Der Zug
Kalt ist es geworden. Diese besondere Art von Kälte, wie man sie nur an solch einem Winterabend
verspüren kann. Auf der einen Seite so vernichtend und leblos, doch auf der anderen Seite so
wunderschön. Die Sterne leuchten in solch einer Nacht besonders hell. Die Luft ist klirrend kalt, es fühlt
sich an, als würde man flüssiges Eis einatmen. Die Lungen schmerzen dabei leicht, der Körper beginnt
durch die Kälte taub zu werden, zu erstarren.
Solch einen Abend erlebe ich jetzt, und dennoch erscheint mir diese Kälte gerade in diesem Moment
um so intensiver zu sein. Sie steigt vom Steinboden auf, kriecht durch die Sohlen meiner Schuhe,
verursacht, dass mein Körper zu zittern beginnt. Ich ziehe meine Schultern hoch. Ich kann fühlen, wie
sich die feinen Haare in meinem Nacken aufrichten.
Mein Atem bildet kleine weiße Wolken, und der scharfe Wind durchdringt meine Jacke. Was ist das nur
für ein seltsamer Abend?
Müde sinkt mein Kopf in meine Handflächen. Mein Körper ist müde von der Kälte und dem
Schlafmangel der letzten Tage.
Seufzend schlage ich in den Kragen meiner Jacke hoch, schüttle sacht meinen Kopf, als könnte ich so
diese Mündig -und Kraftlosigkeit vertreiben welche mich schon die letzten Tage gefangen hält. Doch
wie immer gelingt es mir nicht, mein Geist bleibt in diesen Sorgen und Zweifeln gefangen.
Unstet schweift mein Blick über das leere Gleis. Es sind nicht mehr viele Menschen am Bahnhof,
immerhin geht es bald auf Mitternacht zu. Insgesamt zähle ich fünf Leute, die alle genauso
durchgefroren und verloren aussehen wie ich in diesem Augenblick. Wir alle warten, warten auf den Zug
welcher uns von hier fort bringt.
Weit fort...
Ich weiß, wir haben unterschiedliche Beweggründe. Einige werden aus beruflichen Gründen auf diese
Reise gehen, andere vielleicht um jemanden zu besuchen, doch wir alle warten, sind angespannt,
wissen nicht was uns diese Reise bringen wird. Doch ich bin mir sicher, die wenigstens von uns fliehen
von hier. Fliehen, weil sie sonst hier, in dieser Stadt, eingehen würden. Fliehen, weil sie von ihrer
eigenen Vergangenheit gejagt werden. Nein, aus diesen Gründen wartet hier bestimmt
niemand...niemand außer mir selbst...
Müde fahre ich mir über meine Augen, wann habe ich das letzte Mal friedlich und ruhig geschlafen? Ich
weiß es nicht mehr, doch es muss lange her sein. Meine Hände zittern, sind zu eisigen Klauen erstarrt.
Meine Lippen sind durch den kalten Wind spröde und rissig. Was würdest du jetzt sagen, wenn du mich
so sehen könntest? Würdest du mich verstehen, oder würdest du mir mit deiner besonderen Art und
Weise zu verstehen geben, dass ich wieder nach Hause zurückkehren soll? Entschlossen schiebe ich
diesen Gedanken von mir, es tut weh an dich zu denken, weißt du das?
Seufzend sinke ich gegen die kalte Lehne der Metallbank, blicke hinauf zu der kleinen Anzeigetafel. Der
Zug hat fünf Minuten Verspätung. Weitere fünf Minuten um zu warten, um nachzudenken, um zu
frieren. Missmutig verziehe ich meinen Mund, krame in meiner Jackentasche nach meiner Packung
Zigaretten. Ja, ich habe seit einigen Tagen wieder damit angefangen. Du weißt warum, du weißt sehr
genau warum.
Zittrig sind meine Finger während ich die Zigarette zwischen die Lippen stecke. Die kleine Flamme des
Feuerzeugs flackert im kalten Wind, und ich schirme die winzige Wärmequelle mit der hohlen Hand vor
ihrem Verglühen ab. Tief inhaliere ich den blauen Dunst, es kratzt leicht im Hals, doch es beruhigt
mich, es hat mich schon immer beruhigt. Warum habe ich damit eigentlich aufgehört? Weil du es
gewollt hast, nicht wahr? Du mochtest dieses Laster an mir nie...
Ein bitteres Lächeln umspielt meinen Mund, meine Gesichtsmuskeln schmerzen dabei. Mein gesamter
Körper fühlt sich so seltsam an, so als gehöre er nicht mehr mir, als würde er jemand anderem, jemand
fremden gehören. Er hat in den letzten Tagen viel Schmerz erdulden müssen, so viel Schmerz.
Für einen kurzen Augenblick schließe ich meine Augen, still ist es um mich. Nur der Wind, welcher über
das Gleis weht, verursacht ein Geräusch. Leise scheint er zu flüstern, doch ich konnte seine Botschaft
noch nie verstehen, ich bin nun einmal nicht so wie du.
Ich weiß es noch genau, still hast du oft am offenen Fenster gestanden, hast deine Augen geschlossen,
ihm zu gehört.
"Welch ein schönes Lied", das waren deine Worte gewesen. Jedes Mal von neuem hast du sie
gesprochen, und ich habe sie nie verstanden. Ich wollte sie nicht verstehen, ich konnte sie nicht
verstehen. Immer hast du in solchen Dingen etwas besonderes gesehen, hast jedes Mal versucht sie mir
begreiflich zu machen, und was habe ich getan? Ich wollte wie immer nicht verstehen, habe gedacht, all
diese Dinge würdest du nur erblicken, weil deine Seele blutet. Wie dumm ich doch war. Doch jetzt ist es
zu spät um es zu bereuen, für alles ist es zu spät.
Langsam entweicht der Rauch meinen Lungen, ich starre dem blauen Dunst nachdenklich nach. Sanft
treiben die Schwaden im Scheinwerferlicht davon. Ist auch so deine Seele davon getrieben, hinfort in
diese Dunkelheit?
Eilig läuft ein Mann auf dem Bahnsteig hin und her, sein Mantel weht im Wind wie die schwarzen
Schwingen eines Raben. Ich höre wie er erregt in sein Mobiltelefon schreit, doch seine genauen Worte
kann ich nicht verstehen.
Warum tut er das? Warum kann sein Geist nicht einmal um diese Zeit zur Ruhe kommen? Auch er wird
noch früh genug bemerken, dass alle seine Bemühungen früher oder später scheitern werden. Auch er
wird versagen, wird vom schnellen und kalten Leben den Boden unter den Füßen weggezogen
bekommen. Ja, auch er wird irgendwann ins Nichts fallen, genau wie ich.
Angewidert nehme ich meinen Blick wieder von ihm, verschließe meinen Geist vor seinen hektischen
Worten.
Seit wann hasse ich solche Menschen eigentlich? Vielleicht seit ich dich kennen gelernt habe? Seitdem
du mir die kleinen aber umso schöneren Seiten des Lebens gezeigt hast? Wollte ich früher nicht auch
einmal so werden, und weiß ich nicht erst durch dich, wie schön ein Winterabend sein kann?
"Siehst du sie?" hast du mich letzten Winter oft gefragt und auf die kleinen Schneeflocken
gedeutet. "Siehst du auch die kleinen weißen Engel, wie sie aus dem Himmel fallen, wie sie verstoßen
werden?"
Ich hatte immer "Ja" gesagt, doch gesehen habe ich sie nie. Für mich waren es einfache Schneeflocken
und keine Engel. Doch jetzt verstehe ich. Vielleicht versteht man dich erst, wenn man weiß, dass man
dich verloren hat. Wenn man selbst ein zielloser und verstoßener Engel ist.
Ein letztes Mal führe ich die Zigarette an meine Lippen, inhaliere den Rauch tief und fest, werfe den
glühenden Stummel auf die Bahngleise. Noch zwei Minuten, dann soll der Zug einlaufen, doch wird er
mich weit genug fort bringen? Werde ich vergessen können? Werde ich jemals diese Bilder deines
sterbenden Körpers aus meinem Gedächtnis verdrängen können?
Dein Blut...es glitzerte im Schein der Kerzen. Du hattest alles hergerichtet für unser zweijähriges
Jubiläum. Waren wir nicht glücklich? Ich glaube, ich wusste nie was Glück eigentlich ist, bis ich dich
getroffen habe.
Warum habe ich mich nur an diesem Tag verspätet? Hätte ich ihn aufhalten können? Wie hat er uns
überhaupt gefunden? Fragen, so viele Fragen, und niemand wird sie mir je beantworten können.
"Ich habe es gewusst", ich höre deine letzten Worte in meinem Geist. Du hast stockend
gesprochen, kraftlos lag dein Körper in meinen Armen.
Wie eine Puppe.
"Ich wusste, er findet mich, er hat geschworen mich zu finden und mich zu bestrafen, weil ich so ein
unartiges Kind war...Wir sind nicht weit genug gelaufen...nicht weit genug...Wir haben unseren Platz
nicht gefunden, unseren Platz, an welchem immer die Sonne scheint, an welchem es keine Dunkelheit
gibt...Wir haben ihn nicht gefunden...Ich liebe dich."
Tränen laufen meine Wangen hinab, doch ich mache keine Anstalten sie fort zu wischen. Es ist mir egal.
Eine ältere Frau steht in meiner Nähe. Ich sehe, dass sie mich fragend anblickt, doch was sollte ich ihr
antworten? Soll ich ihr sagen, dass man mir das wichtigste in meinem Leben gestohlen hat? Soll ich ihr
sagen, dass ich immer noch dein Blut an meinen Händen riechen kann?
Nein, dass sollte ich sicherlich nicht tun. Es würde sie auch nicht interessieren. Menschen interessieren
sich nicht für die Belange anderer. Im Vordergrund steht erst einmal das eigene Überleben, die eigenen
Sorgen und der eigene Schmerz. Die Welt ist voll davon, doch ich hatte wirklich geglaubt, dass wir all
diesen Dingen entkommen wären.
Wie dumm von mir, man kann ihnen nicht entkommen, dass weiß ich jetzt. Ich weiß jetzt, dass sie einen
früher oder später einholen, früher oder später wird man zu solch einem verstoßenen Engel der ohne
ein Ziel umherirrt.
Ein schleifendes Geräusch kommt immer näher. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Ich starre in seine
hellen Lichter, es schmerzt in meinen Augen, und ich kneife sie kurz zusammen, erhebe mich und
nehme meine Reistasche in die Hand. Der Gurt schneidet mir tief in meine Handfläche.
Wie seltsam ist es, dass in solch einer kleinen Tasche alles sein soll was mir wichtig ist, was mich
ausmacht. Liegt nicht das wichtigste und beste immer noch in unserer Wohnung...
Ich werde von unterwegs die Polizei anrufen, werde ihnen sagen, wo sie dich finden können, und wer
für all das verantwortlich ist. Ich hoffe, du kannst mir meine Feigheit irgendwann verzeihen, ich konnte
nicht da bleiben, ich musste dich alleine lassen. Mein wunderschöner Engel...
Der Zug kommt vor mir zum stehen. Ich atme tief durch, doch meine Kehle fühlt sich trocken an, fest
schnüren mir unsichtbare Finger die Luft ab. Bist du das? Strafst du mich jetzt schon?
"Hannah?" Ich höre dich wie du meinen Namen flüsterst. "Hast du Angst? Ich habe Angst, immer
wenn du mich alleine lässt. Bitte, lass mich nie wieder alleine, ja?"
So viele Versprechungen habe ich dir gemacht. Das ich dich beschützen werde, dass ich dich niemals
alleine lassen werde. Nicht eines von beidem konnte ich halten. Ich bin eine Versagerin auf der ganzen
Linie. Und das schlimmste ist, dass mein eigenes Versagen für dich solche Konsequenzen hatte...Ich
hoffe du kannst mir irgendwann einmal verzeihen, mein Engel.
Schwungvoll öffnen sich die Türen des Zuges, wie die Türen zu einer anderen Welt.
Fest umschließen meine Finger den Gurt meiner Reisetasche, mir ist übel. Ich habe das Gefühl, als
würde ich, wie sooft in meinem Leben, einen Fehler machen. Mache ich einen Fehler? Ist es ein Fehler
wegzulaufen? Ich weiß es nicht, doch ich kann nicht anders. Du weißt doch, ich konnte noch nie aus
meiner Haut hinaus.
Entschlossen steige ich in den Zeug ein, drehe mich nicht einmal um, denn was ich hoffe zu erblicken,
wird nicht hinter mir stehen. Wird mich nicht mit diesem besonderen Blick ansehen. Mit diesem Blick,
dass ich nach Hause zurückkehren soll. Ich habe kein Zuhause mehr...
Ich zwänge mich durch den engen Gang. Meine Abteilnummer ist die zweiundzwanzig. Ziellos laufe ich
den dunklen Gang entlang, blicke mich suchend um. Zögernd bleibe ich stehen, spähe in das Abteil.
Niemand ist da. Ich atme erleichtert durch. Das letzte nachdem mir der Sinn steht, sind redelustige
Mitreisende.
Unter meinen Füßen spüre ich, dass sich der Zug in Bewegung setzt. "Ich will fort von hier Hannah",[/
i] schon wieder deine Stimme, warum lässt sie mich nicht einfach in Ruhe?
"Ich will fort. Ich will dorthin, wo immer die Sonne scheint, wo es keine Dunkelheit gibt. Wo wir
glücklich werden. Ich will jeden Tag Sonne, ich will an einen Platz, an dem er uns nie finden kann. Wo
wir für ihn unerreichbar sind. Glaubst du, es gibt solch einen Platz?"
Niedergeschlagen sinke ich auf die Sitzbank, draußen fliegt die schwarze Landschaft an mir vorbei. Ich
stelle meine Füße gegen das Sitzpolster der anderen Bank, und weine leise. Mein Körper krümmt sich
vor Schmerz.
"Ja", flüstere ich, als könntest du mich hören. "Es gibt diesen Platz und du bist schon dort. Du bist dort,
wo immer die Sonne scheint, und wo es keine Dunkelheit mehr gibt."
Tränen brennen auf meinen Wangen, ich lecke mir über meine spröden Lippen, schmecke das Salz auf
ihnen. Leicht lehne ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe. Schwarz und Dunkel ist es draußen...
Sanft streichle ich über das kühle Glas, stelle mir vor, dass du neben mir sitzt. Deinen Kopf gegen
meine Schulter lehnst und friedlich schläfst, so wie du es viele Male getan hast. Ich lächle leicht bei
dieser Vorstellung, draußen fallen lautlos die ersten Schneeflocken...
Nachwort:
Mm, ich weiß ehrlich gesagt nicht so wirklich, warum ich diese Geschichte geschrieben habe. Plötzlich
war da diese Idee in meinem Kopf, und leider bin ich ein Mensch der Ideen, seien sie nun schlecht oder
gut, niemals verwirft. Ich muss sie einfach aufschreiben. Ich hoffe, es hat vielleicht dem einen oder
anderem etwas gefallen. Und der Name Hannah hat nichts mit einer anderen Geschichte zutun, der
Name war ebenfalls plötzlich in meinem Kopf, und ich empfand ihn als irgendwie passend...
Adios.
© 2003 by seen