Necroma
London, England (2012):
„Umziehen? Hierher? Die ganze verfluchte Bande?“
Necroma waren ihre sonst so harten Gesichtszüge entglitten, vollkommen fassungslos starrte sie Sharif an. Sie machte den Eindruck, als hätte er ihr vorgeschlagen, sich ins nächste Haifischbecken zu werfen.
„Ganz genau“, meinte Sharif nickend. „Ich habe Alec angeordnet, sich noch ein bisschen zu erholen, aber sie werden schon bald hier sein.“
„Aber ...“ Necroma schüttelte den Kopf, als könnte sie es beim besten Willen nicht glauben. „Aber sie sind so furchtbar laut, sie hinterlassen überall ihren Dreck und sie werden das ganze Haus auf den Kopf stellen. Das Mauerwerk dieses Gebäudes ist nicht mehr das jüngste, weißt du? Wenn die anderen zu wild rumtoben, könnte glatt was einstürzen.“
Sharif runzelte die Stirn. „Dir ist doch hoffentlich klar, dass wir von Vampiren und nicht von Kleinkindern sprechen, oder?“
„Natürlich weiß ich das!“, schnaubte Necroma. „Aber sie sind nun mal so furchtbar laut ...“
Sharif konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Necromas Marotten und Eigenarten hatten ihn schon des Öfteren zum Schmunzeln gebracht, sie war ganz und gar ein einzigartiges Geschöpf. Es gab wahrscheinlich niemanden sonst auf der Welt, der sich auch nur ansatzweise mit ihr vergleichen lassen könnte, wie sie sang und tanzte und lachte und Gebäude in die Luft sprengte, während sie sich gleichzeitig mit unsichtbaren Personen unterhielt, von denen niemand so genau wusste, ob sich Necroma diese einfach nur einbildete oder ob dort tatsächlich etwas war.
Und Sharif kam nie umhin, wie vielleicht schon Millionen Male vorher zu bemerken, dass sie beileibe die seltsamste Frau war, der er je begegnet war.
Man nannte sie ‚verrückt‘ und ‚irre‘. In vielen alten Texten wurde sie gar als ‚wahnsinnige Hexe‘ betitelt. Man beschrieb sie als unberechenbar, überaus gefährlich und der Realität entrückt. Ein Mönch aus dem 13. Jahrhundert hatte einst über sie geschrieben: „Es wirkt, als würde sie in ihrer eigenen Welt leben. Und dennoch scheint manchmal etwas durch, das erkennen lässt, dass sie vielleicht mehr von der Wirklichkeit versteht als alle anderen um sie herum.“
Und Sharif hätte es im Grunde nicht besser ausdrücken können.
Als er ihr zum ersten Mal begegnet war, damals vor über zweitausend Jahren in Theben, hatte er ernsthaft an ihrem gesunden Menschenverstand gezweifelt. Sie hatte mit sich selbst oder imaginären Personen geredet, manchmal stundenlang einfach vor sich hin gesummt und war ab und zu ohne jeden erkennbaren Grund in schallendes Gelächter oder bittere Tränen ausgebrochen. Nichts, was sie gesagt oder getan hatte, hatte irgendeinen Sinn ergeben.
Und er war fest überzeugt gewesen, dass diese junge und verwirrte Frau einfach schwachen Geistes gewesen war. Dass vielleicht eine schwere Krankheit in ihrer Kindheit oder auch irgendetwas anderes ihren Verstand zerstört und bloß eine Hülle mit verqueren Gedanken zurückgelassen hatte. Ein armes Opfer ohne Chance, jemals ein normales Leben führen zu können.
Sharif hatte sie bemitleidet. Und nicht erkannt, dass sie ihn bemitleidet hatte.
Weil er solch ein ‚beschränktes Weltbild‘ besaß, wie sie nie müde wurde, ihm mitzuteilen. Weil er ‚dumm‘ und ‚naiv‘ und ‚einfach nur ein blinder Trottel‘ war, der nicht das zu sehen vermochte, was ihr möglich war.
Und mit der Zeit hatte er begriffen, dass es tatsächlich stimmte.
Necroma mochte seltsam und anders sein, sie mochte sich wie jemand benehmen, der absolut nichts von Logik verstand, aber gleichzeitig war sie das wahrscheinlich faszinierendste Geschöpf auf dem ganzen Planeten.
Denn sie konnte sehen.
Manchmal machte es den Anschein, dass sie einfach alles wusste. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – nichts blieb ihr verborgen, nichts konnte sie überraschen. Sie wusste, wann es Erdbeben und Überschwemmungen geben würde, ebenso wie sie alle britischen Premierminister bis ins Jahr 2265 aufzählen konnte, ohne auch nur ein einziges Mal ins stocken zu geraten. Sie sah die Zukunft der Welt, alles war weit vor ihr ausgebreitet.
„Es ist nur eine Sicherheitsmaßnahme und wird hoffentlich nicht lange dauern“, versuchte Sharif, sie wieder ein wenig zu beruhigen. „Ich will sie nur in deiner Nähe wissen. Ist das wirklich zu viel verlangt?“
Necroma zog ihre Mundwinkle nach unten. „Weißt du, warum ich mir dieses Haus ausgesucht habe?“, zischte sie. „1896 ist der hier lebende Handelskaufmann grausam ermordet worden, genau in diesem Wohnzimmer. Und es war ein Kunstwerk sondergleichen, mit Folter, psychischen Terror und allem, was zu einem schönen Mord dazugehört. Und ich will mich so gerne mit diesem Mann unterhalten!“
Dabei sah sie kurz in eine Ecke und Sharif fragte sich unweigerlich, ob der geplagte Geist dieses Handelskaufmannes dort im Schatten lauerte und sie beobachtete.
„Aber wenn die kleinen Kinderchen hier rumlaufen und so einen Lärm verursachen, wird ihn das nur verschrecken“, erklärte sie mit Nachdruck. „Alec und Oscar streiten die ganze Zeit und eher früher als später wird sich Annis auch noch einmischen und dann wird Peterson erst wieder rauskommen, wenn wir alle schon längst weg sind.“
Sie erweckte ehrlich den Anschein, als wäre dies momentan das allergrößte Problem auf der Welt.
Sharif seufzte. Eigentlich hätte es ihn verärgern sollen, dass sie das Schicksal ihrer Geschwister scheinbar weniger interessierte als irgendein Kerl, der vor einem Jahrhundert gestorben war, aber er kannte sie inzwischen gut genug, um sich in keinster Weise beleidigt zu fühlen. Ganz im Gegenteil, solange Necroma noch so gelassen blieb, war die Situation vielleicht beileibe noch nicht ganz so dramatisch, wie es zurzeit aussah.
„Und wenn ich dir verspreche, dass sie ganz leise sein werden?“, fragte Sharif.
Necroma schnaubte jedoch bloß abfällig. „Oh bitte, als ob Alec und Oscar es überhaupt eine halbe Stunde aushalten, ohne irgendwie aufeinander herumzuhacken. Das wäre wirklich ein Weihnachtswunder!“
Sharif musste ihr durchaus zustimmen, bemühte sich jedoch um eine neutrale Miene. „Sie werden es tun, wenn es dir viel bedeutet. Du weißt doch, wie sehr sie dich vergöttern.“
Alec gab dies andauernd offen vor Necroma zu, während Oscar sie gerne als „Fall für die Irrenanstalt“ darstellte, aber auch tief in seiner Seele sehr viel Faszination und Bewunderung für diese Frau aufbrachte.
Necroma wiegte ihren Kopf leicht hin und her. „Wenn sie mir Schokolade mitbringen, kann ich das vielleicht akzeptieren.“
Sharif lächelte erleichtert. Eine Sorge weniger.
„Du bist aber sicher nicht nur hier, um mir das zu sagen, oder?“ Necroma musterte ihn skeptisch. „Es ist zwar nett, dass du an mein seelisches Wohlbefinden denkst, doch normalerweise wärst du hier einfach mit dem ganzen Rudel reingeplatzt, sodass ich gar keine Chance gehabt hätte, nein zu sagen. Also, was willst du?“
Sharif seufzte. Vor ihr vermochte man nichts zu verbergen. „Ich suche Asrim“, gestand er. „Ich dachte, dass du mit deinen magischen Fähigkeiten vielleicht-“
„Den Flur runter, die dritte Tür rechts“, unterbrach ihn Necroma.
Sharif blinzelte verdutzt. „Wie bitte?“
„Den Flur runter, die dritte Tür rechts“, wiederholte sie noch einmal, dabei jedes Wort betonend, als hätte sie es mit einem Zurückgebliebenen zu tun. „Dort findest du Asrim. Er schmollt schon die ganze Zeit in dem Zimmerchen rum. Ist mir auch ganz recht, er stank fürchterlich nach Rauch, als er hier ankam.“
Sharif war im ersten Moment völlig sprachlos. Er hatte mit einer langen, auszehrenden Suche gerechnet, die wahrscheinlich nicht mal von Erfolg gekrönt sein würde, und nun fand er ihn direkt beim ersten Vampir, den er fragte?
Entweder war es ein großer Zufall oder auch so was wie Schicksal oder Asrim hatte sich keine besondere Mühe gegeben, spurlos zu verschwinden.
Necroma hatte sich bereits wieder von Sharif abgewandt und mit einer Spinne zu sprechen begonnen, die es gewagt hatte, über den bequemen Polstersessel der Vampirin zu krabbeln. Während diese nun das Tier von der Sitzgelegenheit pflückte, drehte Sharif sich in die angegebene Richtung.
Das Herrenhaus, das Necroma ausgesucht hatte, war in der Tat sehr alt und offenbar schon lange nicht mehr bewohnt gewesen. Es gab nur noch einige einzelne Möbelstücke, von denen der Großteil den Eindruck machte, sie könnten in der nächsten Sekunde zusammenbrechen. Staub, Spinnen und noch allerlei anderes Getier waren seit langer Zeit die einzigen Gäste in diesem Haus gewesen.
Unweigerlich dachte er daran, dass die anderen Mitglieder seines Clans überhaupt nicht begeistert sein würden, sich an diesem Ort häuslich niederzulassen. Zwar waren sie eigentlich nie sonderlich wählerisch oder auf Luxus bedacht gewesen, aber im Laufe der Zeit hatten sie alle ein warmes Bett, fließendes Wasser und Elektrizität durchaus zu schätzen gelernt. Auch Sharif wollte dies im Grunde nur sehr ungern missen, auch wenn er noch vor Jahrtausenden in weitaus heruntergekommeneren Behausungen gelebt hatte.
Sharif erreichte schließlich die von Necroma angegebene Tür. Eine Weile verharrte er davor, nicht sicher, was er als nächstes tun sollte. Wie sollte er sich verhalten, wenn er Asrim gegenüberstand? Im Grunde war Sharif stets ein ruhiger und besonnener Mann gewesen, aber im Moment war er nicht allzu sehr davon überzeugt, dass er bei Asrims Anblick nicht die Beherrschung verlieren würde.
Letztlich aber öffnete er die Tür und trat in das dunkle Zimmer. Die schäbigen und schon stark mottenzerfressenen Vorhänge waren bis auf einen kleinen Schlitz zugezogen und tauchten den Raum in ein eigenartiges Licht. Reich an Mobiliar war auch diese Kammer nicht besonders, ein paar bedenklich anmutende Stühle und ein altes Bettgestell waren das Höchste der Gefühle.
Asrim stand am Fenster und schaute aus dem Schlitz hinaus auf die Stadt. Bei Sharifs Auftauchen rührte er sich keinen Millimeter, dennoch war mehr als klar, dass ihm die Anwesenheit des anderen Vampirs nicht entgangen war. Wahrscheinlich hatte er seine Gegenwart schon längst gespürt, als sich der Ägypter noch mit Necroma unterhalten hatte.
„Du warst wirklich erstaunlich leicht zu finden“, brachte Sharif das Gespräch in Gang, als Asrim auch nach mehreren verstrichenen Minuten keine Anstalten machte, sich auch nur ein kleines bisschen zu regen. Wie eine Statue starrte er aus dem Fenster. „Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest dich zurückziehen.“
„Hätte ich denn einen Grund dazu?“ Asrims Stimme klang schwer, müde.
Sharif trat ein paar Schritte näher an seinen Schöpfer heran, während er gründlich über die Frage nachdachte. Seinen Zorn schluckte er derweil gewaltsam hinunter.
„Vielleicht“, sagte er schließlich. „Dir muss klar sein, dass wir nicht allzu gut auf dich zu sprechen sind. Deine Verschwiegenheit hat uns alle in Gefahr gebracht.“
Asrim drehte sich langsam, fast wie in Zeitlupe, vom Fenster weg. Seine glühenden Augen fixierten Sharif und als sein Blick auf die bandagierten Arme und Brandverletzungen fiel, zeichnete sich auf seinen Zügen ein Ausdruck von tiefster Trauer und Reue ab.
„Ich wollte nie, dass es soweit kommt“, meinte er flüsternd.
„Dann hättest du es verhindern müssen.“ Sharif hatte alle Mühe, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Asrim wirkte zwar geknickt und schwer getroffen, dennoch reichte das nicht, um Sharifs Erbitterung abflauen zu lassen. Ganz im Gegenteil, sein mitleidvoller und melancholischer Blick machte den Ägypter nur noch rasender.
„Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass so etwas geschehen könnte“, erwiderte Asrim. „Ich wusste, dass Shadyn … dass Seth sehr mächtig ist, aber ich hätte ihn niemals für eine akute Bedrohung gehalten. Ich wollte ihm nur Einhalt gebieten, damit er nicht in seinem Hass ganz London zerstört, und deswegen habe ich euch alle gebeten, mich zu begleiten. Ich habe nicht gewusst, über welche Macht er wirklich verfügt.“
Sharif erkannte keine Lüge in seinen Worten. Asrim hatte in der Tat keine Ahnung von Seths wahren Kräften gehabt. Im Grunde konnte man ihn keinen wirklichen Vorwurf machen … und trotzdem konnte sich Sharif nicht dazu überwinden, ihm so einfach zu verzeihen.
„Dennoch ist das keine Entschuldigung dafür, dass du uns nicht gesagt hast, dass du Seth kennst“, meinte Sharif zähneknirschend. „Du hättest ehrlicher sein sollen. Vielleicht würden wir das Ganze dann besser verstehen.“ Er schwieg einen Moment und musterte Asrim ausgiebig. „Warum hast du Seth verschont? Wieso hast du ihn einfach entkommen lassen?“
Asrim seufzte schwer. „Es ist ... kompliziert.“
„Kompliziert?“, zischte Sharif. „Dieses Ding hätte uns beinahe getötet und du lässt ihn einfach gehen, als wäre nichts dabei. Wie kannst du ihn das einfach durchgehen lassen?“
„Sharif ...“ Asrims Stimme klang müde. Es war mehr als deutlich, dass er dieses Gespräch im Moment auf keinen Fall führen wollte, doch der Ägypter scherte sich nicht darum.
„Er hat behauptet, er wäre in Behedet gewesen, um eine schwere Schuld zu begleichen“, fuhr er ungerührt fort. „Was soll das bedeuten? Hat er irgendetwas mit meiner Verwandlung zu tun?“
Asrims Blick wurde mit einem Mal so unglaublich leer, dass es Sharif fast schon erschreckte. Noch niemals zuvor hatte er seinen Schöpfer derart erlebt. Er wirkte plötzlich, als würden all die Jahre, die er gelebt hatte, mit einem Schlag auf ihn niederprasseln und ihn in die Knie zwingen.
„Kennst du das Gefühl, wenn du einen gravierenden Fehler begehst und anderen die Schuld dafür gibt, obwohl eigentlich nur du allein es zu verantworten hast?“, fragte Asrim nach. „Shadyn ist solch ein Fehler und er wird es auch immer sein.“
Sharif wollte weiter nachhaken, wollte brüllen und toben und seinem Gegenüber für seine verdammte Verschwiegenheit den Kopf zurechtrücken, aber Asrim wirkte dermaßen mitleiderregend, dass sich Sharif wie der größte Mistkerl auf der Welt vorgekommen wäre, wenn er sich nun auf ihn gestürzt hätte. Er wollte zwar Antworten und das am liebsten sofort, doch Asrim schien, als würde er zusammenbrechen, wenn man ihm zu sehr bedrängen würde.
Und Sharif kam nicht umhin, sich zu wundern, was solch einen Mann, der Kriege und Verzweiflung und Schmerz mit einem Lächeln überstanden hatte, der allein durch seine Anwesenheit die Mächtigsten der Welt zum zittern brachte, derart hatte erschüttern können.
„Ich werde es dir erklären … aber nicht jetzt“, sagte Asrim schließlich. „Erst wenn die anderen hier sind.“
Sharif erfreute dieses Angebot zwar nicht sonderlich, besonders da niemand wusste, wann Yasmine und die Zwillinge aus Deutschland zurückkehren würden, aber es war besser als nichts. In dem Zustand, in dem Asrim sich zurzeit befand, war es ihm wahrscheinlich sowieso nur möglich, die Geschichte ein einziges Mal zu erzählen.
„Du willst mir also nicht einmal erzählen, woher du diesen Kerl kennst?“, hakte Sharif dennoch nach. „Oder was er überhaupt ist?“
Asrim senkte den Blick. „Ich werde dafür sorgen, dass euch nichts mehr geschieht“, erwiderte er, ohne auf Sharifs Frage einzugehen. „Bring die anderen hierher. Ich kümmere mich darum, dass dieses Haus sicher ist.“
Sharif runzelte seine Stirn. Dachte an das magische Feuer, das Vampire bei lebendigen Leibe aufzufressen vermochte. Und er fragte sich, ob Asrim auch diese Macht besaß oder ob Seth ihm überlegen war.
„Bist du überhaupt dazu imstande, uns zu beschützen?“, fragte der Ägypter geradeheraus.
Asrim zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen, entgegnete jedoch nichts. Es war mehr als deutlich, dass er keine Antwort darauf hatte und ihm dieser Zustand erhebliche Sorgen bereitete.
„Er wird uns verfolgen, wenn wir London verlassen, nicht wahr?“, hakte Sharif nach. „Er wird keine Ruhe geben, bis wir oder er tot sind.“
Sharif hatte es deutlich in Seths Blick gesehen. Diesen Wahnsinn, diese Besessenheit. Er war bereit, alles zu riskieren, auch sein eigenes Leben, nur um die Vampire zu vernichten.
„Und du willst mir nicht einmal sagen, wieso?“ Sharif war erstaunt, als er merkte, dass sich in seiner Kehle ein Knoten bildete. „Ich könnte in der nächsten Sekunde von Seth getötet werden und du hast nicht einmal den Anstand, mir zu verraten, warum ich sterben soll?“
Asrim hatte bereits begonnen, sich tiefer in die Dunkelheit des Zimmers zurückzuziehen.
„Du wirst mich hassen, wenn du die Wahrheit erfährst“, erklärte Asrim mit schwerer Stimme. „Ihr alle werdet mich abgrundtief hassen. Und ich möchte wenigstens noch ein paar kostbare Stunden oder gar Tage haben, in denen ihr in mir kein rücksichtsloses und kaltherziges Monster seht.“
Sharif wusste darauf nichts zu sagen. Er wusste im Grunde nicht einmal, was er fühlen sollte.
„Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass ihr für mich das Wichtigste auf dieser Welt seid!“, meinte Asrim mit Nachdruck. „Ich werde alles tun, um euch zu beschützen. Einfach alles!“
* * * * * * * * * * *
Es war kurz nach zwölf Uhr mittags, als sich Eve zum ersten Mal traute, ihr kleines, von Sharif auferlegtes Gefängnis zu verlassen. Alec bemerkte von der Küche aus sofort die Helligkeit, die in den dunklen Flur strömte. Die Jägerin schien versucht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und tatsächlich hätten ihre leisen Schritte auf dem Teppichboden ein menschliches Ohr durchaus überlisten können, doch für Alec klang es, als würde sie direkt neben ihm mit eisenbeschwerten Springerstiefeln auf einem Fliesenboden steppen.
Der Vampir hörte, wie sie kurz verharrte. Wahrscheinlich liebäugelte sie mit der Haustür und war am überlegen, ob sie eine Flucht wagen sollte. Unter Umständen hoffte sie, dass die Untoten an diesem recht sonnigen Mittag sich lieber in ihren Betten aufhielten, anstatt auf eine Jägerin zu achten.
Alec konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Wenn sie wirklich so leichtfertig war, dies anzunehmen, dann hatte er die junge Frau völlig falsch eingeschätzt. Immerhin hatte er ihr letzte Nacht unmissverständlich klar gemacht, dass sie Tag und Nacht von äußerst wachsamen Augen beobachtet wurde.
Eve schien diese Drohung jedoch nicht vergessen zu haben. Nach einem resignierten Seufzer ihrerseits wandte sie sich von der Haustür ab und verschwand im Badezimmer auf der anderen Seite des Flurs. Alec hörte nur kurz darauf, wie das Wasser durch die Pumpen strömte. Er bezweifelte stark, dass sie sich unter die Dusche gestellt hatte – nicht im Wissen, von einer unbekannten Zahl von Vampiren ständig überwacht zu werden –, aber vermutlich hatte sie ihren Kopf unter das fließend kalte Wasser des Waschbeckens gehalten und versuchte auf diese Weise, wieder ein paar klare Gedanken zu fassen.
Unter Umständen versuchte sie auch durch das Rauschen des Wassers gewisse menschliche Bedürfnisse zu übertönen.
Bereits einige Minuten später hörte Alec, wie sich die wieder Badezimmertür öffnete. Eve trat – offenbar noch äußerst lebendig – auf den Flur hinaus.
Und stieß kurz darauf einen spitzen Schrei aus.
Wie von der Tarantel gestochen stürzte Eve in eine wahllose Richtung davon, um der unbekannten Gefahr zu entkommen. Sie kam in die Küche gestolpert und wäre dabei beinahe über einen Stuhl gestürzt, dermaßen aufgeschreckt war sie. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich fangen, um eine unbequeme Begegnung mit dem Fußboden zu vermeiden.
„Guten Morgen, mein Engel“, begrüßte Alec sie fröhlich. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen?“
Eve hatte ihre Hand auf die Brust gedrückt, um ihre Atmung zu beruhigen, und starrte den Vampir einen Augenblick völlig fassungslos an. Seine gute Laune schien ihr vollkommen absurd vorzukommen.
„Du scheinst mir ein bisschen durcheinander zu sein, Liebes“, meinte er, mit einem deutlich genüsslichen Unterton. „Sag bloß, da war eine Spinne im Bad? Ich finde es ehrlich gesagt ziemlich albern, wie viel Angst manche Menschen vor diesen winzigen Krabbelviechern haben können. Viele sind nicht mal so groß wie ein Fingernagel ...“
Wäre Eves Adrenalinspiegel nicht dermaßen hoch gewesen, hätte sie Alec vermutlich für seinen Monolog mit einem vernichtenden Blick bedacht. Nun jedoch war sie viel mehr damit beschäftigt, zurück in Richtung Flur zu starren.
„Da ... da waren Augen ...“, sagte sie leicht stockend. „So viele Augen.“
Sie machte den Anschein, als wäre sie gerade mit zehn Vampiren zusammengestoßen. Wahrscheinlich glaubte sie das sogar tatsächlich.
Alec grinste breit. Außer ihm selbst, der hier in der Küche stand und versuchte, die Mechanik der hochmodernen Kaffeemaschine zu ergründen, befand sich nur noch Oscar in diesen Räumlichkeiten. Er hatte sich jedoch bereits vor einigen Stunden in ein Zimmer zurückgezogen, das angesichts der vielen Poster voller leicht bekleideter Damen sicherlich ursprünglich einem pubertierenden Teenager gehörte, und hatte sich hingelegt. Mochte draußen auch ein Irrer herumlaufen, der imstande war, Vampire in Flammen aufgehen zu lassen, so würde dies Oscar trotzdem niemals von seinem Schlaf abbringen. Selbst im Zweiten Weltkrieg hatte er in Luftschutzbunkern friedlich geschlummert wie ein Baby, das sich um nichts in der Welt Sorgen zu machen brauchte.
„Du siehst Gespenster, was?“ Alec lächelte amüsiert. „Und ich dachte wirklich, dass ihr Jäger etwas härter im Nehmen wärt.“
Eve atmete immer noch tief durch, im Versuch, ihren Herzschlag wieder auf ein einigermaßen angemessenes Level zu bringen, warf dem Vampir jedoch gleichzeitig einen finsteren Blick zu. „Ich halluziniere nicht. Da war irgendetwas im Flur!“
„Witzig, was ihr Menschen euch immer wieder einbilden könnt.“
„Ich habe mir das nicht eingebildet!“, zischte Eve. Sie schien derart von ihren Worten überzeugt, dass Alec kurz stutzte. Er wusste ganz genau, dass sich Oscar immer noch in seinem Zimmer befand und darüber hinaus gab es nichts in dieser Wohnung, was auf Eves Beschreibung hätte zutreffen können. Waren es also wirklich bloß die Nerven gewesen oder hatte sie tatsächlich etwas gesehen?
Alec war versucht, in den Flur zu treten und selbst einmal nachzusehen, doch schnell schob er den Gedanken beiseite. Sein Gefahrensensor meldete sich in keinster Weise.
„Necroma hat wahrscheinlich ein kleines Präsent zurückgelassen“, meinte er schließlich schulterzuckend.
„Necroma?“ Eves Gesicht war bei der Erwähnung dieses Namens derweil zusehends bleicher geworden.
„Sie spielt gerne ihre Spielchen, weißt du?“, erklärte Alec. „Ihre Magie ist zu erstaunlichen Dingen fähig. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sie ein paar Geister aus dem Jenseits holt und sie uns auf den Hals hetzt.“
Eve musterte ihn, als würde sie überlegen, ob er tatsächlich die Wahrheit sprach oder sie bloß auf den Arm nahm. Alec lächelte inzwischen versonnen.
„Ich … ich habe schon einige Geschichten über sie gehört“, ergriff Eve nach einer Weile wieder das Wort. „Angeblich ist sie eine Hexe, die die Herzen ihrer Opfer verschlingt.“
Alec musste auflachen. Er liebte die Gerüchte, die um Necroma im Umlauf waren. Es gab sogar ein hübsches Märchen, in dem erzählt wurde, dass sie fliegen könnte und allein mit ihrem Blick imstande wäre, jemanden zum Schmelzen zu bringen.
Necroma war aber wahrlich keine normale Vampirin, das musste er zugeben. Genau wie Asrim war sie mit magischen Fähigkeiten geboren worden, die sich durch die Verwandlung in eine Untote noch zusätzlich verstärkt hatten. Sie besaß einige ausgesprochen beeindruckende Talente und war sicherlich eine der mächtigsten Magierinnen der Welt.
Genau aus diesem Grund wollte Sharif sie auch alle unter ihrer Obhut wissen. Necroma hatte schon zuvor Seths Energie unterschwellig spüren können, möglicherweise würde sie es auch bemerken, wenn er sich ihnen näherte. Außerdem konnte sie einen Schutzbann um das Haus errichten, welcher sie – zumindest theoretisch – vor einem ungewollten Besuch seitens Seths beschützen sollte.
Alec war sich zwar nicht wirklich sicher, ob das was bringen würde, aber er hatte es nicht gewagt, Sharif zu widersprechen.
„Necroma steht nicht wirklich auf Herzen“, erwiderte Alec, während er eine Tasse von der Spüle nahm und sie unter den Schlitz stellte. Bereits im nächsten Moment verbreitete sich der betörende Geruch von Kaffee in der ganzen Küche. „Aber eine Hexe ist sie durchaus.“
Eve musterte ihn noch einen Moment, ehe sie sich schließlich nach anfänglichem Zögern einen Apfel aus der Obstschale nahm und ihn hastig verspeiste. Im Grunde schon ein Wunder, dass sie sich erst jetzt dazu durchrang, etwas zu essen, wenn man bedachte, wie lange wohl ihre letzte Mahlzeit her war.
„Es heißt, sie sei wahnsinnig“, setzte sie an, nachdem der Großteil des Apfels sich bereits in ihrem Magen befand und der erste Hunger gestillt war.
„Wer, Necroma?“ Alec nippte kurz an seinem Kaffee und verzog das Gesicht, als er merkte, dass diese modernen Maschinen es meisterlich verstanden, mit Hitze umzugehen. „Oh ja, sie ist wahnsinnig.“ Bestätigend nickte er. „Verrückt und mächtig. Eine tolle Kombination, nicht wahr?“
In Wahrheit war sie eine tickende Zeitbombe, die seit den letzten Jahrtausenden eine stetige und allgegenwärtige Gefahr dargestellt hatte.
„Und das findest du lustig?“, hakte Eve verständnislos nach. „Ich habe gehört, sie könnte eine Stadt auslöschen, wenn ihr der Sinn danach stände.“
„Sie hat ein Gewissen“, erwiderte Alec. „Gut, ich gebe zu, es ist schwer auszumachen und meldet sich wirklich nur in den allerseltensten Fällen, aber es ist da. Irgendwo. Tief in ihrem Inneren.“
Eve hob skeptisch eine Augenbraue. „Sie wird London also nicht in die Luft jagen?“
„Dazu ist sie sowieso nicht imstande“, protestierte der Vampir sofort. „Sie könnte höchstens irgendeine Seuche verbreiten, euer Grundwasser austrocknen, euch mit euren schlimmsten Albträumen foltern, sodass ihr allesamt freiwillig von der nächsten Brücke springt, …“
„Schon gut!“, unterbrach ihn Eve hastig. „Ich habe verstanden.“
Unruhig kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, als ihr wohl zum ersten Mal richtig bewusst wurde, welche Macht einzelne Geschöpfe auf diesem Planeten in sich trugen. Und vermutlich verspürte sie keinerlei Verlangen, Necroma irgendwann kennenzulernen.
Nach dem Stand der jüngsten Begebenheiten würde sich dies jedoch kaum vermeiden lassen. Ein Gedanke, der Alecs Mundwinkel sofort wieder nach oben verzog.
„Ist Sharif hier?“, fragte Eve nach einem kurzen Schweigen. Ihr Blick huschte hin und her, als würde sie den Vampir in irgendeiner dunklen Ecke vermuten. Ihr lagen die Ereignisse von vergangener Nacht offenbar noch schwer im Magen.
„Vielleicht“, meinte Alec kryptisch.
In Wahrheit hatte er keine Ahnung, wo Sharif sich in diesem Moment befand. Immer noch aufgebracht, hatte er vor mehreren Stunden seine Jacke gepackt, irgendetwas von Veränderungen gemurmelt und war verschwunden. Er mochte nur an der nächsten Straßenecke stehen und dem Treiben der Menschen zusehen, aber ebenso gut konnte er sich am anderen Ende der Stadt aufhalten und finstere Rachepläne schmieden. Sharif war zwar beileibe nicht so unberechenbar wie manch anderer, doch dann und wann war selbst er nur schwer zu lesen.
Und die Ereignisse hatten ihn aufgebracht. Mehr, als er sich eingestehen wollte.
Er war dem Ende näher gewesen als irgendwann in den letzten dreitausend Jahren zuvor. Er hatte dem Tod ins Antlitz gesehen und wahrscheinlich bereits mit seinem Leben abgeschlossen gehabt. Vermutlich hatte er sich auch zum allerersten Mal gefragt, was mit Vampiren überhaupt geschah, wenn sie starben. Ob es einen Himmel, eine Hölle oder irgendetwas Vergleichbares für sie gab. Oder ob sie einfach im Nichts verschwanden.
Zumindest waren Alec diese Fragen durch den Kopf geschossen, als das Feuer ihn attackiert, ihn umschlossen und beinahe getötet hatte. Niemals zuvor hatte er sich darüber Gedanken gemacht. Ihm war zwar stets bewusst gewesen, dass alles einmal enden würde, selbst seine eigene Existenz, dennoch war es ihm wie etwas weit entferntes und fast schon irreales vorgekommen. Warum hätte er sich darüber den Kopf zerbrechen wollen?
„Sind … sind die anderen Vampire auch hier?“, vernahm er wieder Eves Stimme. Sie hatte sich in der Zwischenzeit einen weiteren Apfel genommen und ihn derart schnell verspeist, als gäbe es irgendjemanden in ihrer näheren Umgebung, der ihr das Stück Obst in der nächsten Minute aus den Händen reißen und es selbst essen würde.
Alec legte ein Lächeln auf seine Lippen, als er ihr verunsichertes Gesicht betrachtete und die Bilder von Feuer und Tod für einen Moment aus seinem Gedächtnis streichen konnte. „Willst du das wirklich wissen?“
Eve kaute nervös auf ihrer Unterlippe, während ihre Augen hin und her huschten. „Ehrlich gesagt habe ich nie besonderen Wert darauf gelegt, die Sieben einmal persönlich kennenzulernen.“
„Wir sind lebende Legenden“, erklärte Alec belustigt.
„Eher lebende Massenmörder“, entgegnete Eve zischelnd. „Ich bin doch bloß noch nicht tot, weil ich nützlich für euch bin. Sobald aber mein Wert verfällt …“
Sie sprach nicht weiter, sondern verzog nur ihr Gesicht und stellte sich wahrscheinlich bildlich vor, wie ihr von einem Vampir gewaltsam das letzte bisschen Blut aus den Adern gesogen wurde.
„Ich gebe zu, du bist eine große Verführung, Eve Hamilton.“ Alec beobachtete amüsiert, wie ihr bei diesen Worten unweigerlich ein Schauer über den Rücken lief. „Dein rauschendes Blut, dein pochendes Herz, der Geruch von Angst und Unsicherheit – ein junger Vampir hätte schon längst seinen Verstand verloren und sich auf dich gestürzt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber wir sind da etwas anders, weißt du? Ich habe schon Tausend Frauen wie dich getroffen und mir fallen auf die Schnelle unzählige ein, die anregender sind als du, zumal du immer noch entsetzlich nach Asche stinkst, so leid mir das auch tut.“
Eve wirkte wenig begeistert, auch wenn sie eigentlich froh darüber hätte sein sollen, dass sie beileibe nicht solch eine Verlockung für ihn war, wie sie vielleicht befürchtet hatte.
„Wie geht es jetzt weiter?“, hakte sie schließlich nach, ihren Ärger hinunterschluckend. „Wollt ihr mich als Köder für Seth benutzen?“
Man sah ihr deutlich an, dass sie nicht begriff, weswegen sie für diesen Pyromanen in irgendeiner Weise interessant sein könnte, ihr aber gleichzeitig keine andere Erklärung einfiel.
„Als erstes werden wir umziehen“, informierte Alec sie mit einem Grinsen. „Necroma hat eine superschöne Ruine aufgetrieben, wo wir uns alle reinquetschen und wahrscheinlich darauf warten können, dass irgendwelche Geister auftauchen. Sie sucht sich gerne Immobilien aus, in denen es ordentlich spukt.“
Amüsiert beobachtete er, wie sie ein wenig blasser wurde, was wahrscheinlich weniger an der Aussicht, es sich in einem Geisterhaus gemütlich machen zu müssen, als vielmehr an der bevorstehenden Begegnung mit Necroma lag.
Eine Weile schwiegen sie daraufhin, während Eve den Kaffeeautomaten begutachtete und abzuwägen schien, ob sie nach einer Tasse fragen sollte. Alec ließ sie noch eine Weile zappeln und wartete, ob sie den Mut dafür aufbrachte, seufzte aber schließlich und schob ihr einen Becher rüber, als sie immer noch keine Anstalten gemacht hatte, ihren Mund zu öffnen. Einen Augenblick zögerte sie, vermutlich in einem aberwitzigen Anfall von Stolz, aber letztlich siegte ihr Verlangen und sie nippte vorsichtig am heißen Kaffee.
„Wusstest du, dass du meine Ururgroßmutter getroffen hast?“, lenkte sie das Thema plötzlich in eine ganz andere Richtung.
Alec war zunächst überrascht, dass sie tatsächlich über so etwas Privates reden wollte, entschied dann jedoch, dass es sich bisher relativ harmlos anhörte. Solange sie nicht anfing, wieder zu tief in seiner Vergangenheit zu bohren wie am Abend zuvor, war alles in Ordnung.
„Ach wirklich?“, meinte er belustigt. „Habe ich sie getötet?“
Eve war angesichts der Frage zuerst verwirrt. „Was? Nein, nicht dass ich wüsste.“ Sie räusperte sich kurz. „Sie war damals Jägerin, hier in London. Sie hat dich getroffen, als dieser Dämon in der Stadt war.“
Selbstredend erinnerte sich Alec noch sehr gut an diese Ereignisse. Es war ausgesprochen selten, dass man mit Dämonen in engen Kontakt kam und er hatte keine einzige Sekunde davon vergessen.
„Mary Hopkins, darf ich annehmen?“, erkundigte sich Alec mit einem Grinsen. In der Tat erkannte man durchaus etwas von Mary in Eve. Sie war ebenfalls furchtlos und vorwitzig gewesen und hatte sich von einem Sa’onti wie ihm verhältnismäßig wenig einschüchtern lassen. „Sie war wirklich entzückend. Fast schon schade, dass ich mit ihr nicht so eng zusammengearbeitet habe wie mit dir. Ich hätte meine pure Freude daran gehabt.“
Eve runzelte ihre Stirn und schien augenscheinlich nicht genau zu wissen, wie sie diese Aussage einschätzen sollte.
„Ich glaube, sie wäre ziemlich stolz auf dich, würde sie noch leben“, fuhr Alec derweil ungerührt fort. „Sie war dir durchaus ähnlich. Stur, vorlaut, unerschrocken. Und sie war ein ziemliches Miststück.“
Eve hob ihren Blick und musterte ihn argwöhnisch. „Trifft dieser Miststück-Part auch auf mich zu?“
Alec zuckte mit den Schultern. „So gut kenne ich dich ja noch nicht. Aber ehrlich gesagt hatte ich inzwischen schon mehr als einmal das Bedürfnis, dir die Gedärme herauszureißen, von daher liegst du gut im Rennen.“
Eve erwiderte nichts, offenbar nicht gewillt, durch irgendeinen herablassenden Kommentar Alecs Aussage zu bestätigen. Stattdessen trat sie unruhig von einem Fuß auf den anderen, in ihrem Kopf vermutlich unzählige Gedanken, angefangen von „Greif dir einfach ein Messer und ramm es ihm in die Halsschlagader!“ bis hin zu „Ich kann es echt nicht fassen, dass ich mich hier mit einem uralten Vampir über meine Vorfahren unterhalte!“
„Du bist in deinem Leben bestimmt schon vielen Menschen begegnet“, meinte Eve schließlich, der das Schweigen zwischen ihnen offenbar unangenehm geworden war.
Alec grinste schief. „Was willst du hören? Dass ich mit Attila zusammen gebrandschatzt und Stalin zu meinen besten Freunden gezählt habe?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Ja, ich bin schon vielen begegnet. Einige wirst du vom Namen her wahrscheinlich kennen, aber die meisten werden dir nichts sagen.“
Eve kaute auf ihrer Unterlippe herum und schien es dabei bewenden lassen zu wollen, doch Alec merkte, dass es sie tatsächlich interessierte. Wahrscheinlich hatte sie in zahllosen Quellen gelesen, wie er in Kontakt mit Königen und Päpsten gekommen war, und fragte sich, inwieweit dies alles der Wahrheit entsprach.
„Ich kenne Spartacus‘ wahren Namen, falls es dich interessiert“, meinte Alec grinsend. „Ich habe mir einige der Weltwunder angesehen und bedauere es immer noch, dass sie heutzutage verlorengegangen sind. Ich habe Imperien aufsteigen und wieder fallen sehen. Ich war damals in Gallien, als die ersten Gerüchte über einen Mann aus dem Osten aufkamen, den man gekreuzigt hatte und der kurz darauf wieder auferstanden war.
Ich habe Männer und Frauen getroffen, die mich – trotzdem des offensichtlichen Makels, dass sie nur Menschen gewesen waren – durchaus beeindruckt haben. Leonardo Da Vinci war da beispielsweise ein ganz besonderer Fall. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können und ehrlich gesagt habe ich das auch des Öfteren getan. Anne Boleyn [1] zählte mich zu ihren engsten Freunden, da sie es sehr zu schätzen wusste, dass sie mir alles anvertrauen konnte, ohne zu befürchten, wegen Hochverrats geköpft zu werden. Und zu deiner Information, ich bin nicht daran schuld, dass es dann letztlich doch so gekommen ist.
Oh, und dann war da noch Octavius, der spätere römische Kaiser Augustus [2]. Nicht umsonst wird seine Regierungszeit als die „goldenen Jahre“ angesehen. Und ich erinnere mich noch an das eine Mal, als er mir ins Ohr geflüstert hat, dass er mich reiten wollte wie ein Krieger den Hengst.“
Eve, die zuvor an ihrem Kaffee genippt hatte, verschluckte sich bei diesen Worten und hustete daraufhin derart lautstark, dass sie selbst Oscar hätte aufwecken können. Alec konnte derweil angesichts ihres Gesichtsausdrucks nur lachen.
„Er ... er hat wirklich ...?“, brachte sie schließlich irgendwann japsend hervor.
Alec zuckte mit den Schultern. „Es waren damals andere Zeiten, man hat nur selten ein Blatt vor den Mund genommen. Er wollte mich und das hat dann einfach ganz deutlich gesagt. Allerdings erzähle ich dir lieber nicht, wie es weiterging, ansonsten erstickst du mir hier noch.“
Sie sah einen Moment tatsächlich so aus, als wäre ihr dies absolut wert, nur um jedes schmutzige Detail zu erfahren, doch noch bevor sie ihren Mund öffnen konnte, wurde Alecs Aufmerksamkeit unvermittelt von etwas anderem beansprucht.
Erst war es nur ein Kribbeln auf der Haut, fast wie ein kalter Schauer, dann jedoch spürte er ganz eindeutig, dass irgendwas nicht stimmte. Ein Geruch stieg ihm in die Nase, wie er ihn noch nie zuvor wahrgenommen hatte, während seine Sinne geradezu übernatürlich laut Alarm schrillten.
„Was ist los?“, fragte Eve verwirrt nach.
Alec antwortete hierauf nicht, sein Blick war voll und ganz auf eine Ecke in der Küche gerichtet, die vor einer Sekunden noch völlig normal gewesen und nun wie von Geisterhand in einen eigenartigen Nebel eingehüllt war. Dem Vampir stellten sich die Nackenhärchen auf, als er dieses seltsame Phänomen betrachtete. Wie eine Säule reichte der gräuliche Nebel vom Boden bis zur Decke und schien etwas zu verbergen, das sich in seinem Inneren befand. Zumindest glaubte Alec kurz, darin einen verschwommenen Schatten erkannt zu haben.
Eve hatte den merkwürdigen Nebel inzwischen auch längst bemerkt. Unsicher wich sie einige Schritte zurück und fragte zögerlich: „Ähm … ist das normal?“
Alec konnte auf diese Frage nur den Kopf schütteln. Mitten in einer Küche war ihm solch eine Wettererscheinung bisher noch nie begegnet.
Kurz schoss ihm Necroma und ihre manchmal eigenartige Spielchen durch den Kopf, aber er entsann sich nicht, dass sie etwas ähnliches bereits irgendwann einmal durchgezogen hätte. Er wusste einfach tief in seinem Inneren, dass es nicht mit Necroma zu tun haben könnte.
Aber was war es dann?
Schließlich trat die Gestalt, die Alec zuvor noch schemenhaft gesehen hatte, aus dem Nebel hervor. Es war scheinbar junge Frau mit langen, lockigen Haaren, aber abgesehen davon war sich der Vampir nicht wirklich sicher, was sie eigentlich darstellen sollte. Ihre leeren Augen starrten sie beide ausdruckslos an und ihre Haare und ihr Kleid flatterten, als stünde sie in einem Sturm. Ihr ganzes Erscheinungsbild war genauso grau und undurchsichtig wie der Nebel hinter ihr. Mal war ihre Gestalt bestens zu erkennen, dann wirkte sie fast wie unsichtbar.
Ohne dass Alec es hätte verhindern können, wich auch er unbewusst vor diesem seltsamen Wesen zurück.
„Ist das … ein Geist?“, fragte Eve, deren Hand auf der Waffe in ihrem Holster ruhte, als könnte sie tatsächlich damit irgendetwas gegen diese Gestalt ausrichten.
Alec vermochte nur ahnungslos mit den Schultern zu zucken. Er hatte schon den ein oder anderen Geist gesehen – meist ruhelose Seelen, denen überhaupt nicht klar gewesen war, wo sie sich eigentlich befanden –, aber in der Nähe dieses speziellen Wesens fühlte er sich ausgesprochen eigenartig. Es erinnerte ihn ein wenig an die Begegnung mit Seth und seinem Feuer, auch wenn es bei weitem nicht so intensiv war.
„Hat Seth dich geschickt?“, fragte Alec, während er seine Hände zu Fäusten verkrampfte. Eine Verbindung zwischen diesem merkwürdigen Geist und dem Feuerteufel schien auf jeden Fall zu bestehen, das spürte der Vampir sofort..
Die Geisterdame legte ihren Kopf schief und starrte ihn mit ihren weißen Augen einfach nur an. Dann aber öffnete sie den Mund und sagte: „Wir müssen uns unterhalten.“
Ihre Stimme war sogar noch seltsamer als ihr ganzes Erscheinungsbild. Es klang, als würden unzählige Stimmen gleichzeitig sprechen, manche ein wenig zeitverzögerter als andere. Für das empfindliche Gehör eines Vampirs war diese Erfahrung ausgesprochen unangenehm und Alec musste sich sehr beherrschen, sich nicht die Hände auf die Ohren zu pressen.
„Und worüber?“, wollte er wissen, das Dröhnen in seinem Kopf vorerst ignorierend.
„Über den, den ihr den Feuerteufel nennt.“ Nun war die Stimme einer Frau deutlich von den anderen zu unterscheiden, beinahe, als hätte sie die Führung übernommen. „Ich glaube, wir haben in ihm einen gemeinsamen Feind.“