Vergangene Zeit
Wie spät war es?
Sieben Uhr? Nein, ich hörte das Kratzen der Harken nicht, die das Laub auf der Straße sorgsam zusammenkehrten. Mittag? War es zwölf Uhr? Vielleicht, wenn die Kirchenglocke einen Fehler gehabt hätte. Es war still gewesen. Das sonst so laute Dröhnen, welches den halben Ort um den Verstand brachte, war die letzten Minuten und Stunden still gewesen. Achtzehn Uhr? Nein, das abendliche Rot, welches sonst von den Fenstern der Schule gegenüber von meinem Zimmer in meine Augen reflektiert wurde, sodass ich mich jeden Abend bei klarem Himmel hatte abwenden müssen, fehlte.
Es war hell.
Wahrscheinlich war es Nacht und meine Deckenlampe hatte mir den Anschein gegeben, dass es Tag gewesen war. Sowohl die Uhr- als auch Tageszeit hätte ich leicht bestimmen können. Ich hörte das Ticken über mir. Meine treue, wenn auch billige, Wanduhr verrichtete ihren Dienst. Wie ein Soldat der britischen Königin ließ sie sich von nichts beeinflussen oder stören. Nur einen Blick, dann würde ich wissen, welchen Tag nach Christus wir schrieben und wie spät es war.
Doch ich wollte nicht. Ich musste konzentriert bleiben. Ich fuhr mit meinen Fingern durch meine Haare. Sie waren ungepflegt und ich merkte, wie etwas Öliges meine Finger benetzte. Wann hatte ich das letzte Mal meine Haare gewaschen? Vor einem Tag? Nein, dazu waren sie zu fettig. Vor einer halben Woche? Vielleicht, doch das fehlende Kribbeln an meinem Kinn verriet mir, dass auch diese Schätzung falsch war. Ich rasierte mich immer nach dem Haarwaschen und das geschah immer dann, wenn meine Barthaare so lang geworden waren, dass mein Gesicht anfing zu jucken. Doch anders als bei der Tageszeit und dem heutigen Datum konnte ich diese Frage lösen. Ich strich über meinen Bart. Ich war erstaunt, welch weiches Gefühl mein sonst so hartes Kinn in meinen Fingerspitzen auslöste. Nach der Länge der Haare mussten gut zwei Wochen vergangen sein.
Ich erinnerte mich. Damit ich nicht verdurste, habe ich sie in die Küche gestellt. Ohne den Blick abzuwenden, konnte ich sie beobachten und dabei Wasser aus meinem alten Hahn in ein Glas fließen lassen. Sie! Fast hätte ich sie tatsächlich vergessen. Das, was von ihr in meiner Welt geblieben war.
Die Blumen, welche ich für sie an jenem Tag gekauft hatte, der einer der schönsten meines Lebens hätte sein können. Im Frühling war es erwacht. Dieses Gefühl endlich die Seele getroffen zu haben, welche meinen armen Verstand würde erretten können. So viele Jahre waren in Einsamkeit vergangen. Jeder Mensch, den ich kannte, hatte sie gefunden. Die Frau an seiner Seite, aber ich war vergessen worden. Doch dieses Jahr war alles anders. Sie war in mein Leben getreten. Im Sommer reiften unsere Gefühle. Wie eine Frucht wurden sie mit der Zeit immer größer, immer süßer und immer schöner, bis sie im Herbst gepflückt werden konnten. Es war eine der kürzesten Fragen der Welt gewesen und sie hatte mit der kürzesten Antwort der Welt geantwortet: „Ja.“ Ich hatte sie gefunden, meine Frau fürs Leben.
Ich erinnere mich. Sie sollte wissen, was ich empfinde und da meine Worte schon immer etwas plump gewesen waren, sollten Blumen für mich sprechen. Es waren die schönsten, die ich finden konnte. Ich hatte sie am Tag vor unserem nächsten Treffen gekauft und noch gepflegt. Alles umsonst. Eine einfache Nachricht. Nichts persönliches, ein Text in schwarz auf weiß. „Ich bin nicht die Frau, die du in mir siehst. Ich empfinde nichts für dich.“
Wie ein Sturm verwüsteten diese Worte die Felder, die ich im Frühling besäht, im Sommer gepflegt und im Herbst schon geerntet gesehen hatte. Nichts war geblieben.
Nein, falsch. Sie waren da. Die Blumen, welche ihr Leben in der Freiheit verloren hatten, damit ich ihr hatte zeigen können, wie sehr ich sie liebte. Diese Blumen waren es, die ich seit gut zwei Wochen ununterbrochen angestarrt hatte. Ich hatte Angst. Angst, dass wenn ich sie auch nur eine Sekunde nicht ansah, ich sie verlieren würde. Diese letzte Erinnerung an die Frau meines Lebens. Vorsichtig tastete ich mit meinen Fingern an ihnen. Sie waren verwelkt wie auch die Blätter an den Bäumen, denn es war später Herbst. Mein Daumen strich sanft über die Blüten, doch anstatt mich mit dem Gefühl zu segnen, welches ich erwartete, zerfielen ihre Blätter vor meinen Augen zu einer braunen Masse und rieselten zu Boden.
Nichts war mir geblieben. Ich blickte zu meiner Uhr empor. Der dreiundzwanzigste November einundzwanzig Uhr Abends. Bald wäre er da, der Winter. Er war immer meine liebste Jahreszeit gewesen. Ich hoffte, dass er auch dieses Mal viel Schnee bringen würde. Schnee, der die verwelkten Blumen bedeckte und meine Wunden heilen würde.