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Die Geschichte des legendären Sullivan O'Neil 3

Vom Gejagten zum Jäger
von

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Spiele

Wenn man sich auf etwas konzentriert, gehen die Dinge viel leichter von der Hand, als wenn man sie nebenbei macht. Oder?

Manchmal hatte ich allerdings das Gefühl, dass vieles ganz nebenbei funktionierte. Bei Schach allerdings brauchte man ein Mittelmaß. Entweder man machte sich verrückt oder aber, man bekam nicht einmal mit, was der Gegner für Züge tat. Das Schlimmste war, dieses Mittelmaß irgendwie zu erreichen – besonders in diesem Moment.

Jack wollte wissen: „Er konnte Euch also nicht weiterhelfen?“ Und wahrscheinlich war ihm nicht einmal bewusst, dass er mit dieser winzigen Frage mein Mittelmaß in tausend Stücke zerschlug und das zum gefühlten tausendsten Mal. Er, Slade und ich hatten uns in den schwarzen Kater zurückgezogen, während draußen ein Platzregen die Straßen förmlich ertränkte. Es war Sommer und die Luft drückend, doch nun, wo die Gewitterwolken endlich aufgebrochen waren, wurde es deutlich angenehmer. Das Klappern der Regentropfen auf dem Dach ließ alles monoton und niedergeschlagen wirken. Dazu kam das Dämmerlicht, obwohl es gerade mal Mittag war, zusammen mit der Stille der Stadt. Melancholisch, wenn man so wollte, aber angenehm.

Während der Wirtssohn am Tisch saß und einige Papiere kopierte, hatten der Brehmser und ich auf dem Boden Platz genommen, als wären wir Ketzer aus dem Ausland. Fast erinnerte es mich an meine Zeit in den verstecken Schreibhöhlen, wo wir auf dem Boden kauerten und kopierten.

Wir spielten mit unserem Schachzabel, eines unserer wenigen Mitbringsel aus Slades Heimatstadt und leider hatte ich nicht den Eindruck, dass ich gewann. Noch immer liebte ich dieses wunderbare Stück fast abgöttisch, seien es die kleinen Schnitzereien oder das Brett selbst, verziert mit Ornamenten und Blätterwerk in bunten Farben. Es hatte viel gekostet, aber das war es wert gewesen. Konzentriert starrten wir beide auf das Spielfeld vor uns. Ich war am Zug, aber wie immer schienen wir gleichstark zu sein. Ich musste Acht gaben, nicht falsch zu setzen, wenn ich nicht verlieren wollte. Der Sieger bekam das heutige Bier bezahlt und das konnte bei Slade teuer werden.

Hörbar abgelenkt erklärte ich: „Das kann man so nicht sagen.“, dann wollte ich nach einer der Figuren greifen, hielt aber im letzten Moment inne. Ich war unsicher, was ich setzen sollte und Slades unbeteiligter Blick machte es mir nicht einfacher. Zudem fühlte ich mich etwas unter Druck gesetzt – ich wollte vor Jack nicht verlieren. Würde Slade grinsen, wüsste ich wenigstens, wenn ich Fehler machte. Ruhig zog ich meine Hand also wieder zurück und wiederholte im Hinterkopf abermals, welche meiner Figuren bedroht wurden und welche nicht. Nur ein einziger meiner Venden war noch übrig – der Arzt. Er stand nur wenige Schritte entfernt von meiner Königin und die Versuchung war nur allzu groß, ihn zu nehmen und einen Schritt weiter zu setzen. Wahrscheinlich würde Slade einen seiner Bischöfe nehmen, um auch den letzten Anhänger meines Fußvolkes zu schlagen, aber täte er das, könnte ich mit einem meiner Rocken reagieren. Eigentlich konnte man in diesem Spiel voraus denken, planen was der andere tat, aber ich gebe zu, dass ich das bei Slade nie wirklich schaffte. Fast, als würde er mit Absicht falsche Fährten legen. Wie ein Dieb eben.

Ich war unsicher. Vor allem, da Jack trotz seiner Arbeit ein Gespräch mit mir suchte und weiter nachhakte:

„Das heißt also, er konnte Euch weiterhelfen?“

„Er konnte zwar meine Fragen nicht beantworten, aber er hat mich zumindest in meinem Denken bestärkt.“

Der Brehmser vor mir lachte: „Vielleicht seid Ihr im Denken stärker geworden, schneller jedoch nicht. Wenn Ihr nicht bald einen Zug macht, stauben die Figuren ein.“

„Drängt mich nicht.“, ich hatte mich entschieden und schob meinen Bauern einen Schritt nach vorn – bereute es aber im nächsten Moment, da Slade statt seinen Bischoff einfach seinen Gaukler versetzte. Fast, als würde es ihn gar nicht interessieren, was ich tat und als hätte er längst gewusst, was ich tun würde. Ich warf ihm einen finsteren, vorwurfsvollen Blick zu und wollte deutlich zerknirscht wissen:

„Wollt Ihr ihn nicht besiegen?“

Doch mein Gegenüber schnaubte nur etwas spöttisch. Scheinbar hatte Slade keine Lust, meinen Plänen nach zu agieren. Es war zum verrückt werden!

Für einen kurzen Moment machte Jack eine Pause, ließ die Schreibfeder sinken und musterte unser Spiel, ehe er fragte: „Und was habt Ihr als nächstes vor? Ich habe nun zwei Tage lang fast ohne Pause kopiert. Es wirkt allerdings nicht so, als würde O’Hagan das irgendwie stören, Herr.“, der junge Mann rieb sein Handgelenk etwas, fast wie zur Verdeutlichung seiner Worte.

„Wie kommst du darauf?“, ich sah zu ihm hoch.

Statt Jack antwortete jedoch Slade: „In Brehms hat er einen Kreuzzug veranstaltet, hier ermahnt er nicht einmal das Volk. Man könnte meinen, es interessiert ihn nicht.“

Das stimmte leider. Kurz donnerte es und wir alle sahen nach oben. Das Grollen hielt lange an, als würde es über unser Dach hinweg rollen. Nachdem es etwas verklungen war, gab ich zur Antwort:

„Es interessiert ihn. Aber er wäre ein Idiot, würde er seine Wut offen kundtun.“, diesmal bewegte ich meinen Bischof ohne Zögern, denn durch meinen letzten Zug war der Weg endlich frei, doch kaum bedrohte ich Slades König, machte dieser einen Schritt zur Seite.

„Aber in Brehms hat er das doch getan oder nicht?“, wollte Jack aufmerksam wissen. „Nach dem, was Ihr mir erzählt habt, hat er dort sogar ein Exempel statuiert.“

„Brehms ist anders, als Annonce, Jack..“, ich ließ das Schachzabel nun erneut aus den Augen. Ruhig stützte ich meinen Arm auf das Holzbett neben mir und bewegte die freie Hand beim Reden, während ich fort fuhr: „Brehms und Annonce sind grundverschieden. Du warst nie da, es ist nicht vergleichbar. Brehms ist viel kleiner, schöner und sauberer. Sie sind viel weiter, als wir, was den Ausbau der Straßen oder die Kultur angeht. Im Gegensatz zu Annonce sind dort Gilden erlaubt und durch die Lage haben sie viel mehr Möglichkeiten für Handel.“

„Aber wir haben den Hafen.“, konterte der Junge desinteressiert. „Wir haben auch viel Handel. Außerdem jede Menge Fisch.“

Und Slade stimmte lachend zu: „Und das riecht man meilenweit.“

„Das ist gut möglich. Was ich sagen will ist aber, dass ein Exempel dort viel eindrucksvoller ist, als hier. In Brehms gibt es keine Galgen und Scheiterhaufen mehr, außer bei ganz Besonderen Ereignissen. So gewaltvolles Vorgehen ist für die Menschen dort nicht alltäglich. Für Annoncer schon. Würde O’Hagan jemanden hinrichten lassen, wäre das nichts Neues. Denk an deinen Vater, Jack, an deine Mutter. Hat es irgendjemanden schockiert, dass sie sterben mussten? Nicht mal dich selbst oder? Erschüttert, ja, aber es war nicht überraschend.“

Als ich Jacks Eltern als Beispiel nahm, wich der Junge meinem Blick etwas aus und fuhr sich durch das blonde Haar, ein wenig nachdenklich vielleicht. Es stimmte, er war nie in Brehms gewesen und wahrscheinlich würde er diese Stadt auch niemals erreichen. Weder konnte er sich eine Aufenthaltsgenehmigung leisten, noch würde er eine Arbeit finden. So wie ich damals hatte er, als junger Mann aus Annonce, kaum eine Chance, sich dort einen Namen zu machen. Vor allem, da man bei ihm seine Herkunft viel deutlicher heraushörte, als bei mir.

Nach einigen Sekunden nickte er knapp. „Gut, das leuchtet ein.“, doch dann sah er mich abermals an und legte die Feder nun ganz beiseite. „Aber das zeigt nur umso mehr, dass wir es hier schwerer haben, Herr. Ich gebe mir wirklich viel Mühe mit der Kopier-Arbeit. Ihr wisst, ich tue, was Ihr mir sagt und ich tue es gern. Aber ich habe das Gefühl, dass es umsonst ist. Ich habe das Gefühl, dass ich für nichts Tag und Nacht hier sitze und schreibe.“

„Es ist schwer, damit etwas anzufangen.“, gab Slade grübelnd zu. „Zumindest für Annoncer. Die meisten Menschen können nicht lesen. Zwar lernen es immer mehr, aber nicht hier in dieser Stadt. In Brehms war es leichter, den Menschen die Texte nahe zu bringen. Durch die vielen Gilden und Händler sind viele gebildet. „

Mich störte das Thema ein wenig. Nicht nur, weil die zwei anfingen, an meinen Plänen zu zweifeln, sondern auch, weil sie Recht haben könnten. Ich wandte mich wieder dem Brett zu und beschloss, das Gespräch den beiden zu überlassen. Ruhig versuchte ich weiterzuspielen, doch das Gerede lenkte mich zu sehr ab. Ich hatte schon wieder vergessen, was genau mein Ziel gewesen war. Ein wenig überfordert versuchte ich, die Figuren auf dem Spielfeld durchzugehen. Acht weiße von meiner Seite, neun von Slade. Mit etwas Glück könnte ich vielleicht ein Patt erreichen, so hoffte ich.

„Wie ist es in Brehms, Herr?“, der Wirtssohn drehte sich vom Tisch weg und sah meinen Gegner aufmerksam an. In den letzten Tagen hatten sie das erste Mal angefangen, richtig miteinander zu sprechen und Jacks Skepsis ihm gegenüber schwand allmählich. „Ward Ihr Euer ganzes Leben dort? Und ist Brehms wirklich so schön, wie man sagt? ‚Die goldene Stadt, in der es alles gibt’, nicht wahr?“

„Sie ist schöner, Junge.“, der Streuner grinste ein wenig und zeigte seinen Goldzahn dabei. „Es gibt keine Worte, die meine Heimat beschreiben könnten. Die Märkte sind viermal so groß, wie die hier bei euch. Es gibt dort Dinge, die du dir niemals erträumen könntest. Früchte, die du nirgendwo anders finden kannst und Leinen aus so feinem Stoff, dass sie zwischen deinen Händen dahin gleiten.

Und die Frauen, Jack... Die Frauen...“, sein Grinsen wurde breiter und als ich aufsah, registrierte ich Jacks gerötete Wangen. Sein Blick zeigte deutliches Interesse und innere Aufregung. Und das sicherlich nicht nur, da er schon immer von fremden Orten träumte. „Du glaubst nicht, was die Weiber aus Brehms alles können. Nicht jede, natürlich, aber die guten Dirnen, Jack, die Ihr Fach beherrschen – Ich schwöre dir, du willst kein anderes Weib mehr. Ich weiß noch, als ich eine vollbusige Schönheit mitnahm in ein altes Lagerhaus. Erst war sie ganz zärtlich, doch dann-...“

„Ihr seid am Zug.“, demonstrativ stellte ich meinen Ritter ein Stück nach vorn und bedrohte so sowohl Slades Rocken, als auch abermals seinen König.

Der Brehmser zuckte unwillkürlich zusammen und zog die Augenbrauen hoch. „Ihr greift erneut an?! Lernt Ihr nicht aus Euren Fehlern?! Wollte Ihr Euer ganzes Geld verlieren?!“

„Ich bin eben ein Mensch der Offensive.“, und da Slade nun wieder etwas beschäftigter war, wandte ich mich Jack zu und sprach für den Dieb weiter: „Frauen gibt es aber auch in Annonce genug, dafür musst du nicht in fremde Städte. Und wenn es nach den Plänen der Inquisition geht, dann werden wir eines Tages eine genauso gute Stadt haben.“

„Meint Ihr wirklich?“, ich sah zu, wie der Junge sich ein wenig bequemer hinsetzte und ganz genau beobachtete, was Slade tat. „Es wäre schön, wenn Annonce sich von der Angst befreien ließe. Es traut sich kaum noch einer, etwas laut zu sagen. Oder zu denken – wenn überhaupt noch jemand denkt.“

Gerade wollte ich etwas erwidern, da hörte ich, dass Slade sich wieder aufrichtete.

„Ihr seid.“, es war nervenaufreibend, dass der Brehmser vor mir so schnell fertig war mit seinem Zug, doch viel Auswahl hatte er auch nicht. Ein wenig übereilt vielleicht stellte ich meinen Ritter direkt neben Slades Arzt. Dieser schlug ihn mit seinem Bischoff und ich wiederum diesen mit meinem letzten Venden. Es ging etwas zu schnell, denn ehe ich mich versah hatten wir die Rollen getauscht und mein Gegner war es, der angriff. Erst kam mir sein Arzt immer näher, was ich mit dem Vorrücken meines Bischofs konterte und schon hatte sein Ackermann ihn geschlagen.

Ich war sichtlich überfordert und fasste mir ans Haar, das Gesicht etwas verziehend. Viel Geld hatte ich wirklich nicht mehr, abgesehen von meiner Reserve. Es war nicht meine Absicht, nun schon den zweiten Abend für alles aufzukommen. Der Regen ließ ein wenig nach, es wurde ruhiger im Zimmer, aber helfen tat es mir nicht.

Zufrieden, da ich erst einmal wieder ruhig gestellt war, griff Slade sein altes Thema wieder auf: „Zurück zu den Frauen, Jack. Glaub mir, du hast nicht geliebt, wenn du keine Brehmser Dirne hattest.“

„Die Arbeiten einer Hure haben doch wohl kaum mit Liebe zu tun oder?“

Jacks Frage ließ mich auflachen. Ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln: „Wenn man keine guten Eigenschaften hat, Jack, besteht Liebe eben nur aus Bezahlung.“

„Lacht Ihr nur. Wir werden sehen, wer heute Abend zahlt.“, der Brehmser griff seinen Bierkrug, trank ein wenig und stellte ihn zurück zu Boden. Dann suchte er eine bequemere Haltung. Es war anstrengend, so lange auf dem Boden zu sitzen, aber da es nur noch einen Stuhl im Zimmer gab, ging es nicht anders.

Ich wagte es, seinen König mit meinem letzten Venden zu bedrohen und es dauerte nicht mal fünf Sekunden, da gehörte auch dieser der Vergangenheit an. Ein leiser Fluch, begleitet von der spöttischen Feststellung: „Ihr seid unkonzentriert. Habt Ihr vergessen, dass mein König ebenso gut schlagen kann, wie jeder andere?“

„Ist es verwunderlich, wenn man mich dauernd in ein Gespräch verwickelt?“, da ich ein schlechter Verlierer war, wurde ich mit jedem Verlust deutlich mies gelaunter, doch das hinderte Slade nicht daran, weiterzuspielen wie bisher. Das Wort Mitleid kannte er bei solchen Dingen nicht. Ich starrte auf das karierte Feld vor mir, rieb meine rechte Schläfe und versuchte, mir eine Strategie zu überlegen, was mit fünf Figuren gegen neun alles andere als einfach war.

Leise gab der Wirtssohn zu: „Ich wünschte, ich könnte das Spiel. Es sieht so kompliziert aus, sicher macht es Spaß.“, vielleicht wollte er mich damit aufmuntern, vielleicht war es ernst gemeint, ich wusste es nicht.

Slade lachte. „So kompliziert kann es nicht sein, wenn ein Annoncer es beherrscht – na ja, mehr oder weniger.“

Gereizt versuchte ich mein Glück, indem ich Slades König mit meinem Turm lockte. Es funktionierte, doch kaum rückte ich mit meinem zweiten Turm an, um seinen Bauern zu schlagen und den König zu bedrohen, besiegte er mit diesem meinen ersten. Vier Figuren gegen sieben - Es war zum verrückt werden!

Ein wenig aggressiv stellte ich fest: „Gut, vielleicht bin ich nicht gut in diesem Spiel, wenn ich abgelenkt werde, aber ich wage zu behaupten, dass wir im Grunde gleichstarke Gegner sind.“

„In letzter Zeit lässt Eure Spielart stark zu wünschen übrig.“, wieder umkreisten meine Finger die Figuren, wieder zog ich sie zurück. Wäre ich nicht so stolz, hätte ich wohl aufgegeben, aber diesen Gefallen wollte ich Slade nicht tun. „Besonders, seid wir in Annonce sind, seid Ihr mit den Gedanken woanders.“

Stattdessen antwortete ich schnippisch: „Ich hebe mir mein strategisches Denken eben für ernstere Dinge auf.“

„Wenn Eure Gedanken Euch bei so einfachen Dingen behindern, solltet Ihr vielleicht überlegen, ob Eure Gedanken Euch gut tun.“, Slades Krug war leer. Er erhob sich seufzend, steuerte den Tisch an und füllte ihn. Währenddessen starrte ich auf das Schachbrett und versuchte, seine Worte weg zu schieben.

Ob sie mir gut tun, hm?

Ich hätte damals auf ihn hören sollen. Ich hatte mich verändert, seit wir Brehms verlassen hatten, aber mitbekommen hatte ich es nur gering. Das, was er damals sagte, beschäftigte mich noch lange danach. Es war eine Art Warnsignal – das ich ignorierte.

Verbissen griff ich eine der Holzfiguren und ließ sie dann wieder los, obwohl es gegen die Regeln war. Was wusste er schon? Ich sprach mit keinem der beiden über das, was mir fast permanent im Kopf herumschwirrte. Und durch diese Abwehrhaltung schafften es Slades Worte nicht, etwas in mir vollends zu bewegen.

Um abzulenken, fing ich an zu erklären. „Die Figuren sind übrigens nicht nur dazu da, zu gewinnen. Sie haben eine viel größere Bedeutung. Wenn man weiß, wie, kann man viel aus den Spielzügen herauslesen und so viel über sein Gegenüber lernen. Tut also nicht so, als würdet Ihr mich kennen.“

„Ach ja?“, Jack wurde neugierig und etwas aufmerksamer. „Erklärt Ihr mir, wie, Herr?“, wieder war ich unsicher, ob er sich nur auf das Thema einließ, um mich aufzuheitern oder gar einen Streit zu verhindern. Gelassen ließ sich der Dieb auf seinen Platz zurücksinken, schwieg jedoch.

„Der Ritter.“, ich griff nach einem von Slades Pferden und zeigte es Jack. Ein schönes, schwarz bemaltes Stück. Eines der Ohren war abgebrochen, dennoch erkannte man es noch deutlich. Auf ihm saß ein viereckiger Mann mit lang gezogenem Schild. „Er steht für Mut und Kraft, ist es nicht so? Generell werden den Figuren Eigenschaften zugeschrieben. Nehmen wir die Venden.“, ich stellte das Pferd irgendwo auf das Spielfeld, doch Slade schob den Springer an seine vorherige Position zurück, ein wenig vorwurfsvoll. „Die Bauern, das einfache Volk, sind ein Sinnbild für Fleiß, Zuverlässigkeit oder Ehrlichkeit. Sie geben sich mit einfachen Dingen zufrieden. Unter ihnen gibt es Kaufmänner, Ackermänner, Gaukler, Ärzte...“

„Auch Wirte?“, der blonde Junge kam zu uns auf den Boden und nickend griff ich nach einem der kleinsten Figuren.

„Ja, hier. Das ist ein Wirt, er steht vor dem linken Bischof.“, schon stand mein Wirt wieder an seiner vorherigen Stelle und während ich auch die anderen Figuren wieder aufstellte, fuhr ich im Plauderton fort: „Und über ihnen stehen die Edelleute, siehst du? Ritter, Könige, Bischöfe, das Sinnbild für Weisheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit...“, bei jeder Eigenschaft, die ich aufzählte, hob ich die entsprechende Figur an, zeigte sie Jack und stellte sie zurück. Slades Missmut stieg, denn er konnte sich nicht schnell genug merken, wo welche Schnitzerei stand und am Ende hielt er einen Turm in der Hand, nicht mehr wissend, woher er kam. Unsicher schob er ihn hin und her und ehe er sich versah, stellte ich einen meiner Bauern direkt neben seinen König. „Nehmen wir an, ich stelle nun diesen Bauer hier direkt vor Slades Hoheit. Es wäre symbolisch gesehen genau das, was wir anstreben: Ein Teil des Volkes begehrt gegen den König auf. Oder nehmen wir einen Ritter.“, nun stellte ich mein letztes Pferd, gefolgt vom Läufer, zurück auf je eines der Kästchen. „Oder einen Bischof. Oder-...“, gerade wollte ich die Königin greifen, da schnappte Slade sie mir fauchend weg.

„Der Junge hat es verstanden, nun hört schon auf das Spielfeld durcheinander zu bringen!“

„Ich versuche, ihm etwas zu erklären, also stört uns nicht!“

„Ihr tut das doch nur, weil Ihr verloren habt. Seid ein Mann und spielt bis zum Ende oder ergebt Euch!“

Wir waren Streithähne, aber das waren wir immer. Manchmal scherzhaft, manchmal ernster. So oder so, verstehen taten wir uns trotzdem.

Slade und ich warfen uns düstere Blicke zu, doch als Jack aufstand und lachte, war es schon wieder vergessen. Er erklärte: „Ich glaube, ich kopiere lieber weiter, das Spiel ist nichts für mich.“, und mit diesen Worten ließ er sich zurück an seinen Tisch sinken und nahm die Arbeit wieder auf. Zu meinem Missmut erhob leider auch Slade sich, schnaubte noch einmal demonstrativ und griff dann nach seinem Überwurf. Es war Zeit ins Gasthaus zu gehen, um sich das Abendessen zu besorgen. Ich kam wohl nicht drum herum, mitzugehen – und zu zahlen. Aber ehe auch ich mich erhob, nahm ich einen meiner Venden und schob ich ihn nach vorn, bis Slades Figur einfach umfiel.

Da lag er nun, Slades Bischof – gefallen durch einen einfachen Schreiber. Was interessierte mich der König?
 

Das Gewitter war zwar vorbei, aber noch immer fielen unaufhörlich einige Tropfen zur Erde. Dennoch war es nicht kalt. Die Luft war eher drückend, stehende Sommerhitze, zudem wurde es erst sehr spät dunkel. Trotz der Wärme trugen wir unsere Umhänge, aber wie meistens bereute ich es schon nach wenigen Minuten. Nicht nur, dass ich zu schwitzen begann: Ich hatte das Gefühl, das Hemd klebte förmlich an meinem Körper. Immer wieder wischte ich mir übers Gesicht, da der Schweiß sich auf meiner Stirn oder über meiner Oberlippe sammelte. Mein Nacken war klitschnass und das obwohl ich mein Haar zu einem kurzen Zopf geknotet hatte. Die Luft stand still, kein Windzug wehte. Auf dem Weg zur Schenke, die unglücklicherweise etwas weiter lag, kam ich ein wenig außer Atem. Ich hatte das Gefühl, innerlich auszutrocknen und meine Mundwinkel fühlten sich verkrustet an. Das Schlimmste war, dass das Bier bei diesen Temperaturen den meisten schnell zu Kopf stieg. Am Gasthaus ‚Zum Königstropfen’ angekommen wurde alles noch schlimmer. Draußen saßen Betrunkene und suchten sinnlosen Streit, innen grölten sie herum. Wir betraten das kleine Gebäude, in dem es das wahrscheinlich billigste Angebot der Stadt gab. Überall waren Menschen, Frauen wie Männer, unter ihnen Matrosen, Dirnen, aber auch Soldaten. Slade und ich kannten den Anblick bereits. Wir mussten sparsam sein und das Essen hier machte genauso satt, wie jedes andere in Annonce.

Während wir uns einen Tisch suchten und uns daran niederließen, seufzte der Brehmser vor mir und brummte missbilligend: „Wie ein Zimmer voller Schweine.“

„Meint Ihr das Benehmen der Leute oder den Geruch?“

„Ich meine die Annoncer.“

Unmittelbar neben uns johlte eine Gruppe Rotröcke lautstark auf. Sie machten Witze über schlechtes Bier und ihren Kommandanten. Einer von ihnen lachte so stark, dass ihm die Luft wegzublieben schien. Er wurde knallrot und grunzte bei jedem Einatmen laut, sich weiterhin vor Lachen schüttelnd. Slade fügte hinzu: „Ah und die Geräusche, die sie machen.“

Ich schüttelte nur mit dem Kopf. Man brachte uns Bierkrüge, so wie je einen Teller Suppe und nachdem ich bezahlt hatte, verschwand der Wirtsjunge wieder irgendwo in der Menge. Wie jeden Abend hatten wir vor zu essen, dann würden wir abermals etwas bestellen und es für Jack in einen der Krüge kippen. Wir wollten es vermeiden, gemeinsam mit ihm im Gasthaus zu sitzen. Die Rotröcke genossen in Schenken wie dieser ihren Feierabend und erkannten den strohblonden Jungen trotz fehlender Uniform leicht wieder.

Da die Luft hier zum schneiden war, legten wir unsere Überwürfe neben uns auf den Tisch und ich ging sogar so weit, mein Hemd bis zur Brust aufzuschnüren. Zwar wollte ich niemandem meinen vernarbten Rücken präsentieren, an Hitzetod sterben aber genau so wenig. „Es ist kaum auszuhalten...!“, beschwerte ich mich dabei. Abermals befreite ich mein Gesicht, ich fühlte mich klebrig und für einen Moment wünschte ich mich zu meiner Waschschüssel im Kloster zurück. Manchmal hatte es wohl etwas Gutes, zur Buße nackt auf dem Steinboden zu schlafen.

„In Brehms würde man sich an den Brunnen oder Flüssen abkühlen. Aber erwartet bitte nicht, dass ich mich dem Arthur auch nur ansatzweise nähere.“

Auch Slade glänzte durch den Schweiß, versuchte aber es einfach hinzunehmen. Ich grinste ihn an und konterte:

„Falls es Euch tröstet: Die Suppe hier besteht aus dem gleichen Wasser.“, angewidert verzog mein Gegenüber daraufhin das Gesicht.

„Das weiß ich, aber ich versuche, nicht daran zu denken.“

„Und noch etwas.“, ich tunkte meinen Holzlöffel in meinen eigenen Teller, hob ihn an und ließ die klumpige Flüssigkeit demonstrativ zurück in den Teller platschen. „Habt Ihr schon mal darüber nachgedacht, was mit Eurer Pisse passiert, wenn Ihr sie auf den Boden kippt? Ich habe ein Buch darüber gelesen, im Kloster. Es fließt alles zurück ins Grundwasser.“

„Wollt Ihr mir gerade weiß machen, ich trinke hier meine eigene Scheiße?“

„Was dachtet Ihr denn? Ein wenig wird es durch die Erde gefiltert, wenn ich es richtig verstanden habe, aber im Grunde-...“

Noch bevor ich meinen Satz beendete, schob Slade den Teller ruckartig von sich, sein Gesicht reiner Ekel. Ihm war der Appetit vergangen, doch ich lachte nur.

„Ihr denkt wirklich zu wenig nach - und Ihr seid verwöhnt. Ich habe als Kind oft mit den Beinen im Fluss gesessen und hat es mir geschadet?“

„Wenn ich höre, was für Bücher Ihr lest, kommen mir die Zweifel! Manchmal bin ich dankbar, nicht so gebildet zu sein. Aber Ihr holt es ja mit Freuden nach...!“

Eigentlich wollte ich ihn weiter necken, aber nun wurde es so laut, dass wir unsere Stimmen erheben müssten. Einer der Männer hatte eine Fidel ausgepackt und drauf los gespielt, während die anderen anfingen zu tanzen. Das unterschied die Annoncer von Brehmsern:

Selbst bei Hitze waren sie lebendig.

Einige Männer klatschten im Takt oder wippten mit dem Fuß, andere zeigten kleine Tanzeinlagen. Als dann zwei junge Kerle auf die Tische sprangen, ihre Arme ineinander hakten und sich dabei drehten, jubelten sie auf. Begleitet vom „Hey, hey, hey~“, der Menge zeigten sie abwechselnd, was sie konnten, so dass der Schweiß nur so durch die Luft schleuderte.

Mir wurde schon vom Zusehen schwindelig. Ich beugte mich ein Stück vor und sagte: „Wenn ich so etwas sehe, weiß ich, dass wir noch nicht verloren haben. Solange es Gründe zum Feiern gibt, kann der alte John unmöglich gewinnen!“

„Ihr seid ein Träumer.“, die Hand des Schlitzohrs legte sich um den Griff seines Kruges, doch scheinbar war ihm die Lust nach Bier vergangen, denn er ließ wieder los. Ich hatte wohl eine Möglichkeit gefunden, trotz Verlieren beim Schachzabel billig davonzukommen, was? Durch die Lautstärke bemerkte ich erst gar nicht, dass Slade weiter sprach:

„Und Jack steckt Ihr mit Euren Träumereien an. Er folgt Euch, wie ein Hund - trotzdem lasst Ihr den Jungen im Dunkeln.“

Für einen kurzen Moment warf ich ihm einen Blick zu. „Meint Ihr?“

„Ist die Frage ernst gemeint?“, ich sah zu, wie Slade etwas näher rückte, damit ich ihn besser verstand. „Mich lasst Ihr genauso unwissend! Wenn wir fragen, gebt Ihr uns kleine Häppchen, aber wir sind uns wohl alle einig, dass in Eurem Kopf wesentlich mehr vorgeht. Ich kenne Euch gut genug, um zu wissen, dass Ihr Euch viel mehr überlegt, als Ihr es uns sagt. Man könnte meinen, Ihr misstraut mir.“ In meinem Hinterkopf ruckte etwas und gab mir ein ungutes Gefühl, aber ich verstand nicht, was es mir sagen wollte. Eine Art Alarmglocke. Tatsächlich sah ich Slade ein wenig misstrauisch an. Er wollte wissen: „Traut Ihr mir nicht?“

Statt eine Antwort zu geben, fragte ich: „Traut Ihr mir etwa?“

„Einem Annoncer?! Ihr macht wohl Witze!“, natürlich hatten wir viele Geheimnisse voreinander, aber nach wie vor gab es nichts, was mich das ändern wollen ließ. Der Dieb verdrehte die Augen etwas und knurrte: „Aber es wäre schön zumindest über die nächsten Schritte aufgeklärt zu werden. Manchmal sieht es so aus, als wüsstet selbst Ihr nicht, was genau Ihr eigentlich wollt. Aber ich denke, das täuscht. Man unterschätzt Euch leicht, das ist mein Fehler. Wenn man Euch ansieht, wirkt Ihr wie jeder andere. Kaum verschlagen, kaum düster. Aber das, was in Eurem Kopf ist, das kann gefährlich sein. Ich bin mir sicher in Wahrheit-... Hört Ihr mir zu?“

Slade unterbrach sich selbst und obwohl er zur Antwort ein bejahendes „Mhm...“ bekam, war wohl offensichtlich, dass ich in Gedanken nicht bei ihm war. Mittlerweile standen auf dem Tisch zwei andere, ein Mann und eine Frau und auch drum herum herrschte rege Bewegung. Der Schenkjunge kam mit den Bieren kaum durch die Masse und um ungehindert spielen zu können, erklimmte nun auch der Fidler, mittlerweile begleitet von einer hohen Flöte, eines der Möbelstücke.

Aber das alles war es nicht, was mich ablenkte. Ich starrte wie gebannt an den einzigen, ruhigen Punkt zwischen all den Bewegungen. Jemand saß allein an einem der Tische, gänzlich unbeeindruckt von all der Feierstimmung. Ich sah sein blondes Haar und die wässrigen Augen, vor allem aber: seine rote Uniform. Ich kannte den Rotrock, da war ich mir sicher. Besonders, als dieser sich erst über die Nase und dann über das Hosenbein wischte, war ich überzeugt.

Nur beiläufig bekam Slade ein „Ich bin gleich zurück.“ zu hören, dann steuerte ich Pitt an, meinen Krug nahm ich mit. Es war lange her, dass ich den dummen Kerl aus dem Tollhaus gesehen hatte. Damals war er Charles auf Schritt und Tritt gefolgt, wie ein Köter. Was wohl aus dem aggressiven Zwerg geworden war? Gehörte er nun auch zu den Rotröcken? Oder wurde er gehängt? Den verwirrten Slade ließ ich einfach zurück.

Beim Soldaten angekommen setzte ich mich zu ihm und grinste freundschaftlich. „Pitt! Es ist lange her.“

Bei seinem Namen zuckte der Angesprochene heftig zusammen und starrte mich ein wenig irritiert an. Er schien mich nicht zu erkennen. Sein Blick verriet mir, dass er mehr getrunken hatte, als er sollte. Es war seltsam, den hageren Kerl in solcher Kleidung zu sehen. Weder stand sie ihm, noch schien sie dem dünnen Mann zu passen. Aufmerksam sah ich zu, wie er auf seiner Unterlippe herum kaute und versuchte, sich zu erinnern, wer ich war.

„Kennen wir uns?“

„Du hast mich vergessen?“

„Bin nicht der Hellste.“

„Na ja, ich nehme es dir nicht krumm.“, wieder machte sich Pitts Handrücken an seiner Nase zu schaffen. Währenddessen sah ich mich ein wenig übertrieben nach allen Seiten um. „Wo hast du Charles gelassen? Ist er nicht hier?“ Anschließend blickte ich wieder ihn an. Pitt hatte sich verändert, dennoch erkannte man ihn sofort. Er war dünner geworden, seine Wangen ein wenig eingefallen. Pitts Blick wurde deutlich verwirrter. „Haben ihn gehängt. Vor einem Jahr oder sowas. Üble Sache. Und wir kennen uns wirklich, ja?“

Ein Abwinken meinerseits. „Mach dir darüber keine Gedanken, alter Freund. Es ist lange her.“, an sich war es wohl gut, dass Pitt nichts mehr zu wissen schien. So konnte ich Fragen ausweichen und stand auf sichererem Boden. Ehrlich interessiert schob ich ihm meinen Krug hin und bat ihn:

„Wie ist es dir ergangen, Pitt? Erzähl mir von dir! Du bist jetzt bei der Armee, ja?“

Es war ein leichtes, jemanden wie ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Wie damals bereits musste sich der Rotrock so sehr aufs Thema konzentrieren, dass er keine Gelegenheit mehr hatte, über meine Herkunft nachzudenken.

Er griff seinen neuen Krug, zog ihn zu sich und murmelte: „Charles ist weg und mich wollten sie auch hängen. Aber Simon ist nicht so. Der hat gesagt, so jemand wie mich, den brauchen die. Der Simon, der hat das Sagen hier. Und der meint, ich wär was für die Armee. Jemand auf den Verlass ist und der was kann.“, nicht wenig stolz gingen Pitts Schultern ein wenig nach oben. „Hat mir angeboten zur Armee zu gehen, weil’s Verschwendung wär. Ich bin eine Mangelware. So gute Männer wie ich, mein ich.“

„Da hat er wohl Recht.“, bestätigte ich den Rotrock vor mir und gab mir Mühe, es ernst klingen zu lassen. Statt in seinem Stolz förmlich aufzugehen, öffnete Pitt seine Augen ein Stück mehr und fragte: „Meint Ihr?“

„Aber natürlich. Es kommen harte Zeiten auf uns zu. Da ist es gut, wenn wir uns auf Männer wie dich verlassen können, Pitt. Besonders jetzt, wo...“

Bewusst endete ich, ohne den Satz ganz auszusprechen. Im Hintergrund schwang nun auch der Fidler das Tanzbein. Es wirkte, als würde er eine der Frauen förmlich umwerfen, so sehr umkreiste er sie und warf ihr lächelnde Blicke zu. Eine Weile beobachtete ich ihn, dann die Hüften der brünetten Frau. Pitt hatte keine Augen für so etwas. Viel mehr machte ihn mein Schweigen nervös. Er war unsicher, ob er nachhaken sollte und als er sich traute, hörte man deutlich seine Zweifel:

„Besonders jetzt? Was ist denn?“

„Habt Ihr es denn nicht gehört?“, es war schwer, die Augen von den wippenden Bewegungen der Frau zu nehmen. Dennoch drehte ich den Kopf wieder zu Pitt. Ehe ich weiter sprach, beugte ich mich vor und ließ meine Stimme zu einem geheimnisvollen Wispern werden. Aufgrund der Lautstärke musste mein Gegenüber sich zu mir beugen, um mich zu verstehen. „Die Samariter, die in Brehms für Unruhen gesorgt haben, sind jetzt auch in Annonce.“

„Die Samariter?“

„Aber ja doch!“, als befänden wir uns in einem schlechten Theaterstück sah ich mich um, dann rückte ich abermals näher. „O’Hagan hat sie in Brehms jagen lassen, aber nun sind sie sogar hier unterwegs und verteilen Zettel und bekehren die Ketzer...! Ich habe mit einem der Rotröcke gesprochen. Sie versuchen es unter der Hand zu klären, damit die Annoncer es nicht merken, aber...

Es sollen gut fünfzig Leute sein, überall in der Stadt verteilt! Weißt du das denn nicht?“

Damals, im Tollhaus, hatten Pitt und ich bereits über Gottgläubigkeit gesprochen. Er hielt Mary-Ann für eine Ketzerin und sah es als sinnvoll an, sie zu verbrennen, um ihre Seele zu retten. Der Mann war leicht zu überzeugen – egal, auf welcher Seite man stand.

Das wurde besonders deutlich, als er nun die Augen weitete und seine Augenbrauen in die Höhe zog. „Aber doch, natürlich weiß ich davon!“, behauptete er dann. „Mir sagt man so etwas natürlich sofort. Ich bin ja schließlich nicht irgendwer! Simon redet mit mir über alles.“

„Es ist schrecklich!“, ich versuchte, noch ernster zu klingen, fast besorgt. „Wenn das so weiter geht, kann O’Hagan nichts mehr dagegen tun.“

„Aber was tun die Samariter denn? A-also, ich weiß das natürlich selber, aber-...“

„Du fragst natürlich nur, um zu wissen, was das einfache Volk weiß, nicht wahr?“, der Blondschopf nickte aufgeregt. „Nun, das kann ich dir sagen!

Sie werden immer mehr! Und O’Hagan kann nichts dagegen tun. Ich weiß ja nicht, ob das stimmt, aber... angeblich sollen sie sogar schon in anderen Städten sein und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch da anfangen Zettel zu verteilen und so werden sie immer mehr, Pitt. Ich habe gehört, dass sogar schon Priester heimlich den Samaritern beigetreten sind – ist das zu glauben? In einem Dorf soll es einen Priester geben, der gar nicht mehr aus der heiligen Schrift vorliest! Er weigert sich! Man sollte das wirklich ernst nehmen!“

„Das tue ich!“, mehrmals nickend verschüttete Pitt fast sein Bier. „Das tue ich! Wir gehen dagegen vor! Das war sowieso schon geplant!“

„Aber verrate niemandem, dass ich davon weiß. Ich meine, jeder weiß davon... Aber so etwas spricht man nicht herum, Pitt, wir wollen ja keine Panik, nicht wahr?“

Während ich mich erhob, gab ich Pitt freundschaftlich die Hand. Es war Zeit, mich zu verabschieden. Slade starrte die ganze Zeit über misstrauisch zu mir herüber. Ich konnte es ihm nicht verübeln, schließlich plauderte ich fröhlich mit einem Soldaten. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, wünschte ich Pitt alles Gute und ließ mir versichern, dass er die Gerüchte aber bloß nicht weiter erzählen sollte. Natürlich schwor Pitt es mir – und selbstverständlich würde er sich wohl nicht daran halten können.

Der Straßendieb und ich steuerten zeitgleich den Ausgang an und wieder draußen auf der Straße, mit einem Bierkrug Suppe und etwas Brot bei uns, wollte er wissen: „Wer war das?“

„Ein alter Bekannter.“, es wäre auffälliger, mit Kapuze herumzulaufen, mitten im Sommer, als mit meinem Gesicht. Dennoch legte ich mir meinem Umhang zumindest geöffnet um die Schultern.

„Ein Rotrock?“

„Mittlerweile. Er ist ein alter Freund, der uns unwissentlich einen Gefallen tun wird.“

„Unwissentlich?“, mein Begleiter schnaubte, während wir in eine der Gassen abbogen, fern von der Hauptstraße. Wir hatten die Hoffnung, dass es dort zumindest ein wenig kühler wäre. „Seht Ihr? Genau das meinte ich, deswegen traue ich Euch nicht: Annoncer sind gefährlich – besonders, wenn sie etwas im Kopf haben.“

Das brachte mich zum Lachen, so laut, dass es von den Wänden widerhallte. Der Dieb starrte mich verwirrt an und wollte wissen, was so witzig sei, aber ich sagte es ihm nicht.

Stattdessen grinste ich nur vor mich hin und ging weiter.

Annoncer waren gefährlich – wenn sie etwas im Kopf hatten.

Tja... Pitt brauchte er dann wohl nicht zu fürchten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Pataya
2012-07-09T11:08:17+00:00 09.07.2012 13:08
soooooo,

will ich mal wieder meinen Senf dazugeben =) Hab mich ja beim letzten Kapitel schon nicht gemeldet...

Zu erst zu letzten Kapi:
Ich würde ja mal schätzen, dass Son bald gefasst wird, wenn er so weiter macht. ständig schleicht er ums Gelände von O'Hagan herum. nenene

Zu diesem:
Ich musste echt erst einmal wieder überlegen, wer denn Pitt gewesen ist. Anscheinend sollte ich den ersten Teil wirklich nochmal lesen. Ansonsten finde ich, hat Slade schon Recht, dass Son sehr wenig von seinem Plan preis gibt (auch dem Leser gegenüber). Aber ich schätze mal, das ist besser so, da ja sonst die Spannung weg wär, wenn man alles wüsste.

Joaaa, ansonsten kann ich nicht viel sagen. Hab keine Rechtschreib- und/oder Grammatikfehler gefunden. Es war für mich persönlich nur etwas schwer das Schachspiel nachzuvollziehen, da ich mich mit den alten Bezeichnungen der Spielfiguren nicht auskenne, aber Son hats ja dann noch (sehr zum Leidwesen Slades) recht gut erklärt =)

Hmmm... mehr kann ich gar net dazu sagen =)

*fette umarmung* PAT =)


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