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Im Nebel der Vergangenheit

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Im Nebel der Vergangenheit

„Was ist bloß in Dich gefahren?! Ich erkenn' Dich überhaupt nicht wieder!“

„Vielleicht hast Du mich einfach nie richtig gekannt?! Darüber schonmal nachgedacht?!“

„Jetzt werd' nicht albern, Amaya! Wo willst Du denn jetzt hin?“

„Weg! Einfach nur weg!“

„Bleib' gefälligst hier! Mach's nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist!“

„Natürlich, weil ich ja immer alles falsch und kaputt mache!“

„Wieso kannst Du nicht ein bisschen so sein, wie Bao?“
 

Wieso kannst Du nicht ein bisschen so sein, wie Bao?
 

Der letzte Satz ihrer Mutter war nur leise und kraftlos über ihre Lippen gekommen und doch hatte die Stille danach so plötzlich zwischen ihnen gestanden, wie der Nebel am Nachmittag über der Stadt aufgezogen war.
 

Amaya hatte gespürt, dass ihrer Mutter der Satz bereute, noch während sie ihn aussprach, und doch hatte sie ihn nicht aufhalten können, den verhängnisvollen Satz, der wie ein schnellrasender Zug trotz Hupen nicht verhindern konnte, dass er nicht zum Stehen kam, ehe er den Menschen erfasste, der sich vor ihn geworfen hatte.

In etwa so fühlte Amaya sich, wie dieser verunglückte Mensch. Der Satz ihrer Mutter hatte sie mit voller Wucht getroffen und nachdem sie das Gefühl gehabt hatte, mehrere Meter durch die Luft geschleudert worden zu sein, prallte sie nun auf den Boden.

Ein stechender Schmerz zog sich durch ihre gesamte Wirbelsäule, ging durch all ihre Nervenbahnen und ließ sie schließlich erschlaffen, ließ sie taub werden, weil sie den Schmerz nicht ertrug und ihr Körper in einer Reaktion des Selbstschutzes jegliche Verbindung zu ihren eskalierenden Gefühlen gekappt hatte.
 

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dagestanden und ihre Mutter aus weit aufgerissenen Augen angestarrt hatte, aber dann hatte sie sich wortlos abgewandt, hatte der Selbstgefälligkeit ihrer Mutter und ihrer Mutter selbst den Rücken zugekehrt und war aus dem Haus geflüchtet.
 

Dass der Nebel sich gelichtet hatte und sie begonnen hatte zu weinen, wurde Amaya erst viel später bewusst, als sie atemlos an einer Brücke zu stehen kam. Der vermeintliche Regen tropfte salzig auf ihre Hände, mit denen sie sich am Geländer der Brücke festhielt. Ihre Knochen standen weiß hervor, so verzweifelt klammerte sie sich an den kalten Stahl, hilfesuchend, wie ein Ertrinkender in der Tiefsee, dessen letzter Lichtblick ein morsches Stück Holz war.

Sie zitterte am ganzen Körper, dass sie sich wunderte, dass die Brücke nicht unter ihr einstürzte. Sie musste ein Erdbeben auslösen.
 

Als sie den Kopf hob, um in den Himmel zu sehen, traf sie der erste wahre Regentropfen und Amaya fragte sich, ob Bao gerade mit ihr weinte. Ob er sie von dort oben beobachtete und genauso wütend auf ihre Mutter war? Oder war er womöglich der Meinung, dass ihre Mutter im Recht war? War es Amaya, die er verurteilte?

Mit einem Mal spürte das schwarzhaarige Mädchen einen Kloß in ihrem Hals. Ihre Gedanken schienen sich wie einen Strick um ihren Hals gelegt zu haben, der sich mit jeder Sekunde, die verstrich, weiter zuzog. Ein verzweifelter Laut verließ ihre Kehle.

Und dann sah sie ihn - Bao.

Er stand vor ihr und lächelte sie an, mit diesem halben Lächeln und dem schiefgelegten Kopf, wie er es immer getan hatte, wenn Amaya traurig gewesen war. Sei es wegen einer schlechten Schulnote oder einer unerwiderten Liebe. Sei es wegen ihrem verstorbenen Kaninchen oder einem Streit mit einer Freundin. Selbst nach einer Auseinandersetzung mit Bao selbst, hatte er schon wenig später auf diese Weise, mit diesem Ausdruck in ihrer Zimmertür gestanden. Er hatte nie einer Versöhnung im Weg gestanden. Er hatte Amayas Tränen nie ertragen können. Es war gut, dass er nie hatte sehen müssen, wie viel sie seit seinem Tod geweint hatte.
 

„Bao“, flüsterte sie leise und bildete sich ein, dass er nickte. Es war nur eine simple Bewegung, ein Detail, das einem Außenstehenden entgangen wäre, aber Amaya las so viel in seinem Blick.
 

Er sah so gut aus, so wunderschön und vor allem so lebendig. Auf seinen Wangen lag ein rosafarbener Schimmer, von der Kälte aufs Gesicht gezeichnet.

Seine Brillengläser wirkten leicht beschlagen. Das war der einzige Grund, weswegen er manchmal unglücklich war, Brillenträger zu sein und Amaya stellte sich vor, wie er die Brille abnahm, mit vor Ärger gerümpfter Nase, um sie flüchtig an seinem T-Shirt zu putzen, ehe er sie mit dem Zeigefinger zurück auf seine Nase schob.
 

„Es tut mir leid...“ Sie hatte ihm noch so viel sagen wollen vor seinem Tod, hatte sich für so viel entschuldigen, aber auch bedanken wollen, aber das war ihr erst bewusst geworden, als es bereits zu spät gewesen war.

Er war so jung gewesen, 15 Jahre. Er war im selben Alter gewesen, wie sie es jetzt war und es nahm ihr die Luft zum Atmen, wenn sie sich vorstellte, wie schnell es vorbei sein konnte.
 

Dieses Mal war sie sich ganz sicher, dass er genickt hatte, dass er ihre Entschuldigung akzeptierte und dann hielt er ihr den blauen Regenschirm hin, den er schon die ganze Zeit mit beiden Händen festgehalten hatte, als wolle er sagen, lass' nicht los, halt' immer an den guten Dingen des Lebens fest und seien sie noch so unscheinbar.
 

Ein trauriges Lächeln hatte sich auf ihre Lippen gelegt, dann hatte sie all ihren Mut gesammelt und die Hand ausgestreckt, hatte nach dem Regenschirm und vielmehr nach ihm greifen wollen, aber ihre Hand fasste ins Leere.

Der Nebel war wieder dichter geworden. Um Amaya waren nur schemenhaft Menschen zu erkennen.
 

Sie war allein.
 

Noch während der Gedanke sich wie Säure in ihrem Körper ausbreitete und sie innerlich verätzte, spürte sie eine Erschütterung. Irgendetwas war gegen ihr Bein gestoßen und hatte sich daran festgebissen. Diese Lappalie war so absurd, das sie Amaya tatsächlich von dem Schmerz in ihrem Inneren ablenkte. Sie sah an sich hinab und dann erkannte sie ihn, den blauen Regenschirm.
 

Ihr Herz setzte aus, als sie mit einer Hast nach dem Gegenstand griff, als befürchte sie, auch dieser könne sich in Luft auflösen. Sie hob den Regenschirm über ihren Kopf und merkte nicht, wie sie ihn vollkommen selbstverständlich ebenso fest umklammerte, wie zuvor ihr Bruder.

Suchend wanderte ihr Blick durch den Nebel und dann erkannte sie eine Gestalt, die direkt auf sie zukam.
 

Vollkommen außer Atem blieb ein fremder Junge vor ihr stehen. Er war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie, hatte schwarzes Haar, das ihm zerzaust ins Gesicht fiel und mandelförmige Augen, die beinahe schwarz wirkten und mit denen er sie nun fixierte.
 

„Danke, dass Du meinen Schirm aufgefangen hast!“, ergriff er nun mit einem dankbaren Lächeln das Wort und schien sich nicht daran zu stören, dass Amaya ihn anstarrte, als sei er eine Erscheinung. Auch machte er keine Geste, die verriet, dass er seinen Regenschirm zurück wollte.
 

„Aber Du siehst fast so aus, als könntest Du ihn genauso gebrauchen. Was hältst Du davon, wenn wir ihn uns teilen, nur ein Stück, bis zum nächsten Café und da lad' ich Dich dann zum Aufwärmen auf einen Tee ein!“
 

Sein Grinsen wurde umso breiter, als er die Verlegenheit spürte, die er in Amaya ausgelöst hatte, aber das Mädchen mit dem schimmernd schwarzen Haaren zögerte und blickte schließlich zur Seite, blickte ins Leere und schien etwas zu sehen, für das er blind war. Dann lächelte sie. „Ja, ich glaube, ich bin jetzt soweit!“ Und während sie sich mit dem Fremden einen Schirm teilte, sah Bao ihnen von der anderen Seite der Brücke aus zu, mit schiefgelegtem Kopf und einem aufrichtigen Lächeln, weil er sich immer nur gewünscht hatte, dass seine Schwester eines Tages wieder glücklich wurde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  KMelion
2013-04-09T19:35:20+00:00 09.04.2013 21:35
WOW... einfach nur toll!


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