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Eternal Search

Die Suche nach dem Hier
von

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Aus der Dunkelheit

"Hey, D. Ich vertraue dir, weißt du."
 

Als ich wieder zu mir komme, ist es vorbei. Vorbei… ja, das Wort trifft ins Schwarze.

Meine Glieder schmerzen und mein Schädel brummt wie nach einer engeren Kollisions-Bekanntschaft mit Beton, aber es ist vorbei.

Vorsichtig lasse ich die Luft entweichen und der Vorhang meiner Lider hebt sich allmählich. Der gräulich weiße Himmel meiner Gegenwartswelt begrüßt mich und an meinen Händen spüre ich den altbekannten Kiesboden. Diese Welt besteht irgendwie nur aus Steinen…

„Oh“, stöhne ich und hieve mich in eine aufrechte Position.

„Dann ist es also wahr.“ Es ist fast peinlich, aber wieder einmal entweicht mir ein Laut des Schreckens. Was ist nur los? Sonst habe ich es immer gemerkt, wenn jemand in meiner Nähe ist. Sie erwischen mich schlicht und ergreifend in den falschen Momenten.

„Destiny“, sage ich knapp zur Begrüßung. Das blonde Mädchen sitzt auf einem der Steine und sieht unbewegt in die Ferne, dennoch umspielt wieder dieses zarte Lächeln ihren Mund.

„Hast du…?“ Ich bringe es nicht fertig den Satz zu beenden, weil mir ein riesiger tiefer Kratzer in dem Stein, auf dem sie sitzt, auffällt.

„Ich habe es gesehen, ja“, erwidert sie und es klingt beinahe beiläufig. Seufzend vergrabe ich das Gesicht in den schmutzigen Händen. Jetzt ist er also gekommen. Schon so früh. Der Moment, in dem sie sich dazu entschließen wird, sich mir nie wieder zu nähern. Natürlich…

Es wundert mich, dass sie überhaupt noch da sitzt. Dass sie noch die Höflichkeit besitzt, ein paar Worte mit mir zu wechseln.

„Ich hatte davon gehört“, sagt sie schließlich leise. Ich presse das Gesicht nur enger an meine aufgeschürften Handflächen. „Die anderen haben mir davon erzählt.“ Pfft. Und ich kann mir sogar denken, wer es ihr als erstes auf die Nase gebunden hat. „Aber dann erzählte mir Way, dass du nie kämpfst…“

Ich reiße die Augen auf und erstarre, halte den Atem an und verbiete mir selbst, mich zu fragen, ob ich mich verhört habe.

„Demon, warum kämpfst du nicht?“ So eine Frage ist schrecklich. Sie hat etwas Vorwurfsvolles, etwas Kaltes. Aber so wie Destiny sie ausspricht, bringt sie mich nur dazu, das Gesicht aus den Händen zu heben und ihr in die warmen Augen zu sehen.

„Weil ich…“, formen meine Lippen, ohne Stimme. Destinys Lächeln wird zärtlicher.

„Das habe ich mir gedacht.“ Ich sehe sie an; sprachlos, unverständlich, vielleicht auch verzweifelt, aber vor allem anderen unendlich dankbar. Erst nach ein paar Sekunden kann ich den Blick wieder von ihr lösen und auf meine Hände richten, die diesen unsauberen Kratzer in den Stein geschlagen haben, auf dem Destiny sitzt. Aber sie hat ihnen verziehen. Sie hat meinen Händen verziehen.

Ich fühle mich konfus, beinahe abwesend.

Aber seit Langem gelingt es mir wieder, zu jemand anderem als Way, so was Ähnliches wie Vertrauen aufzubauen.
 

„Oh…“

Das ist das Einzige, was ich noch zwischen den Lippen hervorstoßen kann, bevor mich eine Reihe von schnell galoppierenden Pferden beinahe zu Matsch trampelt. Ich bin schon fest davon überzeugt, dass jetzt mein letztes Stündlein geschlagen hat, als sich ein Arm um meine Taille schlingt und mit einem Ruck zur Seite zieht. Und für den kurzen Augenblick streift ein intensiver Duft mein Gesicht.

Die Kraft meines Retters sorgt zwar dafür, dass ich das Gleichgewicht verliere und unsanft auf dem staubigen Boden lande, aber das ist allemal nicht so schlimm wie von geschätzten zwanzig Hufpaaren bearbeitet zu werden – so jedenfalls meine bescheidene Meinung.

Was haben die bloß? Da bemerke ich, dass es keine Wildtiere sind. Auf ihren Rücken tragen sie Reiter in schweren, blitzenden Rüstungen. Sehr viel mehr kann ich jedoch nicht ausmachen, da sie, aufgrund ihres Tempos, bereits in der Ferne verschwinden.

Ich lasse die, unbewusst, angestaute Luft entweichen und presse eine Hand auf das wild hämmernde Herz in meiner Brust. Langsam aber sicher finde ich das nicht mehr lustig. Egal, welche Welten ich neuerdings besuche, immer passiert irgendwas, das mich halb zu Tode erschreckt.

„Vielen Dank für…“, beginne ich, breche dann aber ab. Ich bin allein. Verwundert rapple ich mich auf die Füße, klopfe den Staub von der Hose und schenke jeder Himmelsrichtung einen prüfenden Blick. Niemand da. Aber wer hat mich dann weggezogen? Hm. Nun, er wird wohl seine Gründe gehabt haben, zu verschwinden. Fürs Erste sollte ich herausfinden, wo ich gelandet bin.

Mein flüchtiger Retter hat mich in eine Gasse verfrachtet, die in der einen Richtung so düster und schmutzig wird, dass ich nicht das Bedürfnis verspüre, ihr zu folgen. Die andere sieht schon freundlicher aus – wenn auch nicht viel. Eine grob gepflasterte, breite Straße erstreckt sich davor zu beiden Seiten. Die Truppe von Reitern ist gen Osten verschwunden.

Nachdem ich – hinter der Ecke hervorspähend – auch dem Westen einen sorgfältigen Blick gegönnt habe, gehe ich ein paar Schritte ins Freie. Die Häuser, die die Straße säumen, wirken baufällig, einige sind sogar schon halb verfallen und ein unangenehmes Gemisch aus Fäulnis, Exkrementen und Verbranntem hängt in der Luft. Außerdem ist es verdächtig still.

„Wo sind die Bewohner?“, frage ich mich im Flüsterton. Außer den Scharen von Ratten, die zwischen den Ruinen umherhuschen, fehlt von Leben jede Spur. Und mein Retter? Das war bestimmt keine fette Wasserratte…

Gerade als ich darüber nachdenke, eines der Häuser zu betreten – was mir zugegeben missfällt – erregt ein Schrei in nicht allzu weiter Ferne meine Aufmerksamkeit. Bis jetzt haben Schreie, die ohne Vorwarnung erklingen, mich nicht gerade in vorteilhafte Situationen gebracht, aber…

„Was soll ich sonst tun?“, sage ich resigniert und laufe los. Wenn man Hinweise sucht, sollte man sich schon dahin begeben, wo sich was tut. Hier zu bleiben hat jedenfalls nicht viel Sinn und besonders bequem ist es sowieso nicht.

Nach ein paar Sekunden werden Rufe laut, denen ich folgen kann. Andernfalls hätte ich alt ausgesehen. Die Stadt, in der ich mich befinde, kann es in Sachen Unübersichtlichkeit gut mit dem Irrgarten aufnehmen, in dem ich letztens war. Aber trotzdem läuft mir in all den verwinkelten Gassen, Straßen und Plätzen keine Menschenseele über den Weg. Der Ort ist wie ausgestorben.

Schließlich trete ich nach der kleinen Irrfahrt durch die alten Gebäude endlich in halbwegs offenes Terrain. Wildes, schlammiges Gras breitet sich unter meinen Füßen aus – scheinbar hat es hier vor nicht allzu langer Zeit geregnet. Ein Stück weiter fällt der Boden ab, bis zum Ufer eines Flusses, der sich offenbar noch weiter durch die Stadt windet.

Mehr Zeit mich umzuschauen bleibt nicht, denn ich habe es mal wieder fertig gebracht, genau ins Zentrum des Aufruhrs zu platzen.

„Ver-verschwindet…! Macht, dass ihr wegkommt!“, schreit eine junge Frau und schwingt todesmutig eine morsche Holzlatte herum. Hinter ihr haben sich zwei kleine Gestalten wimmernd zusammengekauert und vor ihr wimmelt es nur so von schwarzen gelbäugigen Geschöpfen.

„Sind das nicht…?“ Ich kenne diese sonderbaren Wesen, habe sie schon in vielen Welten gesehen. Sie mögen klein sein und die scheinbar unkontrolliert zuckenden Bewegungen ihrer Gliedmaßen erwecken den Eindruck, keine sonderlich intelligente Lebensform vor sich zu haben, aber das täuscht. Auch wenn sie tatsächlich mehr Instinkt gesteuert handeln; eine ungewisse Gefahr geht trotzdem von ihnen aus. Denn es sind Kinder der Dunkelheit. Und Dunkelheit bedeutet immer Gefahr.

Aber von all dem einmal abgesehen, habe ich persönlich noch eine ganz andere Wirkung auf diese Viecher. Leider.

Ich bin seit kaum mehr als fünf Sekunden dazu gestoßen, da werde ich schon gänzlich – und unfreiwillig – involviert. Die gelbäugigen Schattenwesen lassen von hier auf jetzt von der Frau und den Kindern ab und beginnen auf mich zuzuschleichen.

Großartig. Und jetzt? Wahrscheinlich ist weglaufen, wie immer, die beste Alternative. Das denke ich jedenfalls, als die Frau mit gezielter Geste ausholt und drei von ihnen zur Seite fegt wie lästige Fliegen. Natürlich macht ihnen das kaum etwas aus – Holz ist so gut wie wirkungslos soweit ich weiß. Was wirkungsvoll ist, weiß ich allerdings genauso wenig…

„Komm mit!“, zischt sie in meine Richtung, schnappt sich die beiden Kinder und rennt los. Mehr aus einem Impuls heraus folge ich ihr. Unsere schattenhaften Verfolger sind glücklicherweise nicht besonders flink. Ganz im Gegensatz zu denen, die eines dieser rotschwarzen Embleme auf der Brust tragen – ich weiß, wovon ich spreche.
 

Irgendwann während unserer wilden Flucht durch die Stadt, drückte mir die Frau eines der Kinder in die Arme, während sie das andere trug. Ich spürte das Schluchzen des kleinen Wesens an meinem Hals und zum ersten Mal kam mir der Gedanke, wie Furcht erregend die schwarzen Gestalten auf so unschuldige Herzen wirken müssen. In dieser Stadt spielt sich das ab, was ich schon in einige Male zuvor mit ansah; die Schatten mit den gelben Augen überrennen diese Welt, vernichten alles, was sich ihnen in den Weg stellt, löschen selbst den kleinsten Funken Licht aus und tauchen sie in vollkommene Finsternis. Damit ergeben die leergefegten Straßen einen bitteren Sinn.

Die Frau, deren Namen ich noch nicht kenne, ist zäh. Kein Wunder, dass sie sich solange gegen die Monster behaupten konnte. Aber allmählich geht ihr die Kraft aus. Dennoch scheint sie ein Ziel vor Augen zu haben. Oder rede ich mir das nur ein, weil mir inzwischen auch die Luft ausgeht?

Gerade als ich das denke, macht sie einen plötzlichen Schlenker und ich folge ihr, was uns außer Sichtweite der Gestalten bringt.

„Esmeralda?“, erklingt da eine leise und doch dringliche Stimme aus dem Schatten neben uns.

Ich zucke zusammen, aber die Frau stößt einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

„Clopin! Dem Himmel sei dank.“

„Kommt hier runter! Im Hof sind sie noch nicht“, wispert der Fremde und kurz darauf kommen zwei behandschuhte Hände aus dem Boden. Ja, aus dem Boden…

Meine Gefährtin lässt das Kind, das sie getragen hat, behutsam hineingleiten, dann verschwindet es gemeinsam mit den Händen. Geistesgegenwärtig löse auch ich die zitternden Arme des Kindes in meinen Armen aus meinem Nacken und reiche es der Frau. Gerade als auch dieses im Loch verschwindet, höre ich erschreckend nahe hinter uns das zischartige Geräusch der Schattengeschöpfe.

„Das darf doch nicht wahr sein“, schimpft die Frau und ehe ich mich versehe, hat sie mein Handgelenk gepackt und mich auf das Loch zugeschoben. Ich bekomme kaum etwas von dem mit, was unmittelbar danach geschieht.

Zwei Arme schließen sich nicht unsanft, aber fest, um meine Hüften und heben mich in die Tiefen hinab. Mit einem Mal ist alles schwarz. Jemand flüstert etwas von Sie sind überall und Sicherheit. Ich spüre eine kleine bebende Hand, die sich am Zipfel meiner Hose festkrallt. Dann ertönt ein Geräusch, als würde etwas Schweres über den Boden geschleift, gefolgt von einem dumpfen Einrasten, welches den letzten Rest Helligkeit auslöscht.

Ich ziehe scharf die Luft ein und zwinge das Verlangen zurück, mir beide Hände auf die Augen zu pressen. Diese Finsternis, diese allumfassende Schwärze, pure Dunkelheit… das kommt mir bekannter vor, als mir lieb ist. Aber nein… das hier ist keine reine Dunkelheit. Wie zur Bestätigung schließen sich die winzigen Finger des Kindes enger um den Stoff meiner Kleidung. Licht…

„Wie sieht es bei der Kirche aus?“, fragt meine Begleiterin von vorhin und dann flammt der Schein einer Fackel auf. Vor mir wird das Gesicht eines Mannes sichtbar. Er hat schwarzes Haar, kleine schelmische Augen und seine Kleidung erweckt den Eindruck, er hätte eine Handvoll kunterbunten Stoffes wahllos zusammengeflickt. Ich glaube mich zu entsinnen, dass die Frau ihn Clopin genannt hat.

„Nicht anders als überall in der Stadt“, erwidert er bitter und hält die Fackel näher, um mich besser sehen zu können. „Und das ist?“

„Äh…“

„Oh, das Mädchen war in der Nähe des Seine-Ufers, als ich die beiden Kinder gefunden habe. Ich kenne ihren Namen noch nicht.“ Die Frau tritt um mich herum, sodass ihr Gesicht vom Fackelschein erleuchtet wird. Erst jetzt sehe ich sie wirklich an. Vorhin ließ sich ein näherer Blick auch denkbar schlecht bewerkstelligen.

Ihre Augen haben etwas Fliehendes, sodass ich sie nicht richtig greifen kann, aber das wilde schwarze Haar und die aufrechte, selbstsichere Haltung zeigen deutlich, wie tough sie ist.

„Ich heiße Esmeralda.“ Offenbar veranlasst sie etwas in meinem Gesicht dazu, mir die Hand auf die Schulter zu legen. „Du musst keine Angst haben, hier bist du in Sicherheit. Verrätst du uns deinen Namen?“

„Demon.“ Meine Stimme ist nicht mehr als ein raues Flüstern. Esmeralda lächelt freundlich, lässt ihre Hand von meiner Schulter zum Rücken gleiten und schiebt mich sanft ein Stückchen voran.

„Schon blöd, dass unser Kennen lernen unter derartigen Bedingungen stattfindet, aber nicht zu ändern.“ Dann wendet sie sich an die Kinder, denen sie beruhigende Worte zuflüstert, die ich jedoch nicht ganz verstehe. Clopin dreht sich herum und weist uns mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen.

Ich konzentriere mich ausschließlich auf das Feuer, das in der Fackel bedenklich flackert und hoffe inständig, dass es nicht ausgeht, ehe wir das Ziel erreicht haben. Und auf die Hand des Kindes an meiner Hüfte. Dadurch bekomme ich nur wenig von dem Wortwechsel zwischen Esmeralda und Clopin mit. Irgendwas von einem „dreckigen Feigling“ – so drückt sie es aus – namens Frollo, der sich sofort nach dem Angriff der Biester in seinen Gemächern verbarrikadierte, ohne sich auch nur ansatzweise um das Wohl der Bewohner zu scheren. Sie fragt Clopin auch nach zwei Männern, deren Namen ich nicht verstehe, und macht einen sehr erleichterten Eindruck, als er ihr versichert, dass beide wohlauf sind.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erreichen wir einen schmuddeligen, tiefvioletten Vorhang, der wohl als provisorische Tür dient und kaum schiebt Clopin ihn beiseite, wird es deutlich heller. Es ist fast, als bilde der Vorhang die Grenze zwischen zwei Welten. Befanden wir uns eben noch in einem muffigen düsteren Gang voller halbverrotteter Skelette, betreten wir jetzt einen riesigen – im Vergleich – prächtig erleuchteten Komplex. Auch wenn es scheint, dass er schon bessere Tage erlebt hat. Haufenweise bunte Stoffe verkleiden die Steinwände und Böden, warm brennende Fackeln an allen Ecken sorgen für ausreichend Licht und überall kauern sich Menschenansammlungen zusammen.

„Plötzlich sind wir Zigeuner wichtig geworden…“, sagt Clopin mit einem zerknirschten Blick auf ein paar der Leute, die sich irgendwie vom Rest unterscheiden. Sie sind nicht so bunt gekleidet, eher fein und wirken auf unbestimmte Art feindselig. So als würde es ihnen sehr missfallen, unter den farbiger gekleideten Menschen zu sein, während ihnen gleichzeitig keine andere Wahl bleibt.

„Was hätten wir denn sonst mit ihnen machen sollen?“, meint daraufhin Esmeralda. „Sie an diese Monster verfüttern? Hast du nicht gesehen, was sie mit den Menschen anstellen?“

„Doch, schon“, erwidert Clopin düster, unterbricht sich dann aber mit einem Blick auf die beiden Kinder. „Ich glaube, ich bringe die beiden erstmal zu ihren Eltern. Vielleicht…“ Er schaut auf und mustert mit unentschlüsselbarer Miene mein Gesicht. „Vielleicht solltest du dem Mädchen hier was zu trinken geben. Sie sieht aus, als würde sie gleich umkippen.“

Tue ich das wirklich? Na ja, meine Knie fühlen sich tatsächlich etwas wackelig an…

„Gut“, sagt Esmeralda und geht in die Hocke, um mit den Kindern auf Augenhöhe zu sein. Sie spricht zu leise, als dass ich verstehen kann, was sie zu ihnen sagt, aber kurz darauf nicken beide. Das kleine Mädchen, das noch immer meine Hose festhält, sieht auf. In ihren tiefblauen Augen ist das Licht fast greifbar. Kinder… ja, Kinder sind so voller Licht. Ihre Herzen sehen in allem das Gute und es ist ein Wunder, wenn sich das mit dem Erwachsenalter nicht ändert. Wenn irgendwann alles verloren ist, ich glaube, dann werden es Kinder sein, die die Welt retten…

„Danke…“, haucht die Kleine, mit dem Anflug eines zaghaften Lächelns. Ich weiß nicht recht, wofür sie mir dankt, aber schon löst sie die Finger von meiner Kleidung und beeilt sich Clopin und dem anderen Kind zu folgen. Ich schaue ihr nach, bis die drei zwischen den Menschenmassen verschwunden sind.

„So“, bemerkt Esmeralda aufgeräumt. „Dann sehen wir mal, dass wir ein wenig Wasser für dich auftreiben können. Und“, fügt sie mit einem besorgten Blick auf mein Gesicht hinzu, „einen Ort, wo du dich ausruhen kannst. Hm…“ Sie überlegt, während ich mich frage, wie ich aussehe, dass alle sich so viele Sorgen machen. Esmeralda schnippt mit den Fingern, was mich ziemlich prompt wieder in die Wirklichkeit holt.

„Ich weiß genau den richtigen Ort. Folge mir.“

Sie wartet nicht auf eine Antwort und so bleibt mir nichts anderes übrig, als hinter ihr her zu laufen. Das ist bis jetzt eindeutig die längste Zeit am Stück, die ich mit einer Person verbringe, die sich früher oder später nicht mehr an mich erinnern wird. Keine Ahnung, ob mich das freuen oder deprimieren sollte.

Esmeralda bahnt sich zielstrebig ihren Weg, vorbei an traurigen, wütenden, verzweifelten und auch vollkommen starren Gesichtern. Einige grüßt sie, hin und wieder bleibt sie auch kurz stehen, um ein paar Worte zu wechseln. Schließlich kann ich meine Frage nicht mehr zurückhalten.

„Du sagtest vorhin etwas über die schwarzen Wesen, dass sie… etwas mit den Menschen machen würden. Was ist das?“ Esmeralda wirft mir einen Seitenblick zu, in dem ich mehr lesen kann, als in den Worten darauf.

„Dann hast du es also noch nicht gesehen.“ Sie seufzt. „Diese Monster sind wie aus dem Nichts erschienen. Es sah aus, als würden… die Schatten lebendig werden. Zuerst waren es nur wenig, aber dann stürzten sie sich auf einen Mann und… schlugen ihre Klauen in seine Brust, nur dass er unverletzt blieb.“ Bei den letzten Worten runzelt sie die Stirn. „Und dann verschwand er. Einfach so. Wie Nebel. Aber danach waren es mehr Monster und mit jedem, den sie fingen, stieg ihre Zahl. Weißt du…“ Sie sieht zu mir hinüber und mir scheint, dass sie fröstelt. „Alle, denen ich das erzählt habe, glauben mir nicht, aber als das Monster den ersten Mann anfiel, da… Ich weiß auch nicht, da kam es mir so vor, als hätte es etwas in der Klaue gehalten. Etwas, das es aus seiner Brust geholt hatte.“

„Du meinst, es hätte ihm etwas gestohlen?“ Esmeralda nickt.

„Das ist verrückt, nicht?“ Ein bitteres Lächeln bedeckt ihre Lippen. „Dieser Schwachkopf Frollo meinte, die Monster wären aus der Hölle aufgestiegen, um all den Gottlosen ihre gerechte Strafe zu erteilen. Aber, weißt du was? Von ihm schienen sie besonders angezogen zu sein.“

„So?“

„Ja, natürlich. Ich meine, diese Viecher sind kaltblütig, nervig und hässlich wie die Nacht. Und du weißt ja, wie man sagt: gleich und gleich gesellt sich gern.“

„Das stimmt wohl“, murmele ich, mehr für mich. Hm. Diese Monster haben den Menschen also etwas weggenommen und offenbar setzte das ihre körperliche Existenz voraus, andernfalls hätten sie sich danach ja nicht in Luft aufgelöst.

„So, da wären wir.“ Verwirrt hebe ich den Blick, aber in dem kurzen Moment, bevor meine Augen anfangen zu registrieren, was ich sehe, steigt mir ein irgendwie vertrauter Geruch in die Nase. Süß und voll, aber nicht zu schwer. Was ist das?

Da holt mein Sehsinn auf.

Wir sind vor einer breiten Nische angekommen, die mehrere, stufenartige Erhebungen an beiden Seiten aufweist. Auch hier ist alles mit bunten Stoffen ausgelegt, wobei diese hier fast ausnahmslos von Blumenmustern geschmückt werden. Ein kleines Zelt steht genau in der Ecke, davor erhebt sich ein anmutig geformter Springbrunnen und schließlich wird mir klar, woher der Duft kommt. Denn die ganze Szenerie steht voller Blumenvasen und Töpfen. Auch wenn schon ein Großteil verdorrt ist, nimmt mir der Anblick den Atem, und der Duft…

Fünf Augenpaare richten sich auf Esmeralda und mich. Kinder, die offenbar wegen dem Wasser im Brunnen hier sind – jedes hält eine Schale in den Händen.

„Hey, Ilamurá“, ruft Esmeralda dem Zelt zu. „Ich hab hier noch jemanden, der was von deinem Wunderwasser gebrauchen könnte.“ Ich achte kaum darauf. Meine Aufmerksamkeit gilt den Kindern. Etwas stimmt nicht mit ihnen. Aber was?

„Noch einer?“, erklingt plötzlich eine sanfte Männerstimme. „Langsam gehen meine Vorräte zur Neige. Aber lass sehen, was ich tun kann.“ Widerwillig hebe ich den Blick von den stillen Kindern und treffe zwei azurfarbene Augen, umrahmt von schier endlos langen Wimpern. Der Mann, der gerade aus dem Zelt trat, hat ein sehr hübsches, fast feminines Gesicht und weich geschwungene, blassrosa Haare. Auch seine Bekleidung gleicht vorrangig einem kunterbunten Flickenteppich, obwohl die Stoffe edler scheinen. Und als er neugierig näher tritt, sodass ich seinen Duft vernehmen kann, fällt der Groschen.

„Du warst das!“ Zu spät wird mir klar, dass er sich nicht daran erinnern kann, mich vor dem Tod von Huftritten, gerettet zu haben. Wider meine Erwartung breitet sich jedoch ein charmantes Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Ja, ich gestehe. Aber von welcher Tat sprichst du, Kind?“ Eben noch beschloss ich, den Mund zu halten, aber jetzt öffnen sich meine Lippen doch.

„Ich bin kein Kind.“ Das fasst er mit einem Nicken auf, ohne das Lächeln abzulegen und deutet dann auf einen Stuhl neben sich.

„Dem ist wohl so. Setz dich.“ Unentschlossen wende ich mich zu Esmeralda um, welche mir aufmunternd zulächelt.

„Keine Sorge, Ilamurá wirkt vielleicht etwas eitel“ – Hinter mir höre ich den Genannten schnauben – „aber er ist der beste Heiler im Hof der Wunder. Du bist hier gut aufgehoben.“ Weil ich immer noch nichts erwidere, stemmt sie die Hände in die Hüften. „Sorg’ dafür, dass sie sich ausruht, ja? Wir sehen uns dann später, Demon.“

„Ah…“, stoße ich leise hervor, weiß aber nichts, womit ich Esmeralda dazu bewegen könnte, noch ein wenig hier zu bleiben. Sie dreht sich bereits um und tritt langsam zwischen die vielen Menschen, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Seufzend schlage ich die Augen nieder.

Letztendlich macht das keinen Unterschied. Es wäre sowieso dazu gekommen.

Und trotzdem… jetzt weiß ich, was ich bei dem Gedanken fühle, so viel Zeit mit ihr verbracht zu haben, obwohl sie mich aufs eine oder andere vergessen hätte.

Ich freue mich so sehr und es deprimiert mich zutiefst.
 

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So!

Ich glaube, dieses Kapitel erfordert jetzt doch ein paar Worte der Erklärung. Vielleicht auch nicht, aber es ist mir schier unmöglich, es unkommentiert zu lassen. ^-^

Dies ist das erste Kapitel, in dem ich gleich zwei Dinge ins Blaue hineinwerfe. Zuerst die Disney-Welt aus „Der Glöckner von Notre Dame“, die – wohlgemerkt – bisher noch nicht in Kingdom Hearts vorkam (Inwiefern sich das in Dream drop distance ändern wird, sei jetzt mal dahingestellt). Ich habe den Zeitpunkt gewählt, in dem die Herzlosen in der Welt auftauchen, auch das ist künstlerische Freiheit, denn noch ist nicht klar, ob die jemals dort eingefallen sind. Aber mir gefiel die Idee, zu zeigen, wie brutal die Übernahme der Herzlosen eigentlich ist. Oder zumindest stelle ich mir das so vor. In den Spielen wird es immer eher harmlos dargestellt, was aufgrund von Disneys Einfluss, auch nur logisch ist.

Das zweite ist der frei erfundene Charakter Ilamurá. Nach seinem Auftritt dürfte klar sein, um wen es sich dabei handelt, oder? ^-^ Es war schwierig, aus den vorhanden Buchstaben ohne das X einen halbwegs männlichen Namen zusammenzukleistern. Was haltet ihr von dem Ergebnis?

Ich wollte ihm eine französische Note geben, darum das á am Ende. Ich dachte mir zudem, dass Marluxia gut in die Rolle eines Zigeuners passen würde; mir gefällt der Kontrast, weil er im Grunde sehr fein wirkt, aber ein Leben in der Gosse führte…

Gut, vielmehr möchte ich nicht dazu sagen, ich fange jetzt schon an, abzuschweifen… ^-^’

Im nächsten Kapitel wird der Jemand von Marluxia natürlich noch genauer erläutert. Ich hoffe, ihr hattet Spaß bis hierhin!
 

Tausend Dank fürs Lesen! *Zu Füßen werf*

Feedbacks sind sehr erwünscht. ^-^
 

Rainblue



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Xaris
2011-08-18T01:40:30+00:00 18.08.2011 03:40
Demon ist eher Heldenhaft, mein Chara würde sich verkrümmeln, oder eher aus Neugierde einmal hingucken, hihi. XD
Hui, bringst du nun auch Welten ein, die nicht in KH vorkommen? :D Wollte diese Welt auch hernehmen, aber nja, ist nicht so mein Lieblingsdisneyfilm. XD
Das Kapitel war wirklich toll, auch dachte ich, dass es sich dabei um Marluxias Jemand handelt. Ich meine, dass es ein OC war, war klar (rosa Haare) und dann dachte ich mir, wer könnte es sein und war mir dann sicher, es zu wissen. >D
Haha, stimmt, ich habe auch keine Lust auf solche Verharmlosungen, deshalb richten die Herzlosen bei mir auch Wunden an. ><
Ich finds toll, dass du das Original nicht auseinandernimmst. :D
Deine Story war wirklich sehr gut, hat mir gefallen und ich werd auch weiterhin mitlesen. <3


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