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Vom Lied des Blutes

von

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Kapitel 3
 

Es war mitten in der Nacht, draußen stürmte es, sodass keine Menschenseele unterwegs war. Außer ihm. Der Regen hatte ihn schon völlig durchnässt, selbst seine sonst wasserabweisenden Stiefel waren mit kalter Flüssigkeit gefüllt, aber Lucis spürte die Kälte nicht, die seit Stunden nach seinem Körper griff. Er stand vor einem alten, zerfallenen Haus und starrte durch das Loch, in dem vor einigen Jahren noch eine Tür gehangen hatte, ins Innere. Die Dunkelheit vor ihm schien sich mit aller Macht gegen ein eindringen zu wehren, verschleierte alles, was darin verborgen war. Lucis schluckte. Er wusste nicht mehr, wie lange er bereits hier stand und ebenso wenig warum er es tat. Er wusste nur, dass er hier sein wollte. Nachdem er mit seinem Bruder gesprochen und ihn ins Gildenhaus gebracht hatte, war er sofort losgegangen. Es war, als wollten seine Füße keine Ruhe.

„Es ist lange her …“

Sein Stimme war nicht mehr als ein kaum hörbares Wispern im Wind, aber das reichte ihm. Er wusste, dass man ihn verstand.

Langsam trat er näher zu dem Haus, bevor er einen Fuß in die Finsternis setzte. Es fühlte sich an, als würde er in ein anderes Reich treten, ein Reich, das ihn davor warnte tiefer hineinzugehen. Und dessen Warnungen er nicht beachtete.

Im Inneren des Gemäuers war alles dunkel, die Schatten, die sich hier eingenistet hatten, schienen vor ihm flüchten zu wollen. Langsam sah er sich um, seine Augen hatten sich schnell an alles gewöhnt und so erkannte er bald die kleine Kommode, die unter der Treppe in den ersten Stock stand und von der er wusste, dass dort alte Schuhe lagerten. Schuhe, die nicht mehr gebraucht wurden. Sein Blick wanderte weiter und blieb am Garderobenständer hängen. Das Holz war morsch und einige Haken waren bereits abgebrochen; die wenigen noch verbliebenen Jacken waren nur mehr Stofffetzen, die auf dem Boden ein Heim für kleinste Lebewesen boten. Er sah sich weiter um, trat dann durch die nächste Tür in einen Raum, der vor vielen Jahren mal ein Wohnzimmer gewesen war. Es roch nach Feuer, das vor vielen Jahren gewütet hatte. Das Sofa nahe der Fensterfront war zerschlissen, an einigen Stellen konnte man noch sehen, das jemand mit einer Klinge die Polster zerstört hatte. Der gläserne Tisch war nicht mehr als ein Scherbenhaufen und die Regale gegenüber dem Sofa waren völlig auseinander genommen worden. Hier und dort lagen Bücher herum, hin und wieder auch kleine Einzelteile, die mal schöne Skulpturen gebildet hatten. Aber Lucis' Blick wurde von keinem dieser Dinge gebannt, was seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, war der kleine Fetzen Papier, der zwischen dem Schutt lag. Vorsichtig trat er an die Stelle und ergriff es. Das Foto in seinen Händen war nicht mehr vollständig, eine Ecke war ausgebrannt. Aber dennoch waren noch alle Personen zu erkennen, die darauf abgebildet waren, wenngleich sich der Dreck bereits tief in die Fasern des alten Bildes gefressen hatte. Langsam strich er den Staub von der Oberfläche, starrte auf die lächelnden Gesichter – und seufzte tief, ehe er das Bild fallen ließ und sich umdrehte. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Hand, aber ebenso durch seine Brust. Er hatte nicht geglaubt, jemals wieder dieses Haus zu betreten, hatte nicht geglaubt, dass es überhaupt noch stand! Eiligen Schrittes verließ er den Raum und stürmte zur Haustür – aber er ging nicht weiter. Er konnte nicht.

„Was ist plötzlich los?“, murmelte er geistesabwesend, ehe er sich auf die Stufen der Treppe setzte und sein Gesicht in seine Handflächen stützte. Er zwang sich, ruhig und tief durchzuatmen, zwang sich, den Staub und den Gestank von festgesetztem Qualm zu ignorieren, ebenso die Stimmen der Schatten, die ihm immer und immer wieder etwas entgegen wisperten – oder bildete er sich das ein?

„Ich muss einen klaren Kopf bewahren!“, sagte er sich selbst, dann blickte er auf, sah über seine Schulter hinweg die Treppe hinauf. Lange Minuten hing er seinen Gedanken nach, doch schließlich entschied er sich. Langsam stand er auf und wandte sich um, nahm dann eine Stufe nach der anderen nach oben in den ersten Stock. Der Flur oben war eng, aber es reichte, um durchzukommen. In jeder Ecke lag Schutt und an der Decke hatten sich viele Spinnen ihre Heime errichtet. Er überlegte nicht lang und wandte sich nach rechts ins erste Zimmer – die Tür war aus den Angeln gerissen, sodass er problemlos hineingelangte.

Er erblickte Spielzeug und Kuscheltiere. Das Bett in der hinteren linken Ecke war kaputt und die Kisten an der Wand zu seiner Rechten ausgekippt, sodass alles im Raum verteilt war. An den Fenstern hingen kleine Holzverzierungen, ein Pferd, ein Löwe und einige andere Tiere waren extra dafür geschnitzt worden. In der Mitte hing eine kleine Öllampe, gehalten lediglich durch den Zufall, dass diese Stelle noch nicht vom Zerfall heimgesucht wurde.

Lucis schluckte – dieses Kinderzimmer, er konnte sich genau daran erinnern. Und auch daran, warum alles zerstört war. Er schüttelte den Kopf und wandte sich um, ging in den Raum direkt gegenüber des Zimmers. Es dauerte kurz, ehe er die Tür geöffnet bekam, da ein Bett vor sie geschoben worden war um jemanden am Eindringen zu hindern. Der junge Mann atmete zunehmend ruhig ein. Das Fenster ihm gegenüber war zerbrochen, der Schrank daneben geöffnet und beinahe leer geräumt. In etwa drei Fächern waren noch ein paar Hosen und Shirts, sonst nichts. Der Rest des Zimmers war ordentlich, bis auf das Kuscheltier, welches in der Mitte des Raumes lag und völlig verdreckt war. Langsam kam er näher und ging in die Hocke, um das Stofftier in die Hände zu nehmen und etwas vom Dreck abzuklopfen. Es sollte einen Wolf darstellen, der ihn verschmitzt angrinste.

Wieder ein Schlucken, gefolgt von einem Blick zu der Wand, an der eigentlich das Bett hätte stehen sollen. Dort hing früher einmal ein Dolch, dessen Klinge aus reinem Obsidian und mit magischen Runen verziert war. Vor seinem inneren Augen konnte Lucis den Mann sehen, der es dort befestigt hatte, ehe er mit einem Lächeln zu ihm herunter blickte.

Lucis schüttelte den Kopf und legte den Stoffwolf zurück auf den Boden, bevor sich aufrichtete und in das nächste Zimmer ging. Der Boden dort war mit Blut getränkt, sogar die Wände und Schränke, der Tisch, die Fenster und die Vorhänge hatten Blutspritzer abbekommen. Besonders das Bett war getränkt mit dem erkalteten Rot. Er sah, dass die Kissen und die Decken aufgerissen und durchstochen waren, die Wände rissig und die Decke bröcklig. Auch die Schränke wurden von Rissen und Schnittstellen entstellt. Lucis fuhr mit seiner rechten Hand über das alte, ehemals wertvolle Holz. Hier hatte alles angefangen – oder geendet? Er war sich nicht mehr sicher. Seine Gedanken überschlugen sich, doch er konnte sich keinen Reim auf die Bilder machen, viele passten einfach nicht zusammen. Ihn quälte das Gefühl, etwas übersehen zu haben – aber was?

Langsam wandte er sich ab und verließ den Raum, wobei er hinter sich die Tür zuzog, an die er sich schließlich lehnte um durchzuatmen. Seine Augen fixierten die Decke, doch er nahm nichts wahr, hing in der Vergangenheit fest – wie war es zu all dem gekommen? Hatte er es jemals auch nur im Ansatz herausgefunden? Er wusste es nicht. Er hatte zu viel vergessen, hatte zu viel seiner Selbst aufgegeben, um das alles hinter sich zulassen. Er schloss seine Augen und griff mit seiner linken Hand an seine Hüfte, an der der kurze Dolch aus Obsidian hing. Er hatte dieser Klinge den Namen „Faith“ gegeben, weil sie damals das einzige war, was ihm Kraft gab. Er hatte ihr den Namen gegeben, weil er darauf vertraut hatte, dass alles besser werden würde.

„Faith …“, wisperte er und fuhr über den Schaft. „Wie lange müssen wir das noch aushalten, hm? Wann setzen wir uns zur Ruhe?“

Seine Stimme begann zu brechen, weshalb er sich aufrichtete und zwang, tief Luft zu holen, bevor er auch den letzten Raum betrat.

Das Badezimmer vor ihm war riesig, aber alle Armaturen waren völlig zerstört. Die Scherben häuften sich auf dem Boden, die Vorhänge waren zerfetzt und die Wände mit Rissen durchzogen. Die Öllampe, die eigentlich an der Decke hängen sollte, lag zu seinen Füßen – das Lampenöl war völlig ausgelaufen und verklebte noch immer den gefliesten Boden. Vorsichtig trat er tiefer in den Raum und erblickte den Spiegel, der beinahe unversehrt war. Er tat einige Schritte darauf zu, bevor er sich auf die wenigen Überreste der Waschschüssel stützte und in sein eigenes Gesicht sah.

Seine Augen waren so wach, so misstrauisch wie immer, aber alles andere wirkte ausgelaugt. Seine fahle Haut spannte sich über seine Wangenknochen und um seine silbrigen Augen lagen tiefe Schatten, die von seiner Erschöpfung sprachen. Seine Lippen waren beinahe genauso blass wie seine Haut und schienen das Lächeln verlernt zu haben. Sein langes schwarzes Haar umrahmte das Gesicht, das vor Jahren wohl einige als „hübsch“ bezeichnet hätten. Einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht – wie lange hatte er sie nicht mehr geschnitten? Wie lange hatte er nicht mehr geschlafen? Wie lange hatte er nichts mehr getrunken, nichts gegessen? Lucis hatte es vergessen – alles. Aus seinem Gesicht sprach kein Leben mehr, alles wirkte verwelkt auf ihn. Vielleicht lag es an dem Pakt, aber vielleicht auch daran, dass er seines Lebens überdrüssig war. Er hatte vor vielen Jahren verlernt das Dasein, die eigene Existenz zu atmen, hatte verlernt, sich zu freuen, zu lachen, zu vertrauen. Und am Ende, am Ende hatte er sogar verlernt zu lieben.

„Was mache ich hier überhaupt? Warum bin ich hierher zurückgekehrt? Hatte ich nicht alles so tief wie möglich in mir vergraben wollen?“

Seine Stimme war leise, kaum zu vernehmen. Doch das reichte aus, denn er wusste, dass diese Worte keiner hören musste. Sie konnten ohnehin von niemandem beantwortet werden …



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