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Vergiss mein nicht

Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri
von

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Sünde

Kapitel 3      Sünde

 

Vorsichtig schob Victor die beiden Jüngeren durch die Flügeltüren und blickte sich ernst um. Mila durfte sie nicht sehen, sonst würde es wieder zu einer schier endlosen Diskussion führen. Sie war mehr als gründlich in der Ausführung ihrer Aufgaben und streng zu jedem. Victor geriet zwar oft mit ihr in kleine Streitigkeiten, dennoch hielt er sie für fair und ehrlich. Es war nicht leicht in diesem Gewerbe, das wussten sie alle. Nur, wer an sich selber dachte, konnte überleben. Der Barkeeper verließ hinter den Anderen die Räumlichkeiten und setzte seinen Zylinder auf. Den Mantel zog er fest an den Körper, denn es war kühl und regnerisch. Nasse Fäden fielen auf sie nieder, durchnässten schnell Stoff und Schuhe. Ihr jüngster Begleiter hob die Kapuze etwas aus dem Gesicht und blickte gen Himmel. Seine stechend grünen Augen waren leer, wie ein längst geschlossenes Theater, das kein freudig lachendes Leben mehr in sich trug. Yuri sah ihn aus dem Augenwinkel an und fühlte sich aus ihm unerklärlichen Gründen plötzlich schuldig. Sein Magen zog sich zusammen und er wandte den Blick ab. Seinem Liebsten war dies nicht entgangen und er griff sanft nach der Hand des Kartenspielers. „Sag, du hast bestimmt einen Namen oder?“, durchbrach der Älteste die unsagbare Stille. Langsam sank das Gesicht des Blonden nach unten, während Regentropfen tränengleich das weiße Gesicht verließen. „Yura.“, antwortete er nach einiger Bedenkzeit leise und zog die Kapuze wieder in sein Gesicht. Weder Yuri noch Victor wussten, was sie nun sagen sollten ohne zu neugierig zu wirken. Zu ihrem Glück nahm ihnen diese Entscheidung bereits jemand anderes ab.

„Kinder, wie schön euch hier zu treffen!“, flötete eine Stimme unweit von ihnen. Ihr Besitzer kam freudig auf sie zugestürmt. Das schwarze Gewand war bereits von Regen durchnässt und lediglich der weiße Kragen strahlte gegen das Grau des Tages an. Freundliche, offenherzige Augen musterten die drei Männer, während der Fremde die Arme empfangend ausstreckte. Victors Gesicht erhellte sich schlagartig und er umarmte den blonden Priester herzlichen. „Guter Freund! Yuri, du erinnerst dich doch an Reverend Chris?“, rief der Silberhaarige sichtlich erfreut und winkte seinen jungen Freund heran. Etwas betreten schüttelte Yuri ihm die Hand, denn er konnte sich noch sehr gut an das letzte Treffen erinnern. Sie hatten ihn in einer Kneipe unweit der Kirche angetroffen und der Abend war feuchter verlaufen, als dieser regnerische Tag es je sein könnte. Wenn der große Priester nicht sein Gewand tragen würde, so könnte nichts, aber auch gar nichts darauf hinweisen, dass er ein Mann Gottes war. Yuri kannte niemanden, der das irdische Leben so genoss, wie Reverend Chris. „Seid ihr auf dem Weg zum Markt? Phichit hat heute besonders feine Früchte, eure Mädchen werden sich freuen!“, rief der Geistliche und klatschte dabei mehrfach in die Hände. „Oh, und wen habt ihr mir noch nicht vorgestellt?“

Victor gefror schlagartig. Er hatte ja ihren jungen Begleiter völlig vergessen und nun wusste er nicht einmal, was er seinem Freund sagen sollte. „Nun… eigentlich…“, begann er zögerlich, als Chris schon ohne jegliche Berührungsängste seine Hand zum Gruße ausgestreckt hatte. Yura hob den Kopf etwas und man konnte schemenhaft das junge Gesicht erkennen. Die Hand nahm er jedoch nicht. Schnell verdunkelte sich der Blick des Priesters und er ging einen Schritt zurück. „Mein Kind, du weißt nicht, worauf du dich einlässt!“ Nur zu gut kannte er die sonstigen Mädchen, die bei Jean arbeiteten und die ein oder andere kam zu ihm zum Gottesdienst. Sie erzählten ihm ihre Geschichten, ihr Leid und ihr Leben. Oft sah er sie zerbrechen, zu Grunde gehen an all dem Schmerz oder gar sterben in ihrem Elend. Er wollte nicht noch ein anonymes Grab auf dem Kirchhof, das einem einsamen Mädchen gehörte, dessen Namen niemand kannte. „Kehr um und wende dich Gott zu!“. Seine Stimme klang fest und bestimmend. Doch er erntete nichts als ein rasches, hämisches Lächeln. Victor legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes und beschwichtigte ihn: „Er gehört Jean, siehst du das Halsband? Keines von den Mädchen. Aber du weißt ja, wie ich darüber denke. Glaub mir, niemand von uns würde dort arbeiten, wenn er es nicht zum Überleben bräuchte. Hast du heute schon die Zeitung gelesen? In den Textilfabriken arbeiten immer mehr Frauen und Kinder, niemand kann sich auch nur mehr als ein Stück trockenes Brot leisten.“

Der Reverend schnaubte verächtlich und strich vorsichtig über das Kreuz an seinem Hals.

„Ich weiß! Otabek hat mir heute Morgen davon berichtet. Er selber arbeitet 16 Stunden, die Frauen und Kinder sind bis zu 12 Stunden in der Fabrik. Gott alleine weiß, wohin uns diese Industrialisierung führen wird. Nichts als Geld für die ohnehin Reichen. Mehr und mehr in den gierigen Schlund der Dämonen! Und ich? Jeden Sonntag kommen weniger Menschen in den Gottesdienst. Ich kann niemanden mehr zur Hilfe in der Kirche bezahlen. Wenn Otabek mir nicht hin und wieder ohne Entlohnung helfen würde, so wäre mir schon jedes Fenster eingebrochen und das Dach zerfallen. Oh, Herr, es brechen noch schlimmere Zeiten an!“

Bei den schwermütigen Worten senkte Yuri bedrückt seinen Blick. Wenn der sonst so lebensfrohe Priester schon den Mut verlor, wo sollten sie dann enden? Victor bemerkte die traurigen Augen seines Liebsten und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. „Hab keine Sorge, nach dem Regen scheint auch für uns eines Tages einmal die Sonne!“

Ein verächtliches Schnauben quittierte die hoffnungsvollen Worte und der Älteste ließ seinen Blick bei dem blonden Jungen ruhen. Dieser schien genervt von dem Gespräch zu sein und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Wir kommen aus der Gosse, wir enden in der Gosse!“, spie der Jüngste verächtlich aus. Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte der Geistliche den nun doch etwas forschen Jungen. „Ein so zartes Alter und schon so verloren. Du solltest am Sonntag in die Kirche kommen, meine Türen stehen dir auf.“, bot er ihm nun wieder etwas freundlicher an. Scheinbar war diese Einladung ihm keine Antwort wert, denn Yura wandte sich mit einem Augenrollen ab.

Um die Situation nicht weiter auszureizen, hob der Barkeeper beschwichtigend die Hände. „Lasst uns nicht den Markt vergessen! Wir brauchen dringend Früchte. Chris, mein Freund, sei so lieb und grüße Otabek von mir. Er sollte nicht so viel arbeiten und endlich häuslich werden. Die arme Frauenwelt geht sonst an ihm zugrunde! Yuri, komm, husch, husch, wir müssen los!“

Noch einmal umarmten sich die Freunde und der Reverend machte sich auf den Weg zurück zur Kirche, damit die Kerzen nicht in seiner Abwesenheit verloschen.

 

Der Markt war trotz des desolaten Wetters voll und man kam kaum durch die engen Gänge zwischen den Ständen. Vorsichtig schoben die drei Männer sich an anderen Besuchern vorbei zu ihrem gewünschten Stand. Er war nicht zu übersehen und die schönsten, süßesten Früchte stapelten sich dort. Exotische Stücke aus fernen Ländern waren die Spezialität von Phichit. Als dieser Yuri sah, stieß er einen Freudenschrei aus, rannte hinter dem Stand hervor und sprang seinen Freund fast gänzlich um. Minutenlang redete er auf ihn ein, fragte, warum er ihn in der letzten Woche nicht besucht hatte und verfing sich förmlich in seinem eigenen Redeschwall. Victor begann zu lachen, denn er mochte den jungen Freund seines Liebsten gerade wegen seiner unaufhaltsamen Art. Gerade wollte er Yura erzählen, wie er Phichit zum ersten Mal getroffen hatte, da musste er einen Schrei unterdrücken. Der Blonde war einfach verschwunden. Zitternd zog er an Yuris Ärmel und konnte nicht schnell genug die Worte zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervorquetschen: „Er ist WEG!“ Während Yuri kreidebleich anlief, sah Phichit beide fragen an. „Ist… ist alles in Ordnung? Habt ihr einen Geist gesehen?“ Victor musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Schließlich würde Jean ihm den Kopf abreißen, wenn er ihm gestehen musste, dass er sein Eigentum verloren hatte. Atemlos und hektisch erklärte er Yuri seinen Plan: „Du… gehst mit den Früchten nach Hause! Tu so, als wäre alles in Ordnung. Wenn Mila fragt, sagst du ihr, ich muss noch Gin kaufen. Ich suche diesen Jungen. Egal, was passiert, Jean darf N-I-C-H-T-S davon wissen!“ Immer wieder schüttelte er den armen Kartenspieler dabei, bis dieser völlig aus der Fassung war und nur eifrig nickte. Ohne noch eine Sekunde zu verlieren, rannte der Barkeeper los.

 

Vorsichtig drückte Yura sich an den Besuchern des Marktes vorbei. Seine Augen glitten über einige Stände mit goldenen Armkettchen aus feinster Handarbeit. Für einen Moment ruhten seine Finger auf einem außergewöhnlichen Stück mit kleinen Ornamenten und einer schlicht gearbeiteten Katzensilhouette. Er besaß nichts und das kleine Pergamentschild an dem Armband war mit so vielen Zahlen beschriftet, dass ihm bei dem Preis schlecht wurde. Seine Augen wanderten schnell von rechts nach links und als er sich unbeobachtet fühlte, verschwand das Armband in seinem Ärmel. Mit einem zufriedenen Grinsen wandte er sich ab und überlegte, ob er sich nicht auch etwas zu essen aneignen konnte, da wurde er wüst am Oberarm gepackt. „Du kleines Luder, du DIEBIN!“, brüllte ihn ein großgewachsener, braunhaariger Mann an. Er selber war noch jung und schien der rechtmäßige Besitzer des Armbandes zu sein. Der Kunstschmied riss dem Kleineren die Kapuze hinunter und staunte nicht schlecht, als es gar keine junge Frau war, die ihn da bestohlen hatte. Er brauchte einen Moment um sich zu fassen und holte mit der flachen Hand aus, um den frechen Dieb zu strafen Yura versuchte sein Gesicht mit dem freien Arm zu schützen und erwartete schon eine gehörige Tracht Prügel für seine Tat. Doch nichts geschah. Langsam ließ er den Arm sinken und hob den Blick. Neben ihm stand ein Mann, kaum größer als er und hielt die drohende Hand über ihm fest. Der Blick der dunklen Augen war von ihm weggerichtet, doch er konnte sich nicht von dem Anblick lösen.

„Michele, nicht! Was bekommst du für das Armband?“ Die Stimme des Fremden war so sanft, dass Yura Gänsehaut bekam. Erst jetzt merkte er, dass er das Armband noch immer in der Hand hielt.

Der Händler verzog das Gesicht und ließ den Jungen langsam los. „Du willst doch wohl nicht noch so einem dahergelaufenen Dieb helfen?“, murrte er, beließ es aber dabei. Vorsichtig nahm der Fremde Yura das Armband aus der Hand, öffnete die Schließe und legte es um den feinen, dürren Arm. Dann wandte er sich wieder dem Kunstschmied zu. „Ich muss sowieso noch aufs Land für deine Mutter und Stoffe holen, dann kann ich im Anschluss noch zu dir kommen und gebe dir die fehlende Summe, in Ordnung?“ Wieder diese sanfte Stimme, wieder ein regelrechtes Zucken durch Yuras Körper. Warum tat dieser Fremde das einfach für ihn? Seine Lederkleidung sah so ärmlich und abgenutzt aus, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass er auch nur annähernd den Preis des Schmuckstückes bezahlen konnte. Aber der Schmied schien ihm zu vertrauen. „In Ordnung, Otabek! Aber nur, weil Mutter die Stoffe wirklich dringend braucht. Seit die Textilfabriken immer größer werden, kommt sie mit ihrer Schneiderei kaum über die Runden. Die Zeiten sind hart, nicht einmal Kohle für den Ofen ist mehr da.“ Plötzlich wirkte der Braunhaarige verletzlich und Yura traute sich, sich etwas mehr aufzurichten. Seine Augen fielen wieder auf das Armband an seinem Handgelenk. Es war so fein und wunderschön, dass er es womöglich noch lange Zeit angestarrt hätte, wäre da nicht schon ein Barkeeper gewesen, der ihn eiligst mit sich zerren wollte. Erst als dieser gerade mit einer Moralpredigt beginnen wollte, erkannte er Otabek. Sein Gesicht erhellte sich und er beließ er vorerst mit der Zurechtweisung. „Otabek, ich habe gerade vorhin Reverend Chris getroffen. Er sollte dich von mir grüßen. Du lässt dich ja nie blicken! Bist du immer noch nicht verheiratet?“  Otabek stutzte kurz über diese direkten Worte, aber er kannte Victor nicht anders. Schnell schüttelte er den Kopf. „Nein, auf diese Ehre verzichte ich gerne! Ich habe mehr als genug Arbeit in der Fabrik und die Kirche kann meine Dienste auch gut gebrauchen. Aber… was tust du hier?“ Er blickte abwechselnd von dem vermeintlichen Dieb zum Barkeeper. Ganz recht wusste Victor nicht, was er sagen sollte. Schließlich wusste er, was Otabek von Jeans Geschäften hielt. Mehr als nur einmal waren sie ziemlich böse aneinandergeraten und weiß der Himmel wieso, aber es war jedes Mal gut ausgegangen. Dennoch wollte er ihn nicht belügen. Leise, damit nicht noch andere ihr Gespräch mitanhörten, erklärte er ihm alles. Während er den Worten lauschte, ruhten seine Augen auf dem blonden Jungen. Erst jetzt hatte er das vielsagende Halsband bemerkt, dessen goldener Anhänger unverkennbar war. Yura wich seinem Blick aus, denn er schämte sich dafür, dass der Fremde ihm einfach das Armband geschenkt hatte und scheinbar nun über seinen Hintergrund verärgert war. „Jean, hm? Hat er nicht genug Spielzeug?!“,fragte Otabek verächtlich und konnte sich selber nicht erklären, warum ihn diese Geschichte so verletzte. Er hasste diesen Mann für all das, was er tat, doch in diesem Moment fühlte er noch viel mehr Wut. „Victor, du weißt, was ich davon halte! Ehrliche Arbeit hat noch nie jemandem geschadet!“ Vorsichtig zog er Victor ein Stück mit sich, damit der Blonde seine Worte nicht hören konnte. „Wer ist dieser Junge?“, fragte er ohne weitere Umschweife. Victors überraschter Blick musste Gold wert sein, denn die Wangen des Jüngeren färbten sich rosé. „Öhm… i…ich weiß nur, dass er Yura heißt und Jean eine Menge für ihn bezahlt hat.“, stotterte der Barkeeper noch immer etwas perplex. Otabeks Blick ging an ihm vorbei ins Leere und er schien konzentriert nachzudenken. Victor dämmerte so langsam, was den Anderen so beschäftigte. „Otabek! Nein! Nein, nein, nein, NEIN! Du weißt ganz genau, dass du Jean schon mehr als zu oft verärgert hast! Du bist lebensmüde! Wahrlich! Ich nehme ihn jetzt wieder mit zurück und du wirst nicht eine Sekunde länger an ihn denken!“ Mit diesem Worten packte der Silberhaarige den jungen Yura und zog ihn am Mantel mit sich. Die grünen Augen des Blonden aber trafen den sanften Blick Otabeks, der ihm sehnsüchtig nachsah. „Herr im Himmel, was tust du nur mit mir?“



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