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Crystal Riders

Reanimation
von

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Auf Messers Schneide

Jet – Auf Messers Schneide
 

Deja View (xxxHolic Original Soundtrack)
 

„Wenn dir wirklich was an dem Mädchen da liegt, dann nimm lieber Abstand von ihr. Du hast sicher nicht vergessen, dass du das Chaos wie magnetisch anziehst, Jace…“
 

Ich schleuderte die kaputte Uniform mit etwas zu viel Schwung über die Sofalehne, sie riss schlitternd eine von Jades Blumenvasen um. Wasser ergoss sich über den Boden, die Azaleen landeten dumpf in der Pfütze, aber das Porzellan war zumindest heil geblieben.

Seufzend trat ich hinüber, um die Unordnung zu bereinigen. Dabei fiel mein Blick auf eine Landschaftsfotographie, die Jade offenbar vergrößern hatte lassen, damit sie den hinteren Rahmen des zierlichen Glastisches komplett ausfüllte. Ein japanischer Ziergarten in voller Blüte. Es musste sich um eine Privataufnahme handeln, auch wenn es erst beim zweiten oder dritten Mal hinschauen erfassbar war. Ich kannte Jade nun schon so lange, aber sie hatte mir nie etwas über sich und ihre Vergangenheit erzählt – und außer diesen schmuckvollen, jedoch nichtssagenden, Panoramen gab es keine Fotos in ihrer Wohnung. Keine Eltern, kein Ehemann oder Kinder. Keine Erinnerungen.

Womöglich war das der Grund dafür gewesen, dass ich ihr vom ersten Moment an hatte vertrauen können. Verlorene Seelen erkennen einander. Und sicherlich war ich da nicht der einzige Rider hier, dem es so ergangen war.

Als alles wieder seine Ordnung und Stammplatz hatte, verfrachtete ich das zerrissene Oberteil samt Uniformhose in eine Plastiktüte und ging unter die Dusche. Erst nach einer Weile fiel mir anhand der Dunstschichten ringsum auf, dass ich den Regler auf warm gestellt hatte. Das tat ich morgens nie, da ich ohne das pulsbeschleunigend kalte Wasser nicht das Gefühl bekam, wirklich wach zu werden, aber… Ein leises Lachen verlor sich im Rauschen der Dusche. Gestern Nacht hatte ich seit langem wieder tief schlafen können.

Ich drehte das Wasser ab, griff nach einem Handtuch und trat auf den Spiegel zu, auf dem sich der Beschlag wie Frost von einer Fensterscheibe blätterte. Wunderschön, hatte sie gesagt. Zu diesen Teilen an meinem Körper, die ich von allem immer am meisten verabscheut hatte, wenn nicht gehasst. Ich blinzelte, als mir ein vager Hauch von Röte auf meinen Wangen auffiel und wandte mich hastig von meiner Reflektion ab.

Über der Stuhllehne wartete bereits eine neue Uniform auf mich. Ich nahm den Stoff in die Finger und zeichnete die Symbole nach. Nach all den Jahren war diese Tracht schon eine Art zweite Haut für mich geworden und sie hatte mir von Anfang an, das Gefühl gegeben, Teil von etwas zu sein, dazuzugehören, selbst wenn man mich auf dem Internat niemals gewollt hatte. Damals war ich nicht verletzt gewesen, als Jade mir auf vorsichtigstem Wege beigebracht hatte, dass ich keine Unterrichte besuchen durfte. Zu Beginn war mir ein Einzelzimmer zugeteilt worden, aber mit der Zeit gab es Unruhen und irgendwann standen wieder jene schwarz gekleidete Männer vor der Tür, aus deren Obhut mich Jade damals übernommen hatte, um mir einen Apartmentschlüssel in die Hand zu drücken. Der Vertrag beschränkte sich auf einfache Regeln, Listen aus Freiheiten und Einschränkungen. Eine davon war die dauerhafte Überwachung in den vier Wänden dieses Adlernestes gewesen.

Der Grund, weshalb mich die Abschiebung nicht gestört hatte, war mit einem Wort erklärt. Gewohnheit. Dass meine Mutter mich in der Babyklappe zurückgelassen hatte, weil sie nach dem Weggang meines Vaters nichts mehr mit mir anzufangen wusste, hatte mir mit ausreichender Kraft einen Schlag versetzt, sodass jeder weitere an diesem Punkt mich kalt ließ.

Der Uniformstoff knirschte leise unter meinem Druck und ich ruderte in Gedanken wieder zurück in die Gegenwart. Als ich die Sachen übergestreift hatte, kämmte ich mir noch einmal schnell die Haare und griff nach einer einfachen Lederjacke. Jade hatte mich gebeten, Crystal heute zu unterrichten – allem Anschein nach, hatte die Diskussion um die Ausstellung von Reisepässen für Crystal Rider eine neue Stufe erreicht. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie vielen aufgeblasenen Regierungsclowns sie heute noch Honig ums Maul schmieren musste, um damit endlich durchzukommen. Aber sie kämpfte, sie kämpfte immer. Mit all ihrer Macht, für eine Gruppe von Menschen, die sie kaum kannte. Für sie war dieses Internat ihre Familie.

Und für mich… Ich blieb vor der Tür stehen und zog den Obsidian aus der Tasche. Es kam mir so vor, als würde er mir ermutigend zulächeln und ich lächelte zurück.

„Das Mädchen, das zu Augen, die töten können, sagt, sie seien wunderschön…“
 

Sonic Librarian - Something is missing
 

Ich hatte den Trainingsraum fast erreicht, als sie hinter der Ecke hervorschoss und sich mir in den Weg stellte. Ihre Augen verfärbten sich schwarz und ich strauchelte einen Schritt rückwärts, obwohl noch einige Meter zwischen uns lagen.

„Na, Jace?“, begrüßte sie mich mit betont süßlicher Stimme und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Jetzt kommen wir endlich auch mal dazu, ein Pläuschchen zu halten, oder?“ Ich musste unweigerlich schlucken. „Muss ich den Anfang machen oder rückst du von allein mit der Sprache raus?“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, setzte ich an, aber sie unterbrach mich mit einem rauen Stöhnen und war mit zwei Schritten so nahe vor mir, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.

„Erspar mir diese Tortur, klar?“, zischte sie, ihre Augen so herausfordernd auf meine gerichtet, dass ich nicht in der Lage war, wegzusehen. Sie lachte bissig auf. „Ich hab gehört, du kannst mit nur einem Augenaufschlag töten. Ist da was dran, J?“ Die Wut kam abrupt und gewitterlaut. Ehe ich mich versah, hatte ich Mako bei den Schultern gepackt und schob sie rückwärts in die Nische, wo sich die Tür befand, die zur Hinterbühne führte.

„Was willst du?“, knurrte ich, als sie sich grob von mir losgemacht hatte.

„Die Wahrheit, du Vollidiot!“, gab sie ebenso ungehalten zurück. „Was zur Hölle ist damals geschehen?! Ich bin aufgewacht und ihr wart weg! Ich dachte jahrelang, ihr seid tot!“ Ihre Stimme brach und sie drehte mir eilig den Rücken zu, um ihre Faust gegen die Wand zu donnern und was eben noch an Zorn in mir gelodert hatte, löste sich schlagartig auf wie eine ausgepustete Kerzenflamme. Denn etwas in ihren Worten…

Wir?“, fragte ich rau und konnte spüren, wie mein Herzschlag stockend an Geschwindigkeit zunahm. Mako wirbelte wieder herum und starrte mich an, als würde sie mir am liebsten auf der Stelle das Genick brechen.

„Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt für Scherze“, versetzte sie und obwohl ihr ganzer Körper von Hass sprach, erzählte ihre wacklige Stimme von einer bluttiefen Verletzung. Etwas in mir wurde vornüber geworfen und ich griff reflexartig in mein Haar, um die aufkommenden Kopfschmerzen einzudämmen.
 

„Getötet… du hast… ihn getötet… dein erstes… Opfer… getötet… Gabe… des Tötens…

Jetstone…“
 

Ich stieß einen kleinen Schrei aus, als ein Gesicht vor mir auftauchte, jedoch zu schnell wieder verschwand, um es zu identifizieren. Nur eines hatte ich auffangen können. Die Augen dieses Gesichts waren ohne Licht… sie waren tot. Keuchend suchte ich Makos Blick.

„Ich kann mich nicht erinnern“, brachte ich hervor und stellte verstört fest, dass meine Stimme kalt und distanziert klang, obwohl ich innerlich von fremden Gefühlen zerfetzt wurde. „Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen.“

„Du verarschst mich, oder?“, schrie sie. „Selbst wenn das wahr ist, der Jace, den ich kannte, hätte sich keine Sekunde lang damit zufrieden gegeben! Der würde hier nicht seit Jahren tatenlos rumstehen, sondern hätte diesen Bastarden schon lange die Tür eingetreten, um an die Infos zu kommen!“ Auf einmal schien ihr etwas einzufallen und sie streckte mir die Hand hin. „Wir tun es einfach jetzt! Wir durchsuchen das Büro der Schulleiterin und wenn wir da nichts finden, machen wir uns auf den Weg zur Brutstätte dieser Freakshow!“

„Mako…“, sagte ich und ließ die Schultern sinken. „Lass es gut sein.“ Für einige Atemzüge blickte sie mir genau in die Augen, suchte offenbar nach einem Strohhalm, einem Anzeichen auf die Person, die ich einmal gewesen war. Aber von Jace war nichts mehr übrig, vor ihr stand nur noch Jet.

„Du bist so ein Feigling!“, platzte sie schlussendlich hervor und schlug mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich leistete keinen Widerstand, denn obwohl ich mit dem, was sie mir da eröffnete, nichts anfangen konnte, war mir intuitiv klar, dass ich es verdient hatte.

„Daran ist nichts zu ändern…“, erwiderte ich nur, als ich mich ihr wieder zugewandt hatte. „Es ist besser, die Sache einfach ruhen zu lassen, Mako.“

„Jetzt halt mir nicht auch noch die andere Wange hin, du Mistkerl!“, fuhr sie mich an und ihre Beherrschung stürzte endgültig in sich zusammen, als ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln sprangen. Ihre Hand klammerte sich wie ein Schraubstock um meinen Kragen, dann schubste sie mich gegen die Wand. Ich ließ es über mich ergehen. In mir war alles tönend und weiß geworden. „Was haben die hier mit dir gemacht, hä?! Seit wann bist du so eine Memme?!“ Da ich noch immer nicht antwortete, noch Reaktion zeigte, biss sie nur krachend die Zähne aufeinander, ließ mit noch einem Stoß gegen die Wand von mir ab und rannte hinüber zum Flur. Als sie nicht mehr zu hören war, fiel mir auf, dass Crystal am Rand der Nische stand und mich besorgt musterte.
 

26. A Tiny Love - Sword Art Online OST
 

„Ich würde gerne mal etwas ausprobieren“, sagte ich und beobachtete, wie Crystal ein wenig ins sich zusammensank, als ahnte sie, worauf das hier hinauslaufen würde.

„Es geht um meine Gabe, oder?“ Ich nickte und sie ballte die Hände zu Fäusten, dann kehrte sie sich um und machte ein paar Schritte in den Raum. „Ich… kann das nicht, Jet.“

„Hattest du schon einmal Herzschmerzen?“, fragte ich und folgte ihr. Sie seufzte, als ich meine Hände auf ihre Schultern sinken ließ, die kaum spürbar zitterten. „Keine psychischen Schmerzen, sondern ein tatsächliches Stechen in der Brust?“ Langsam drehte sie sich wieder zu mir, ihr Blick war traurig und senkte sich nach kurzem Verweilen auf den Punkt, wo sich mein Herz befand.

„Als ich zum Crystal Rider wurde. Ich hatte das Gefühl, es wollte sich aus meinem Körper freischlagen…“ Damit hob sie die Hand und legte sie so auf meine Brust, dass nur ihre Fingerspitzen den Stoff meiner Uniform berührten. Auch sie zitterten.

„Stell dir vor, dieser Schmerz wäre permanent“, flüsterte ich und der Schatten, der über ihre Miene huschte, verriet, dass sie verstanden hatte.

„Darum drückst du so oft deine Faust auf die Brust, oder?“ Nickend hob ich die Hand, um sie auf Crystals zu legen.

„Aber seit einiger Zeit ist der Schmerz verschwunden. Zuerst war es immer nur ab und zu, aber mittlerweile ist es zur Seltenheit geworden. Und der Grund dafür, bist du.“

„Ich?“, stutzte sie. „Wie meinst du das?“

„Deine Gabe“, erklärte ich lächelnd und strich ihr ein paar Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, hinter die Ohren. „Sie war von Anfang an da und hat gewirkt. Sie hat dafür gesorgt, dass Moon und Amber auf dich aufmerksam wurden und sogar Mira. Jade sagte, du wärst wie eine Klangschale und so langsam fange ich an, zu verstehen, was sie damit meinte. Crystal…“ Sie hatte meinen Sätzen bis hierhin mit gerunzelter Stirn gelauscht und als sich unsere Blicke jetzt trafen, erkannte ich, wie sich das Schwarz des Gagats in ihrer Iris fing und unter all den anderen Farben wieder verschwamm. „Deine Gabe heilt.“
 

Headstrong ft. Stine Grove – Tears
 

Sie lachte ungläubig auf.

„Das sah bei Onyx aber anders aus…“, murmelte sie und wollte die Augen wieder zu Boden schlagen, aber ich legte meine andere Hand unter ihr Kinn und hob es an.

„Nur dürftig genähte Wunden müssen nun einmal aufgerissen werden, um sie so zu flicken, dass sie abheilen können.“

„Das… glaubst du doch selbst nicht.“

„Du weißt, wie es sich anfühlt, sein Leid zu unterdrücken, Crystal“, fuhr ich geduldig fort und streichelte ihre Wange. „Aber du bist trotzdem anders. Wenn du Schmerzen hast, dann lässt dein Körper sie heraus. Du weinst, wo jeder andere die Zähne zusammenbeißt und es zurückdrängt.“

„Weil ich schwach bin“, fiel sie trist ein. „Das war ich schon immer. Die Heulsuse der Schule…“

„Eben nicht“, sagte ich lächelnd und hauchte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. „Weißt du, woraus unsere Gaben entstehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Aus angeblichen Schwächen.“

„Aber als Jade mich aufnahm, hat sie nach meinen Stärken gefragt“, entgegnete Crystal verwundert.

„Weil Jade es nicht als Schwäche ansieht und ich auch nicht. Dir… wird nur dein ganzes Leben lang vorgehalten, es wäre ein Manko. Aber allein, dass der Virus es auswählt, um den Körper wieder ins Leben zu rufen, zeigt, dass das nicht stimmen kann.“

„Ich verstehe langsam gar nichts mehr…“, seufzte sie und ließ ihren Kopf gegen meine Brust fallen.

„Du bist offen für Schmerz, Crystal. Sowohl für den von anderen, als auch für deinen eigenen. Du ignorierst ihn nicht, sondern akzeptierst ihn als das, was er ist. Aber das ist nur die eine Seite.“

„Da ist noch mehr?“, nuschelte sie mit einem halben Lachen in mein Oberteil.

„Genau darauf wollte ich hinaus“, raunte ich. „Wo Licht ist, ist Schatten. Wo negative Gefühle sind, sind auch positive. Und du kannst beide beeinflussen.“

„Ich glaube, du hast Recht“, flüsterte sie plötzlich und löste sich von mir, um erstaunt zu mir aufzuschauen. „Als ich meine Gabe auf meine Mutter angewendet habe, da… ich konnte mich als Baby sehen und wie mein Vater mir das Tanzen beigebracht hat. Es waren schöne Erinnerungen und ich habe sie genauso empfunden wie sie!“

„Siehst du?“ Achtsam ließ ich ihre Arme los und trat einen Schritt zurück. „Und jetzt möchte ich, dass du es an mir versuchst. Wir müssen stückchenweise herausfinden, wie du die Gabe so einsetzen kannst, dass du bewusst auf schlechte oder gute Erinnerungen zugreifen kannst.“

„Aber was, wenn ich dich dabei verletze?“, gab sie ängstlich zu bedenken und richtete den Blick zu Boden. „Wenn ich so schlimme Ereignisse hervorrufe wie bei Onyx… gerade bei dir, Jet…“

„Ich glaube nicht, dass das geschieht“, räumte ich beruhigend ein. „Bei Onyx hattest du Angst, hast dich instinktiv verteidigt. Aber wenn ich nicht schon wieder irgendwas verbrochen habe“, fügte ich grinsend hinzu, „dann sollte mir keine Gefahr drohen.“ Tatsächlich rang auch sie sich ein winziges Lächeln ab.

„Und wie soll anfangen?“ Ich warf einen Blick über die Schulter, um mich zu vergewissern, dass es nichts gab, was sie ablenken würde, dann suchte ich ihre Augen.

„Konzentrier dich auf mich und lass… deinen Gefühlen einfach freien Lauf.“ Sie verdrehte die Augen und ich lachte, aber dann nahm sie einen festen Stand an, holte tief Luft und sah mir direkt ins Gesicht. Zunächst geschah gar nichts, die Stille eroberte die Atmosphäre zurück und das Licht hinter den Fenstern dämpfte sich, als Wolken vor die Sonne zogen. Unsere Blicke waren ineinander verkeilt und wir atmeten ruhig. Und als ich schon glaubte, es würde nicht funktionieren, brandete das erste Bild in mir auf….
 

Tatsuya Katou - Believe Kokoro
 

Es war, als würde ich meinen Körper irgendwo tief unter mir zurücklassen und wie im Traum durch einen Tunnel aus Geräuschen, Farben und Gerüchen tauchen. Die unscharfen Silhouetten zerronnen, formten sich neu und wurden allmählich greifbar. Schon fand ich mich inmitten einer von weißen Nebelwolken verhüllten Nacht wieder und erkannte mein eigenes Gesicht, das so kühl und reserviert auf mich herabschaute, dass es etwas Beleidigendes hatte. Die Gefühle sprudelten wie Fontänen durch meinen Körper; da war Scham und sogar ein leiser Funke von Angst, aber das größte Gefühl in diesem Moment hatte einen anderen Namen. Es war Sehnsucht.

Da verschoben sich plötzlich die Formen, die Gerüche veränderten sich, waren aber seltsamerweise immer noch gleich, ebenso die Geräusche, das ganze Wahrnehmungsvermögen. Und als ich schließlich in Crystals Gesicht blickte und meine eigenen Empfindungen in jener Nacht noch einmal durchlebte, ging mir auf, dass sich nur die Perspektive geändert hatte. Es war der Abend gewesen, an dem wir uns auf dem Internatsgelände begegnet waren. Aber ehe ich begreifen konnte, dass meine Emotionen gerade ein offenes Buch für Crystal geworden waren – genauso wie ihre für mich – änderte sich die Szenerie.

Der gefrorene Atem wurde zu einer Glühbirne, an die sich eine Parade von weiteren reihte. Der Fokus sank zurück zur Erde und ich erkannte Jade und mich am Tag des Probetrainings. Ich sah, wie Crystal jede meine Bewegungen erfasste, spürte, wie sie sich über meine geschlossenen Augen wunderte, wie sie von Moon in die Seite gestupst und auf ihr „Hast du ein Auge auf ihn geworfen?“ von Hitze überflutet wurde. Wieder wendete sich die Perspektive und ich beobachtete Crystal, die stur auf den Boden stierte, Moon neben ihr lachte und als Crystal dabei noch ein bisschen röter wurde, zuckte es in meinem Mundwinkel. Damals war mir zum ersten Mal aufgefallen, dass sie mit ihren trotzigen Gesten und lautlosen Präsenz das schönste Mädchen war, das ich jemals gesehen hatte.

Die Eindrücke zerstreuten sich erneut, sammelten sich an einem Endpunkt und flogen wie aufgescheuchte Vögel in die Höhe, dabei zogen sie bunt geschmückte Wände, Lichterketten und Weihnachtsbäume mit sich. Ich wirbelte herum und starrte mir selbst in die Augen, die Haare zurückgebunden, am Körper ein schwarzer Anzug und für eine Sekunde sprang die Perspektive auf mich über und griff das Gefühl auf, sich verkleidet vorzukommen – dann legte die Gabe die Gefühle aufeinander und ich hörte, wie sowohl Crystals als auch mein Herz zeitgleich aufschlugen. Auch sie war sich verkleidet vorgekommen.

Es folgte ein blitzartiges Hin und Her zwischen beiden Sichten. Ich spürte, wie sie mit sich rang, als ich sie auf die Tanzfläche zog. Sie hatte Angst, sich zu blamieren, wollte aber gleichzeitig nicht meine Hand loslassen. Der Zwist wurde immer größer, bis meine Gefühle dazwischen aufflackerten, meine jähe Angst um sie, der Wunsch, sie zu beschützen, dann explodierte alles in einem Meer aus Musik, aus Freude, Glückstaumel, Albernheit und tiefer Verbundenheit. Aber der Schatten ließ nicht lange auf sich warten. Mit vor Unverständnis und Sorge weit aufgerissenen Augen, sah ich mir selbst dabei zu, wie ich abdrehte und wortlos zwischen den Menschenmassen verschwand. In Crystals Körper sank ich gegen den Banketttisch, warf das Glas, das ich noch in der Hand gehalten hatte, wütend zu Boden und lief dann aus dem Saal. Aber es hefteten sich auch meine eigenen Gefühle daran, die Angst davor, Crystal zu schaden, die Schuld, das Bedauern, es glühte und pochte schmerzhaft von innen gegen meine Brust, während ich mich durch die Kälte der Nacht kämpfte.

Was danach kam, rauschte so schnell und doch so intensiv an mir vorbei, dass ich nur einzelne Fetzen auffassen konnte. Durch Crystals Augen blickte ich mir selbst hinterher, wie ich sie im Flur stehen gelassen hatte; Wut, Trauer, ein Gefühl von Verrat. Dann das Ganze andersrum, wie ich hinter der Ecke verschwunden war und gegen die Wand schlug aus Selbsthass. Szenenwechsel. Meine Arme lagen um ihren Körper, während sie um sich schlug. Verzweiflung füllte den Raum aus, erstickte fast alle anderen Gefühle, dasselbe bei mir. Dann der Kuss. Wieder schlugen unsere Empfindungen wie Wellen ineinander und zerbarsten in tausenden Wassertropfen aus Glück, Lust, Erleichterung… Liebe?

Da rissen die Bilder unvermittelt ab und ich taumelte, als die Töne allesamt verstummten, die wiederkehrende Stille dröhnte mir in den Ohren. Crystal schien es nicht anders zu gehen, sie stand noch, aber ihr ganzer Körper bebte und auf ihren Wangen lagen Tränenstriemen.

Ohne nachzudenken, stürzte ich auf sie zu und sie tat genau dasselbe, sodass wir auf halber Strecke stehen bleiben mussten, um einander nicht umzurennen.

„Wie… wie war das?“, keuchte sie und hob unschlüssig die Hände, während ich das gleiche tat, als spiegele ich sie.

„Überwältigend“, kam es irgendwie zwischen meinen Lippen hervor, bevor ich ihren Kopf in die Hände nahm und sie heftig zu einem Kuss heranzog. Sie schlang die Arme meinen Hals und stöhnte, was nur dazu führte, dass ich endgültig die Kontrolle verlor. Ohne unsere Lippen voneinander zu lösen, ließ ich meine Hände zu ihrer Taille wandern, fuhr mit beiden Armen herum und hob sie hoch. Sie küsste mich nur begieriger, vergrub beide Hände in meinen Haaren und legte die Beine um meinen Körper.

Ich trug sie hinüber zur Matte, die für Saltoübungen benutzt wurde und daher nicht sonderlich hoch war, ließ sie vorsichtig darauf sinken und beugte mich sofort wieder über sie.
 

K Project ~Anime~ - Kiss Of Death (Full Cover)
 

„Wie soll ich dich nur jemals wieder loslassen?“, hauchte ich, als sich unsere Lippen trennten. Ihre Hände hatten sich von meinem Hals gelöst und ruhten über ihrem Kopf, die Arme so ausgebreitet, dass ihre Schlüsselbeine leicht hervortraten.

„Denk gar nicht erst dran“, erwiderte sie mit rauer Stimme und schmunzelte. Anstatt sie wieder zu küssen, wie ich erst vorgehabt hatte, verlagerte ich das Gewicht vollständig auf meine Knie, damit ich die Hände freihatte und fuhr damit sacht unter ihr Oberteil. Sie schnappte nach Luft, schaute mir aber weiterhin in die Augen. Mit jedem Zentimeter, den ich höherwanderte, wurde der Aufruhr unter ihrer Haut stärker und als ich kurz vor ihren Brüsten verharrte, blitzte sie mich böse an und ich nutzte ihre kurze Unachtsamkeit, um meine Hände darauf zu legen. Überrumpelt stöhnte sie auf, musste dann darüber lachen und errötete.

„Du bist so ein mieser Kerl, weißt du das?“

„Ansichtssache“, wisperte ich, während ich meine Hände wieder heruntergleiten ließ, um ihr das Oberteil auszuziehen, was sie zwar widerstandslos geschehen ließ, sich aber etwas steif machte, als sie dann entblößt unter mir lag.

„Jet… du solltest vielleicht wissen, dass…“ Ich legte meine Lippen auf eine ihrer glühenden Wangen.

„Wenn du noch nicht dazu bereit bist“, sagte ich sanft, „dann werde ich dich nicht drängen, Crystal. Darauf gebe ich dir mein Wort.“

„Ich will nur, dass du weißt, dass ich dir vertraue.“ Sie hatte ihre Hand an meine Wange gelegt, strich gedankenverloren darüber und ich fühlte, wie mein Herz seinen Rhythmus veränderte. Es sind diese Momente, in denen einem klar wird, dass Vertrauen eins der größten Geschenke der Welt ist. Aber dann tat sie noch etwas, etwas, womit ich nie gerechnet hätte.

Crystal schloss die Augen, nahm ihre Hände von meinen Wangen und ließ sie wieder hinter sich auf die Matratze fallen, dann reckte sie das Kinn so weit, dass ihre Kehle unverhüllt vor mir lag.

„Bist du dir sicher?“, fragte ich wie vor den Kopf gestoßen und wich ungewollt ein Stück zurück.

„Was viel schlimmer als dieses Handikap ist, ist die Aussicht, dass es niemals verschwinden wird“, murmelte sie und ich hörte unzählige Stunden heraus, in denen sie sich darüber die Haare zerrauft und geweint hatte. Sie war es leid, diesen Phantomschmerz zu spüren, in Panik auszubrechen, wenn nur ein Blatt ihren Hals streifte. „Aber wie sagtest du noch? Nur dürftig genähte Wunden müssen nun einmal aufgerissen werden, um sie so zu flicken, dass sie abheilen können.“ Ich zog die Brauen zusammen, gab mir jedoch einen Ruck und stützte behutsam die Hände neben ihrem Körper ab, ehe ich mich zeitlupengleich herabbeugte.

Als meine Lippen die empfindliche Haut berührten, zuckte Crystal zusammen und ich wollte schon zurückweichen, aber sie griff nur nach meiner Hand und gab mir ein Zeichen, es noch einmal zu versuchen. Ich kam ihrer Bitte nach und dieses Mal holte sie etwas zu hektisch Luft, konnte jedoch kurz darauf wieder normal atmen. Ich küsste mich hoch zu ihrem Kinn, dann wieder zurück und in Richtung ihrer Schlüsselbeine.

„Jet“, flüsterte sie, ich ließ von ihrem Hals ab und traf auf ein breites Lächeln. „Es hat funktioniert…“ Übermütig stieß sie sich von der Matratze ab und fiel mir um den Hals. Ich verlor die Balance und landete rücklings auf dem Boden, aber unser Lachen übertönte all das.

Doch gerade, als sie sich wieder zu mir herunterneigen wollte, um mich zu küssen, klopfte es mehrmals an der Tür. Hastig rollte sie sich von mir runter und tastete nach ihrem Oberteil, ich richtete mich so auf, dass ich ihren Körper verdeckte, was gut war, denn im nächsten Moment riss unser Besucher die Tür einfach auf.
 

Fired Earth Music - Dying Is Easy
 

„Jet! Crys!“, keuchte Moon. Ihre Haare lagen aufgepeitscht über ihren Schultern, so als wäre sie Hals über Kopf durch die Flure gerannt und offenbar stimmte das auch. Alarmiert richtete ich mich auf.

„Was ist los?“ Moon stützte die Hände auf den Knien ab und nahm ein paar erschöpfte Atemzüge, bevor sie wieder zu mir aufsehen konnte.

„Es ist… Mako.“ Ein Ruck, wie ein einschlagender Blitz, wütete durch meine Muskeln, als ihr Name fiel. Ich war mit wenigen Schritten bei ihr und griff nach ihren Schultern.

„Was ist mit ihr?“ Moon schüttelte nur gedrückt den Kopf.

„Sie ist verschwunden. Und draußen ist Lieutenant Crowe und… es ist so chaotisch.“ Ich zögerte keine Sekunde länger, sondern schob mich an ihr vorbei und sprintete aus dem Trainingsraum in Richtung Haupthaus. Ich hörte die Stimmen schon lange, bevor ich den Platz erreicht hatte. Die eine, hoch und klar, gehörte zu Jade und die andere, brummig und tief, hielt kontrastschwer dagegen. Auch auf die Gefahr hin, wie Öl ins Feuer zu fallen, jagte ich um die Ecke und kam an Jades Seite zum Stehen. Um sie und Crowe herum hatte sich ein Menschenauflauf gebildet, wobei die Fronten klar standen. Auf Jades Seite die Schüler, auf Crowes die Polizisten.

„Du schon wieder“, knurrte er und hätte wahrscheinlich wieder sein spöttisches Lächeln zum Besten gegeben, aber die Situation schien ihn nervöser zu machen, als vermutet, darum zog er nur leicht die Oberlippe hoch. „Wie ich schon sagte; wo Ärger ist, bist du nicht weit.“

„Das können wir gern später noch in Ruhe ausdiskutieren“, entgegnete ich möglichst gefasst und warf Jade einen flüchtigen Seitenblick zu. Sie wirkte angespannt, ihr Gesicht war blass.

„Allerdings“, grunzte Crowe. „Wenn du dann nicht gerade zufällig einer Fährte hinterherjagst, Bluthund.“ Den letzten Satz sagte er so leise, dass ihn außer Jade und mir niemand gehört haben konnte.

„Hoffen wir, dass es nicht Eure sein wird“, sagte ich ebenso leise.

„Ich warne dich“, knirschte er unvermittelt, packte meinen Kragen und zog mich ein Stück heran. „Dieses Mal wirst du es beim Bellen belassen, verstanden?!“ Ich zog die Stirn verwirrt in Falten und erwiderte nur darum nichts, weil in seinen Worten etwas mitschwang, was ich nicht zuordnen konnte. War das… Angst? Augenblicklich ließ er meinen Kragen wieder los und wandte sich mit einem letzten Blick auf Jade von uns ab.

„Wir beginnen mit der Suche!“, rief er den Polizisten zu. Erst als auch der letzte Streifenwagen die Einfahrt verlassen hatte, gab Jade ihre kerzengerade Haltung auf und legte ihre Hand auf meinem Arm ab. Ich tat ihr den Gefallen und verlagerte das Gewicht, damit sie sich abstützen konnte.

„Sie hat Granite mit ihrer Gabe außer Gefecht gesetzt“, fing sie an zu erzählen und noch währenddessen erschienen Moon und Crystal neben uns, Amber stieß kurz darauf ebenfalls dazu. „Dann ist sie getürmt. Wenig später bekam ich Nachricht, dass sie ihre Gabe in der Öffentlichkeit gezeigt und sich als Rider geoutet hat…“

„Oh nein…“, stieß Moon hervor und klammerte sich an Ambers Arm fest. Ich senkte nur den Blick und spannte den Kiefer an. Mako… was tat sie da bloß?

„Wir tun es einfach jetzt! Wir durchsuchen das Büro der Schulleiterin und wenn wir da nichts finden, machen wir uns auf den Weg zur Brutstätte dieser Freakshow!“

„Ich glaube, ich weiß, wo sie ist“, flüsterte ich schließlich und legte meine Hand auf Jades Schulter. „Ich gehe ihr nach und rede mit ihr. Ich hole sie zurück, keine Sorge.“ Sie blickte auf und ließ ihre Hand auf meine Wange gleiten. Diese Geste überbrachte all die Worte, die sie nicht aussprechen konnte ich nickte zum Zeichen, dass ich sie gehört hatte, dann wandte ich mich an Crystal.

„Sie kann noch nicht allzu weit sein, wenn ich mich jetzt losmache, kann ich sie vielleicht noch einholen.“ Sie öffnete den Mund, schien aber keine Erwiderung zu finden, also schob sie stattdessen ihre Arme um meinen Körper.

„Pass bitte auf dich auf…“ Ich gab ihr einen Kuss aufs Haar und traf Ambers Blick. Er nickte mir zu, aber seine Augen hatten angefangen, zu flackern und als ich weiter zu Moon wanderte, sah ich mich einer fast meertiefen Iris gegenüber. Vorsichtig machte ich mich von Crystal los, nahm ihr Gesicht in die Hände und legte meine Lippen für die Spanne unserer beiden aufeinander folgenden Herzschläge auf ihre. Etwas an alldem kam mir falsch vor. So als wäre es das letzte Mal, dass ich sie berühren, dass ich sie küssen konnte… Und Crystal spürte es allem Anschein nach auch, denn ihre Lippen bebten unter meinen.

„Ich bin bald zurück“, hauchte ich ihr noch zu, dann drehte ich schnell ab, kramte im Laufen nach den Kontaktlinsen und war hinter dem Tor verschwunden, bevor die surreale Angst in meinen Gliedern sich nicht mehr unterdrücken ließ.



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