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Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever

von

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Kapitel 12 - Fehler im System-Teil 1

Jetzt ist es aus, dachte Alice mit einem seltsamen Gefühl der Leere. Das ist unser Ende.
 

Nachdem er es durch eine kleine Notlüge bezüglich Black Beauty, und mit Ozzys Hilfe, geschafft hatte, den vom Showmaster besessenen Floyd von der Macht des Phantoms zu erlösen, war der General mit einem erschöpften Seuzfen in sich zusammengesunken. Die Hämmer der königlichen Armee, die draußen vor dem Schloss gewartet hatten, mussten diesen Laut aus der Entfernung als Befehl missinterpretiert haben – anders konnte er sich ihr Verhalten jedenfalls nicht erklären –, und nun stampften sie drauf los, ohne Rücksicht auf Verluste dem Anwesen entgegen, während dessen Besitzer, die Königin höchstpersönlich, nicht einmal hier war. Alice hatte gehofft, dass sie nicht ernsthaft vorgehabt hatte, sich von der Klippe zu stürzen, um ihrer verlorenen Liebe, Alicia, in die Tiefe zu folgen. Er hatte gehofft, dass sie es sich noch einmal anders überlegen würde. Oder dass es bloß eine List von ihr war. Sie hätte sich schließlich von ihm verabschiedet, hätte sie vorgehabt, für immer zu gehen. Sie wäre nicht einfach an ihm vorbeigelaufen... oder?
 

Wo auch immer sie jetzt war – es war völlig egal. Sie würden das hier ohnehin nicht überleben. Die Erde erzitterte unter ihnen, die Armee rückte näher und näher, und in der nächsten Sekunde hatten sie bereits einen Teil des Eingangsbereiches eingerissen. Es ging viel zu schnell, um sie noch in irgendeiner Weise aufhalten zu können. Ein letztes Mal ließ Alice seinen Blick durch den Saal schweifen, blieb dabei an dem weißen Kaninchen hängen, das ihn merkwürdig intensiv ansah, nur einen winzigen Moment lang, dann wurde es plötzlich ruhig. Kein Geräusch war mehr zu vernehmen, keine einzige Bewegung – kein gar nichts.
 

„... Dass es so kurz und schmerzlos werden würde, hätte ich nicht erwartet“, murmelte er, als er sich langsam aus seiner geduckten Position erhob. Alles um ihn herum war schlagartig... stehengeblieben? „Warum kommt es mir nur so vor, als hätte ich eine solche Situation genauso schon mal erlebt?“
 

„Wir haben keine Zeit für Selbstgespräche! Beeilung, Agnes! Komm hierher!“
 

Das weiße Kaninchen. Natürlich. Den Tag, an dem es ihn mit seinem richtigen Namen ansprach, würde er im Kalender rot einkreisen. Falls so etwas wie ein Kalender hier überhaupt existierte.
 

„Hasi...!“, rief er, während er auf den Freak mit den langen Öhrchen zutrat und nebenbei interessiert all die erstarrten Gesichter beäugte. Selbst die Hämmer, die gerade im Begriff gewesen waren, alles und jeden, der ihnen im Weg stand, zu zerquetschen, waren mitten in ihrer Aktion versteinert – als wären sie Teil einer ziemlich morbiden Momentaufnahme. „Was ist passiert? Sind wir im Limbus gelandet?“
 

„Habe die Zeit angehalten!“, erklärte das Kaninchen hastig und deutete auf die Uhr in seiner Westentasche. „Habe dir dabei in die Augen gesehen, was bedeutet, dass du als Einziger mit mir hier bist. Und jetzt schnell! Wir müssen die Armee aufhalten!“
 

„Die Zeit angehalten?“, wiederholte er nachdenklich, als ihm auf einmal wieder einfiel, wann und wo er ein solches Szenario schon einmal erlebt hatte. „Ach so! Dann-“
 

„Nichts 'Dann'...! Konzentration! Die Zeitstarre hält nur zwei Minuten lang an, und eine davon ist schon fast um!!“, unterbrach Hasi ihn schroff und wippte ungeduldig von einem Bein aufs andere.
 

„Nur zwei Minuten?! Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Was soll ich tun?“, erwiderte Alice nun nicht weniger hektisch – immerhin ging es um Leben und Tod! – und beschloss, den Anderen später danach zu fragen, ob es sich bei der Kaninchenfrau, aus deren Griff er sich eben nur mühevoll hatte befreien können, um Angie handelte.
 

„Hilf mir, die Armee zu stoppen!“, antwortete Hasi, wandte sich einem der Werkzeuge bereits selbst zu und begann, sich mit aller Kraft dagegen zu stemmen. „Ich kann... diese Fähigkeit nur einmal täglich einsetzen... nngh! Es hängt jetzt also alles von uns beiden ab! Mach schnell!!“
 

„Ach du großer Mist... okay“, seufzte er, leistete dem Kaninchen Gesellschaft und tat es ihm gleich, mit einer gewissen Zufriedenheit dabei zusehend, wie der gigantische Hammer durch ihre Zusammenarbeit laut krachend nach hinten umkippte. „Super. Zu zweit schaffen das sogar Typen wie wir.“
 

Einen Augenblick nur starrte Hasi unheimlich fasziniert den am Boden liegenden Riesenhammer an, dann drehte er sich um.
 

„Keine Zeit, keine Zeit!“, keuchte er, während er sich voller Tatendrang dem Nächsten widmete. Alice half ihm so gut er konnte, einen nach dem anderen so schnell es nur irgendwie möglich war umzuwerfen und keines der schweren Mordinstrumente versehentlich in die falsche Richtung fallen zu lassen – und das war gar nicht so einfach, denn sie schwankten manchmal bedrohlich nahe an den anderen Freaks vorbei, die wie eine Reihe Statuen am Rand standen und von ihren Heldentaten nicht einmal etwas mitbekamen.
 

„Wie viel Zeit haben wir noch?“, fragte er ein wenig außer Atem, während er ein weiteres Element der Armee umstieß. Viele waren es nicht mehr. Trotzdem würde es ganz schön knapp werden...
 

„Nicht genug, um auf die Uhr zu schauen“, gab Hasi angestrengt zurück, rannte zum nächsten Hammer, der etwas weiter hinten stand, und warf sich beinahe gegen ihn, ohne darauf zu achten, ob er überhaupt richtig zielte. Sie konnten von Glück sagen, dass sich dort ohnehin so gut wie niemand befand und es noch einmal glatt gegangen war. Drei waren noch übrig, und tatsächlich schafften sie es in allerletzter Sekunde mit der Macht ihres starken Willens – und wahrscheinlich reichlich Adrenalin –, die Hämmer aufzuhalten. Die anderen waren bereits wieder aus ihrer Starre erwacht, als das letzte der Werkzeuge wie in Zeitlupe zu Boden fiel.
 

„... Geschafft“, flüsterte Alice, noch immer in dem Versuch zu realisieren, was er da gerade eigentlich getan hatte, und lächelte dann Hasi zu, der anscheinend schon wieder damit beschäftigt war, die Frau mit den flauschigen Öhrchen zu fixieren. „Tja... Was soll ich sagen...?“
 

„Am besten gar nichts“, erwiderte dieser mürrisch. „Keine Ursache!“
 

„Tse... Launisches Häschen.“
 

Das erschrockene Kreischen ihrer Mitmenschen riss Alice aus seinen Gedanken und beförderte ihn zurück ins eigentliche Geschehen. Offenbar waren sie nun wieder vollständig zu sich gekommen und – hoffentlich – auch aus dem beängstigenden Zustand der Trance erwacht, in den sie mehr und mehr verfallen waren, als der Showmaster, getarnt als Floyd, seine schreckliche Rede gehalten hatte, mit der er es zu seinem Entsetzen kurzzeitig bewerkstelligt hatte, fast die gesamte Bevölkerung des Wunderlandes gegen Marilyn aufzubringen. Nun lag er, offensichtlich zerknirscht und verwirrt über die unerwartete Wendung der Geschehnisse, ein paar Meter von ihm entfernt in der Nähe der großen Standuhr und bemühte sich, sich möglichst würdevoll wieder aufzurichten. Floyd hingegen kniete nicht weit von ihm auf dem Boden und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen. Sein Blick war apathisch in die Leere gerichtet; er schien nicht ansprechbar.
 

„Alles in Ordnung...?“, fragte Alice, während er auf ihn zuschritt, nun doch etwas besorgt, obwohl der General ihm bisher nicht unbedingt einen Grund dazu gegeben hatte, ihn sonderlich zu mögen. Aber jetzt, da er bloß schweigend und mit niedergeschlagener Miene zu ihm aufsah, hatte er nichts mehr von dem so grimmigen Eisklotz an sich, den er sonst immer verkörperte. „Kommen Sie schon... Wollen Sie nicht aufstehen und sich... um ihre Armee kümmern, die besiegt dahinten rumliegt?“
 

„Niemand wird sich jetzt um irgendwen kümmern!“, grollte eine wütende Stimme, bevor Floyd selbst hätte reagieren können. Das Phantom. Es wirkte geschwächt – und das schien es nicht auf sich sitzen lassen zu können. „Was glaubt ihr, wer ihr seid, mich hinters Licht führen zu wollen? Naive Würmer! Denkt ihr wirklich, ich würde mich so leicht geschlagen geben?!“
 

„Wer... Wer ist dieser Kerl?“, vernahm Alice eine weitere Stimme, die ganz zu seiner Überraschung einer der Frauen hinter ihm zu gehören schien... und mit einem Mal so gar nicht mehr nach dem Gefauche einer untoten Raubkatze klang. Viel eher klang es nach der müden und ängstlichen Frage von jemandem, der einen sehr langen Schlaf hinter sich hatte und unmittelbar darauf mit etwas unsagbar Fürchterlichem konfrontiert wurde.
 

„Ich habe keine Ahnung...!“, antwortete eine andere ebenso verstört. „Was... machen wir hier überhaupt?“
 

Konnte es tatsächlich sein, dass sie genauso zu den Opfern des Showmasters gehörten wie Marilyn und er und all die anderen? Dass sie bis eben unter seiner Kontrolle gestanden hatten und nur deshalb jetzt zur Vernunft kamen, weil er, der sie in der Hand hatte, aus der Fassung geraten war?
 

„Passt auf! Dieser Kerl hat euch irgendeiner Art... Gehirnwäsche unterzogen!“, rief Alice den aufgewühlten Frauen zu, die ihn allesamt mit demselben verständnislosen Blick musterten, ehe sie den Saal flüchtig mit den Augen nach irgendjemandem abzusuchen schienen – vermutlich nach Marilyn. „Die Königin ist... nicht mehr da! Er hat sie von hier vertrieben und versucht, uns gegeneinander aufzuhetzen! Ihr dürft ihm nicht vertrauen, egal, was er sagt!“
 

Unterbrochen von einem tiefen Gelächter richtete Alice seine Aufmerksamkeit wieder auf das Phantom, als die Halle mit zunehmender Geschwindigkeit von einer alles verschlingenden Dunkelheit erfüllt wurde. Keine gewöhnliche Dunkelheit, wie die der Nacht – sondern eine pechschwarze abscheuliche Dunkelheit, die kein bisschen Platz für einen Funken Licht ließ, und sich ausbreitete, als wolle sie jeden von ihnen langsam und qualvoll in sich aufsaugen. Es war ein beklemmendes Gefühl.
 

„Haha... Habt ihr das gehört? Ihr dürft mir nicht vertrauen, sagt er“, lachte das Phantom, das als Einziger in diesem Raum nicht komplett von der Schwärze bedeckt worden war, und streckte seine Arme in die Luft, nur um sie danach mit einer schwungvollen Bewegung wieder zu senken und auf halber Höhe vor sich ruhen zu lassen. Im selben Moment schrien sie alle – nur ihn selbst und das Gespenst ausgenommen – entgeistert auf. „Hört auf ihn, er hat Recht! Mir zu vertrauen ist ein Fehler, den man üblicherweise nur einmal begeht!“
 

Eine unheilvolle Stille hatte sich auf einen Schlag in den Saal gelegt, nur selten durchbrochen von vereinzeltem Wimmern und undeutlichen Wortfetzen, die von Marilyns Untergebenen rührten und meist nach kurzer Zeit wieder in der Finsternis untergingen. Ganz schwach konnte er ihre Silhouetten erkennen. Sie schienen nicht mehr bei Sinnen zu sein; ihre Bewegungen waren so konfus, als würden sie vor Dingen zurückweichen, die überhaupt nicht da waren.
 

„Herrlich...!“, kicherte das Phantom amüsiert, während es seine persönlichen Schachfiguren eingehend betrachtete. „Ist es nicht herrlich, wie leicht diese Narren sich täuschen lassen? Alles, was sie jetzt noch sehen, sind ihre schlimmsten Albträume und Befürchtungen, die für sie scheinbar gerade tragische Realität werden. Wie bedauerlich, dass sie dumm genug sind, darauf hereinzufallen.“
 

„Was sind Sie eigentlich für ein Unmensch? Sich derartig an dem Leiden anderer zu erfreuen... Wie auch immer Sie das anstellen, hören Sie sofort auf damit!“
 

„Alice... mein Junge... Wird es dir nicht langsam langweilig, den immer rechtschaffenen Helden zu spielen?“, fragte der Showmaster, trat näher an ihn heran und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Schau mal... Diese erbärmlichen, kleinen Menschen, die du so heroisch zu verteidigen versuchst, sind die Mühe doch gar nicht wert. Jeder hält sich für etwas Besonderes, und doch tun sie ihr Leben lang nichts anderes als darum zu kämpfen, ihren festen Platz unter der Herrschaft ihrer Königin zu behalten und ihr die Stiefel zu küssen. Sie sind alle gleich. Denkst du nicht, dass du zu Besserem berufen bist? Probiere es doch einmal aus... Sieh dir ihre lächerlichen Albträume an und überzeuge dich selbst!“
 

„Ich will das aber nicht sehen! Ihre Albträume... Das ist ihre Privatsache und geht mich gar nichts an!“, gab er entschieden zur Antwort. Der Showmaster lächelte bloß.
 

„Bist du dir da sicher? Möchtest du als Held nicht die Ängste derer, die du zu beschützen versuchst, kennen? Sie dir mit eigenen Augen ansehen? Sie sind zum Schießen, das verspreche ich dir! Dieser Hofnarr zum Beispiel, der sich davor fürchtet, niemand würde mehr über seine Witze lachen... Jetzt lassen sie ihn alleine, weil er nicht mehr gebraucht wird, und selbst die zarten Blumen um ihn herum verwelken. Welch ein Trauerspiel... Und das weiße Kaninchen erst! Sieh selbst, Alice!“
 

Plötzlich war das Kaninchen von einem hellen Leuchten umgeben, fast so, als würde es von einem Scheinwerfer angestrahlt werden, der unsichtbar irgendwo an der Decke hing.
 

Es rannte. Es rannte mit verzweifelter Miene auf ein Licht zu, das sich in der Ferne von der Dunkelheit abhob, aber kam nicht von der Stelle, entfernte sich sogar mit jedem Schritt, den es geradeaus machte, von dem Licht anstatt sich ihm zu nähern. Als es schließlich anhielt, vollkommen aus der Puste und sichtlich nervös, konnte Alice nicht länger untätig herumstehen und lief zu ihm hin.
 

„Es ist nur eine Illusion! Da ist kein Licht, das du erreichen musst!“, sagte er, doch das Kaninchen beachtete ihn nicht.
 

„Zu spät“, murmelte es, sank zu Boden und scherte sich scheinbar nicht einmal darum, als die goldene Uhr aus seiner Tasche fiel und klirrend zerbrach. „Viel zu spät... Viel zu spät!“
 

Alice glaubte fast zu spüren, wie Hasis Nervosität auf ihn überging, als er sah, wie erst links und rechts von ihnen und anschließend auch über ihren Köpfen unzählige Uhren erschienen. Uhren in allen Formen, Farben und Größen, und sie alle tickten, laut und unterschiedlich schnell. Sie waren überall; und dann, wie auf Befehl, verstummte das Ticken und sie begannen zu klingeln, gleichzeitig, schrill, ehe sie zu einer wabernden Masse zerflossen und ineinander verliefen, ohne ihr grelles Klingeln zu unterbrechen, das wie ein unerträgliches Echo aus allen Richtungen widerhallte. Es war, als wäre er in einem surrealen Gemälde gefangen, und er kam sich verlogen dabei vor, in einem fremden Traum herumzulaufen, als wäre es sein eigener. Er wollte weg von hier und den Wahnsinn beenden, rannte jedoch stattdessen von Hasis Albtraum gleich in den nächsten. In den des Weißen Ritters.
 

„Dieser Idiot...!“, murmelte dieser, irgendetwas zwischen resigniert, verärgert und zutiefst beleidigt, während er nach vorne blickte, wo, wie aus dem Nichts entstanden, der Schwarze Ritter zu sehen war – umgeben von Wache Nummer Eins, Wache Nummer Zwei und der Herzkönigin – und mit einem herablassenden Gesichtsausdruck zu ihm herüberschaute. „Dieser vermaledeite Idiot...! Wie ich ihn hasse!!“
 

Die Königin schien ihn zu loben; zumindest war es das, was Alice annahm, als er die vier dort vorne beobachtete. Sie lächelte. Ein ehrliches Lächeln, das er bisher eher selten bei ihr gesehen hatte, wenn es jemand anderem galt als ihm selbst. Die beiden Wachen blickten ihm bewundernd hinterher, als er an Alice vorbei auf seinen Rivalen zuschritt und diesen abschätzig musterte.
 

„Na, wie geht es unserem kleinen Jammerlappen denn so? Jetzt, wo er einsehen muss, dass er endgültig verloren hat?“, erkundigte sich Ozzy in einem ungewohnt arroganten Tonfall, warf einen kurzen Blick nach hinten zu Marilyn und wandte sich dann wieder dem anderen Ritter zu. „Ihre Majestät hat mir gerade verraten, dass sie eine Entscheidung getroffen hat. Sie will Euch hier nicht mehr sehen. Denn sie hat erkannt, dass ich eindeutig der Bessere von uns beiden bin und Ihr es nicht länger würdig seid, ihr noch unter die Augen zu treten.“
 

„Das ist nicht fair...!“, erwiderte der Weiße Ritter niedergeschlagen und fassungslos. „Ich habe nichts falsch gemacht! Was bitte soll der Grund für diese Entscheidung sein?!“
 

Ozzy grinste triumphierend.
 

„Tja, wisst Ihr... Der Grund ist der, dass ich ihrer Hoheit jeden Wunsch von den Lippen ablese – und damit meine ich wirklich jeden –, und Ihr nicht einmal Manns genug seid, Euch ihr auf mehr als zwei Meter zu nähern. Einen solch ängstlichen Ritter wie Euch kann einfach niemand gebrauchen! Ihr solltet Euch einen anderen Job suchen. Vielleicht hat die Königin ja Gnade und lässt Euch hier bleiben, wenn Ihr Wache Nummer Zwei dabei helft, die Zimmer des Schlosses immer ordentlich zu putzen.“
 

Mit diesen Worten verschwand der Schwarze Ritter und ließ seinen Rivalen alleine dastehen, der einen Moment lang stillschweigend den Boden fixierte, bevor er ihm etwas hinterherrief: „Es war schon immer egal, wie sehr ich mich angestrengt habe, nicht wahr? Weil die Königin Euch nämlich von Anfang an bevorzugt hat und Ihr mich nie als echten Gegner ansehen konntet... Aber irgendwann... irgendwann werde ich es Euch zeigen!“
 

Dann wurde er von der Finsternis verschluckt. Gerne hätte er ihm klargemacht, wie absurd und unbegründet seine Ängste eigentlich waren, doch was hätte es genützt? Der Weiße Ritter hatte ihn genauso wenig beachtet wie zuvor das weiße Kaninchen. Sie schienen ihn weder sehen noch hören zu können, weil sie außer ihren Halluzinationen vermutlich nichts wahrnahmen. Alice versuchte, sich in der unnatürlichen Schwärze, die den Saal umhüllte, zu orientieren, musste jedoch schnell feststellen, dass es keinen Sinn hatte. Es gab keinen Ausweg. Die einzige Lichtquelle, die er in dieser endlosen Dunkelheit ausmachen konnte, war der leuchtende Schein, der jedes Mal einen neuen Albtraum einleitete und sich nun um den Schwarzen Ritter gelegt hatte.
 

Alice hatte bereits geahnt, was ihn in Ozzys Traum erwarten würde, und er sah sich in seiner Annahme bestätigt, als er den Ritter trauernd hinter einem Strauch im Gras kniend vorfand. Neben ihm lag Black Beauty. Sie rührte sich nicht. Wahrscheinlich hatte seine Sorge um das Tier sich so weit gesteigert, dass sie innerhalb der letzten Minuten zu seiner allerschlimmsten Befürchtung herangewachsen war und sich nun, in der vom Showmaster herbeigerufenen Welt der Illusionen, frei entfalten und greifbar werden konnte. Das Grausamste daran war nicht einmal, dass er selbst mit ziemlicher Sicherheit verantwortlich für diesen Albtraum war. Sondern vielmehr, dass er nichts dagegen tun konnte, nichts, als zuzusehen, wie jeder von ihnen mit seinem persönlichsten Schrecken in Berührung kam, gegen den er sich nicht zu wehren vermochte. Auch bei Wachmann Nummer Eins, der nirgendwo hingehen konnte, ohne auf Schritt und Tritt von einem unheimlichen Schatten verfolgt zu werden, und bei der Raupe, deren heimischer Bereich in Flammen stand und langsam niederbrannte, während sie machtlos daneben kauerte, war jegliche Mühe umsonst.
 

Der Nächste, der von dem unsichtbaren Scheinwerfer ins Rampenlicht gerückt wurde, war General Floyd. Eigentlich hatte er heute bereits lange genug unfreiwillig im Mittelpunkt gestanden, dachte Alice, als er bemerkte, dass der General irgendwie anders aussah als sonst. Nicht nur, dass er seine Uniform plötzlich nicht mehr trug... Er wirkte auch um einiges schmächtiger als zuvor. Außerdem schien er etwas in seinen Armen zu halten. Alice hielt es zunächst für ein kleines Bündel. Bei näherem Betrachten jedoch stellte es sich als schwarzes Ferkel heraus.
 

„Oooh... Hast du einen Freund gefunden, Floyd?“, kicherte eine hohe Stimme, die er im Augenblick niemandem zuordnen konnte, die aber eindeutig einer Frau gehörte. Wenige Sekunden später stand sie vor ihm, vor ihm und dem General, und ging spöttischen Blickes auf Letzteren zu, um das Tier in seinen Armen genauer begutachten zu können. „Ein Schwein? Na, da hast du dir ja endlich den richtigen Gesprächspartner gesucht, was?“
 

„Sie war... alleine im... Wald. Deshalb... h-habe ich sie aufgenommen. Sie... brauchte Milch“, gab er seltsam schwerfälig zurück und trat zögerlich einen Schritt nach hinten, während er das Tier noch etwas fester an sich drückte. Die Frau fing an, lauthals zu lachen.
 

„Hast du das gehört, Tommy?“, rief sie, über die Schulter blickend an einen jungen Mann gerichtet, der ihr optisch auffallend ähnelte. „Floyd ist jetzt zur Schweinemama geworden!“
 

„Das Kind tut mir jetzt schon leid“, grinste Tommy mit demselben Spott zu ihr herüber. „Was soll er ihm denn beibringen, wo er doch selbst nichts kann...? Armes Schwein.“
 

„Ich b-bringe ihr nichts bei. Ich... füttere sie nur“, verteidigte er sich, allerdings noch immer recht zurückhaltend, und sah dann zu Boden. „Sie ist... ein besonderes Schwein. Sie k-kann nämlich... fliegen.“
 

Tommy und sein weibliches Gegenstück wandten sich prustend einander zu.
 

„Sie kann also fliegen. Was sagt man dazu, Gina?“
 

„Ich würde sagen, wenn sie fliegen kann, dann sollte sie uns das mal vorführen, oder?“, erwiderte die Frau, deren Name offenbar Gina lautete, ehe sie Floyd, der nicht rechtzeitig reagieren konnte, das Ferkel entriss und es demonstrativ in die Luft hielt. „Vielleicht braucht sie eine kleine Hilfestellung, um loszufliegen. Soll ich sie mal hochwerfen?“
 

„G-Gib sie mir z-z-zurück!“, forderte Floyd inzwischen sichtlich aufgebracht. „Sie w-wird dich beißen, wenn... wenn du s-so weitermachst...!“
 

„Jetzt hab' ich aber Angst!“, höhnte Gina und drehte sich überrascht um, als eine weitere Person die Bildfläche betrat. Ein zierliches Mädchen, nicht älter als siebzehn, mit wallendem goldenen Haar. „Hi, Sunny!“, begrüßte sie die Andere, die jedoch nur zwischen ihnen hin und hersah und abfällig die Nase rümpfte.
 

„Ihr sollt Floyd doch nicht ärgern“, sagte das Mädchen – Sunny – schließlich, ohne die beiden, mit denen es sprach, anzuschauen. „Der arme Versager hat es ohnehin schwer genug.“
 

„Er behauptet, seine Sau könne fliegen“, entgegnete Tommy in einem hämischen Tonfall. Sunny warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu, dann beobachtete sie weiterhin Floyd, der vergeblich versuchte, Gina das Ferkel wieder abzunehmen.
 

„Fliegen?“, fragte sie nüchtern. „Schade, dass sie nicht sprechen kann. Dann könnte er noch was von ihr lernen.“
 

„Hey! Was treibt ihr da?“, ertönten plötzlich zwei Stimmen wie aus einem Munde, vor denen Gina sich so zu erschrecken schien, dass sie blitzschnell zurückwich und das Ferkel einfach fallen ließ. Glücklicherweise landete es weich auf seinen Beinen im Gras, ehe es laut grunzend zu Floyd zurücktapste.
 

„Ich hab' nichts gemacht!“, kreischte sie wie automatisch, als die beiden, von denen sie überrascht wurde, näher an die kleine Gruppe herantraten. Es waren...
 

„The Starchild und The Spaceman!“, sagte Alice leise zu sich selbst, als er die Zwei nach einer gefühlten Ewigkeit zum ersten Mal wiedersah – wenn auch nur in einer makaberen Halluzination, die er von außen betrachtete... als würde er durch ein Fenster in die Angelegenheiten anderer hineinschauen, die er eigentlich niemals hätte wissen dürfen.
 

„Das sieht für mich aber ganz anders aus, meine Liebe“, stellte The Starchild mit seiner viel zu freundlichen Wesensart fest, während sein Zwilling, eine Hand in die Hüfte gestemmt und zustimmend nickend, daneben stand. Wie irgendjemand die beiden ernst nehmen konnte, war ihm noch immer ein Rätsel.
 

„Floyd ist schuld!“, brachte Gina trotzig hervor und zeigte schamlos auf ihr Gegenüber. „Er hat mich mit diesem dreckigen Schwein belästigt und mich nicht in Ruhe gelassen, egal, wie oft ich ihm gesagt habe, dass ich unter einer Tierhaar-Allergie leide...!“
 

Mühsam konnte Alice sich ein Lachen verkneifen. Wie hinterhältig konnte man denn bitte sein?
 

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht, oder?“, gab The Spaceman zurück, wenigstens mit so etwas wie einem winzigen Hauch von Strenge – wobei seiner Ansicht nach deutlich mehr davon angebracht gewesen wäre. „Wir sind nicht dumm, Liebes. Wir wissen es, wenn uns jemand anlügt.“
 

„So ist es“, pflichtete The Starchild bei. „Ihr geht lieber wieder auf die dunkle Seite des Spiegels zurück, wo ihr auch hingehört. Und du, Tommy, kannst den Mädchen gleich folgen... husch, husch!“
 

„Husch, husch“, wiederholte Alice flüsternd und sah mit einer gewissen Genugtuung dabei zu, wie die drei endlich Leine zogen – nicht ohne im Gehen ein paar mürrische Blicke auf Floyd zu werfen, der jetzt nur noch mit seinem neuen Haustier und den Zwillingen dastand. Zögerlich sah er die beiden an, fast, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
 

„Ihr... müsst das nicht immer tun“, sagte er und schaute dann weg. „Das ist m-mein eigenes Problem.“
 

„Es ist unsere Aufgabe, das zu tun“, erklärte The Starchild lächelnd. „Wir sind dafür zuständig, die Ordnung zu bewahren und uns um Neuankömmlinge zu kümmern.“
 

„Ich bin aber k-kein Neuankömmling!“, wandte Floyd wütend ein. „Ich bin schon seit... Langem hier... Noch länger als... Tommy und Gina. Und trotzdem... habe ich mich noch nicht... hier zurechtgefunden.“
 

„Es liegt nicht an dir“, sagte The Spaceman ruhig. „Manche brauchen eben länger, und bei anderen geht es schneller. Du bist nicht der Einzige, der sich noch einleben muss. Die Kinder des Wunderlandes werden aus der Fantasie der Menschen dort draußen geboren und müssen erst einmal zu sich selbst finden. Es ist nur natürlich, dass ihr eure Zeit benötigt, um heranzureifen und unsere Welt mit all ihren Facetten verstehen zu lernen.“
 

„Ich glaube... ich werde es nie verstehen“, gab Floyd leise zur Antwort. „Ich... existiere nur, damit die anderen s-sich... über mich lustig machen können...“
 

Verdammt, dachte Alice augenblicklich, als ihm einfiel, mit welchen Worten Ozzy und er den Showmaster aus Floyds Gedanken vertrieben hatten – nicht gerade einfühlsame Worte, wenn er bedachte, wie seine Vergangenheit scheinbar ausgesehen hatte. Trotzdem war es notwendig gewesen. Und er hatte schließlich nicht ahnen können, dass es einmal Zeiten gegeben hatte, in denen der General... Er hatte ihn völlig falsch eingeschätzt.
 

„Nimm es nicht zu schwer. Auch du wirst früher oder später deinen Platz bei uns finden!“, fuhr The Spaceman unbeirrt fort, und sein Bruder fügte aufmunternd hinzu: „Denke immer daran, dass das Königspaar dich genauso achtet wie alle anderen, die hier leben!“
 

Damit verschwanden die Zwillinge und ließen Floyd alleine zurück, ohne ihm jedoch wirklich geholfen zu haben, wie es aussah. Sie hatten ihre Schützlinge fortgeschickt, damit sie ihn in Ruhe ließen, ja. Aber seinen Stolz wiederherzustellen... Das konnten selbst sie nicht innerhalb weniger Minuten bewerkstelligen.
 

Alice konnte sehen, wie der Schauplatz – bisher schien das Geschehen sich in irgendeinem Teil des Schlossgartens abgespielt zu haben – sich auflöste und Stück für Stück zu einer neuen Kulisse formte, zu einer dunklen, aber ebenfalls nicht unbekannten Kulisse. Ein Raum. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, nur schwaches Licht der vermutlich gerade untergehenden Sonne drang durch das Fenster herein.
 

„Das Königspaar“, seufzte Floyd, der in der Mitte des Raumes stand, nun ohne sein Ferkel, und einen Gegenstand fixierte – wahrscheinlich einen Spiegel; es war schwer zu erkennen, denn Alice sah ihn nur von der Seite –, bevor er eine Hand nach diesem ausstreckte und hindurchgriff. Es musste sich um Marilyns Spiegel handeln, wenn dies möglich war. Er befand sich also in seinem Gemach. „Sie haben Unrecht. Das Königspaar... interessiert sich nicht für mich.“
 

Einen Moment lang blickte er zur Seite und ließ von dem Glas ab, dann sah er wieder hinein, lange und intensiv, so als versuche er angestrengt, sich selbst darin zu erkennen.
 

„Vielleicht... stimmt es, was G-Gina und die anderen sagen. Ich bin... selbst schuld. Weil ich einfach n-nicht hierhergehöre. Weder auf die helle... noch auf die dunkle Seite...“
 

Noch immer betrachtete er sich selbst wie ein seltenes Tier, das er zuvor noch nie gesehen hatte, bis der Ausdruck in seinen Augen plötzlich ängstlich wurde und er sich zwei Schritte von dem Spiegel entfernte, als habe er auf einmal etwas Furchteinflößendes darin entdeckt. Alice trat hinter ihn, um zu sehen, was Floyd sah, und musste bei dem Anblick selbst schlucken. Zum einen wegen der abscheulichen Gestalten, die sich in dem Glas spiegelten, obwohl sie nirgends in diesem Raum wirklich zu sehen waren, und zum anderen wegen seiner eigenen Reflektion, die auch Floyd dazu zu veranlassen schien, sich erschrocken zu ihm umzudrehen.
 

„E-Eure M-M-Majestät...!“, stammelte er, als sie sich nun direkt gegenüberstanden. Tatsächlich. Er musste ihn für Alicia halten. Alice schaute an sich herunter, konnte allerdings, entgegen dem, was seine Spiegelung zeigte, nicht feststellen, dass er wie seine Vorgängerin aussah. Andererseits war das hier Floyds Albtraum und auch dessen Wahrnehmung, die er im Spiegel gesehen hatte. Es war erstaunlich genug, dass er ihn überhaupt sehen konnte. „I-Ich... Ich wollte nicht u-ungefragt... Ich meine-“
 

„Kein Grund, nervös zu werden“, unterbrach Alice seine mühevollen Erklärungsversuche schnell. Er hatte das starke Gefühl, eigentlich noch mehr sagen zu müssen. Aber was? Die Situation war dermaßen absurd, dass ihm für den Moment die Worte fehlten.
 

„Eure H-Hoheit... Ich... Verzeiht mir!“, übernahm Floyd nach einer Weile des Schweigens wieder das Reden – jedoch bloß für ein paar Sekunden, denn kurz darauf lief er starr an ihm vorbei, offenbar darauf bedacht, ihn nicht länger als nötig anzusehen. „Ich werde s-s-sofort wieder gehen.“
 

„Nein, warte...!“
 

Überrascht blieb er stehen, noch immer in dem Versuch, Augenkontakt möglichst zu vermeiden.
 

„Werdet Ihr... es dem König sagen...?“, fragte er vorsichtig. „D-Dass ich unerlaubt hier war? Er wird... böse auf mich sein, richtig?“
 

„Dem König? Du meinst...“ Richtig. Marilyn war zu Alicias Lebzeiten noch der König gewesen. Ob seine Wandlung zur Herzkönigin etwas mit ihrem Tod zu tun gehabt hatte? „... Nein. Ich werde ihm nichts sagen, versprochen. Aber...“ Erneut sah er zu dem Spiegel, der mittlerweile nichts Ungewöhnliches mehr aufwies, und wandte sich dann wieder Floyd zu. „Diese Wesen... Da waren vorhin seltsame Wesen in dem Spiegel. Was... hat das zu bedeuten?“
 

„Ihr h-habt sie auch... gesehen?“, erwiderte sein Gegenüber aufgeregt und näherte sich ihm nach kurzem Zögern wieder ein wenig – allerdings ohne ihn anzuschauen. „Ich, ähm... Wie haben sie ausgesehen? Die W-Wesen, m-meine ich... Was habt... Ihr genau g-gesehen?“
 

„Naja, wie soll ich das beschreiben... Es waren keine Menschen, aber ich weiß auch nicht, was es sonst darstellen sollte. Komische, verformte Dinger mit gruseligen Fratzen... Siehst du sowas öfter?“
 

„N-Nun... äähm...“, war alles, was er zur Antwort bekam. Er hatte nicht sonderlich viel erwartet, aber ein klein wenig aufschlussreicher hätte es durchaus sein dürfen.
 

„Herrje, was ist denn los mit dir? Kannst du mich nicht wenigstens angucken, wenn du mit mir sprichst?“, fragte er, hatte jedoch gleich das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, als er sah, wie Floyd betreten in Richtung der Wand starrte. „... Schon gut. Du brauchst mich nicht angucken, wenn dir das, ähm... unangenehm ist.“
 

„Ihr seid so... nett zu mir“, sagte Floyd leise, sodass er es gerade eben verstehen konnte. „N-Normalerweise seid Ihr... das nicht.“
 

Nicht?, dachte Alice, verkniff sich aber, es auszusprechen. Sollte das heißen... Unmöglich. Alicia, die Königin, konnte doch unmöglich genauso gemein zu ihm gewesen sein wie ihre Untergebenen...?
 

„Hör zu, Floyd...“, begann er, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, wie er es formulieren sollte, und letztlich doch zu keinem wirklichen Ergebnis gekommen war. „Ich weiß nicht, wie ich das jetzt erklären soll, und hoffe, du glaubst mir einfach... Ich bin nicht Alicia. Und das hier ist auch nicht echt. Es ist nur eine Illusion, die unser gemeinsamer Feind heraufbeschworen hat, um uns zu verwirren. Ich bin Alice, und du... du bist der General. Okay? Du musst dich nicht zurückziehen oder dich herumschubsen lassen. Du bist der General in Marilyns- Ich meine, in der königlichen Gefolgschaft – und jeder hier hat Respekt vor dir. Eine ganze Menge sogar.“
 

„Alice...? Aber... was ist m-mit den... anderen? Ich k-kann das nicht glauben! Wer hat... vor mir denn schon Respekt...?“
 

„Floyd! Das hier ist ein Albtraum, in dem wir beide gefangen sind, weil unser Feind mit unfairen Mitteln spielt...! 'Die anderen' sind längst nicht mehr dieselben wie früher!“ Einen Moment überlegte er, bevor er schließlich den Abstand zwischen sich und dem General weiter verringerte und ihn dazu zwang, ihm in die Augen zu sehen. „Sie müssen sich erinnern! Ich bin der Auserwählte...! Sie können mich nicht leiden und haben in einem Prozess gegen mich ausgesagt. Und... und Black Beauty! Ihr fliegendes Schwein, das die meiste Zeit über als Reittier des Schwarzen Ritters unterwegs ist... Das müssen Sie doch noch wissen, oder?“
 

„B-Black Beauty? Dieser Name...“, murmelte Floyd, als hätte er tatsächlich eine Eingebung. „Und der... Schwarze Ritter? Irgendwie... kommt mir das bekannt vor...“
 

„Ja, richtig. Lassen Sie sich von den Spielchen dieses Psychopathen nicht verunsichern!“, sagte Alice ermutigend. „Es ist nur eine Halluzination. Wachen Sie auf, General Floyd!“
 

Einen viel zu lang scheinenden Augenblick lang sah dieser mit einer unheimlichen Leere in den Augen an ihm vorbei, dann knickte er plötzlich ein und sank vor ihm auf den Boden, die Arme vor dem Gesicht verschränkt, so als wären da noch immer düstere Visionen, die nur er wahrnahm und die er verzweifelt versuchte beiseitezuschieben.
 

„Die... Die anderen...“, brachte er scheinbar geistesabwesend hervor; es sah aus, als würde er sich auf irgendetwas konzentrieren. „Gina und die restlichen Frauen... Ich habe sie gesehen... im Kerker der Kehrseite...“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Ich war es, der sie freigelassen hat...“
 

Alice brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon er redete. Offenbar waren dem General einige Dinge aus der Gegenwart wieder eingefallen. Es dauerte ein wenig, bis er sich zusammenreimen konnte, in welchem Kontext all diese Faktoren zueinander standen. Wahrscheinlich hatten die Illusionen des Showmasters auch auf ihn ihren Einfluss – jedenfalls schien es zunehmend schwieriger zu werden, bei all dem Durcheinander den Überblick über das Hier und Jetzt zu behalten.
 

„Ich habe das alles getan“, flüsterte Floyd, dessen Stimme inzwischen wieder mehr danach klang, wie sie sich für gewöhnlich anhörte – allerdings hatte Alice ihn zuvor noch nie derart bestürzt erlebt. „Ich bin schuld an dem Chaos, das jetzt hier herrscht...!“
 

„Das ist nicht wahr!“, unterbrach er diesen Gedankengang rasch. „Sie können nichts dafür, was passiert ist. Das Phantom hatte Sie vollständig unter seiner Kontrolle!“
 

„... Nicht vollständig“, erwiderte er gerade laut genug, dass es zu verstehen war. Vielleicht hatte er es auch weniger gehört als von seinen Lippen abgelesen.
 

Was hatte all das zu bedeuten? Wenn es stimmte, was das Phantom gesagt hatte, und Marilyn die Frauen des Wunderlandes vor langer Zeit auf die Kehrseite entführt und dort eingesperrt hatte, Floyd sie nun, vom Showmaster gesteuert, wieder freigelassen hatte... diese aber, zumindest seinem Traum zufolge, früher einmal normale Menschen – und keine Zombies – gewesen waren...
 

Ich glaube, ich bin in den kompliziertesten Mist hineingeraten, der irgendjemandem auf diesem verfluchten Planeten nur passieren kann, ging es ihm mit einem Mal durch den Kopf, wobei die Bezeichnung 'Planet' vermutlich mehr als unangemessen war, wenn man sich nicht einmal sicher sein konnte, ob man sich überhaupt noch im selben Universum befand, in dem auch die Erde zu finden war.
 

Alice dachte daran zurück, wie das weiße Kaninchen ihn hierhergeführt hatte, und dann daran, wie er auf dem Weg zum Schloss ein seltsames Rätsel nach dem nächsten hatte lösen müssen, bevor ihm die Ehre zuteil geworden war, die Herzkönigin persönlich kennenzulernen. Er dachte an seine Ankunft bei Hofe und an all die vertrauten Gesichter, von denen er empfangen worden war. Und plötzlich fiel ihm Charlie ein.
 

„Charlie...“ Floyd war derjenige gewesen, der das Verschwinden der Schlange als erstes bemerkt hatte. Er und anschließend auch die Königin hatten überall gesucht, jedoch im ganzen Schloss keine Spur von ihr gefunden. Im ganzen Schloss, bis auf... „Natürlich! Warum ist diese Idee mir nicht schon vorher gekommen?“
 

„Was...? Wie bitte?“
 

„Vielen Dank, General! Sie haben mir sehr geholfen!“, sagte er lächelnd, was Floyd maßlos zu verwirren schien, ehe er einige Schritte hinaus in die nun nicht mehr ganz so aussichtslose Dunkelheit trat, wo er langsam und vorsichtig nach der Wand suchte, von der aus er sich, wenn er sich nur genug Mühe gab, bis zu der großen Treppe würde vorantasten können, die zu den königlichen Gemächern führte. Und von dort aus... von dort aus würde er auf die Kehrseite gelangen. Dorthin, wo die Dunkelheit allem Anschein nach ihren Ursprung hatte.
 

Obwohl noch immer nicht viel mehr als schwache Umrisse zu erkennen waren, glaubte er, seinem Ziel immerhin ein Stück weit näher gekommen zu sein, als er, wie aus dem Nichts, das Geräusch auf den Boden treffender Absätze hinter sich vernahm. Schon bevor er sich umdrehte, wusste er, wer es war, der dieses Geräusch verursachte.
 

„Marilyn...!“
 

Tatsächlich war er dort, nur etwa einen halben Meter von ihm entfernt, unverändert – so als wäre er die ganze Zeit über hier gewesen. Still wie eine Statue stand er vor ihm und musterte ihn mit seinen puppenhaften Augen, so wie er es schon immer getan hatte. Es kam ihm vor, als hätte er ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
 

„Wer hat dir eigentlich erlaubt, mich so zu nennen?“
 

„Was?“ Irritiert wandte er den Blick kurz von der Königin ab, bevor er sie lachend wieder ansah. „Oh, verzeiht meine Unhöflichkeit... Eure Hoheit. Ich hoffe, es geht Euch gut?“
 

Ein kaltes Lächeln zierte das Gesicht ihrer Majestät, als sie wortlos und erhobenen Hauptes an ihm vorbeischritt. Erst als sie inmitten der Finsternis stehenblieb, antwortete sie ihm mit monotoner Stimme.
 

„Mir geht es blendend. Hast du vielleicht etwas anderes erwartet? So schnell gebe ich mich nicht geschlagen – schließlich bin ich die Herrscherin dieser Welt.“ Einen Moment lang fragte er sich, worauf sie hinauswollte, bis sie ohne auch nur einen Hauch von Emotionen fortfuhr. „Du solltest dir lieber Sorgen um dich selbst machen, Alice. Mich aus dem Spiel zu werfen, erfordert mehr als ein lächerliches Spukgespenst und einen General mit Minderwertigkeitskomplexen. Du hingegen... bist hoffnungslos verloren, wenn ich dir nicht helfe“, und nicht viel später fügte sie etwas leiser hinzu: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du Alicia auch nur ansatzweise ersetzen könntest.“
 

Dann ging sie, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und verschwand in der tiefen Schwärze, nichts als den langsam im Saal verklingenden Nachhall ihrer Schritte zurücklassend. Und nicht nur ihre Schritte hallten wie in einer grauenvollen Endlosschleife immer wieder nach – auch ihre Worte.
 

Du kannst Alicia nicht ersetzen.
 

Es war nicht ihr exakter Wortlaut gewesen, aber genau das war es, worauf es hinauslief.
 

Du bist nicht sie, also bist du für mich n i e m a n d.
 

„Nein... Das kann nicht sein... Sie würde so etwas nicht sagen!“ Sie verhielt sich zwar manchmal kalt – aber nicht so kalt. Das war einfach nicht ihre Art... oder? „Nein, niemals! Das muss ein Albtraum sein...! Die Träume der anderen haben auch real ausgesehen, und trotzdem waren sie es nicht...“ Ja, genau. Eigentlich lag es auf der Hand. Warum sollte auch ausgerechnet er von den Intrigen des Showmasters verschont bleiben? Die Königin, mit der er eben gesprochen hatte, war nicht die Echte gewesen sondern bloße Einbildung. Ein Trick. Schließlich hätte er auch das Zuschlagen des Schlosstores hören müssen, wäre sie wirklich wieder hereingekommen. Wenn er darüber nachdachte, ließ das alles nur den Schluss zu, dass er nun ebenfalls ein Opfer der Schreckensillusionen geworden war. Nur eines gefiel ihm nicht an dieser Erkenntnis... „Egal. Es war nicht echt. Denk nicht weiter darüber nach und finde diese verdammte Treppe...!“
 

Wenn er schon dazu auserkoren war, das Wunderland mit all seinen Bewohnern vor dem Untergang zu bewahren, dann war jetzt der Zeitpunkt gekommen, dies zu tun – bevor es endgültig zu spät war.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sky-
2016-07-31T09:06:44+00:00 31.07.2016 11:06
Wow, es wird immer interessanter und spannender. Das Phantom scheint jetzt alle möglichen Register zu ziehen, um die Bewohner des Wunderlandes unter seine Kontrolle zu bringen. Nachdem er schon von General Floyd Besitz ergriffen hat, zieht er jetzt die große Show auf und beginnt mit den Ängsten der Bewohner zu spielen. Wirklich heimtückisch aber nachdem die Masche mit den Frauen nicht mehr geklappt hat, musste er sich halt etwas Neues einfallen lassen. Aber eines interessiert mich schon und zwar die Alptraumszene von General Floyd. Okay, es sind mehrere: ich hätte nicht erwartet, dass er damals ein stotternder Angsthase war, der sich von allen herumschupsen lässt. Hinter seinem selbstsicheren und teilweise auch unausstehlichen Charakter scheint sich offenbar ein ziemlich angekratztes Ego zu verbergen.

Und das Zitat, dass die Kinder des Wunderlandes aus den Träumen und Fantasien der Menschen geboren werden, erinnert mich an die Unendliche Geschichte, wie auch schon im Kapitel, wo die Leere aufgetaucht ist. Da hängt das Leben und die Existenz Phantasiens auch von den Träumen von Menschen ab. Aber diese Aussage widerspricht sich doch irgendwie mit der letzten Offenbarung, dass die Bewohner des Wunderlandes aus einer anderen Welt stammen. Das ist jetzt ein bisschen konfus…

Und endlich haben wir die Antwort, was unser Hasi mit ADHS und schlechtem Namensgedächtnis mit der Uhr will. Clever von ihm, die Zeit anzuhalten. Hätte ich ihm fast gar nicht zugetraut, weil die Hasen des Wunderlandes irgendwie am verrücktesten erscheinen.

Antwort von:  Drachenprinz
31.07.2016 14:30
Die Szene mit den Albträumen fand ich auch irgendwie interessant zu schreiben, weil ich da mal Gelegenheit hatte, mir zu überlegen, wovor die einzelnen Wunderlandbewohner wohl am meisten Angst hätten. Hehe, ja... General Floyd ist nach diesem Kapitel sogar zu meinem Liebling in der Geschichte geworden. xD Ich mag es allgemein, wenn man irgendwann unerwarteterweise etwas über einen Charakter erfährt, womit man überhaupt nicht gerechnet hat. Darum versuche ich auch selber immer gern, sowas unterzubringen.

Jetzt vergleichst du meine Story schon zum zweiten Mal mit der Unendlichen Geschichte. *-* Ich glaube, ich muss mir diesen Film irgendwann dringend nochmal ansehen... Das letzte Mal ist seeehr lang her, und da habe ich den nur so halb gesehen. Ich weiß fast gar nichts mehr darüber, aber so wie du es beschreibst, klingt das sehr schön.
Was es mit der Bevölkerung auf sich hat, wird sich am Ende noch aufklären, keine Sorge. Es wirkt jetzt vielleicht etwas konfus, das gebe ich zu, aber das hat seinen Grund. ^^

Und ja, jetzt wo du es so sagst... Die Hasen haben irgendwie das größte Rad ab, stimmt. XD
Antwort von:  Sky-
31.07.2016 14:38
Jep, selbst der Hutmacher scheint mir mehr bei Verstand zu sein und er ist der „verrückte Hutmacher“, das sollte einem schon zu denken geben. Aber vielleicht haben Hasen im Wunderland allgemein ein ziemliches Spatzenhirn XD

Stimmt, seltsamerweise komme ich immer wieder mit Vergleichen zu Matrix und der Unendlichen Geschichte. Vielleicht, weil mir die Geschichte so deutlich im Gedächtnis geblieben ist? Keine Ahnung^^“


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