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Im Feuer der Vergangenheit

[Buch 1]
von

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Gestohlene Zeit

Prolog

Gestohlene Zeit
 

LOS ANGELES, 1961
 

Außer ihnen beiden war niemand sonst in der kleinen Straße unterwegs und der Mond ließ ihre Schatten vor ihnen herlaufen. Durch Rhiaras lange Haare fuhr die leichte Nachtluft, was sie erfreut genoss. Die längliche Straße war nicht sonderlich stark erhellt, aber das sollte sie nicht weiter stören. Sie versuchte, das Lächeln zu unterdrücken, das in ihr aufkam, als sie zu dem Jungen schaute, der neben ihr den Weg entlanglief. Er bemerkte ihren Blick nicht, sondern schaute einfach nur nach vorne. Sie meinte, in seiner Miene zeichnete sich ein grüblerischer Ausdruck ab.

„Das war … klasse“, sagte Rhiara schließlich leicht zögerlich. „Das müssen wir unbedingt mal wiederholen.“ Eine einfache Feier an einem Abend wie jeder andere auch – an sich nichts Besonderes, wäre sie nicht mit ihrem besten Freund Reece unterwegs gewesen.

Er wandte sich ihr zu und lächelte so herzlich, dass es ihren Herzschlag in die Höhe trieb. „Aber selbstverständlich müssen wir das“, bestätigte Reece. Er schlang während des Laufens einen Arm um sie herum und streichelte ihr fast beruhigend über die Schulter. „Wieso bist du denn so nervös?“

„Du hast das bemerkt?“ Die Ungläubigkeit, die aus ihrer Stimme sprach, war nicht zu überhören. Niemand verstand Rhiara besser als er. Möglicherweise würde er eines Tages anfangen, ihre Gedanken zu lesen.

Unglaublich, dass sie ihm immer noch nichts gesagt hatte. Nachdenklich biss sie sich auf die Zunge. Wie lange konnte sie es noch herauszögern, ohne dass er Verdacht schöpfte?

Ein kurzes Lachen stahl sich über Reece‘ Lippen. „Na klar. Was denkst du denn? Wenn ich es nicht merke, wer dann?“

„Ach, du …“ Lachend und kopfschüttelnd brach sie selbst ab. In der Straße war es so kühl und verlassen, dass Rhiara das Gefühl nicht loswurde, jemand beobachte sie. Sie gab sich nicht weiter dem Gefühl hin und achtete wieder auf ihren besten Freund.

„Ich muss dir etwas sagen“, verkündete Reece.

Jegliche Aufmerksamkeit war nun bei ihm. Rhiaras Augen hatten sich unwillkürlich bei diesen Worten geweitet. Was mochte er ihr wohl sagen wollen, dass er so ernst klang? Vielleicht … Vielleicht war jetzt endlich der richtige Zeitpunkt, um ihm ihrerseits etwas zu gestehen? Aber es gab so viel, das sie ihm sagen wollte. Es schien ihr, als renne ihr die Zeit nur so davon.

„Was denn?“, fragte sie neugierig nach.

Er schaute sie nicht an, als er sprach. Trotzdem ahnte ein Teil von ihr, dass er sich überwinden musste, weiterzureden. Er war nicht der Typ, der gerne über die Gefühle sprach, die er nur ganz tief drinnen fühlte. „Das mag vielleicht schwachsinnig klingen … und ich weiß, dass wir uns erst knapp zwei Jahre kennen, aber …“ Zwischen der Entscheidung, weiterzusprechen oder einfach abzubrechen, blieb er kurz hängen. Aus dem Augenwinkel fiel Rhiara auf, dass Reece sich mit Nachdruck auf die Unterlippe biss.

Plötzlich blieb er stehen. Seine Hand glitt von Rhiaras Schulter und umklammerte stattdessen ihre linke Hand. „Ich vertraue dir voll und ganz, Rhiara. Ich will, dass du das weißt. Und ich glaube … ich kann dir alles erzählen, ohne Angst haben zu müssen, dass du lachst.“ Unter dem bestimmenden Blick seiner Augen musste sie den Blick abwenden. Wieso musste er auf einmal so sensibel werden? Er hatte doch gar keine Ahnung, was er da eigentlich sagte.

„Ich vertraue dir“, sprach Reece weiter. „Ich weiß nicht mit Bestimmtheit, ob du mir auch vertraust, aber das ist wohl auch gut so. Das ist deine Entscheidung.“

Rhiara wollte, dass er zu reden aufhörte. Wenn er nur wüsste; sie log ihn von vorne bis hinten an. Gab es überhaupt eine Sache, die der Wahrheit entsprach? Außer ihrem Namen. „Was willst du mir denn nun sagen?“, forderte sie. Der Griff um ihre Hand erschien ihr mit einem Schlag schrecklich unangenehm.

Erst holte er tief Luft, bevor er mit einem Atemzug sagte: „Ich mag dich wirklich sehr und ich hoffe, dass du hierbleibst. Ich will dich nicht verlieren.“ Er schlug für einen Moment die Augen nieder.

Fragend schaute Rhiara ihn an.

„Du sagtest mal, es gäbe nichts, das dich hier hält. Vielleicht verschwindest du eines Tages“, erklärte er.

Der Knoten in ihrem Hals schien sich ein bisschen zu lösen. Sie schüttelte den Kopf. „Wie könnte ich denn?“ Nach kurzer Überlegung fügte sie grinsend hinzu: „Du hältst mich doch hier.“

Reece‘ Augen glänzten so erfreut, dass sie ihn einfach nur anschaute. „Rhiara, ich …“ Doch er sprach nicht zu Ende. Es kam überraschend für sie, als er sie näher zu sich heranzog. „Das mag vielleicht nicht die passendste Umgebung sein, aber das ist mir egal“, flüsterte er ihr nun entgegen.

Hatte sie vorher noch Panik gehabt, dass irgendetwas nicht stimmte, so war davon jetzt nicht mehr die leiseste Spur übrig geblieben. Fast automatisch schloss sie die Augen und neigte den Kopf leicht. Sie spürte den warmen Atem von Reece auf ihrer Haut und meinte, seine Lippen berührten schon die ihren, doch soweit sollte es nicht kommen.

Er zuckte zusammen, was auch ihren Körper dazu verleitete. Der Griff um ihre Hand verstärkte sich augenblicklich. Diese verlassene Straße war vorher im Grunde schon unheimlich gewesen, aber nun war etwas anders. Eine kühle Brise war aufgekommen und ein seltsames Scharren drang durch die Nacht zu ihnen durch.

„Hörst du das auch?“, fragte Reece unsicher.

„Ja …“ Eine unbekannte Angst schnürte Rhiara die Kehle zu. Sie hatte nicht vergessen, welche Gefahren in den Schatten der Nacht lauerten …

Ein spitzer Aufschrei war alles, was sie noch über die Lippen brachte, bevor sie eine jener Gefahren vor die Brust traf, die sie nicht auszumachen vermochte. Reece‘ Griff um ihre Hand entwich ihr mit einem Mal, was sie schmerzlich feststellte. Als Nächstes fühlte sie schon eine harte und zugleich eisige Wand im Rücken, gegen die sie der Schlag katapultiert hatte. Sie wollte etwas erkennen, doch vor ihren Augen verschwamm es nur langsam. Der Schatten, in dem sie saß, schien über sie zu fallen wie eine unheimliche Decke. Eine Decke, die sie direkt in ihren schlimmsten Albtraum bringen würde. Die Tore zwischen Bewusstsein und Ohnmacht verschwammen vollständig und Rhiara konnte es schockiert nicht verhindern. Die Welt entglitt ihr für einige Zeit.
 

Als sie geistig wieder zurück war, lag ihr Kopf auf dem kalten Steinboden. Nur benommen setzte sie sich auf. Lediglich ein paar Sekunden bedurfte es, bis sie sich wieder der Lage bewusst geworden war. Sie wollte sich schon ganz aufrichten, als etwas anderes ihre Aufmerksamkeit verlangte.

Ihr fiel Reece ins Auge. Aber nicht so, wie er sollte. Ganz und gar nicht. Durch das stetige Dröhnen in ihrem Kopf erschien es ihr fast grotesk, wie diese Gestalt ihn an der Kehle gepackt nach oben hielt. Aber alles war real, nichts ein Traum.

Eine Stimme in Rhiara schrie unwillkürlich „Vampir!“, sie solle aufstehen und ihren Freund retten, aber eine andere schrie hingegen „Nein!“ Selbst wenn sie es gewollt hätte – sie hätte nicht gekonnt.

Als das Mondlicht auf das weiße Gesicht des unbekannten Angreifers fiel, bestätigte es ihre geistige Vorahnung, es handele sich um einen Vampir. Rote Augen und spitze Eckzähne wirkten in diesem Gesicht in jenem Moment so fehl am Platz wie Reece in seinem Griff.

Sie sah, wie der Vampir etwas sagte, und musste sich anstrengen, ihn verstehen zu können. Dabei war es nicht mal laut, sondern eher … totenstill. „Tja, Kleiner. Genau aus diesem Grund sollte man sich nie mit einer Hexe anfreunden.“

Nicht einmal diese Worte konnten Rhiara wachrütteln. Hätte sie als Hexe denn nicht eigentlich etwas tun können? Ihr fiel keine Antwort ein. Sie schaffte es nicht mal, in das Gesicht der Person zu schauen, die ihr so viel bedeutete. In ihr war plötzlich nur noch Entsetzen.

„Alle Heuchlerinnen.“

Die Worte des Vampirs ließen ihr eine eiskalte Träne über die Wange laufen. Wohl wissend, was nun geschehen würde, hielt sie sich die feuchten Augen zu. Gleich darauf stellte sie fest, dass sie sich doch lieber die Ohren zugehalten hätte. Es war nur ein kurzes Knacken, aber lang genug für sie. Dieses Geräusch würde sie nie wieder vergessen. Entkräftet sank sie noch weiter in sich zusammen. Ließ den willkommenen Tränen nun freien Lauf.

Erst nach einer halben Ewigkeit, als alles mucksmäuschenstill schien, schaute Rhiara langsam auf. Wie erwartet war der Vampir verschwunden. Nicht so das, was er zurückgelassen hatte. Sie schaffte es, auf die zittrigen Beine zu kommen und schlich halb aus den Schatten. Fast wie betäubt lief sie zu der Gestalt, die auf dem Boden lag, so schrecklich falsch. Verloren sank sie vor ihr auf die Knie.

„Reece …“, wisperte sie, obwohl ihr eigentlich von Anfang an klar war, dass sie keine Antwort bekäme.

Sie wollte ihm die Haare aus dem friedlichen Gesicht streichen, traute sich aber nicht. Es liefen keine Tränen mehr, doch sie fühlte sich ohnehin viel zu schlecht, als dass sie es hätten besser machen können. Nichts konnte das hier besser machen. „Hoffentlich … hoffentlich ging es schnell.“ Das Ganze beschrieb nicht annähernd das Gefühlschaos tief in Rhiara.

Jetzt bist du doch tatsächlich gegangen, bevor ich es tun konnte … Wieso?, dachte sie und stand langsam wieder auf. Sie fühlte sich seltsam leer, jeglicher Grund, hier zu bleiben, war hinfort. Mit einem Mal … weg.

Es gab keinen Grund mehr, in der Stadt der Engel zu bleiben. Ihr Engel war tot.



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