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The Crystal Palace

von

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Vergangenheit

Cassie?“ Die Lyra aus dem Spiegel stand inmitten der Scherben und auf ihrem blassen, harten Gesicht konnte man nicht erkennen, ob Freude, Angst, Verunsicherung oder Schock überwogen. „Cassandra …“

„Du … du bist echt …“ Cassie stockte der Atem. Von dem Spiegel, den sie gerade mit der Faust zertrümmert hatte, stand der Rahmen ungerührt an seinem Fleck, doch um ihn herum breiteten sich die Scherben in großen und kleinen Teilen aus wie eine Pfütze. Ein leichter Wind kam direkt aus dem Spiegelrahmen, der nun nicht mehr die Vision einer anderen Lyra zeigte, sondern wie eine Tür mitten im Raum stand. Auf der anderen Seite standen die Bäume so dicht, dass es nur ein großer und tiefer Wald sein konnte. Der Geruch von feuchter Erde und Tannennadeln strömte in den Spiegelsaal hinein.

Die Lyra aus dem Spiegel blinzelte, löste sich aus ihrer Starre, trat einen Schritt nach vorne – und direkt durch den Rahmen des Spiegels hindurch. Sie packte Cassie an den Schultern, drückte sie an sich, erst vorsichtig, dann mit einem Ruck richtig hefig. „Ich habe dich überall gesucht … Wieso jetzt? Wie ist das möglich?“ Ihr Kleoparda folgte ihr lautlos und seine Ohren zuckten unruhig in alle Richtungen, als rechnete es jede Sekunde mit einem Angriff aus dem Hinterhalt. Nachdem Lyra Cassandra losgelassen hatte, schaute sie sich in dem Raum mit den verspiegelten Wänden um, umrundete den Spiegel, der von der anderen Seite ganz normal und kaputt aussah, und kam wieder vor Cassie zum Stehen.

„Du bist so … erwachsen. Du bist doch Lyra, nicht wahr?“

„Natürlich bin ich es, Cassie.“ Ein warmes Schmunzeln huschte über ihre Lippen. „Vier Jahre lang habe ich dich überall gesucht. Ich bin durch ganz Johto gereist, habe bei den Weisen des Glockenturms trainiert, aber ich konnte dich nirgendwo finden.“

„Ich bin die ganze Zeit hier gewesen“, sagte Cassie, zögerte dann jedoch. „Aber definitiv keine vier Jahre. Lyra, ich bin doch gerade einmal knappe drei bis vier Wochen von dir getrennt.“

Lyra brummte und ließ ihre Fingerspitzen über die kostbaren Edelsteine, mit denen der Spiegel geschmückt war, gleiten. „Aira und Aero haben mir davon erzählt. Ein Raum-Zeit-Krümmer also, ich verstehe. Vor ihrem Tod haben sie mir viele Dinge erklärt, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie existieren. Siehst du diese Steine? Sie sind nicht einfach nur gewöhnliche Edelsteine, sondern Bruchstücke der Brustplatten von Dialga und Palkia. Dieser Spiegel besitzt die Macht von Legendären.“

„Was meinst du damit?“

„Ich bin in der Zeit gereist, zurück in die Vergangenheit.“ Plötzlich lag etwas Wildes in Lyras Blick und das kinnlange Haar wehte unruhig hin und her, als sie den Kopf bewegte. „Das ist meine Chance, die alten Fehler wieder gutzumachen. Das muss es sein.“

Cassie wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht, was sie zu einer Unterhaltung beitragen konnte. Diese Lyra war eindeutig nicht die Lyra, die sie als ihre beste Freundin bezeichnete und mit der sie noch vor wenigen Wochen gemeinsam zu einer kleinen Pokémonreise aufgebrochen war. Diese Lyra war vier Jahre älter, erwachsen, hatte ihr Felilou zu einem Kleoparda trainiert und strahlte etwas aus, vor dem Cassie sich beinahe fürchtete.

„Wir sind wieder hier, nicht wahr?“ Lyras Stimme senkte sich minimal. „In der Zerrwelt. Ich bin zurück.“

„Zerrwelt?“

Lyra nickte und ihr Blick glitt zurück zum Spiegel, durch den man noch immer das Waldstück betreten konnte. „Es hätte nicht so enden dürfen, wir waren so kurz davor, aber dann … Ich werde nicht zulassen, dass es noch einmal so laufen wird.“

„Ich verstehe nicht, was du meinst. Was ist die Zerrwelt?“

„Eine Parallelwelt.“ Sie schaute zu Cassie, pirschte nervös zur Tür und wieder zurück. „Mehr musst du nicht wissen, unwichtige Details, die vom Wichtigen ablenken. Man hat dich hier her verschleppt. Wir sind im Kristallpalast, nicht wahr?“

„Wenn du den Palast von Prinz Melik meinst, dann ja. Ich bin seine Gefangene und irgendwie auch sein Gast, schätze ich. Aber ich verstehe trotzdem nicht, was hier vor sich geht. Kannst du mich nicht einfach zurück nach Hause bringen?“

Lyra kniff die Augen zusammen. Kleopardas Körper glitt lautlos durch den Raum, dann grollte das Unlichtpokémon leise und kehrte zu seiner Trainerin zurück, um sich neben ihr hinzusetzen. „Ausgeschlossen, das ist die einzige Chance, die ich noch haben werde. Ich werde ihn töten.“

Cassie schnappte nach Luft und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Töten? Wen, Prinz Melik?“

„Er ist ein Monster, seine Seele von der Gier nach Macht zerfressen. Er oder du, Cassandra. Er wird dich niemals gehen lassen. Als wir vor vier Jahren schon einmal hier waren, hatten wir keine Chance gegen ihn. Er hat uns vernichtet, seinen Bruder im Kampf ermordet. Seinen eigenen Bruder!“

„Wovon redest du? Melik hat niemanden getötet!“ Cassie wusste nicht, wieso sie den Prinzen auf einmal verteidigte, doch die Lyra, die ihr gegenüber stand, machte in diesem Augenblick einen weitaus wahnsinnigeren Eindruck als der Prinz, der sie in diesem Schloss gefangen hielt.

„Noch nicht!“, zischte Lyra und ihr Gesicht schnellte nach vorne, bis nur noch Zentimeter zwischen ihr und Cassie lagen. „Aber er wird es tun. Es wird sich wiederholen und nur ich kann es ändern.“ Abrupt richtete Lyra sich auf. „Sie hätten es auch getan.“

„Wer?“

„Meine Gefährten. Die anderen Wächter. Die toten Wächter. Er wird nicht noch einmal gewinnen, das verspreche ich dir, Cassie. Gibt es hier einen Ort, an dem ich mich verstecken kann?“

Cassie fühlte sich überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie ihr Zimmer mit einer Wahnsinnigen teilen sollte, doch Lyra war immer ihre beste Freundin gewesen. Wenn es etwas gab, was aus ihrer Lyra diese Lyra gemacht hatte, war es dann nicht ihre freundschaftliche Pflicht, dass sie ihr half? „Also gut, du kannst erst einmal mit in mein Zimmer kommen. Außer Margaret darf niemand zu mir kommen und wenn sie da ist, kannst du dich im Badezimmer verstecken.“

„Wer ist diese Margaret?“

„Eine Dienstmagd. Sie bringt mir Essen und saubere Kleidung.“

„Gut. So machen wir es.“ Lyra hob den schweren Brokatstoff, den Cassandra zuvor vom Spiegel gezogen hatte, vom Boden auf. Dann begann sie mit den Schuhspitzen die Scherben direkt an den Spiegel zu schieben und warf den Stoff zuletzt über den Rahmen. Zum Glück bedeckte der Stoff alles, auch die Splitter auf dem Boden. „Die Spuren sind verwischt. Gehen wir. Kleo, komm.“ In einer fließenden, geschmeidigen Bewegung erhob Kleoparda sich und folgte Cassandra und Lyra durch die Gänge des Schlosses.

Cassie hatte Mühe den Rückweg zu finden und mehr als einmal mussten sie in einem Gang umkehren oder im Treppenhaus eine andere Abzweigung nehmen, doch nach einer halben Stunde, in der sie sämtlichem Personal aus dem Weg gegangen waren, erreichten sie wieder das Gästezimmer.

Erleichtert nahmen die beiden auf der Bettkante Platz. Lyra zog einen Riegel aus ihrem kleinen, schwarzen Rucksack, in dem sie kaum mehr als eine Hose und ein Pullover zum Wechseln befinden konnten. „Reist du neuerdings mit so wenig Gepäck?“, fragte Cassie.

„Ich war nicht auf Reisen“, entgegnete Lyra, teilte den Riegel und gab Kleoparda die Hälfte. „Ich war im Wald von Teak City unterwegs, um einen Trainer zu stellen, der kurz zuvor in den Glockenturm einbrechen wollte. Fast hatte ich ihn, als ich auf einmal deine Stimme gehört habe und mitten aus dem Nichts flimmernd dein Bild aufgetaucht ist.“

„Oh.“ Cassie konnte sich nur ungenau vorstellen, was Lyra mit dem Einbrecher gemacht hätte, wenn sie ihn erwischt hätte. Kleopardas rasiermesserscharfe Krallen, die sich bei der Erinnerung an die Jagd nach dem Trainer in freudiger Erwartung aus- und wieder einfuhren, ließen jedoch die Vermutung zu, dass es für den Jungen nicht gut ausgegangen wäre. „Erzählst du mir, was alles passiert ist?“

„Du willst es wissen?“, fragte Lyra düster, zückte ihren zweiten Pokéball und entließ ein stattliches Gengar, das den neuen Raum mit seinen rotleuchtenden Augen erfasste und dann den halben Riegel in sein großes Maul warf. Anschließend zog sie beide Pokémon in ihre Bälle zurück und befestigte diese an ihrem Gürtel. „Wir sind dir in die Zerrwelt gefolgt und haben einen Plan geschmiedet. In der schützenden Dunkelheit der Nacht haben wir uns vom Dorf in die Berge vorgewagt. Die königliche Garde patrouillierte auf der Suche nach uns, weshalb wir uns nur bei Nacht fortbewegen konnten. In der zweiten Nacht erreichten wir den Kristallpalast. Wir dachten, dass uns niemand bemerkt hätte, doch nahe den Stallungen gerieten wir in einen Hinterhalt. Prinz Melik wartete nur auf uns. Wir kämpften, aber wir waren nicht stark genug. Sarin starb, als er uns zur Flucht verhelfen wollte, doch es war vergebens. Sie waren in der Überzahl.“

Einen Moment lang schwieg Lyra, dann fuhr sie mit ihrer Erzählung fort. „Wir haben es nicht einmal bis zu dir geschafft, Cassie. Der Himmel über uns riss auf und Zekrom griff uns auf seinen Befehl hin an. Was, glaubst du, hätten wir gegen ein Legendäres Pokémon ausrichten sollen? Der Herrscher der Zerrwelt hat die Gunst der Drachenpokémon. Sie erkennen ihn an dem Mal, das Kyurem den Herrschern bei der Geburt verleiht.“ Lyra knirschte mit den Zähnen und griff in Cassies silbernes Haar. „So wie du.“

Dann stand sie auf und begann durch das Zimmer zu tigern wie ein gefangenes Tier. „Wir hatten keine Chance. Durch den Kampf wurde die Zerrwelt instabil, es öffnete sich ein Riss, durch den ich zurück nach Johto geschleudert wurde. Hätten mich die Weisen nicht so schnell in der Turmruine gefunden, hätte auch ich nicht überlebt. Die anderen … Sie …“ Traurig schüttelte Lyra ihren Kopf. „Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört und von diesem Tag an konnte ich auch nicht mehr den Teleportationsmechanismus nutzen. Die Verbindungen zwischen der Zerrwelt und unserer Welt waren endgültig gekappt. Es gab keine Möglichkeit mehr, dass ich dich finden und retten konnte.“

Schweigen breitete sich in dem Zimmer aus. Cassie fühlte sich unwohl, wollte am liebsten alleine sein, doch sie konnte Lyra nicht fortschicken, immerhin durfte sie nicht entdeckt werden und wenn es stimmte, was sie sagte – und daran zweifelte Cassandra zu diesem Zeitpunkt nicht mehr –, dann würde Prinz Melik sie hinrichten lassen, sobald er sie entdeckte. Doch was noch schlimmer war, war die Gewissheit, dass ihre Lyra dabei war den Fehler der alten Lyra zu wiederholen. Oder zu begehen? Wie nannte man es, wenn man auf einmal einem Zeitreisenden gegenüber stand?

Das Klopfen an ihrer Zimmertür riss beide aus ihren trüben Gedanken und sofort eilte Lyra ins Badezimmer. Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugezogen, öffnete auch schon Margaret die Zimmertür und lächelte Cassie an. „Das Abendessen kommt heute ein wenig früher, meine Liebe. Der Prinz lädt zu einer wichtigen Konferenz mit seinen Ministern, dafür habe ich alle Hände voll zu tun. Lass es dir schmecken, ich komme in ein paar Stunden vorbei und hole das Tablett ab. Hier sind noch frische Handtücher für das Bad.“

Sogleich war Cassandra zur Stelle. „Vielen Dank, ich nehme die Handtücher und erledige das schon.“ Ihr entging Margarets verdutztes Gesicht nicht, doch die Dienstmagd reichte ihr die Handtücher und verließ wieder das Zimmer, ohne dass sie sich über das seltsame Verhalten ihres Gastes äußerte.

„Ist sie weg?“, kam es leise aus dem Badezimmer.

„Ja, aber wir müssen uns das Essen teilen.“ Cassie hob die Abdeckung vom Tablett und zum Vorschein kamen ein Obstsalat, dampfendes Rührei und mehrere kleine Sandwiches. Lyra sicherte sich das Rührei und die Hälfte der Sandwiches, Cassandra bekam die andere Hälfte und verfütterte den Obstsalat an Golbit, das über die kleine Portion murrte.

Sie aßen schweigend und währenddessen dachte Cassie darüber nach, was Lyra ihr erzählt hatte. Sie war damals nicht stark genug gewesen, um auch nur eine Chance gegen Prinz Melik zu haben, weshalb sie Cassie nicht erreichen konnte und diese erst viel zu spät von dem Kampf etwas mitbekommen hatte – dann, als es bereits zu spät gewesen war.

Cassies Blick fiel auf Golbit. Sie hatte es die ganze Zeit über nicht richtig trainiert, aber es hatte in Leias Haus kurz vor ihrer Flucht mit einer TM gespielt und auf ihr herumgekaut. Vielleicht hatte es doch eine Attacke gelernt und vielleicht war genau das der kleine Vorteil, den Cassie nutzen konnte, wenn es soweit war. Die Lyra aus der Zukunft hatte in ihrer Vergangenheit die Schlacht verloren, aber die Lyra in dieser Zeit würde auf Cassandra zählen können. Sie würde Lyra nicht hängen lassen und einfach zusehen, wie sie in ihr Verderben rannte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  fahnm
2015-03-15T21:27:17+00:00 15.03.2015 22:27
SUper Kapitel
Von: abgemeldet
2015-03-15T16:12:38+00:00 15.03.2015 17:12
Uh, Zeitreisen oô
Böses Tema~
Und Lyra (alt) ... Ich weiß noch nicht, was ich von ihr halten soll ._.'
Aer wir sehen weiter :D
Und Lyra (jung) hat gefälligst zu überleben! Sonst...
Von:  Yurippe
2015-03-15T15:45:49+00:00 15.03.2015 16:45
Okay, jetzt bin ich echt verwirrt... Ist das ein Traum, den Lyra hat, weil sie mit dem Tod ringt? Oder sind wirklich alle außer ihr tot?
Antwort von:  Kalliope
15.03.2015 16:49
Das Kapitel ist kein Traum und es sind auch nicht alle außer ihr gestorben. Cassie trifft im Spiegelsaal des Kristallpalasts die echte Lyra aus der Zukunft.
Antwort von:  Yurippe
15.03.2015 16:50
Oh Gott, Zeitreisen bereiten mir immer Kopfschmerzen...
Antwort von:  Kalliope
15.03.2015 16:52
Ist auch sehr verwirrend für Cassie, aber das wird sich alles noch klären.
Von:  yazumi-chan
2015-03-15T15:26:03+00:00 15.03.2015 16:26
Ich kann Cassy verstehen, Zeitreisen und Paradoxe inbegriffen sind nichts für schwache Gemüter xD Die Frage ist natürlich, inwieweit Cassy anders ist als in der Version, in der sie gestorben ist, zumal die ältere Lyra nicht unsere Lyra sein sollte, schließlich liegt die gerade sterbend irgendwo auf dem Boden. Sehr kompliziert alles :D Ich bin in jedem Fall gespannt, welche TM Golbit da angeknabbert hat.
Antwort von:  Kalliope
15.03.2015 16:36
Ja, das ist alles sehr verwirrend. Inwieweit hat Lyra die Zukunft schon verändert, indem sie einfach in die Vergangenheit gelangt ist? Wird es ihre Zukunft überhaupt geben, wenn sie zurückkehrt? Kann sie zurückkehren? Fragen über Fragen xD
Zumindest weiß Cassie jetzt, dass es den Hinterhalt geben wird, damit weiß sie mehr als die Cassie der alten Lyra und kann auch etwas unternehmen, siehe Golbit und die TM. Aber keine Sorge, ich hab zumindest einen Plan, wie sich das alles noch auflösen wird.
Antwort von:  yazumi-chan
15.03.2015 16:38
Na, das will ich doch hoffen :D Bald hast du es ja geschafft ;)
Antwort von:  Kalliope
15.03.2015 16:41
Jup :) Ganz so kompliziert ist es dann (hoffentlich) auch gar nicht. Du bist in deinem Kommentar auch quasi schon drüber gestolpert, auch wenn du wahrscheinlich noch nicht bewusst weißt, auf was es hinauslaufen wird.


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