr als tausend Worte und Anthony zweifelte nicht im Mindesten daran, dass sie tatsächlich zu kämpfen bereit wäre, wenn es sein müsste.

Die ausgesprochene Antwort blieb sie allerdings schuldig, da im selben Moment plötzlich ein lautes Rauschen erklang. Fragend blickten die drei Anwesenden sich um, bis ihre Blicke auf einem Fenster zu liegen kamen, auf dem ein seltsames Flimmern zu sehen war. Anthony spürte, ausgehend von dem Glas, Schwingungen, die ihm bislang völlig unbekannt waren. Und er war damit nicht der einzige.

„Seit wann ist die Scheibe ein Fernseher?“, fragte Heather leise.

„Jemand versucht über Magie eine Verbindung herzustellen“, antwortete Alona mit gepresster Stimme.

Um herauszufinden, ob das nur bei ihnen so war, warf Anthony einen Blick in den Kindergarten hinein und stellte dabei fest, dass sämtliche Scheiben dort drinnen ebenfalls dieselbe Reaktion zeigten.

Er wollte nachfragen, was das zu bedeuten hatte, aber die nun gestartete Übermittlung kam ihm zuvor – und ließ allen drei ohnehin erst einmal die Luft wegbleiben.

Auf dem Bildschirm war deutlich Raymond zu sehen. Er trug keine Brille, seine Augen waren ungewohnt eiskalt, er war in eine schwarze Uniform mit silbernen Tressen gekleidet, die Anthony noch nie zuvor gesehen hatte – und doch kam sie ihm bekannt vor.

„Das ging schnell“, murmelte Alona. „Damit hatte ich nicht gerechnet.“

Ehe Anthony nachhaken konnte, begann Raymond zu sprechen und selbst seine Stimme klang plötzlich vollkommen anders, viel autoritärer, als er es von dem Direktor gewohnt war: „Dies ist eine Warnung von Raymond Lionheart an die Bewohner von Lanchest.“

Alona presste die Lippen so sehr aufeinander, dass sie nur noch ein weißer Strich waren, was selbst in Anthony ein schlechtes Gefühl hervorrief, obwohl er bislang noch keine wirkliche Bedrohung sah.

„Lange haben wir, aus dem Peligro-Waisenhaus, darauf gewartet, dass es zu diesem Tag kommt. Heute werden wir die Gewalt über diese Stadt an uns reißen!“

Verhaltener Jubel hallte durch das Gebäude, der von den früheren Waisenhausbewohnern stammen musste. Anthony konnte sich dem aber nicht anschließen. Falls es einen Plan in dieser Richtung gegeben haben musste, so war er nie von diesem unterrichtet worden, was ihn noch ratloser sein ließ, weswegen er hier unbedingt benötigt worden war.

„Diese Stadt wird allerdings nur der Anfang sein. Von hier aus wird der Rest der Welt von uns gereinigt werden. All jene, die nicht an Ladon glauben, werden dafür bestraft werden, sollten sie nicht doch noch die wahre Botschaft annehmen.“

Das erklärte es dann schon eher, wenn er wirklich glauben wollte, dass er die Reinkarnation von Ladon war. Seine genaue Rolle blieb ihm aber dennoch unklar.

„Ich fordere euch, meine Brüder, auf, jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken – und vor allem: Bringt mir die Hexen Alona, Heather und Leen! Und zwar lebend!“

Anthony fragte sich, wohin sie gebracht werden sollten, aber diese Information blieb Raymond schuldig, denn nach seinem letzten Satz verschwand das Bild und eine verwirrte Stille übernahm die gesamte Akademie. Vermutlich ging Raymond davon aus, dass jeder wusste, wohin er die Gefangenen bringen müsste.

Die Gefangenen ...

Erschrocken sah er zu Alona und Heather hinüber, doch nur die Tochter schien von der Nachricht auf dem Bildschirm überrascht zu sein, die Mutter blickte lediglich finster, die Stirn war gerunzelt, als würde sie darüber nachdenken, was sie nun tun sollte.

Doch während sie noch darüber nachdachte, brach die Stille und ein geradezu betäubender Lärm entbrannte. Alona schien leise zu fluchen, aber er konnte sich bei dieser Geräuschkulisse auch täuschen. Sie wandte sich sofort an ihre Tochter. „Heather, sieh zu, dass du hier wegkommst! Du musst dich irgendwo verstecken, wo es sicherer ist, als hier.“

„Bist du sicher, dass das nötig ist?“

Alona vollführte eine Handbewegung, die das Gebäude einschließen sollte. „Ein Drittel aller Schüler hier stammt aus dem Peligro-Waisenhaus und wenn auch nur die Hälfte von denen Raymonds Ruf folgt, könnte es selbst für dich schwer werden.“

Anhand des Lärms war es schwer zu beurteilen, wie viele Leute ihm gefolgt waren und wie sie sich gerade gegen jene schlugen, die ihnen Widerstand leisteten – oder ob überhaupt jemand das tat, was Raymond verlangte.

Die Worte ihrer Mutter überzeugten Heather dann aber wohl doch, denn sie widersprach nicht weiter. „Und wo soll dieser sichere Ort sein?“

Bislang hatte Anthony geglaubt, dass es nichts geben könnte, was sie irgendwie aus der Ruhe brachte, aber in diesem Moment zitterte Heathers Stimme und er konnte deutlich eine Spur von Panik in ihren Augen sehen. Noch dazu war Alona gerade ein wenig ratlos, was diesen sicheren Ort anzugehen schien, denn sie schwieg nachdenklich.

Alles Dinge, die ihn schließlich dazu brachten, einen Vorschlag zu machen: „Ich kümmere mich um sie.“

Woher genau das gekommen war, konnte er nicht genau sagen, aber er hatte dieses dringende Bedürfnis, ihr zu helfen und das ging wohl nur über diese Methode.

Beide Frauen sahen ihn gleichermaßen überrascht an, aber zumindest lachten sie nicht. Schließlich nickte Alona. „Das klingt eigentlich wie eine gute Idee.“

„Was?“ Heather sah ihre Mutter ungläubig an. „Meinst du das ernst?“

„Ich denke, ihr braucht gerade beide jemanden, der auf euch aufpasst. Leen ist bei Alexander sicher, aber du hast gerade keine große Auswahl.“

Zu hören, dass sie nur zustimmte, weil es keine Alternative gab, gefiel ihm zwar nicht sonderlich, aber im Moment sagte er nichts mehr dazu, weil es keine Zeit dazu war, zu diskutieren.

Schließlich nickte Heather ein wenig widerwillig. „Okay. Aber sei vorsichtig, Mum.“

Alona schenkte ihr einen zuversichtlichen Blick, widmete Anthony dann einen warnenden und ging wieder in Richtung des Kindergartens davon. Er sah ihr hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war und atmete dann durch.

Ich hoffe nur, das war jetzt die richtige Entscheidung.

Doch ehe er sich selbst in Zweifel versenken könnte, spürte er, wie Heather nach seiner Hand griff. „Lass uns gehen. Ich glaube nicht, dass dieser Gang noch lange sicher ist.“

Er nickte ihr zu und fuhr dann herum, damit sie durch den Haupteingang gehen könnten, bevor dieser versperrt war. Dabei ließ er ihre Hand nicht los und hoffte weiterhin, dass alles gut werden würde.
 

Alona durchquerte derweil den Kindergarten und achtete dabei kaum auf die anderen Anwesenden. Im Vorbeigehen gab sie den anderen Erzieherinnen Anweisungen, auf die Kinder zu achten, dann verließ sie das Gebäude durch die Tür, die in den Garten führte.

Sie verließ den Bereich durch eine Tür, die lediglich in einen weiteren quadratischen Hinterhof führte, der aber stets menschenleer war. Ein Torbogen führte auf die Straße hinaus, eine Tür in die Küche, die Mülltonnen, die hier standen verbreiteten auch keinen sonderlich angenehmen Geruch, so dass niemand gern hier sein wollte.

Dort hielt sie wieder inne und stieß ein wütendes Knurren aus, das die Kinder nicht hören sollten.

„Wie kannst du es wagen, mir meinen Mann zu stehlen?“

Die Worte waren an niemand gerichtet, da sie vollkommen allein war, aber dennoch musste sie es einfach sagen – und eine Ahnung in ihrem Inneren verriet ihr, dass der Empfänger sie dennoch mitbekommen würde.

„Das werde ich bestimmt nicht zulassen! Und meine Töchter bekommst du auch nicht!“

Ihre Augenfarbe wurde noch ein wenig heller, als ihre Kleidung sich änderte. Der dunkelblaue Kittel, den jede Kindergärtnerin über ihrer Alltagsgarderobe trug, verschwand, gemeinsam mit dem Kleid, das sie an diesem Tag getragen hatte. Dafür erschien die robuste Montur, die sie zu ihren Jägerzeiten getragen hatte. Hose und Pullover bestanden aus einem groben, aber dafür resistenten, dunklem Stoff, der die Wucht von Angriffen mindern sollte. Die Jacke und der Schal dienten der Magieabwehr und kleineren Spielereien und die Handschuhe sollten letztendlich ihre Finger vor Verletzungen schützen, besonders wenn sie mit dem Katana kämpfte, das von ihrem Gürtel herabhing.

Kaum war sie wieder in dieser vertrauten Montur, kam es ihr vor, als wäre sie niemals anders gekleidet gewesen. Ihr Körper lechzte richtiggehend danach, etwas zu jagen, ihre Kräfte einzusetzen und zu zerstören, was auch immer sich ihr entgegenstellte.

Ohne noch länger zu zögern, sprintete sie los und durchquerte den Torbogen, um auf die Straße zu gelangen. Ein einziger, nicht sonderlich kraftvoller, Sprung genügte, dass sie auf einem Vordach landete und von dort aus weiter auf eines der Häuser gelangte. So konnte sie von Dach zu Dach huschen, was ihr einen wesentlichen Vorteil verschaffte, wenn sie nur den Verkehr bedachte. Dabei folgte sie einem weiteren Gefühl in ihrem Inneren, das sie direkt zu ihrem ersehnten Ziel zu führen schien.

Halte aus, Ray! Diesmal werde ich diejenige sein, die dich rettet!
 

Auf der Straße, weit außerhalb der Akademie, war es wesentlich ruhiger, weswegen Anthony es sich dort wieder erlaubte, Heathers Hand loszulassen. Hier herrschte lediglich Verwirrung, was die Nachricht des Direktors anging, was sogar den Verkehr zum Erliegen gebracht hatte. Offenbar war niemand aus dem Peligro-Waisenhaus unterwegs – außer Anthony, der aber nach wie vor nicht verstand, was vor sich ging.

Heather tat das genausowenig. Durch die Nacht, die sie bei ihm verbracht hatte, glaubte er, sie einigermaßen gut zu kennen, aber derart deprimiert wie sie gerade an ihm vorbeilief, hätte er sie niemals eingeschätzt. Er konnte das nicht wirklich nachvollziehen – aber vielleicht wäre es ihm genauso gegangen, wenn sein Vater für den Feind arbeitete.

Als sie bemerkte, dass er sie aus den Augenwinkeln heraus immer wieder ansah, wandte sie sich ihm zu. „Kannst du das irgendwie erklären?“

Sie klang so verzweifelt, dass er am liebsten bejaht und einfach irgendetwas gesagt hätte. Er hatte einfach das Gefühl, dass sie nicht so hoffnungslos sein durfte, aber es gab nichts, was er tun konnte.

Also schüttelte er mit dem Kopf. „Nein. Falls das hier eine allgemeine Sache für Peligro-Bewohner ist, hat man vergessen, mir das mitzuteilen.“

Für diese Bemerkung schenkte sie ihm ein kurzes Lächeln, das aber sofort wieder erlosch. „Ich verstehe nicht, wie du auf die Idee gekommen bist, auf mich achten zu wollen.“

Zur Antwort zuckte er mit den Schultern. „Aber da deine Mutter das alles abgesegnet hat ...“

„Was wird sie jetzt eigentlich tun?“

Er war fast versucht, ihr eine scharfe Antwort zu geben, da er keine Ahnung hatte, was ihre Mutter nun eigentlich tun wollte. Aber er schaffte es, das wieder hinunterzuschlucken und stattdessen noch einmal mit den Schultern zu zucken. Sie nahm ihm das offenbar nicht übel, sondern seufzte. „Ich weiß, ich verlange hier Sachen von dir ... tut mir leid.“

„Mach dir nichts daraus.“

Ihm schien, dass sie noch etwas sagen wollte, als allerdings plötzlich jemand seinen Namen rief und damit die Unterhaltung unterbrach. Anthony fuhr herum und entdeckte Marc und Rena, die beide auf sie zugelaufen kamen. Heathers Gesicht verfinsterte sich ein wenig, aber sie demonstrierte nicht im Mindesten und es kam ihm auch nicht so vor, als ob sie sie das wollte.

Vor ihm blieben die beiden wieder stehen, keiner von ihnen schien außer Atem, was nur für ihr gutes Training sprach. Aus einem für Anthony unerfindlichen Grund kam ihm das gerade wie eine Bedrohung vor, aber er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken und schob es darauf, dass er noch nicht wusste, was die beiden von ihm wollten.

„Dachten wir uns doch, dass wir dich hier finden“, sagte Rena.

„Wie sieht es in der Schule aus?“, fragte Heather, ohne Anthony zu Wort kommen zu lassen.

„Besser als man glauben könnte“, antwortete Marc. „Es gibt nicht allzu viele Peligro-Schüler, die gerade bei uns auf der Schule sind. Die meisten konnten schon kurz nach dieser Nachricht überwältigt werden. Aber Mr. Chandler meint, dass es hier draußen zu Problemen kommen könnte. Er sagte, dass die Mimikry reichlich unruhig seien, obwohl es Tag ist und hat uns deswegen hinter euch hergeschickt.“

Also war Joel zumindest in der Schule und achtete durchaus darauf, dass alles in geordneten Bahnen verlief, das beruhigte Anthony ein wenig. Eine Gefahrenquelle war damit bereits ausgeschlossen, auch wenn das ihre Flucht nun weniger bedrohlich erscheinen ließ.

„Was ist mit Leen?“, fragte Heather weiter.

„Wir haben sie nicht gesehen“, sagte Rena. „Und Alexander auch nicht. Ich nehme an, sie haben beide ein sicheres Versteck oder sonst etwas in der Art gefunden. Mach dir keine Sorgen.“

Ihre Miene änderte sich nicht, weswegen Anthony das fragte, was sie wohl beschäftigte: „Wie genau sollt ihr uns eigentlich helfen, wenn wir angegriffen werden?“

Marc machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das sollen wir nicht. Mr. Chandler wollte nur, dass wir euch wegen der Aktivität warnen. Aber wenn wir schon hier sind, können wir euch auch gleich begleiten, oder?“

Heather zuckte mit den Schultern. „Ja, von mir aus. Die Frage ist nur, wo wir überhaupt hingehen sollen. Wir hatten bislang noch keine Idee.“

Marc wirkte plötzlich so, als hätte er einen Einfall, aber Anthony blendete es unwillkürlich aus, als sein Freund mit Rena zu sprechen begann. Sein Blick wurde mechanisch von etwas angezogen, das einen dunklen Schatten über die Stadt warf, aber von niemandem außer ihm bislang bemerkt worden war. Das Gebilde war riesig und doch bewegte es sich lautlos durch den Himmel, das schwarze Material, aus dem es bestand und das eine Pyramide formte, schien jegliches Sonnenlicht geradewegs aufzusaugen, um es niemals wieder abzugeben.

Zum wiederholten Mal an diesem Tag verstand er nicht im Mindesten, was gerade in ihm vorging, aber er wusste ganz genau, dass er dort hingehen musste. Etwas rief ihn dorthin, lockte ihn mit geradezu süßer Verführungskraft, ohne dass er sich dagegen wehren konnte – nicht, dass er es gewollt hätte. „Dort ...“

Seine eigene Stimme klang ihm plötzlich fremd, als würde er sie zum ersten Mal von außen hören. Die anderen blickten sofort zu ihm hinüber und dann selbst zu der Pyramide, genau wie alle Personen, die in ihrer Nähe standen, so als wären sie erst um einiges später auf die Anwesenheit dieser Neuheit aufmerksam geworden.

„Was ist das?“, fragte Marc ratlos.

„Ich würde darauf tippen, dass es das ist, was die Mimikry so nervös macht“, sagte Heather und blickte dann wieder genau Anthony an. „Denkst du gerade dasselbe, was ich denke?“

Das wusste er nicht – woher auch? Aber er konnte auch nicht wissen, dass man das einfach so sagte – allerdings spürte er in seinem Inneren, dass es wichtig war, dorthin zu gehen. Es war, als ob jemand ihn dorthin rief und er dem folgen müsste, es stellte sich nur noch die Frage, wie er das den anderen begreiflich machen könnte, nachdem er versprochen hatte, Heather in Sicherheit zu bringen. Doch sie schien ebenfalls daran interessiert, herauszufinden, was sich dort befand, denn plötzlich griff sie nach Anthonys Jacke, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Dad ist bestimmt da drin! Wir müssen dort auch hin!“

Eigentlich erwartete er, dass die anderen sie daran zu erinnern versuchten, dass es gefährlich und deswegen keine gute Idee war, doch Rena nickte sofort. „Es geht um deinen Vater, natürlich gehen wir dorthin.“

„Was war das vorher mit dem Versteck?“, wandte Anthony an Stelle der anderen ein. „Sollten wir sie nicht dorthin bringen, statt sie direkt zum Feind zu führen?“

Er widersprach nicht gern, da etwas in seinem Inneren ihm sagte, dass er eigentlich zufrieden sein müsste, dass die anderen unbedingt dorthin wollten, aber der rationale Teil seines Gehirns ließ ihn das dennoch machen. So sehr dieses Etwas ihn rief, umso stärker war sein eigentlicher Wunsch, von diesem Ding fortzubleiben und nie zu erfahren, was darin vorging.

In allen anderen schien es aber genau das gegenteilige Verlangen auszulösen. Rena holte ihr Handy heraus, während Marc den Kopf ein wenig neigte. „Heather hat eine gute Ausbildung durchgemacht, sie schafft das bestimmt – und wir sind ja alle bei ihr.“

Rena nickte zustimmend. „Alle ist sogar eine sehr gute Bezeichnung. Vincent schreibt, dass er und der Rest der Gruppe ebenfalls dorthin gehen. Also wird sie dort ziemlich sicher sein.“

Es war ihm unbegreiflich, warum sie beide sie bei einer solch unvorsichtigen Handlung zu unterstützen versuchten, weswegen er sie nur verwirrt ansehen konnte. Heather schnaubte, als sie seine Unentschlossenheit bemerkte. „Wahrscheinlich versteht man das nur, wenn man selbst einmal Eltern hatte.“

Das war der letzte Funke, der benötigt wurde, dass sein rationales Denken aussetzte. „Fein, dann gehen wir dorthin. Auch wenn ich es immer noch für eine schlechte Idee halte.“

Die beiden Mädchen setzten sich sofort in Bewegung, während Anthony noch eine Weile stehenblieb und einfach nur leise seufzte. Marc stieß ihn vorsichtig an. „He, mach dir keine Sorgen. Es wird bestimmt alles gut werden. Denk daran, wir sind alle ausgebildete Söldner.“

„Ich nicht“, erwiderte Anthony.

Die wenigen Wochen, die er jetzt an der Akademie war, reichten seiner Meinung nach nicht aus, um es als Ausbildung durchgehen zu lassen. Aber Marc ließ sich davon nicht beeinflussen, er lächelte nach wie vor. „Komm schon, vertrau uns ein bisschen, ja? Heather macht sich Sorgen um ihren Vater – und wie ich die Lage einschätze, ist man dort wahrscheinlich sicherer vor den Mimikry als irgendwo sonst, genau wie Rena sagt.“

Anthony verstand seine Begründung nicht, aber gleichzeitig schmerzte sein Kopf furchtbar und der Drang, zu dieser Pyramide zu gehen, wurde noch dazu immer stärker, als würde er Durst leiden und dabei vor einem Glas Wasser sitzen, das er nicht berühren durfte. Das half ihm nicht gerade, sich darauf zu konzentrieren, dass diese Sache einfach falsch war und das Verhalten der anderen nicht vernünftig.

Also konnte er nur hoffen, dass es funktionieren würde, wie die anderen es sich vorstellten und stimmte mit einem Nicken, ehe er sich Marc anschloss und dabei weiterhin hoffte, dass das alles irgendwie gut ausgehen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MarySae
2014-06-21T20:05:01+00:00 21.06.2014 22:05
Anthonys Eltern haben also beide in dem Waisenhaus gearbeitet. O_o
Also mussten sie ja nicht ganz unwissend gewesen sein.
Hmmm, blöd. Hab leider vergessen, was am Anfang war. :/ Na gut, gucken wir erst mal weiter. ^^

Ich frage mich, warum Alona und die Zwillis unbedingt zu ihm kommen sollen.
es kann ja nicht daran liegen, dass er sie in seiner Nähe haben will. Er scheint ja etwas... außer sich zu sein. O_o
Armer Kerl... zu so etwas gezwungen zu werden. :/

Oh, und der Schluß. :/
Da ist ja jetzt die Elite-Truppe schlechthin auf dem Weg mitten ins Geschehen xD
Da bin ich aber mal sehr gespannt, was da jetzt passiert ^^

Sehr schönes Kapitel! :)
Freu mich auf mehr!
LG, Mary
Antwort von:  Flordelis
21.06.2014 23:14
Vielen Dank für deinen Kommentar. ^^
(Unt tut mir nochmal extrem leid wegen der langen Pause, die ja Details vergessen ließ, derart lange wird sie jedenfalls nicht mehr sein, dafür sorge ich)

Ansonsten wird in den folgenden Kapiteln noch einiges erklärt und ausgeführt. =)
Natürlich auch Raymonds Verhalten und weswegen Alona, Heather und Leen zu ihm gebracht werden sollten.

Grüße, Alo.


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