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Der letzte Prozess der Inquisition

von

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Der letzte Prozess

Es war tiefster Winter und der Schnee lastete schwer auf dem ganzen Dorf, als er kam. Er trug nichts als ein grobes Leinengewand, das neben einem kleinen Bündel seine einzige Habe war. Obwohl er kaum 30 Jahre alt sein konnte, wirkte er bereits wie ein alter Mann, der griesgrämig schon sein ganzes, freudloses Leben hinter sich hatte.

In diesem Winter begann das große Viehsterben. Rinder und Schafe gingen herdenweise zugrunde, so manches Pferd, schließlich auch die Hühner. Die Katzen verließen das Dorf, alle miteinander, und eine Ratten- und Mäuseplage fiel über die Kornspeicher her.

Die Kinder sagten, der Dillner sei´s gewesen, jener Bettler, der im tiefsten Winter hier eingetroffen war. Gott bewahre, die unschuldigen Kleinen wussten, wovon sie sprachen. Aber die Erwachsenen taten es natürlich als absurd ab. Der Dillner war ja nur ein harmloser Bettler, der morgens das Dorf verließ, den ganzen Tag in der Wildnis herumstreifte und bei Dunkelwerden in den leeren Stall des verlassenen Leopold-Anwesens zurückkehrte, wo er sich ein notdürftiges Nachtlager errichtet hatte. Er störte nicht, fiel nicht auf. Hätte er nach Arbeit gefragt, sicher hätte man ihm welche gegeben. Aber er fragte nicht. So wurde er lediglich geduldet, wenn möglich gemieden. Der große Krieg begann erst, als eines der Kinder Steine nach ihm warf ...
 

„Stößchen!“, meinte der alte Krüger-Bauer lachend und krachte mit seinen Kumpels die Bierhumpen zusammen, daß man fast dachte, sie würden in tausend Scherben zerschellen. Dann kippten sie sich das Bier in die Rachen und lachten wieder. Jemand brüllte einen dummen Kommentar durch den ganzen Schankraum, alles gröhlte. Die Stimmung war ausgezeichnet. Der alte Krüger-Bauer feierte den Geburtstag seines Weibes stets ausgelassen und mit viel Alkohol.

Das Lachen verstummte schlagartig, als die Tür knarrend aufging. „Heilige Maria! Mutter Gottes! Maxl, was in aller Welt ist den mit dir passiert?“, keuchte der Krüger-Bauer und stürzte zu seinem 9-jährigen Sohn, der hereingekommen war. Das schmächtige Kind war blass wie Kalk, hatte tiefschwarze Augenringe und die Haare und Kleider klebten ihm schweißgetränkt am Leibe. Der Junge rollte unkoordiniert die Augen nach hinten und kippte dann ohnmächtig um. Der alte Krüger-Bauer konnte ihn gerade noch auffangen, bevor er mit dem Kopf gegen den massiven Türrahmen donnerte. Das Kind atmete kaum noch.
 

„Ich ... ich bin ratlos.“, musste der Doktor mit einem hilflosen Schulterzucken eingestehen und packte seine Gerätschaften wieder ein. Alles deutete auf ein schweres Fieber hin, wenn der Junge nur nicht eiskalt gewesen wäre. Selbst wenn er Medikamente gegen Fieber verschrieb, würde das also vermutlich nichts bringen. Das einzige, was ihm noch einfiel, war ein Vitamincocktail, um das Immunsystem zu stützen. Das Krüger-Maxl lag mit verdrehten Augen im Bett und war nicht ansprechbar. Manchmal zuckte er krampfartig oder keuchte. Er tat dem Doktor direkt leid, und der hatte hart damit zu kämpfen, nichts tun zu können. Maxl war manchmal zwar ein vorlautes und freches Gör, aber sowas hatte er nicht verdient, niemals.

Die Tür wurde aufgerissen. „Doktor! Kommen Sie schnell! Ein Notfall!“
 

Drei Tage später stand der Doktor am Fenster, gut versteckt hinter seiner Gardine, und schaute verstohlten auf die Straße hinunter. Wer kam diesmal und fragte nach Hilfe? Im Flur hörte er seine Haushälterin, die die Tür öffnete und behauptete, daß er nicht da sei. Die Gute, was würde er nur ohne sie machen?

Es war zum Heulen. Diese seltsame Krankheit war eine echte Seuche geworden. Inzwischen mussten es fast dreiviertel aller Dorfkinder haben. Aber warum nur die Kinder? Er wusste es nicht. Alle Untersuchungen und Tests waren erfolglos geblieben. Er fuhr sich mit der Hand verzweifelt durch die Haare. Dieser Plage musste doch beizukommen sein. Wieso konnte er nichts tun?

„Wer war es?“, wollte er müde wissen, als seine Haushälterin das Zimmer betrat.

„Der Apotheker. Er sagt, seine Vorräte seien erschöpft. Sie sollen keine Vitamincocktails mehr verschreiben.“

Der Doktor nickte resignierend. „Nicht schlimm. Die haben sowieso nicht angeschlagen.“ Er lies seinen Blick aus dem Fenster schweifen. Über die verödeten, verdorrten Felder. Dieses Jahr würden die Ernten fast völlig ausfallen. Nichts wuchs. Die Bäume trugen keine Früchte, der Boden blieb großflächig kahl. Es war um so schlimmer, da die Ratten und Mäuse die Vorräte aufgefressen hatten.

„Haben Sie schon wieder die ganze Nacht durchgearbeitet? Sie sehen furchtbar aus, gehen Sie endlich ins Bett!“, verlangte die Haushälterin streng und rang dem Doktor damit ein gerührtes Lächeln ab.

„Sie haben ja Recht ... Aber die Kinder ...“
 

Ein großer, zottiger Hund heulte mit einer Frau um die Wette. „Meine kleine Lotte!“, jammerte die Hinz-Bäuerin und schnäuzte sich lautstark. Dann seufzte sie herzerweichend. Wieder heulte der Hund, als der Kindersarg in das offene Grab hinabgelassen wurde. Die Kirchglocke schlug an. Diese Bestattung war nur eine von vielen in diesen Tagen. Die kleine Hinz-Lotte war schon vor einigen Tagen diesem seltsamen, kalten Fieber zum Opfer gefallen, aber der Totengräber konnte mit den Aufträgen und dem Schreinern der Särge gar nicht mehr Schritt halten. Die Kinder starben den Eltern unter den Händen weg.

Schniefend wandte sich der Doktor wieder von der Beerdigung ab und schaute wieder auf den Grabstein, vor dem er im Matsch kauerte. Max Krüger, geboren 26.03.1845, gestorben 12.08.1854. Er hatte die Krankheit als erster gehabt und war ebenfalls vor einigen Tagen daran zugrunde gegangen. Der Doktor presste beide Handballen an seine Schläfen, konnte aber trotzdem nicht verhindern, daß Tränenbäche über seine Wangen schossen. Warum zur Hölle hatte er nicht helfen können?

Er hatte Telegramme an die Gelehrten des ganzen Landes geschickt, aber keiner hatte ihm sagen können, was hier vor sich ging und was das zu bedeuten hatte. Er war am Ende, körperlich und psychisch.

„Sind Sie immer noch nicht drüber weg, Doktor?“, brummte jemand von der Seite. Der Arzt sah auf. Es war der alte Krüger-Bauer, der neben ihn trat und ebenfalls auf das Grab seines Sohnes schaute. „Nehmen Sie´s nicht so schwer. Sie haben alles getan, was sie konnten. Ich WEIS, daß Sie alles getan haben!“, fuhr er mit Trauermiene fort.

„Ich hoffe, die Eltern der anderen Kinder sehen das auch so. Ich habe versagt, ganz einfach.“, gab der Doktor seufzend zurück.

„Es ist nicht Ihre Schuld, daß die Kinder sterben.“

„Aber wessen Schuld dann?“, wollte der Arzt geknickt wissen. Wenn es einen Gott gab, war es dann dessen Schuld? Bisher hatte er immer die Medizin für den wahren Gott gehalten. Medizin bewirkte wahrhafte Wunder. Sichtbare, reale Wunder!

„Der Dillner war´s!“, fand der Krüger-Bauer voller Überzeugung und deutete auf die Friedhofsmauer. Draußen ging gerade der junge Bettler vorüber und warf verachtende Blicke über die Mauer herein.

„Ach, Unsinn. Jetzt fangen Sie doch nicht auch noch mit diesem Märchen an, das sich die Kinder ständig zutuscheln.“

„Ich habe gehört, daß mein Maxl Steine nach dem Dillner geworfen hat. An dem Abend ist er krank geworden. Ich sage, der Dillner hat den Jungen verflucht, genauso wie unser Vieh und unsere Felder, als er herkam. Ganz sicher.“

„Mumpitz.“
 

An diesem Abend lief der Doktor durch leergefegte Straßen. Es war ein komisches Gefühl, keinen Kindern zu begegnen, die er ins Bett scheuchen konnte. Die Sonne ging gerade unter und man konnte direkt zusehen, wie es dunkel wurde. Der Straßenmeister ging bereits herum und zündete überall die alten Fackellaternen an.

Der Dillner kam ihm entgegen. Er trug wie üblich sein Bündel mit beiden Armen an seine Brust gepresst. Es war viereckig und in Leinen eingeschlagen. Könnte eine flache Kiste sein. Der Doktor blieb verunsichert stehen als er das gehässige Grinsen im Gesicht des jungen Mannes sah. „Hast du Angst vor mir?“, wollte Dillner mit finster blitzenden Augen wissen und feixte amüsiert.

„S...sicher nicht!“, stammelte der Doktor, die unhöfliche persönliche Anrede perplex ignorierend. „Habe ich denn Grund dazu?“

„Das musst du schon selber entscheiden.“

„Ich ... kenne Sie doch gar nicht!“

„Nein. Aber sieh dich doch mal um, in den Ställen und auf den Feldern. Und in den Kinderzimmern, vor allem in den Kinderzimmern!“

„Was wollen Sie von mir?“, keuchte der Doktor.

„Ach, nichts. Nichts.“, meinte Dillner sorglos kopfschüttelnd und ging weiter. „Ich meinte ja nur. Ich dachte, du hättest auch schon Angst vor mir. Wo mir doch all diese bösen Sachen zugeschrieben werden.“

„Die Kinder sind krank geworden, das ist alles!“, rief der Arzt ihm verzweifelt hinterher.

„Sicher.“, gab der Bettler nur zurück und war auch schon um die nächste Ecke verschwunden.
 

Der Doktor wandte sich von Grauen gepackt um und rannte. Rannte als ginge es um sein Leben. Der Bettler war definitiv nicht normal. Das war ihm jetzt klar. Viehsterben und Kindersterben hin oder her, der Kerl hatte was auf dem Kerbholz. So einiges! Er musste was tun. Irgendwas! Bevor noch mehr passierte. Aber er hatte Angst. Was konnte er nur tun? Verzweiflung und die Unfähigkeit, in seiner Panik einen klaren Gedanken zu fassen, trieben ihn voran, bis er so außer Atem war, daß er fast zusammenbrach. Ein rauhes Bellen riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Es war ein Polizeihund. Der Doktor war in seiner Angst kopflos zur Polizeiwache gerannt.

Keuchend hastete er in das Büro hinein. Der drinnen sitzende Polizist riss erschrocken seine Zeitung zur Seite, die er gerade gelesen hatte. „Ach, Sie sind´s, Doktor. Was ist denn mit Ihnen passiert?“

Der Arzt rang noch eine Weile um Atem, bevor er wieder reden konnte. „Dillner! Er ist ein Mörder! Er hat all die Kinder auf dem Gewissen!“, platzte es dann um so schärfer aus ihm heraus. „Mein Gott, all die Kinder! Sperren Sie ihn ein!“

Der Polizist zog fragend eine Augenbraue hoch und begann dann in aller Seelenruhe seine Zeitung zusammenzufalten. „Nun mal immer mit der Ruhe. Glauben Sie diesen Bauern-Quatsch etwa wirklich? Sie sind doch ein rational denkender, studierter Mann, Doktor.“

„Aber er hat es mir gerade selber gesagt! ... Naja ... irgendwie ... indirekt. Aber trotzdem, der Kerl ist nicht ... ist nicht ...“ Er rang einen Moment um passende Worte. „nicht so harmlos wie er tut! Bitte, bevor noch mehr passiert!“

Der Polizist seufzte. „Haben wir denn etwas gegen ihn in der Hand? Irgendwas? Ich kann nicht einfach auf Zuruf Leute wegsperren.“

„Ich weis nicht ...“ Die vielen Kinderleichen waren samt und sonders dem Konto <Krankheiten> zuzuschreiben. Von Mord konnte schwerlich die Rede sein.

„Na meinetwegen. Lassen Sie uns mal mit dem armen Schlucker reden. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, das er was damit zu tun hat.“, entschied der dickbäuchige Polizist, wuchtete sich ächzend von seinem Stuhl hoch und griff langsam und ruhig nach Jacke und Helm.
 

Der junge Mann mit dem Lumpengewand schaute etwas missmutig, als er den Polizisten und den Doktor vor sich hatte. Die schienen zwar nur auf ein nettes Gequatsche vorbeikommen zu sein, aber es gefiel ihm trotzdem nicht, die beiden hier zu haben. Nun, ihm blieb wenig anderes übrig als mit ihnen zu reden.

„Hast du also doch Angst vor mir, Doktor?“, wollte Dillner provokant wissen.

Der Arzt schauderte. Der Blick des Bettlers sprach Bände. Er war des Todes. Wenn es ihm nicht gelang, daß die Polizei ihn hier und jetzt wegsperrte, würde er als nächster dran glauben müssen. Er antwortete nicht auf die Frage.

„Herr Dillner.“, begann der Polizist bedeutungsschwer. Dillner schaute ihn befremdet an. So hatte man ihn noch nie angesprochen. „Sind Ihnen die vielen Kindertode, die leeren Weiden und vertrockneten Felder aufgefallen?“, wollte der Polizist wissen.

Dillner nickte gelangweilt. „War ja nicht zu übersehen.“

„Haben Sie vielleicht eine Idee, was die Ursache all dessen sein könnte?“, fuhr der Beamte in förmlichem Tonfall fort.

Dillner zog fragend eine Augenbraue hoch. „Ein schlechtes Jahr, was weis ich!?“

„Es gehen Gerüchte um, daß Sie damit in Zusammenhang stehen könnten. Können Sie sich erklären, wo diese allgemeine Auffassung herrühren könnte?“ Der Polizist wandte sich von Dillner ab und schaute sich interessiert in dem leeren Stall um, in dem der Bettler hauste, während er die Antwort erwartete. Er fand nichts, der Stall war wirklich völlig leer, bis auf eine dünne Schicht Stroh und Dillners viereckiges Bündel, das wohl derzeit als Kopfkissen diente. Fragend sah er wieder zu Dillner, als die erwartete Antwort ausblieb.

„Eines der Kinder hat das wohl verbreitet. Die Bauern glauben ja wirklich alles.“, versuchte sich Dillner also zwangsläufig doch zu erklären.

„Ja. Leider sind die Kinder alle tot, die können wir nicht mehr fragen.“, gab der Beamte zurück und spazierte auf das am Boden liegende Bündel zu.

„Nein!“, keuchte der junge Bettler und stürzte hinterher, um ihn aufzuhalten. Sofort war eine gewaltige Rangelei im Gange. Die Männer wälzten sich prügelnd am Boden, bis der Polizist Dillner mit seinem Stahlhelm eine Kopfnuss verpasste, die ihn benommen zurücksinken und liegenbleiben lies.

„So, das gibt ne Anzeige wegen tätlichen Übergriffs!“, brummte der Polizist zufrieden, stand wieder auf, richtete seine Kleider und rückte sich den Helm liebevoll zurecht. Dann zückte er Handschellen.
 

Dillner blieb K.O.-geschlagen am Boden, während er in Ketten gelegt wurde. Der Doktor bückte sich derweile nach dem viereckigen, in Leinentuch eingeschlagenen Ding und packte es aus. Es war ein Buch. Interessiert schlug er die ersten Seiten auf. Und rang um Fassung. „Ein <Buch der Schatten>!“, keuchte er. Auch wenn er es irgendwie beinahe erwartet hatte, schockierte ihn die Tatsache doch. „Ein verdammt altes noch dazu.“, fügte er beim Weiterblättern an.

Der Polizist brummte fragend und kam dazu, als er mit Dillner fertig war.

„Ein <Buch der Schatten>. Da drin halten Hexen ihre Zaubersprüche und Rituale fest, um sie später wieder nachschlagen zu können. Dillner ist offensichtlich in den Besitz eines solchen Buches gekommen. Es hat mal ...“ Der Arzt suchte die erste Seite. „... einer Hexe namens Dagonia Truppa gehört.“ Er überlegte einen Moment. „Truppa ... das sagt mir was. Das war ein ganzer Klan von Hexen und Magiern, die ihr Wissen über Generationen hinweg weitergegeben haben. Allesamt griesgrämige, bösartige Leute, die haben sogar der Inquisition getrotzt. Kein Wunder, daß das Buch so alt ist.“

„Nochmal langsam! Dieser Kerl hier ist demnach ein Hexer?“, wollte der Polizist mit einem Deut auf Dillner wissen.

„Ja. Aber sicherlich kein Nachfahre der Truppas. Wer weis, woher er das Zaubersprüche-Buch mal bekommen hat.“

„Okay, fein, dann haben wir ja keine weiteren Probleme.“, fand der Polizist erfreut und rieb sich die Hände, als wisse er schon sehr genau, was er mit dem Bettler anfangen wollte.
 

Der Doktor schaute mehr als skeptisch, als sie den schreienden und um sich schlagenden Dillner endlich in eine Zelle der Polizeiwache gesperrt hatten und über das weitere Vorgehen beratschlagten. „Die letzten Hexenprozesse der Inquisition sind 200 Jahre her! Hexerei ist heutzutage nicht mehr strafbar!“

„Nein. Aber das vorsätzliche Anrichten von Personenschaden. Das ist Totschlag!“

„Naja, nach dem Gesetz ist es wohl eher Mord.“, murmelte der Arzt leise. Da gab es durchaus Unterschiede. Die Erwähnung von Sachbeschädigung hinsichtlich der Viehherden und Felder ersparte er sich.

„ ... und der ist strafbar, auch wenn die Mordmethode mal ganz ausgefallen und kreativ ist.“, fuhr der Polizist unbeirrt fort.

„Kreativ, ja. Aber nicht nachweisbar.“

„Genau. Darum kriegt der Kerl auch keinen strafrechtlichen, sondern einen kirchlichen Prozess. Das Ergebnis wird ohnehin das gleiche sein.“, ereiferte sich der Polizist und machte sich am Telegraphen-Schreiber zu schaffen. Er mochte diese neumodische Erfindung ja wirklich, das Ding war überaus nützlich – aber leider verdammt schwer zu bedienen. Er fluchte ungeniert in sich hinein.

Der Doktor sah aus dem Fenster. Es war spät geworden und schon stockdunkel draußen. Trotzdem nahm man unmissverständlich das sich zusammenbrauende Unwetter wahr. Der Sturm zerrte bereits grob an den Türen und Fensterverschlägen, Regen prasselte sintflutartig auf das Dorf herab. Während er Dillner in seiner Zelle seltsame Formeln rezitieren hörte, grollte in der Ferne schon ein bedrohlicher Donner. Der Arzt überlegte, ob es nicht klüger war, den Bettelhexer zum Schweigen zu bringen. „Telegraphieren Sie, daß die sich beeilen sollen. Wir werden Dillner nicht lange festhalten können.“, meinte der Doktor mit etwas mulmigem Gefühl.
 

Sagenhafte vier Tage später – nein, eigentlich vier wirklich schreckliche Tage später – hielt eine feierliche Delegation Einzug ins Dorf. Die Kirche hatte tatsächlich noch ein letztes Mal ein Inquisitionskommando zusammengestellt und es losgeschickt, den böswilligen Hexer zu richten, der eine ganze Siedlung ihrer Kinder und Viehherden beraubt hatte. Über 200 Jahre nachdem die letzten Hexenprozesse gerichtet und die Urteile vollstreckt worden waren.

Dillner hatte die vier Tage in seiner Zelle gut genutzt. Er musste sein gesamten Buch der Schatten auswendig kennen, denn obwohl man ihm dieses teuflische Ding weggenommen hatte, hatte er unbeschwert weiter seiner Zerstörungswut gefröhnt. In der Nacht seiner Gefangenname hatte ein Blitz den Kirchenturm zertrümmert. Der Bach war vom vielen Regen über die Ufer getreten und hatte die tiefergelegenen Teile des Dorfes überschwemmt. Einige Bauernhöfe und die Wirtsstube waren abgebrannt und eine nennenswerte Zahl von Menschen war bei den verschiedensten Gelegenheiten schwer oder gar tödlich verunglückt. Es hatte Erdbeben gegeben, die aber zum Glück nicht stark genug waren, um weiteren Schaden zu verursachen. Und der Doktor litt an einem fiesen Schnupfen, der aber vermutlich nicht auf Dillners Konto ging. Wahrscheinlich hatte er sich einfach nur im Regen erkältet.

Nun marschierte also ein berittener Trupp von Geistlichen ins Dorf ein, mit allem was dazugehörte. Ein Erzbischoff war als Inquisitor geschickt worden, er hatte zwei Beigeordnete bei sich. In ihrem Gefolge war ein zugelassener, zertifizierter Henker unter dem Segen Gottes, der sowohl das Verhör als auch eine etwaige Urteilsvollstreckung übernehmen würde. Ihm zur Seite stand ein Protokollschreiber, der Buch über die Verhöre und den Prozess führen würde, sowie ein gewöhnlicher Pater, der dem Seelenheil des Hexers durch Gebete nachhelfen durfte. Außerdem waren noch einige bewaffnete Männer als Geleitschutz dabei, und zwei Theologiestudenten, die sich der Prozession begeistert angeschlossen hatten, um ihre Studien über den Fall zu betreiben. Denn wann bekam man heutzutage noch echte Hexenprozesse zu sehen? Allen voran ritt ein Kreuzträger, der ein großes, goldenes Kreuz Christi auf einer Stange vor dem Trupp hertrug.

Der Doktor stöhnte etwas genervt. Er hatte noch nie viel auf Religion gehalten. Nach diesem überzogenen, pompösen Aufmarsch hier wusste er auch endlich, warum. Man konnte es auch übertreiben, wie er fand.
 

Die Prozesse wurden unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Wieder gingen Tage ins Land, in denen der Doktor nur untätig herumsitzen konnte. Da die Verhandlungen aber, der Tradition gemäß, auf Latein geführt wurden, war der Doktor nicht übermäßig böse darüber. Seine Lateinkenntnisse beschränkten sich auf medizinische Themen, er hätte also ohnehin nicht viel verstanden. Die Kinder, die noch nicht dem kalten Fieber zum Opfer gefallen waren, waren in unverändertem Zustand. Es gab nur noch ein knappes Dutzend Jungen und Mädchen, die bisher von diesem Fluch gänzlich verschohnt geblieben waren. Die, die angesteckt oder was auch immer waren, sprachen auch weiterhin auf kein Medikament und keine Behandlung an. Zähe Tage des Wartens. Zumindest hatte der Regen wieder aufgehört.
 

„Ein Urteil! Wir haben ein Urteil!“, rief der Krüger-Bauer und trommelte mit den Fäusten an die Tür des Doktors.

„Bitte beherrschen Sie sich! Ich werde es dem Herrn Doktor ausrichten.“, meinte die Haushälterin missbilligend, als sie öffnete und der Bauer beinahe von seinem eigenen Schwung ins Haus stolperte.

„Tatsächlich?“, wollte der Arzt, hellhörig geworden, wissen als er die Treppe herunterkam.

„Ja, schuldig! Der Dillner wird auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Jetzt gleich! Das Urteil wird auf der Stelle vollstreckt! Kommen Sie schnell!“

„Nun machen Sie mal langsam, mein Lieber. Ich gedenke nicht, mir das anzusehen.“

„Aber ... ich würde gern.“, gestand die Haushälterin.

„Blutgeiles Volk. Na, gehen Sie schon.“, gab er mild zurück.

Sie verneigte sich dankend und eilte mit dem Krüger-Bauer davon.

Ein Scheiterhaufen also, dachte der Doktor und schaute seufzend aus dem Fenster. Eine wirklich grausame, durch und durch mittelalterliche Praktik. Das Fallbeil hätte sicher auch genügt. Kurz und schmerzlos. Aber, nagut, der Erzbischoff hatte gesprochen.
 

Es war ein glühend heißer Tag. Die Zeit des Regens war übergangslos einer entsetzlichen Sommerhitze gewichen. Das Holz der Häuser knackte und ächzte vor Trockenheit. Dillner stand oben auf seinem Holzhaufen und freute sich ein wenig. Der Scheiterhaufen war das Beste, was ihm passieren konnte. Nein, er war nicht scharf auf den Tod. Aber mit dem Feuer konnte er noch was anfangen, auch wenn er das Ergebnis seiner Mühen nicht mehr bis zum Ende würde mit ansehen können. Tja, dumm gelaufen. Er war sich seiner Sache etwas zu sicher gewesen, nach all den Jahren des unbehelligten Hexens. Er hatte nicht erwartet, daß tatsächlich noch jemand auf die Idee kam, Inquisitionskommandos ins Leben zu rufen. Dafür hatte sich die staatliche Paragraphenreiterei schon viel zu sehr durchgesetzt.

Lauthals und volltönend rezitierte er seine geliebten Zaubersprüche, damit alle es hören konnten, während der Henker mit der Fackel näherkam. Der Pater, der versuchte, seine Zaubersprüche mit Bibelversen zu übertönen, nervte etwas. Als der Scheiterhaufen in Brand gesteckt wurde, kam Wind auf. Ein unangenehm warmer, trockener Wind, der durch den Holzhaufen zog und das Feuer so richtig zum lodern brachte. Und der herrlich schwungvoll die Funken davontrug, sie den Häusern entgegenwehte. Diese herrlichen trockenen Holzhütten. Dillner sah noch, wie das erste Dach in Flammen aufging, bevor ihm in der Hitze des Scheiterhaufens die Sinne schwanden.
 

Es dauerte eine Weile, bis die ersten Dorfbewohner auf das brennende Haus aufmerksam wurden. Oder vielmehr die brennenden Häuser. Der trockene, warme Wind trug den Brand dominoartig von einem Haus zum nächsten. Hier im Dorfkern standen die Häuser eng beieinander. Hektik machte sich breit. Die Hexenverbrennung war vergessen, überall stürzten kopflose Menschen herum, riefen nach Decken und Eimern und versuchten irgendwie irgendwelche Brandherde zu ersticken oder zu löschen. Die Flammen entwickelten sich binnen kaum einer halben Stunde zu einem Großbrand, der das halbe Dorf einschloss und auch auf den angrenzenden Wald übergriff ...
 

Ein halbes Jahr später:

Es war tiefster Winter und Schnee lastete schwer auf den Ruinen. Das Dorf war aufgegeben worden. Wer das Inferno überlebt hatte, war ausgewandert und hatte versucht, sich irgendwo eine neue Existenz aufzubauen. Gespenstige Stille lag über den ausgebrannten, verschneiten Häusergerippen.

Ein Mann spazierte durch das leere Dorf. Er trug nichts als ein grobes Leinengewand, das seine einzige Habe war. Suchend schaute er sich um und bückte sich hier und da, um im Schnee zu graben. Schließlich zog er ein viereckiges, in Leinen eingeschlagenes Bündel aus dem Schnee und drückte es zufrieden an seine Brust wie einen lange gemissten Freund. „Alte Schriften haben ihren eigenen Willen und wissen Ihre Vernichtung zu verhindern, ich wusste es schon immer.“, grinste der junge Mann. Er konnte höchstens 30 Jahre alt sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Miezel
2011-08-06T18:08:44+00:00 06.08.2011 20:08
Wow, was für eine Geschichte, ganz und gar nach meinem Geschmack. Vor allem das Ende. Gut die Verbrennung war ein bissel heftig, da gebe ich dem Doctor Recht. Und ob in einem Dorf um die Zeit eine Polizeistation exsistierte und dann noch mit einem Telegraphen ausgestattet und ob es eine Apotheke mit Vitaminpräperaten gab, weiß ich nicht, aber warum auch nicht. Vielleicht war es ja auch ein sehr großes Dorf, einer Kleinstadt im ländlichen Raum...Aber was hatte der Hexer gegen den Ort? War er einfach nur boshaft? Oder vielleicht hat er ja auch vom Teufel höchstselbst den Auftrag bekommen, weil die Leute dort zu Gottesfürchtig oder aber zu sündig waren, wer weiß, vielleicht erzählst dus später mal.
Hat mir mächtig gut gefallen.

Knuddel dich Mau


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