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Wenn die Zeit manche Wunde nur zu heilen scheint

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Wenn die Zeit manche Wunde nur zu heilen scheint

Der Blick in den Spiegel war es nicht, der mich an diesem Morgen schockierte. An ihn hatte ich mich längst gewöhnt. Die Falten, das weiße Haar, das alles war mir seit Jahren bekannt, aber das mir bekannte Menschen starben, daran würde ich mich niemals gewöhnen.

„Sieh dir das an“, sagte Maya und zeigte auf den Zeitungsausschnitt. „War das nicht einmal eine Freundin von dir?“

Ich sah mir die Traueranzeige an.
 

„Hildegard Oberwar von Doné

Geborene Marschen“
 

„Ja“, sagte ich nur, bevor meine Stimme brechen konnte. Jetzt. Jetzt musste ich wieder an alles denken. An alles. Es war so lange her und ich dachte es würde mich niemals wieder einholen und jetzt saß ich hier und las ihren Namen. Den Namen den ich so lange, so viele Jahre verflucht hatte. Mir stiegen die Tränen in die Augen.

„Oh, oh Frau Schrauber“, sagte Maya vorsichtig. „Leg lieber die Zeitung weg und dann stellen wir ein bisschen das Radio an um auf andere Gedanken zu kommen, ja?“

Maya war ein gutes Mädchen. Die Sozialpflege hatte sie mir geschickt und sie kümmerte sich wirklich liebevoll um mich und das schon seit vielen Jahren.

„Ich möchte zur Beerdigung gehen“, sagte ich. Maya, die gerade auf den Stuhl gestiegen war um das Radio auf dem Regal anzuschalten, verharrte in der Bewegung und drehte sich langsam zu mir um.

„Aber wie…?“, begann sie, doch ich unterbrach sie. Ich erhob mich und stand ihr nun direkt gegenüber.

„Du kannst einer alten Frau, kurz vor ihrem Ende nicht noch einen so tiefen Wunsch verwehren.“

Sie sah mich noch einen Augenblick an, dann nickte sie.

„Ich werde sehen was sich machen lässt, aber bitte sag das mit dem Ende nicht, ja?“

Maya verließ die Stube um zu telefonieren.

Ich schloss die Augen, ein Schauer durchfuhr mich und alle Härchen an meinem Körper stellten sich auf. Die Tränen stiegen mir erneut in die Augen als die Erinnerungen, die ich zu verdrängen versucht hatte, sich ihren Weg durch mein Unterbewusstsein bahnten. Ich atmete tief ein.

„Es ist richtig hinzugehen, Mathilde“, sagte ich zu mir und ließ mich seufzend auf einen Stuhl sinken.
 

Für die Landschaft an der Mayas Auto vorbei fuhr, hatte ich keine Blicke. Meine Gedanken kreisten, wie die eines jungen Mädchens, um die Geschehnisse, die so lange Zeit zurück lagen.

Als wir am Friedhof ankamen wurde ich überwältigt von den vielen bekannten und unbekannten Gesichtern. Ich stieg aus dem Auto, als gleich die ersten alten Freunde zu mir kamen, mich in den Arm nahmen und mit mir sprachen, doch ich bekam von ihnen nichts mit. Mein Blick haftete an ihm. In Trauer gekleidet unterhielt er sich mit einigen Menschen, die ihm Trost spendeten.

Es war verwirrend. Obwohl er genauso alt war wie ich, sogar ein Jahr älter, sah ich ihn immer noch als den jungen Mann, von vor so vielen Jahren.

Ich hatte ihn wohl eine ganze Weile beobachtete, denn er hob seinen Blick und sah mich direkt an.

Mein Herz stockte und wie ein Film sah ich die gut versteckten Erinnerungen von damals.
 

… Theo stand am Straßenrand. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und kaute auf einem Grashalm herum. Als er mich kommen sah hob er die Hand zum Gruß und ich lief auf ihn zu und fiel ihm in die Arme.

„Ich hab dich vermisst, ich hatte Angst um dich.“

„Jetzt ist es ja vorbei“, sagte er und strich mir durchs Haar.

„Das hoffe ich“, flüsterte ich und drückte ihn fest an mich.

Zwei Jahren hatte der Krieg uns getrennt und nun waren wir wieder zusammen. Jetzt war er wieder bei mir und ich hatte ihn wieder.

Ich löste mich von ihm und sah ihn an. Er war abgemagert und verschrammt, sein Haar war ungewaschen und seine Augen sahen trübe aus und trotzdem sah er für mich atemberaubend aus.

Ich strich ihm über die verschrammte Wange und sah ihm in die trüben Augen.

„Jetzt wird alles wieder gut, nicht?“, fragte ich ihn, doch er schwieg.

„Theo? Theo! Mensch das gibt es ja nicht“, Hildegard rief ihm von weitem entgegen und er hob erneut die Hand zum Gruß. Auch sie umarmte ihn und ich war traurig ihn nicht für mich allein zu haben.

Ich saß mit Theo am Tisch. Ich redete wie ein Wasserfall, doch er sprach kein Wort. Meine Mutter hatte mir erklärt, dass mein Vater nach dem Krieg genauso gewesen sei und man damit Leben lernen müsste, doch ich wusste nicht ob ich das konnte.

„Theo? Was wird jetzt werden?“, fragte ich. Ich konnte es nicht mehr aushalten, dass er schwieg, dass er mich nicht zu sehen schien.

„Ich weiß nicht“, antwortete er. „Können wir da ein anderes Mal drüber sprechen?“

Er wimmelte mich ab, schon wieder. Er tat es immer, wenn ich so etwas fragte.

Ich saß im Zug. Mutter hatte mich zu meiner Tante geschickt, ich sollte ihr beim Aufbau ihres Zuhauses helfen. Nur mit schwerem Herzen war ich gefahren und es hatte länger gedauert als wir es erwartet hatten. Jetzt war ein halbes Jahr vergangen. Am Bahnhof hatte sich einiges getan, es war aufgebaut und schöner. Die ganze Stadt sah nun schöner aus. Ich war an einem Sonntag gekommen, doch zur Messe war es eigentlich schon zu spät, trotzdem läuteten die Glocken. Ich ging zur Kirche um zu sehen was dort geschehen war und da kamen sie aus der Kirche.

Hildegart und Theo. Mir stockte der Atem und die Tränen stiegen mir in die Augen.

Wie angewurzelt stand ich auf dem Kirchplatz. Hildegart erblickte mich zuerst und winkte glücklich, dann hob auch Theo den Blick und sah mich direkt an. Ich konnte und wollte seinen Blick nicht deuten. Ich drehte um und lief davon.
 

Diese Szenen überkamen mich, während Theos und meine Blicke sich trafen. Langsam ging er auf mich zu. Trotz seines Alters und seines Gehstocks hatte er immer noch seinen festen Soldatenschritt. Ohne den Blick zu senken kam er auf mich zu. Er nahm mich in den Arm und ich erwiderte die Umarmung ohne, dass etwas gesprochen wurde. Er strich mir durchs Haar und ich drückte ihn so fest an mich wie ich nur konnte. Er roch noch genauso wie damals und meine Tränen tropften auf seine Jackette. Ohne, dass er mir etwas sagte hatte ich verstanden was damals geschehen war. Warum ich damals zur Tante fuhr und warum er nie auf meine Fragen geantwortet hatte. Ich löste mich von ihm und musterte ihn. Er war alt und faltig, genau wie ich, doch er sah in meinen Augen immer noch atemberaubend aus. Ich strich ihm vorsichtig über die faltigen Wangen und lächelte ihn an. Er lächelte zurück und ich wusste, nun war alles gut. Nun waren alle Wunden geheilt und alles was die vergangenen Jahrzehnte zwischen uns gestanden hatte war vergessen und vergeben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  kleinerdrache
2012-12-08T11:48:12+00:00 08.12.2012 12:48
Absolut geniale Story.


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